Thomas Mann

"Der Zauberberg. Zweiter Band"

Sechstes Kapitel

Veranderungen

Was ist die Zeit? Ein Geheimnis, - wesenlos und allmachtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Korper im Raum und ihrer Bewegung. Ware aber keine Zeit, wenn keine Bewegung ware? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Nur zu gefragt! Die Zeit ist tatig, sie hat verbale Beschaffenheit, sie "zeitigt". Was zeitigt sie denn? Veranderung! Jetzt ist nicht damals, hier nicht dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit mi?t, kreislaufig ist, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veranderung, die man fast ebensogut als Ruhe und Stillstand bezeichnen konnte; denn das Damals wiederholt sich bestandig im Jetzt, das Dort im Hier. Da ferner eine endliche Zeit und ein begrenzter Raum auch mit der verzweifeltsten Anstrengung nicht vorgestellt werden konnen, so hat man sich entschlossen, Zeit und Raum als ewig und unendlich zu "denken", - in der Meinung offenbar, dies gelinge, wenn nicht recht gut, so doch etwas besser. Bedeutet aber nicht die Statuierung des Ewigen und Unendlichen die logisch-rechnerische Vernichtung alles Begrenzten und Endlichen, seine verhaltnisma?ige Reduzierung auf null? Ist im Ewigen ein Nacheinander moglich, im Unendlichen ein Nebeneinander? Wie vertragen sich mit den Notannahmen des Ewigen und Unendlichen Begriffe wie Entfernung, Bewegung, Veranderung, auch nur das Vorhandensein begrenzter Korper im All? Das frage du nur immerhin!

Hans Castorp fragte so und ahnlich in seinem Hirn, das gleich bei seiner Ankunft hier oben zu solchen Indiskretionen und Quengeleien sich aufgelegt gezeigt hatte und durch eine schlimme, aber gewaltige Lust, die er seitdem gebu?t, vielleicht besonders dafur gescharft und zum

Querulieren dreist gemacht worden war. Er fragte sich selbstdanach und den guten Joachim und das seit undenklichen Zeiten dick verschneite Tal, obgleich er ja von keiner dieser Stellen irgend etwas einer Antwort ahnliches zu gewartigen hatte, - schwer zu sagen, von welcher am wenigsten. Sich selbst legte er solche Fragen eben nur vor, weil er keine Antwort darauf wu?te. Joachim seinerseits war zur Teilnahme daran fast gar nicht zu gewinnen, da er, wie Hans Castorp es eines Abends auf franzosisch gesagt hatte, an nichts dachte als daran, im Flachlande Soldat zu sein und mit der bald sich nahernden, bald foppend wieder ins Weite schwindenden Hoffnung darauf in einem nachgerade erbitterten Kampfe lag, den durch einen Gewaltstreich zu beenden er sich neuerdings geneigt zeigte. Ja, der gute, geduldige, rechtliche und so ganz auf Dienstlichkeit und Disziplin gestellte Joachim unterlag emporerischen Anwandlungen, er begehrte auf gegen die "Gaffky-Skala", jenes Untersuchungssystem, wonach im Laboratorium drunten, oder dem "Labor", wie man gewohnlich sagte, der Grad erkundet und bezeichnet wurde, in welchem ein Patient mit Bazillen behaftet war: ob diese nur ganz vereinzelt oder unzahlbar massenhaft in dem analysierten Probestoffe sich vorfanden, das bestimmte die Hohe der Gaffky-Nummer, und auf diese eben kam alles an. Denn vollig untruglich druckte sie die Genesungschance aus, mit der ihr Trager zu rechnen hatte; die Zahl der Monate oder Jahre, die jemand noch wurde zu verweilen haben, war unschwer danach zu bestimmen, angefangen von der halbjahrigen Stippvisite bis hinauf zu dem Spruche "Lebenslanglich", der zeitlich genommen oft genug nun wieder nur allzu wenig besagte. Gegen die Gaffky-Skala denn also emporte Joachim sich, offen kundigte er ihrer Autoritat den Glauben, - nicht ganz offen, nicht gerade gegen die Oberen, aber doch gegen seinen Vetter und sogar bei Tisch. "Ich habe es satt, ich lasse mich nicht langer zum Narren haben", sagte er laut, und das Blut stieg ihm in das tief gebraunte Gesicht. "Vor vierzehn Tagen hatte ich Gaffky Nr. 2, eine Bagatelle, die besten Aussichten, und heute Nr. 9, bevolkert geradezu, von der Ebene nicht mehr die Rede. Da soll doch der Teufel klug daraus werden, wie es mit einem steht, es ist nicht zum Aushalten. Oben auf Schatzalp liegt ein Mann, ein griechischer Bauer, sie haben ihn aus Arkadien hergeschickt, ein Agent hat ihn hergeschickt, - ein aussichtsloser Fall, es ist galoppierend bei ihm, jeden Tag kann man den Exitus erwarten, aber nie im Leben hat der Mann Bazillen im Sputum gehabt. Dagegen der dicke belgische Hauptmann, der gesund abging, als ich ankam, war Gaffky Nr.

10 gewesen, nur so gewimmelt hatte es bei ihm, und dabei hatte er blo? eine ganz kleine Kaverne gehabt. Gaffky kann mir gestohlen werden! Ich mache Schlu?, ich reise nachHause, und wenn es mein Tod ist!" So Joachim; und alle waren schmerzlich betreten, den sanften, gesetzten jungen Menschen in solchem Aufruhr zu sehen. Hans Castorp konnte nicht umhin, bei Joachims Drohung, er werde alles hinwerfen und ins Flachland abreisen, an gewisse Au?erungen zu denken, die er auf franzosisch von dritter Seite vernommen. Aber er schwieg; denn sollte er dem Vetter seine eigene Geduld als Muster vorhalten, wie Frau Stohr es tat, die Joachim wirklich ermahnte, nicht so lasterlich aufzutrotzen, sondern sich in Demut zu schicken und sich ein Beispiel an der Treue zu nehmen, mit welcher sie, Karoline, hier oben ausharre und es sich willenszah versage, in ihrem Heim zu Cannstatt als Hausfrau zu schalten und zu walten, um dereinst ihrem Mann ein vollig und grundlich genesenes Eheweib in ihrer Person zuruckzuerstatten? Nein, das mochte Hans Castorp denn doch nicht, zumal er seit dem Faschingsfest vor Joachim ein schlechtes Gewissen hatte, - das hei?t: sein Gewissen sagte ihm, Joachim musse in dem, woruber sie nicht sprachen, wovon Joachim aber zweifellos wu?te, etwas wie Verrat, Desertion und Treulosigkeit sehen, und zwar in Hinsicht auf ein Paar runder brauner Augen, eine schwach begrundete Lachlust und ein Apfelsinenparfum, deren Einwirkungen er taglich funfmal ausgesetzt war, vor denen er aber streng und anstandig seine Augen auf den Teller niederschlug ... Ja, noch in dem stillen Widerstreben, mit dem Joachim seinen Spekulationen und Aspekten uber die "Zeit" begegnete, glaubte Hans Castorp etwas von dieser militarischen Sittsamkeit, die einen Vorwurf fur sein Gewissen enthielt, zu spuren. Was aber das Tal, das dick verschneite Wintertal betraf, an das Hans Castorp von seinem vorzuglichen Liegestuhle aus ebenfalls seine ubersinnlichen Fragen richtete, so standen seine Zinken, Kuppen, Wandlinien und braun-grun-rotlichen Walder schweigend in der Zeit, umwoben von still flie?ender Erdenzeit bald leuchtend im tiefen Himmelsblau, bald qualmverhullt, bald rotlich angegluht in der Hohe von scheidender Sonne, bald diamanthart glitzernd in Mondnachtzauber, - aber immer im Schnee, seit sechs undenklichen, wenn auch huschartig vergangenen Monaten, und alle Gaste erklarten, sie konnten den Schnee nicht mehr sehen, er widere sie, schon der Sommer habe ihren Anspruchen in dieser Richtung genugt, aber nun Schneemassen tagein, tagaus, Schneehaufen, Schneepolster, Schneehange, das gehe uber Menschenkraft, sei Mord fur Geist und Gemut. Und sie setzten farbige

Brillen auf, grune, gelbe und rote, wohl auch um die Augen zu schonen, doch mehr noch furs Herz.

Tal und Berge im Schnee seit sechs Monaten schon? Seit sieben! Die Zeit schreitet fort, wahrend wir erzahlen, - unsere Zeit, die wir dieser Erzahlung widmen, aber auch die tief vergangene Zeit Hans Castorps und seiner Schicksalsgenossen dort oben im Schnee, und sie zeitigt Veranderungen. Alles war auf dem besten Wege,sich zu erfullen, wie Hans Castorp es am Faschingstage auf dem Heimwege von "Platz" zum Zorne Herrn Settembrinis mit raschen Worten vorweggenommen hatte: nicht gerade, da? schon die Sonnenwende in unmittelbarer Aussicht gewesen ware, aber Ostern war durch das wei?e Tal gezogen, der April schritt vor, der Blick auf Pfingsten war frei, bald wurde der Fruhling anbrechen, die Schneeschmelze, - nicht aller Schnee wurde schmelzen, auf den Hauptern im Suden, in den Felsschrunden der Ratikonkette im Norden blieb immerdar welcher liegen, von dem zu schweigen, der auch allsommermonatlich einfallen, aber nicht liegen bleiben wurde; doch unbedingt verhie? die Umwalzung des Jahres entscheidende Neuerungen binnen kurzem, denn seit jener Fastnacht, in der Hans Castorp sich von Frau Chauchat einen Bleistift geliehen, ihr spater denselben auch wieder zuruckgegeben und auf Wunsch etwas anderes dafur empfangen hatte, eine Erinnerungsgabe, die er in der Tasche trug, waren nun schon sechs Wochen verflossen, - doppelt so viele, als Hans Castorp ursprunglich hatte hier oben bleiben wollen.

Sechs Wochen verflossen in der Tat seit dem Abend, da Hans Castorp die Bekanntschaft Clawdia Chauchats gemacht hatte und dann so viel spater auf sein Zimmer zuruckgekehrt war, als der dienstfromme Joachim auf das seine; sechs Wochen seit dem folgenden Tage, der Frau Chauchats Abreise gebracht hatte, ihre Abreise fur diesmal, ihre vorlaufige Abreise nach Daghestan, ganz ostlich uber den Kaukasus hinaus. Da? diese Abreise vorlaufiger Art, nur eine Abreise fur diesmal sein solle, da? Frau Chauchat wiederzukehren beabsichtigte, - unbestimmt wann, aber da? sie einmal wiederkommen wolle oder auch musse, des besa? Hans Castorp Versicherungen, direkte und mundliche, die nicht in dem mitgeteilten fremdsprachigen Dialog gefallen waren, sondern folglich in die unsererseits wortlose Zwischenzeit, wahrend welcher wir den zeitgebundenen Flu? unserer Erzahlung unterbrochen und nur sie, die reine Zeit, haben walten lassen. Jedenfalls hatte der junge Mann jene Versicherungen und trostlichen Zusagen erhalten,

bevor er auf Nr. 34 zuruckgekehrt war; denn am folgenden Tage hatte er kein Wort mehr mit Frau Chauchat gewechselt, sie kaum gesehen, sie zweimal von weitem gesehen: beim Mittagessen, als sie in blauem Tuchrock und wei?er Wolljacke, unter dem Schmettern der Glastur und lieblich schleichend noch einmal zu Tische gegangen war, wobei ihm das Herz im Halse geschlagen und nur die scharfe Bewachung, die Fraulein Engelhart ihm zugewandt, ihn gehindert hatte, das Gesicht mit den Handen zu bedecken; - und dann nachmittags 3 Uhr, bei ihrer Abreise, der er nicht eigentlich beigewohnt, sondern der er von einem Korridorfenster aus, das den Blick auf die Anfahrt gewahrte, zugesehen hatte.

Der Vorgang hatte sich abgespielt, wie Hans Castorp ihn wahrend seines Aufenthaltes hier oben schon manchmal sich hatte abspielen sehen: der Schlitten oder Wagen hielt an der Rampe, Kutscherund Hausknecht schnurten die Koffer auf, Sanatoriumsgaste, Freunde dessen, der, genesen oder nicht, um zu leben oder zu sterben, die Ruckreise ins Flachland antrat, oder auch nur solche, die den Dienst schwanzten, um das Ereignis auf sich wirken zu lassen, versammelten sich vorm Portal; ein Herr im Gehrock von der Verwaltung, vielleicht sogar die Arzte stellten sich ein, und dann kam der Abreisende heraus, - strahlenden Angesichtes meist und huldvoll die neugierig Umstehenden und Zuruckbleibenden gru?end, machtig belebt fur den Augenblick durch das Abenteuer ... Diesmal nun war es Frau Chauchat gewesen, die herausgekommen war, lachelnd, den Arm voller Blumen, in langem, rauhem, mit Pelz besetztem Reisemantel und gro?em Hut, begleitet von Herrn Buligin, ihrem konkaven Landsmann, der ein Stuck Weges mit ihr reiste. Auch sie schien freudig erregt, wie jeder Abreisende es war, - nur durch den Lebenswechsel, ganz unabhangig davon, ob man mit arztlicher Einwilligung reiste oder nur aus verzweifeltem Uberdru?, auf eigene Gefahr und mit schlechtem Gewissen den Aufenthalt unterbrach. Ihre Wangen waren gerotet, sie plauderte bestandig, wahrscheinlich auf russisch, wahrend man ihre Knie mit einer Pelzdecke umwickelte ... Nicht nur Frau Chauchats Landsleute und Tischgenossen, sondern auch zahlreiche andere Gaste waren zur Stelle gewesen, Dr. Krokowski hatte kernig lachelnd seine gelben Zahne im Barte gezeigt, noch mehr Blumen hatte es gegeben, die Gro?tante hatte Konfekt, "Konfaktchen", wie sie zu sagen pflegte, das hei?t russische Marmelade, gespendet, die Lehrerin hatte dort gestanden, der Mannheimer, - dieser in einiger Entfernung, trube spahend, und seine leidvollen Augen waren am Hause

emporgeglitten, wo sie Hans Castorp am Korridorfenster gewahrt und trube auf ihm verweilt hatten ... Hofrat Behrens hatte sich nicht gezeigt; offenbar hatte er sich von der Reisenden schon bei anderer, privater Gelegenheit verabschiedet ... Dann hatten unter dem Winken und Rufen der Umstehenden die Pferde angezogen, und auch Frau Chauchats schrage Augen hatten nun, wahrend die Vorwartsbewegung des Schlittens ein Zurucksinken ihres Oberkorpers gegen das Polster bewirkt hatte, noch einmal lachelnd die Front des Berghof-Hauses uberflogen und wahrend des Bruchteils einer Sekunde auf Hans Castorps Antlitz verweilt ... Bleich war der Zuruckbleibende auf sein Zimmer geeilt, in seine Loggia, um den Schlitten von hier aus noch einmal zu sehen, der mit Geklingel die Anfahrtstra?e hinab gegen "Dorf" hingeglitten war, hatte sich dann in seinen Stuhl geworfen und aus der Brusttasche die Erinnerungsgabe gezogen, das Pfand, das diesmal nicht in braunlichroten Holzschnitzeln, sondern in einem dunn gerahmten Plattchen, einer Glasplatte bestand, die man gegen das Licht halten mu?te, um etwas an ihr zu finden, - Clawdias Innenportrat, das ohne Antlitz war, aber das zarte Gebein ihres Oberkorpers, von den weichen Formen des Fleisches licht und geisterhaft umgeben, nebst den Organen der Brusthohleerkennen lie? ...

Wie oft hatte er es betrachtet und an die Lippen gedruckt in der Zeit, die seitdem verflossen war, indem sie Veranderung gezeitigt hatte! Gewohnung zum Beispiel an ein Leben hier oben in raumlich weiter Abwesenheit Clawdia Chauchats hatte sie gezeitigt, und zwar geschwinder, als man hatte denken sollen: die hiesige Zeit war ja besonders danach geartet und au?erdem zu dem Zwecke organisiert, Gewohnung zu zeitigen, wenn auch nur Gewohnung daran, da? man sich nicht gewohnte. Der klirrende Knall zu Beginn der funf ubergewaltigen Mahlzeiten war nicht mehr zu gewartigen und trat nicht mehr ein; anderswo, in ungeheuerer Entfernung, lie? Frau Chauchat nun Turen zufallen, - eine Wesensau?erung, die mit ihrem Dasein, ihrer Krankheit auf ahnliche Art vermengt und verbunden war wie die Zeit mit den Korpern im Raum: vielleicht war das ihre Krankheit, und nichts weiter ... Aber war sie unsichtbar-abwesend, so war sie doch zugleich auch unsichtbar-anwesend fur Hans Castorps Sinn, - der Genius des Ortes, den er in schlimmer, in ausschreitungsvoll su?er Stunde, in einer Stunde, auf die kein friedliches kleines Lied des Flachlandes pa?te, erkannt und besessen hatte, und dessen inneres Schattenbild er auf seinem seit neun Monaten so heftig in Anspruch genommenen Herzen trug.

In jener Stunde hatte sein zuckender Mund in fremder Sprache und in der angeborenen so manches Ausschreitungsvolle halb unbewu?t und halb erstickt gestammelt: Vorschlage, Anerbietungen, tolle Entwurfe und Willensvorsatze, denen alle Billigung mit Fug und Recht versagt geblieben war, - so, da? er den Genius uber den Kaukasus begleiten, ihm nachreisen, ihn an dem Orte, den die freizugige Laune des Genius sich zum nachsten Domizil erwahlen werde, erwarten wolle, um sich niemals mehr von ihm zu trennen, und andere Unverantwortlichkeiten mehr. Was der schlichte junge Mann mitgenommen hatte aus dieser Stunde tiefen Abenteuers, war eben nur das Schattenpfand gewesen und die dem Range des Wahrscheinlichen sich nahernde Moglichkeit, da? Frau Chauchat zu einem vierten Aufenthalt hierher zuruckkehren werde, fruher oder spater, wie die Krankheit, die ihr Freiheit gab, es fugen wurde. Aber ob fruher oder spater, - Hans Castorp, so hatte es auch beim Abschied wieder gehei?en, werde dann unbedingt "langst weit fort" sein; und der geringschatzige Sinn dieser Prophezeiung ware noch schwerer ertraglich gewesen, wenn man nicht hatte bedenken konnen, da? gewisse Dinge nicht prophezeit werden, damit sie eintreten, sondern damit sie nicht eintreten, gleichsam im Sinn der Beschworung. Propheten dieser Art verhohnen die Zukunft, indem sie ihr sagen, wie sie sich gestalten werde, damit sie sich schame, sich wirklich so zu gestalten. Und wenn der Genius ihn, Hans Castorp, im Laufe des mitgeteilten Gesprachs und au?erhalb seiner einen "joli bourgeois au petit endroit humide" genannt hatte, was etwaswie die Ubersetzung der Redensart Settembrinis vom "Sorgenkind des Lebens" gewesen war, so fragte es sich eben, welcher Bestandteil dieser Wesensmischung sich als starker erweisen wurde: der bourgeois oder das andere ... Auch hatte der Genius nicht in Betracht gezogen, da? er selbst ja verschiedentlich abgereist und wiedergekommen war, und da? auch Hans Castorp im rechten Augenblick wurde wiederkommen konnen, - obgleich er ja freilich uberhaupt nur deshalb noch immer hier oben sa?, damit er nicht wiederzukommen brauchte: das war ausdrucklich, wie bei so vielen, der Sinn seines Verweilens.

Eine spottische Prophezeiung vom Faschingsabend war eingetroffen: Hans Castorp hatte eine schlechte Fieberlinie gehabt, in steiler Zacke, die er mit einem Gefuhl von Festlichkeit eingezeichnet, war seine Kurve damals emporgestiegen und, nach einigem Absinken, als Hochplateau fortgelaufen, das sich, nur leicht gewellt, dauernd uber der Ebene des bisher Gewohnten hielt. Es war eine Ubertemperatur, deren Hohe und

Hartnackigkeit nach des Hofrats Aussage zu dem lokalen Befund in keinem rechten Verhaltnis stand. "Sind eben doch vergifteter, als man Ihnen zutrauen sollte, Freundchen", sagte er. "Na, greifen wir mal zu den Injektionen! Das wird Ihnen anschlagen. In drei, vier Monaten sind Sie wie der Fisch im Wasser, wenn es nach dem Unterfertigten geht." So kam es, da? Hans Castorp nun zweimal die Woche, am Mittwoch und Sonnabend gleich nach der Morgenmotion, sich im "Labor" drunten einzufinden hatte, um seine Einspritzung entgegenzunehmen.

Beide Arzte verabfolgten dies Heilmittel, bald dieser, bald jener, aber der Hofrat tat es als Virtuos, mit einem Schwung, indem er beim Einstich zugleich abdruckte. Ubrigens kummerte er sich nicht um die Stelle, wohin er stach, so da? der Schmerz zuweilen des Teufels war und der Punkt noch lange brennend verhartet blieb. Ferner wirkte die Injektion stark angreifend auf den Gesamtorganismus, erschutterte das Nervensystem wie eine Gewaltleistung sportlicher Art, und das zeugte fur die ihr innewohnende Kraft, die sich auch darin bekundete, da? sie unmittelbar, fur den Augenblick, die Temperatur sogar erhohte: so hatte der Hofrat es vorausgesagt, und so geschah es denn auch, gesetzma?ig und ohne da? es an der vorausgesagten Erscheinung etwas zu beanstanden gab. Die Prozedur war rasch abgetan, war man nur erst einmal an der Reihe; im Handumdrehen hatte man sein Gegengift unter der Haut, sei es des Schenkels oder Armes. Ein paarmal aber, wenn der Hofrat sich eben aufgelegt und vom Tabak nicht getrubt zeigte, kam es anla?lich der Injektion doch zu einem kleinen Gesprach mit ihm, das Hans Castorp etwa wie folgt zu lenken wu?te:

"Ich denke noch immer gern an unsere gemutliche Kaffeestunde damals bei Ihnen, Herr Hofrat, voriges Jahr im Herbst, wie sich das zufallig so machte. Gerade noch gestern, oder ist es schon etwaslanger her, habe ich meinen Vetter daran erinnert ..."

"Gaffky sieben", sagte der Hofrat. "Letztes Ergebnis. Der Junge will und will sich nun mal nicht entgiften. Und dabei hat er mich noch nie so getirrt und geplagt wie neuerdings, da? er weg will und einen Schleppsabel haben, der Kindskopf. Zetert mir uber seine funf Vierteljahrchen vor, als ob es Aonen waren, die er sich um die Ohren geschlagen. Weg will er, so oder so, - sagt er es zu Ihnen auch? Sie sollten ihm mal ins Gewissen reden, von Ihnen aus, und das mit Nachdruck! Das Mannsbild geht Ihnen in die Binsen, wenn es vorzeitig Ihren gemutvollen Nebel schluckt, da oben rechts. So ein Eisenfresser

braucht nicht viel Hirnschmalz zu haben, aber Sie als der Gesetztere, der Zivilist, der Mann burgerlicher Bildung, Sie sollten ihm den Kopf zurechtsetzen, bevor er Dummheiten macht."

"Tu ich, Herr Hofrat", antwortete Hans Castorp, ohne die Fuhrung fahren zu lassen. "Tu ich ofters, wenn er so aufmuckt, und denke ja auch, er wird Rason annehmen. Aber die Beispiele, die man vor Augen hat, sind ja nicht immer die besten, das ist das Schadliche. Immer kommen Abreisen vor, - Abreisen ins Flachland, eigenmachtig und ohne wahre Befugnis, aber es ist eine Festivitat, als ob es eine echte Abreise ware, und hat was Verfuhrerisches fur schwachere Charaktere. Zum Beispiel neulich ... wer ist denn neulich noch abgereist? Eine Dame, vom Guten Russentisch, Madame Chauchat. Nach Daghestan, wie erzahlt wurde. Nun, Daghestan, ich kenne das Klima nicht, es ist am Ende weniger ungunstig als oben am Wasser. Aber Flachland ist es doch in unserem Sinn, wenn es vielleicht auch gebirgig ist, geographisch genommen, ich bin da nicht so beschlagen. Wie will man denn da nun leben, unausgeheilt, wo die Grundbegriffe fehlen und niemand von unserer Ordnung hier oben wei? und wie es zu halten ist mit Liegen und Messen? Ubrigens will sie ja ohnedies wiederkommen, hat sie mir gelegentlich mitgeteilt, - wie kamen wir uberhaupt auf sie? - Ja, damals trafen wir Sie im Garten, Herr Hofrat, wenn Sie sich erinnern, das hei?t Sie trafen uns, denn wir sa?en auf einer Bank, ich wei? noch auf welcher, genau konnt' ich sie Ihnen bezeichnen, auf der wir sa?en und rauchten. Will sagen, ich rauchte, denn mein Vetter raucht ja unbegreiflicherweise nicht. Und Sie rauchten auch gerade, und wir offerierten uns gegenseitig noch unsere Marken, wie mir eben wieder einfallt, - Ihre Brasil hat mir ausgezeichnet geschmeckt, aber man mu? damit umgehen wie mit jungen Pferden, glaub ich, sonst sto?t einem was zu, wie Ihnen damals nach den beiden kleinen Importen, als Sie mit wogendem Busen abtanzen wollten,- da es gut gegangen ist, kann man ja lachen. Von Maria Mancini hab ich mir ubrigens neulich wieder einmal ein paar hundert Stuck aus Bremen verschrieben, ich hange doch sehr an dem Erzeugnis, es ist mir nach jeder Richtung sympathisch. Nur allerdings, die Verteuerung durch Zoll und Porto ist ziemlich empfindlich, und wenn Sie mir nachstens noch was Betrachtliches zulegen, Herr Hofrat, so bin ich imstande und bekehre mich schlie?lich zu einem hiesigen Kraut, - man sieht in den Fenstern ganz schone Sachen. Und dann durften wir Ihre Bilder sehen, ich wei? es wie heute und hatte den gro?ten Genu? davon, - geradezu perplex war ich, was Sie mit der Olfarbe riskieren, ich wurd es mich nie unterstehen.

Da sahen wir ja auch Frau Chauchats Portrat mit seiner erstrangig gemalten Haut, - ich darf wohl sagen, ich war begeistert. Damals kannte ich das Modell noch nicht, nur vom Ansehen, dem Namen nach. Seitdem, ganz kurz vor ihrer diesmaligen Abreise, habe ich sie ja noch personlich kennen gelernt."

"Was Sie sagen!" erwiderte der Hofrat, - ebenso, wenn die Ruckbeziehung erlaubt ist, wie er erwidert hatte, als Hans Castorp ihm vor seiner ersten Untersuchung mitgeteilt, da? er ubrigens auch etwas Fieber habe. Und weiter sagte er nichts.

"Doch, ja, das habe ich", bestatigte Hans Castorp. "Erfahrungsgema? ist es gar nicht so leicht, hier oben Bekanntschaften zu machen, aber mit Frau Chauchat und mir hat es sich in letzter Stunde doch noch getroffen und arrangiert, gesprachsweise sind wir uns ..." Hans Castorp zog die Luft durch die Zahne ein. Er hatte die Spritze empfangen. "Fff!" machte er ruckwarts. "Das war sicher ein hochwichtiger Nerv, den Sie da zufallig getroffen haben, Herr Hofrat. Oh, ja, ja, es schmerzt hollenma?ig. Danke, etwas Massage verbessert die Sache ... Gesprachsweise sind wir uns naher gekommen."

"So! - Na?" machte der Hofrat. Er fragte kopfnickend, mit jemandes Miene, der eine sehr lobende Antwort erwartet und in die Frage zugleich die Bestatigung des zu erwartenden Lobes aus eigener Erfahrung legt.

"Ich nehme an, da? es mit meinem Franzosisch etwas gehapert hat", wich Hans Castorp aus. "Woher soll ichs am Ende auch haben. Aber im rechten Augenblick fliegt einen ja manches an, und so ging es denn mit der Verstandigung doch ganz leidlich."

"Glaub' ich. Na?" wiederholte der Hofrat seine Aufforderung. Von sich aus fugte er hinzu: "Niedlich, was?"

Hans Castorp, den Hemdkragen knupfend, stand mit gespreizten Beinen und Ellbogen, das Gesicht zur Decke gewandt.

"Es ist am Ende nichts Neues", sagte er. "An einem Badeort leben zwei Personen oder auch Familien wochenlang unter demselben Dach, in Distanz. Eines Tages machen sie Bekanntschaft, finden aufrichtiges Gefallen aneinander, und zugleich stellt sich heraus,da? der eine Teil im Begriffe ist, abzureisen. So ein Bedauern kommt haufig vor, kann ich mir denken. Und da mochte man nun doch wenigstens Fuhlung wahren im Leben, voneinander horen, das hei?t per Post. Aber Frau Chauchat ..."

"Tja, die will wohl nicht?" lachte der Hofrat gemutlich.

"Nein, sie wollte nichts davon wissen. Schreibt sie Ihnen denn auch nie zwischendurch, von ihren Aufenthaltsorten?"

"I, Gott bewahre", antwortete Behrens. "Das fallt doch der nicht ein. Erstens aus Faulheit nicht, und dann, wie soll sie denn schreiben? Russisch kann ich nicht lesen, - ich kauderwelsche es wohl mal, wenn Not an den Mann kommt, aber lesen kann ich kein Wort. Und Sie doch auch nicht. Na, und Franzosisch oder auch Neuhochdeutsch miaut das Katzchen ja allerliebst, aber schreiben, - da kame sie in die gro?te Verlegenheit. Die Orthographie, lieber Freund! Nein, da mussen wir uns schon trosten, mein Junge. Sie kommt ja immer mal wieder, von Zeit zu Zeit. Frage der Technik, Temperamentssache, wie gesagt. Der eine halt dann und wann Abreise und mu? immer wiederkommen, und der andere bleibt gleich so lange, da? er nie wiederzukommen braucht. Wenn Ihr Vetter jetzt abreist, das sagen Sie ihm nur, so kann es leicht sein, da? Sie seinen solennen Wiedereinzug noch hier erleben."

"Aber Herr Hofrat, wie lange meinen Sie denn, da? ich ..."

"Da? Sie? Da? er! Da? er nicht so lange untenbleiben wird, wie er hier oben war. Das meine ich fur meine treuherzige Person, und das ist mein Auftrag an Sie fur ihn, wenn Sie so freundlich sein wollen."

Ahnlich mochte wohl so ein Gesprach verlaufen, pfiffig gelenkt von Hans Castorp, wenn das Ergebnis auch nichtig bis zweideutig gewesen war. Denn was das betraf, wie lange man bleiben musse, um die Wiederkehr eines vor der Zeit Abgereisten zu erleben, war es zweideutig gewesen, in Hinsicht auf die Entschwundene aber gleich null. Hans Castorp wurde nichts von ihr horen, solange das Geheimnis von Raum und Zeit sie trennte; sie wurde nicht schreiben, und auch ihm wurde keine Gelegenheit gegeben sein, es zu tun ... Warum denn auch ubrigens, hatte es sich anders verhalten sollen, wenn er es wohl uberlegte? War es nicht eine recht burgerliche und pedantische Vorstellung von ihm gewesen, da? sie einander schreiben mu?ten, wahrend ihm doch ehemals zumute gewesen war, als sei es nicht einmal notig oder nur wunschenswert, da? sie miteinander sprachen? Und hatte er denn auch etwa mit ihr "gesprochen", im Sinne des gebildeten Abendlandes, an ihrer Seite am Faschingsabend, oder nicht vielmehr fremdsprachig im Traum geredet, auf wenig zivilisierte Weise? Wozu denn also nun schreiben, auf Briefpapier oder Ansichtskarten, wie er sie manchmal nach Hauseins Flachland richtete, um uber die Schwankungen der Untersuchungsergebnisse zu berichten? Hatte

Clawdia nicht recht, sich vom Schreiben entbunden zu fuhlen, kraft der Freiheit, welche die Krankheit ihr gab? Sprechen, schreiben, - eine hervorragend humanistisch-republikanische Angelegenheit in der Tat, Angelegenheit des Herrn Brunetto Latini, der das Buch von den Tugenden und Lastern schrieb und den Florentinern Schliff gab, sie das Sprechen lehrte und die Kunst, ihre Republik nach den Regeln der Politik zu lenken ...

Damit fielen Hans Castorps Gedanken denn auf Lodovico Settembrini, und er errotete, wie er damals errotet war, als der Schriftsteller unvermutet sein Krankenzimmer betreten hatte, unter plotzlicher Erleuchtung desselben. An Herrn Settembrini hatte Hans Castorp ja ebenfalls seine Fragen, die ubersinnlichen Ratsel betreffend, richten konnen, wenn auch nur im Sinne der Herausforderung und der Quengelei, nicht in der Erwartung, von dem Humanisten, dessen Trachten den irdischen Lebensinteressen galt, Antwort darauf zu erhalten. Aber seit der Faschingsgeselligkeit und Settembrinis bewegtem Abgang aus dem Klaviersalon waltete zwischen Hans Castorp und dem Italiener eine Entfremdung, die auf das schlechte Gewissen des einen, sowie auf die tiefe padagogische Verstimmung des andern zuruckzufuhren war und dahin wirkte, da? sie einander mieden und wochenlang kein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde. War Hans Castorp noch ein "Sorgenkind des Lebens" in Herrn Settembrinis Augen? Nein, er war wohl ein Aufgegebener in den Augen dessen, der die Moral in der Vernunft und der Tugend suchte ... Und Hans Castorp verstockte sich gegen Herrn Settembrini, er zog die Brauen zusammen und warf die Lippen auf, wenn sie einander begegneten, wahrend Herrn Settembrinis schwarz glanzender Blick mit schweigendem Vorwurf auf ihm ruhte. Dennoch loste diese Verstocktheit sich sofort, als der Literat nach Wochen, wie gesagt, zum erstenmal wieder das Wort an ihn richtete, wenn auch nur im Voruberstreifen und in Form mythologischer Anspielungen, zu deren Verstandnis abendlandische Bildung gehorte. Es war nach dem Diner; sie trafen in der nicht mehr zufallenden Glastur zusammen. Settembrini sagte, den jungen Mann uberholend und von vornherein im Begriff, sich gleich wieder von ihm zu losen:

"Nun, Ingenieur, wie hat der Granatapfel gemundet?"

Hans Castorp lachelte erfreut und verwirrt.

"Das hei?t ... Wie meinen Sie, Herr Settembrini? Granatapfel? Es gab doch keine? Ich habe nie im Leben ... Doch, einmal habe ich

Granatapfelsaft mit Selters getrunken. Es schmeckte zu su?lich."

Der Italiener, schon voruber, wandte den Kopf zuruck und artikulierte:

"Gotter und Sterbliche haben zuweilen das Schattenreich besucht und den Ruckweg gefunden. Aber die Unterirdischen wissen, da?, wer von den Fruchten ihres Reiches kostet, ihnen verfallen bleibt."

Und er ging weiter, in seinen ewig hell gewurfelten Hosen, und lie? im Rucken Hans Castorp, der "durchbohrt" sein sollte von so viel Bedeutung und es gewisserma?en auch war, obgleicher, argerlich erheitert uber die Zumutung, es zu sein, vor sich hin murmelte:

"Latini, Carducci, Ratzi-Mausi-Falli, la? mich in Frieden!"

Gleichwohl war er sehr glucklich bewegt uber diese erste Anrede; denn trotz der Trophae, dem makabren Angebinde, das er auf dem Herzen trug, hing er an Herrn Settembrini, legte gro?es Gewicht auf sein Dasein, und der Gedanke, ganzlich und auf immer von ihm verworfen und aufgegeben zu sein, ware denn doch beschwerender und schrecklicher fur seine Seele gewesen, als das Gefuhl des Knaben, der in der Schule nicht mehr in Betracht gekommen war und die Vorteile der Schande genossen hatte, wie Herr Albin ... Doch wagte er nicht, von seiner Seite das Wort an den Mentor zu richten, und dieser lie? abermals Wochen vergehen, bis er sich dem Sorgenzogling wieder einmal naherte.

Das geschah, als auf den in ewig eintonigem Rhythmus anrollenden Meereswogen der Zeit Ostern herangetrieben war und auf "Berghof" begangen wurde, wie man alle Etappen und Einschnitte dort aufmerksam beging, um ein ungegliedertes Einerlei zu vermeiden. Beim ersten Fruhstuck fand jeder Gast neben seinem Gedecke ein Veilchenstrau?chen, beim zweiten Fruhstuck erhielt jedermann ein gefarbtes Ei, und die festliche Mittagstafel war mit Haschen geschmuckt aus Zucker und Schokolade.

"Haben Sie je eine Schiffsreise gemacht, Tenente, oder Sie, Ingenieur?" fragte Herr Settembrini, als er nach Tische in der Halle mit seinem Zahnstocher an das Tischchen der Vettern herantrat ... Wie die Mehrzahl der Gaste kurzten sie heute den Hauptliegedienst um eine Viertelstunde, indem sie sich hier zu einem Kaffee mit Kognak niedergelassen hatten. "Ich bin erinnert durch diese Haschen, diese gefarbten Eier an das Leben auf so einem gro?en Dampfer, bei leerem Horizont seit Wochen, in salziger Wustenei, unter Umstanden, deren vollkommene Bequemlichkeit ihre Ungeheuerlichkeit nur oberflachlich vergessen la?t,

wahrend in den tieferen Gegenden des Gemutes das Bewu?tsein davon als ein geheimes Grauen leise fortnagt ... Ich erkenne den Geist wieder, in dem man an Bord einer solchen Arche die Feste der terraferma pietatvoll andeutet. Es ist das Gedenken von Au?erweltlichen, empfindsame Erinnerung nach dem Kalender ... Auf dem Festlande ware heut Ostern, nicht wahr? Auf dem Festlande begeht man heut Konigs Geburtstag, - und wir tun es auch, so gut wir konnen, wir sind auch Menschen ... Ist es nicht so?"

Die Vettern stimmten zu. Wahrhaftig, so sei es. Hans Castorp, geruhrt von der Anrede und vom schlechten Gewissen gespornt, lobte die Au?erung in hohen Tonen, fand sie geistreich, vorzuglich und schriftstellerisch und redete Herrn Settembrini aus allen Kraften nach dem Munde. Gewi?, nur oberflachlich, ganz wie Herr Settembrini es so plastisch gesagt habe, lasse der Komfort auf dem Ozean-Steamer die Umstande und ihre Gewagtheit vergessen, und es liege, wenn er aufeigene Hand das hinzufugen durfe, sogar eine gewisse Frivolitat und Herausforderung in diesem vollendeten Komfort, etwas dem ahnliches, was die Alten Hybris genannt hatten(sogar die Alten zitierte er aus Gefallsucht), oder dergleichen, wie "Ich bin der Konig von Babylon!", kurz Frevelhaftes. Auf der anderen Seite aber involviere("involviere"!) der Luxus an Bord doch auch einen gro?en Triumph des Menschengeistes und der Menschenehre, - indem er diesen Luxus und Komfort auf die salzigen Schaume hinaustrage und dort kuhnlich aufrecht erhalte, setze der Mensch gleichsam den Elementen den Fu? auf den Nacken, den wilden Gewalten, und das involviere den Sieg der menschlichen Zivilisation uber das Chaos, wenn er auf eigene Hand diesen Ausdruck gebrauchen durfe ...

Herr Settembrini horte ihm aufmerksam zu, die Fu?e gekreuzt und die Arme ebenfalls, wobei er sich auf zierliche Art mit dem Zahnstocher den geschwungenen Schnurrbart strich.

"Es ist bemerkenswert", sagte er. "Der Mensch tut keine nur einigerma?en gesammelte Au?erung allgemeiner Natur, ohne sich ganz zu verraten, unversehens sein ganzes Ich hineinzulegen, das Grundthema und Urproblem seines Lebens irgendwie im Gleichnis darzustellen. So ist es Ihnen soeben ergangen, Ingenieur. Was Sie da sagten, kam in der Tat aus dem Grunde Ihrer Personlichkeit, und auch den zeitlichen Zustand dieser Personlichkeit druckte es auf dichterische Weise aus: es ist immer noch der Zustand des Experimentes ..."

"Placet experiri!" sagte Hans Castorp nickend und lachend, mit italienischem c.

"Sicuro, - wenn es sich dabei um die respektable Leidenschaft der Welterprobung handelt und nicht um Liederlichkeit. Sie sprachen von 'Hybris', Sie bedienten sich dieses Ausdrucks. Aber die Hybris der Vernunft gegen die dunklen Gewalten ist hochste Menschlichkeit, und beschwort sie die Rache neidischer Gotter herauf, per esempio, indem die Luxusarche scheitert und senkrecht in die Tiefe geht, so ist das ein Untergang in Ehren. Auch die Tat des Prometheus war Hybris, und seine Qual am skythischen Felsen gilt uns als heiligstes Martyrium. Wie steht es dagegen um jene andere Hybris, um den Untergang im buhlerischen Experiment mit den Machten der Widervernunft und der Feindschaft gegen das Menschengeschlecht? Hat das Ehre? Kann das Ehre haben? Si o no!"

Hans Castorp ruhrte in seinem Ta?chen, obgleich nichts mehr darin war.

"Ingenieur, Ingenieur," sagte der Italiener mit dem Kopfe nickend, und seine schwarzen Augen hatten sich sinnend "festgesehen", "furchten Sie nicht den Wirbelsturm des zweiten Hollenkreises, der die Fleischessunder prellt und schwenkt, die Unseligen, die die Vernunft der Lust zum Opfer brachten? Gran Dio, wenn ich mir einbilde, wie Sie kopfuber, kopfunter umhergepustet flattern werden, so mochte ich vor Kummer umfallen wie eine Leiche fallt ..."

Sie lachten, froh, da? er scherzte und Poetisches redete. Aber Settembrini setzte hinzu:

"Am Faschingsabend beim Wein, Sie erinnern sich, Ingenieur, nahmen Sie gewisserma?en Abschied vonmir, doch, es war etwas dem ahnliches. Nun, heute bin ich an der Reihe. Wie Sie mich hier sehen, meine Herren, bin ich im Begriff, Ihnen Lebewohl zu sagen. Ich verlasse dies Haus."

Beide verwunderten sich aufs hochste.

"Nicht moglich! Das ist nur Scherz!" rief Hans Castorp, wie er bei anderer Gelegenheit auch gerufen hatte. Er war fast ebenso erschrocken wie damals. Aber auch Settembrini erwiderte:

"Durchaus nicht. Es ist, wie ich Ihnen sage. Und ubrigens trifft Sie diese Nachricht nicht unvorbereitet. Ich habe Ihnen erklart, da? in dem Augenblick, wo sich meine Hoffnung, in irgendwie absehbarer Zeit in die Welt der Arbeit zuruckkehren zu konnen, als unhaltbar erweisen werde,

ich hier meine Zelte abzubrechen und irgendwo im Orte mich fur die Dauer einzurichten entschlossen sei. Was wollen Sie nun, - dieser Augenblick ist eingetreten. Ich kann nicht genesen, es ist ausgemacht. Ich kann mein Leben fristen, aber nur hier. Das Urteil, das endgultige Urteil, lautet auf lebenslanglich, - mit der ihm eigenen Aufgeraumtheit hat Hofrat Behrens es mir verkundet. Gut denn, ich ziehe die Folgerungen. Ein Logis ist gemietet, ich bin im Begriffe, meine geringe irdische Habe, mein literarisches Handwerkszeug dorthin zu schaffen ... Es ist nicht einmal weit von hier, in "Dorf", wir werden einander begegnen, gewi?, ich werde Sie nicht aus den Augen verlieren, als Hausgenosse aber habe ich die Ehre, mich von Ihnen zu verabschieden."

So Settembrinis Eroffnung am Ostersonntag. Die Vettern hatten sich au?erordentlich bewegt daruber gezeigt. Des langeren noch, und wiederholt, hatten sie mit dem Literaten uber seinen Entschlu? gesprochen: daruber, wie er auch privatim den Kurdienst weiter werde ausuben konnen, uber die Mitnahme und Fortfuhrung ferner der weitlaufigen enzyklopadischen Arbeit, die er auf sich genommen, jener Ubersicht aller schongeistigen Meisterwerke, unter dem Gesichtspunkt der Leidenskonflikte und ihrer Ausmerzung; endlich auch uber sein zukunftiges Quartier im Hause eines "Gewurzkramers", wie Herr Settembrini sich ausdruckte. Der Gewurzkramer, berichtete er, habe den oberen Teil seines Eigentums an einen bohmischen Damenschneider vermietet, der seinerseits Aftermieter aufnehme ... Diese Gesprache also lagen zuruck. Die Zeit schritt fort, und mehr als eine Veranderung hatte sie bereits gezeitigt. Settembrini wohnte wirklich nicht mehr im internationalen Sanatorium "Berghof", sondern bei Lukacek, dem Damenschneider, - schon seit einigen Wochen. Nicht in Form einer Schlittenabreise hatte sein Auszug sich abgespielt, sondern zu Fu?, in kurzem, gelbem Paletot, der am Kragen und an den Armeln ein wenig mit Pelz besetzt war, und begleitet von einem Mann, der auf einem Schubkarren das literarische und das irdische Handgepack des Schriftstellers beforderte, hatte man ihn stockschwingend davongehen sehen, nachdem er noch unterm Portal eine Saaltochter mit den Rucken zweier Finger in die Wange gezwickt ... Der April, wie wir sagten, lag schonzu einem guten Teil, zu drei Vierteln, im Schatten der Vergangenheit, noch war es tiefer Winter, gewi?, im Zimmer hatte man knappe sechs Warmegrade am Morgen, drau?en war neungradige Kalte, die Tinte im Glase, wenn man es in der Loggia lie?, gefror uber Nacht noch immer zu einem Eisklumpen, einem Stuck Steinkohle. Aber der

Fruhling nahte, das wu?te man; am Tage, wenn die Sonne schien, spurte man hie und da bereits eine ganz leise, ganz zarte Ahnung von ihm in der Luft; die Periode der Schneeschmelze stand in naher Aussicht, und damit hingen die Veranderungen zusammen, die sich auf "Berghof" unaufhaltsam vollzogen, - nicht aufzuhalten selbst durch die Autoritat, das lebendige Wort des Hofrats, der in Zimmer und Saal, bei jeder Untersuchung, jeder Visite, jeder Mahlzeit das populare Vorurteil gegen die Schneeschmelze bekampfte.

Ob es Wintersportsleute seien, fragte er, mit denen er es zu tun habe, oder Kranke, Patienten? Wozu in aller Welt sie denn Schnee, gefrorenen Schnee brauchten? Eine ungunstige Zeit, - die Schneeschmelze? Die allergunstigste sei es! Nachweislich gabe es im ganzen Tal um diese Zeit verhaltnisma?ig weniger Bettlagrige, als irgendwann sonst im Jahre! Uberall in der weiten Welt seien die Wetterbedingungen fur Lungenkranke zu dieser Frist schlechter als gerade hier! Wer einen Funken Verstand habe, der harre aus und nutze die abhartende Wirkung der hiesigen Witterungsverhaltnisse. Danach dann sei er fest gegen Hieb und Stich, gefeit gegen jedes Klima der Welt, vorausgesetzt nur, da? der volle Eintritt der Heilung abgewartet worden sei - und so fort. Aber der Hofrat hatte gut reden, - die Voreingenommenheit gegen die Schneeschmelze sa? fest in den Kopfen, der Kurort leerte sich; wohl moglich, da? es der sich nahernde Fruhling war, der den Leuten im Leibe rumorte und se?hafte Leute unruhig und veranderungssuchtig machte, - jedenfalls mehrten die "wilden" und "falschen" Abreisen sich auch im Hause Berghof bis zur Bedenklichkeit. Frau Salomon aus Amsterdam zum Beispiel, trotz dem Vergnugen, das die Untersuchungen und das damit verbundene Zurschaustellen feinster Spitzenwasche ihr bereiteten, reiste vollstandig wilder- und falscherweise ab, ohne jede Erlaubnis und nicht, weil es ihr besser, sondern weil es ihr immer schlechter ging. Ihr Aufenthalt hier oben verlor sich weit zuruck hinter Hans Castorps Ankunft; langer als ein Jahr war es her, da? sie eingetroffen war, - mit einer ganz leichten Affektion, fur die ihr drei Monate zudiktiert worden waren. Nach vier Monaten hatte sie "in vier Wochen sicher gesund" sein sollen, aber sechs Wochen spater hatte von Heilung uberhaupt nicht die Rede sein konnen: sie musse, hatte es gehei?en, mindestens noch vier Monate bleiben. So war es fortgegangen, und es war ja kein Bagno und kein sibirisches Bergwerk hier, - FrauSalomon war geblieben und hatte feinstes Unterzeug an den Tag gelegt. Da sie nun aber nach der letzten Untersuchung, im Angesicht der Schneeschmelze, eine neue Zulage von

funf Monaten erhalten hatte, wegen Pfeifens links oben und unverkennbarer Mi?tone unter der linken Achsel, war ihr die Geduld gerissen, und mit Protest, unter Schmahungen auf "Dorf" und "Platz", auf die beruhmte Luft, das internationale Haus Berghof und die Arzte reiste sie ab, nach Hause, nach Amsterdam, einer zugigen Wasserstadt.

War das klug gehandelt? Hofrat Behrens hob Schultern und Arme auf und lie? die letzteren gerauschvoll gegen die Schenkel zuruckfallen. Spatestens im Herbst, sagte er, werde Frau Salomon wieder da sein, - dann aber auf immer. Wurde er recht behalten? Wir werden sehen, wir sind noch auf langere Erdenzeit an diesen Lustort gebunden. Aber der Fall Salomon war also durchaus nicht der einzige seiner Art. Die Zeit zeitigte Veranderungen, - sie hatte das ja immer getan, aber allmahlicher, nicht so auffallend. Der Speisesaal wies Lucken auf, Lucken an allen sieben Tischen, am Guten Russentisch wie am Schlechten, an den langs- wie an den querstehenden. Nicht gerade, da? dies von der Frequenz des Hauses ein zuverlassiges Bild gegeben hatte; auch Ankunfte, wie jederzeit, hatten stattgefunden; die Zimmer mochten besetzt sein, aber da handelte es sich eben um Gaste, die durch finalen Zustand in ihrer Freizugigkeit eingeschrankt waren. Im Speisesaal, wie wir sagten, fehlte manch einer dank noch bestehender Freizugigkeit; manch einer aber tat es sogar auf eine besonders tiefe und hohle Weise, wie Dr. Blumenkohl, der tot war. Immer starker hatte sein Gesicht den Ausdruck angenommen, als habe er etwas schlecht Schmeckendes im Munde; dann war er dauernd bettlagrig geworden und dann gestorben, - niemand wu?te genau zu sagen, wann; mit aller gewohnten Rucksicht und Diskretion war die Sache behandelt worden. Eine Lucke. Frau Stohr sa? neben der Lucke, und sie graute sich vor ihr. Darum siedelte sie an des jungen Ziem?en andere Seite uber, an den Platz Mi? Robinsons, die als geheilt entlassen worden, gegenuber der Lehrerin, Hans Castorps linksseitiger Nachbarin, die fest auf ihrem Posten geblieben war. Ganz allein sa? sie derzeit an dieser Tischseite, die ubrigen drei Platze waren frei. Student Rasmussen, der taglich dummer und schlaffer geworden, war bettlagrig und galt fur moribund; und die Gro?tante war mit ihrer Nichte und der hochbrustigen Marusja verreist, - wir sagen "verreist", wie alle es sagten, weil ihre Ruckkehr in naher Zeit eine ausgemachte Sache war. Zum Herbst schon wurden sie wieder eintreffen, - war das eine Abreise zu nennen? Wie nah war nicht Sommersonnenwende, wenn erst einmal Pfingsten gewesen war, das vor der Ture stand; und kam der langste Tag, sogings ja rapide bergab, auf den Winter zu, - kurzum, die

Gro?tante und Marusja waren beinahe schon wieder da, und das war gut, denn die lachlustige Marusja war keineswegs ausgeheilt und entgiftet; die Lehrerin wu?te etwas von tuberkulosen Geschwuren, die die braunaugige Marusja an ihrer uppigen Brust haben sollte, und die schon mehrmals hatten operiert werden mussen. Hans Castorp hatte, als die Lehrerin davon sprach, hastig auf Joachim geblickt, der sein fleckig gewordenes Gesicht uber seinen Teller geneigt hatte.

Die muntere Gro?tante hatte den Tischgenossen, also den Vettern, der Lehrerin und Frau Stohr ein Abschiedssouper im Restaurant gegeben, eine Schmauserei mit Kaviar, Champagner und Likoren, bei der Joachim sich sehr still verhalten, ja, nur einzelnes mit fast tonloser Stimme gesprochen hatte, so da? die Gro?tante in ihrer Menschenfreundlichkeit ihm Mut zugesprochen und ihn dabei, unter Ausschaltung zivilisierter Sittengesetze, sogar geduzt hatte. "Hat nichts auf sich, Vaterchen, mach dir nichts draus, sondern trink, i? und sprich, wir kommen bald wieder!" hatte sie gesagt. "Wollen wir alle essen, trinken und schwatzen und den Gram - Gram sein lassen, Gott la?t Herbst werden, eh wirs gedacht, urteile selbst, ob Grund ist zum Kummer!" Am nachsten Morgen hatte sie zur Erinnerung bunte Schachteln mit "Konfaktchen" an fast alle Besucher des Speisesaales verteilt und war dann mit ihren beiden jungen Madchen etwas verreist.

Und Joachim, wie stand es um ihn? War er befreit und erleichtert seitdem, oder litt seine Seele schwere Entbehrung angesichts der leeren Tischseite? Hing seine ungewohnte und emporerische Ungeduld, seine Drohung, wilde Abreise halten zu wollen, wenn man ihn langer an der Nase fuhre, mit der Abreise Marusjas zusammen? Oder war vielmehr die Tatsache, da? er vorderhand eben doch noch nicht reiste, sondern der hofratlichen Verherrlichung der Schneeschmelze sein Ohr lieh, auf jene andere zuruckzufuhren, da? die hochbusige Marusja nicht ernstlich abgereist, sondern nur etwas verreist war und in funf kleinsten Teileinheiten hiesiger Zeit wieder eintreffen wurde? Ach, das war wohl alles auf einmal der Fall, alles in gleichem Ma?e; Hans Castorp konnte es sich denken, auch ohne je mit Joachim uber die Sache zu sprechen. Denn dessen enthielt er sich ebenso streng, wie Joachim es vermied, den Namen einer anderen etwas Verreisten zu nennen.

Unterdessen aber, an Settembrinis Tisch, an des Italieners Platz, - wer sa? dort seit kurzem, in Gesellschaft hollandischer Gaste, deren Appetit so ungeheuer war, da? jeder von ihnen sich zu Anfang des taglichen

Funf-Gange-Diners, noch vor der Suppe, drei Spiegeleier servieren lie?? Es war Anton Karlowitsch Ferge, er, der das hollische Abenteuer des Pleura-Choks erprobt hatte! Ja, Herr Ferge war au?er Bett; auch ohne Pneumothorax hatte sein Zustand sich so gebessert, da? er den gro?ten Teil des Tages mobilund angekleidet verbrachte und mit seinem gutmutig-bauschigen Schnurrbart und seinem ebenfalls gutmutig wirkenden gro?en Kehlkopf an den Mahlzeiten teilnahm. Die Vettern plauderten manchmal mit ihm in Saal und Halle, und auch fur die Dienstpromenaden taten sie sich dann und wann, wenn es sich eben so traf, mit ihm zusammen, Neigung im Herzen fur den schlichten Dulder, der von hohen Dingen gar nichts zu verstehen erklarte und, dies vorausgesandt, uberaus behaglich von Gummischuhfabrikation und fernen Gebieten des russischen Reiches, Samara, Georgien, erzahlte, wahrend sie im Nebel durch den Schneewasserbrei stapften.

Denn die Wege waren wirklich kaum gangbar jetzt, sie befanden sich in voller Auflosung, und die Nebel brauten. Der Hofrat sagte zwar, es seien keine Nebel, es seien Wolken; aber das war Wortfuchserei nach Hans Castorps Urteil. Der Fruhling focht einen schweren Kampf, der sich, unter hundert Ruckfallen ins Bitter-Winterliche, durch Monate, bis in den Juni hinein, erstreckte. Schon im Marz, wenn die Sonne schien, war es auf dem Balkon und im Liegestuhl, trotz leichtester Kleidung und Sonnenschirm, vor Hitze kaum auszuhalten gewesen, und es gab Damen, die schon damals Sommer gemacht und bereits beim ersten Fruhstuck Musselinkleider vorgefuhrt hatten. Sie waren in einem Grade entschuldigt durch die Eigenart des Klimas hier oben, das Verwirrung begunstigte, indem es die Jahreszeiten meteorologisch durcheinander warf; aber es war auch bei ihrem Vorwitz viel Kurzsicht und Phantasielosigkeit im Spiel, jene Dummheit von Augenblickswesen, die nicht zu denken vermag, da? es noch wieder anders kommen kann, sowie vor allem Gier nach Abwechslung und zeitverschlingende Ungeduld: man schrieb Marz, das war Fruhling, das war so gut wie Sommer, und man zog die Musselinkleider hervor, um sich darin zu zeigen, ehe der Herbst einfiel. Und das tat er, gewisserma?en. Im April fielen trube, na?kalte Tage ein, deren Dauerregen in Schnee, in wirbelnden Neuschnee uberging. Die Finger erstarrten in der Loggia, die beiden Kamelhaardecken traten ihren Dienst wieder an, es fehlte nicht viel, da? man zum Pelzsack gegriffen hatte, die Verwaltung entschlo? sich, zu heizen, und jedermann klagte, man werde um seinen Fruhling betrogen. Alles war dick verschneit gegen Ende des Monats; aber dann

kam Fohn auf, vorausgesagt, vorausgewittert von erfahrenen und empfindlichen Gasten: Frau Stohr sowohl, wie die elfenbeinfarbene Levi, wie nicht minder die Witwe Hessenfeld spurten ihn einstimmig schon, bevor noch das kleinste Wolkchen uber dem Gipfel des Granitbergs im Suden sich zeigte. Frau Hessenfeld neigte alsbald zu Weinkrampfen, die Levi wurde bettlagrig, und Frau Stohr, die Hasenzahne storrisch entblo?t, bekundete stundlich die aberglaubische Befurchtung, ein Blutsturz mochte sie ereilen; denn die Rede ging, da? Fohnwind dergleichen befordere und bewirke. Unglaubliche Warme herrschte, die Heizung erlosch, man lie? uber Nacht die Balkontur offen und hatte trotzdem morgens elfGrad im Zimmer; der Schnee schmolz gewaltig, er wurde eisfarben, poros und locherig, sackte zusammen, wo er zu Hauf lag, schien sich in die Erde zu verkriechen. Ein Sickern, Sintern und Rieseln war uberall, ein Tropfen und Sturzen im Walde, und die geschaufelten Schranken an den Stra?en, die bleichen Teppiche der Wiesen verschwanden, wenn auch die Massen allzu reichlich gelegen hatten, um rasch zu verschwinden. Da gab es wundersame Erscheinungen, Fruhlingsuberraschungen auf Dienstwegen im Tal, marchenhaft, nie gesehen. Ein Wiesengebreite lag da, - im Hintergrunde ragte der Schwarzhornkegel, noch ganz im Schnee, mit dem ebenfalls noch tief verschneiten Scalettagletscher rechts in der Nahe, und auch das Gelande mit seinem Heuschober irgendwo lag noch im Schnee, wenn auch die Decke schon dunn und schutter war, von rauhen und dunklen Bodenerhebungen da und dort unterbrochen, von trockenem Grase uberall durchstochen. Das war jedoch, wie die Wanderer fanden, eine unregelma?ige Art von Verschneitheit, die diese Wiese da aufwies, - in der Ferne, gegen die waldigen Lehnen hin, war sie dichter, im Vordergrund aber, vor den Augen der Prufenden, war das noch winterlich durre und mi?farbene Gras mit Schnee nur noch gesprenkelt, betupft, beblumt ... Sie sahen es naher an, sie beugten sich staunend daruber, - das war kein Schnee, es waren Blumen, Schneeblumen, Blumenschnee, kurzstielige kleine Kelche, wei? und wei?blaulich, es war Krokus, bei ihrer Ehre, millionenweise dem sickernden Wiesengrunde entsprossen, so dicht, da? man ihn gut und gern hatte fur Schnee halten konnen, in den er weiterhin denn auch ununterscheidbar uberging.

Sie lachten uber ihren Irrtum, lachten vor Freude uber das Wunder vor ihren Augen, diese lieblich zaghafte und nachahmende Anpassung des zuerst sich wieder hervorgetrauenden organischen Lebens. Sie pfluckten davon, betrachteten und untersuchten die zarten Bechergebilde,

schmuckten ihre Knopflocher damit, trugen sie heim, stellten sie in die Wasserglaser auf ihren Zimmern; denn die unorganische Starre des Tales war lang gewesen, - lang, wenn auch kurzweilig.

Aber der Blumenschnee wurde mit wirklichem zugedeckt, und auch den blauen Soldanellen, den gelben und roten Primeln erging es so, die ihm folgten. Ja, wie schwer der Fruhling es hatte, sich durchzuringen und den hiesigen Winter zu uberwaltigen! Zehnmal ward er zuruckgeworfen, bevor er Fu? fassen konnte hier oben, - bis zum nachsten Einbruch des Winters, mit wei?em Gestober, Eiswind und Heizungsbetrieb. Anfang Mai(denn nun ist es gar schon Mai geworden, wahrend wir von den Schneeblumen erzahlten), Anfang Mai war es schlechthin eine Qual, in der Loggia nur eine Postkarte ins Flachland zu schreiben, so schmerzten die Finger vor rauher Novembernasse; und die funfeinhalb Laubbaume der Gegend waren kahl wie die Baume der Ebene im Januar. Tagelang wahrte der Regen, eine Woche lang sturzte er nieder, undohne die versohnenden Eigenschaften des hiesigen Liegestuhltyps ware es uberaus hart gewesen, im Wolkenqualm, mit nassem, starrem Gesicht, so viele Ruhestunden im Freien zu verbringen. Insgeheim aber war es ein Fruhlingsregen, um den es sich handelte, und mehr und mehr, je langer er dauerte, gab er als solcher sich auch zu erkennen. Fast aller Schnee schmolz unter ihm weg; es gab kein Wei? mehr, nur hie und da noch ein schmutziges Eisgrau, und nun begannen wahrhaftig die Wiesen zu grunen!

Welch milde Wohltat furs Auge, das Wiesengrun, nach dem unendlichen Wei?! Und noch ein anderes Grun war da, an Zartheit und lieblicher Weiche das Grun des neuen Grases noch weit ubertreffend. Das waren die jungen Nadelbuschel der Larchen, - Hans Castorp konnte auf Dienstwegen selten umhin, sie mit der Hand zu liebkosen und sich die Wange damit zu streicheln, so unwiderstehlich lieblich waren sie in ihrer Weichheit und Frische. "Man konnte zum Botaniker werden," sagte der junge Mann zu seinem Begleiter, "man konnte wahr und wahrhaftig Lust bekommen zu dieser Wissenschaft vor lauter Spa? an dem Wiedererwachen der Natur nach einem Winter bei uns hier oben! Das ist ja Enzian, Mensch, was du da am Abhange siehst, und dies hier ist eine gewisse Sorte von kleinen gelben Veilchen, mir unbekannt. Aber hier haben wir Ranunkeln, sie sehen unten ja auch nicht anders aus, aus der Familie der Ranunkulazeen, gefullt, wie mir auffallt, eine besonders reizende Pflanze, zwittrig ubrigens, du siehst da eine Menge Staubgefa?e

und eine Anzahl Fruchtknoten, ein Androzeum und ein Gynazeum, soviel ich behalten habe. Ich glaube bestimmt, ich werde mir einen oder den anderen botanischen Schmoker zulegen, um mich etwas besser zu informieren auf diesem Lebens- und Wissensgebiet. Ja, wie es nun bunt wird auf der Welt!"

"Das kommt noch besser im Juni", sagte Joachim. "Die Wiesenblute hier ist ja beruhmt. Aber ich glaube doch nicht, da? ich sie abwarte. - Das hast du wohl von Krokowski, da? du Botanik studieren willst?"

Krokowski? Wie meinte er das? Ach so, er kam darauf, weil Dr. Krokowski sich neulich botanisch gebardet hatte bei einer seiner Konferenzen. Denn der ginge freilich fehl, der meinte, die durch die Zeit gezeitigten Veranderungen waren so weit gegangen, da? Dr. Krokowski keine Vortrage mehr gehalten hatte! Vierzehntagig hielt er sie, nach wie vor, im Gehrock, wenn auch nicht mehr in Sandalen, die er nur sommers trug und also nun bald wieder tragen wurde, - jeden zweiten Montag im Speisesaal, wie damals, als Hans Castorp, mit Blut beschmiert, zu spat gekommen war, in seinen ersten Tagen. Drei Vierteljahre lang hatte der Analytiker uber Liebe und Krankheit gesprochen, - nie viel auf einmal, inkleinen Portionen, in halb- bis dreiviertelstundigen Plaudereien, breitete er seine Wissens- und Gedankenschatze aus, und jedermann hatte den Eindruck, da? er nie werde aufzuhoren brauchen, da? es immer und ewig so weitergehen konne. Das war eine Art von halbmonatlicher "Tausendundeine Nacht", sich hinspinnend von Mal zu Mal ins Beliebige und wohlgeeignet, wie die Marchen der Scheherezade, einen neugierigen Fursten zu befrieden und von Gewalttaten abzuhalten. In seiner Uferlosigkeit erinnerte Dr. Krokowskis Thema an das Unternehmen, dem Settembrini seine Mitarbeit geschenkt, die Enzyklopadie der Leiden; und als wie abwandlungsfahig es sich erwies, moge man daraus ersehen, da? der Vortragende neulich sogar von Botanik gesprochen hatte, genauer: von Pilzen ... Ubrigens hatte er den Gegenstand vielleicht ein wenig gewechselt; es war jetzt eher die Rede von Liebe und Tod, was denn zu mancher Betrachtung teils zart poetischen, teils aber unerbittlich wissenschaftlichen Geprages Anla? gab. In diesem Zusammenhang also war der Gelehrte in seinem ostlich schleppenden Tonfall und mit seinem nur einmal anschlagenden Zungen-R auf Botanik gekommen, das hei?t auf die Pilze, - diese uppigen und phantastischen Schattengeschopfe des organischen Lebens, fleischlich von Natur, dem Tierreich sehr nahe stehend, - Produkte tierischen

Stoffwechsels, Eiwei?, Glykogen, animalische Starke also, fanden sich in ihrem Aufbau. Und Dr. Krokowski hatte von einem Pilz gesprochen, beruhmt schon seit dem klassischen Altertum seiner Form und der ihm zugeschriebenen Krafte wegen, - einer Morchel, in deren lateinischem Namen das Beiwort impudicus vorkam, und dessen Gestalt an die Liebe, dessen Geruch jedoch an den Tod erinnerte. Denn das war auffallenderweise Leichengeruch, den der Impudicus verbreitete, wenn von seinem glockenformigen Hute der grunliche, zahe Schleim abtropfte, der ihn bedeckte, und der Trager der Sporen war. Aber bei Unbelehrten galt der Pilz noch heute als aphrodisisches Mittel.

Na, etwas stark war das ja gewesen fur die Damen, hatte Staatsanwalt Paravant gefunden, der, moralisch gestutzt durch des Hofrats Propaganda, die Schneeschmelze hier uberdauerte. Und auch Frau Stohr, die ebenfalls charaktervoll standhielt und jeder Versuchung zu wilder Abreise die Stirne bot, hatte bei Tische geau?ert, heute sei Krokowski denn aber doch "obskur" gewesen mit seinem klassischen Pilz. "Obskur", sagte die Unselige und schandete ihre Krankheit durch namenlose Bildungsschnitzer. Woruber aber Hans Castorp sich wunderte, war, da? Joachim auf Dr. Krokowski und seine Botanik anspielte; denn eigentlich war zwischen ihnen von dem Analytiker ebensowenig die Rede, wie von der Person Clawdia Chauchats oder der Marusjas, - sie erwahnten ihn nicht, sie ubergingen sein Wesen und Wirken lieber mit Stillschweigen. Jetzt aber also hatte Joachim den Assistenten genannt, - in mi?launigem Tone, wie ubrigens auch schon seine Bemerkung, da? er die volle Wiesenblute nicht abwarten wolle, recht mi?launig geklungen hatte. Der gute Joachim, nachgerade schien er im Begriff,sein Gleichgewicht einzubu?en; seine Stimme schwankte beim Sprechen vor Gereiztheit, er war an Sanftmut und Besonnenheit durchaus nicht mehr der alte. Entbehrte er das Apfelsinenparfum? Brachte die Fopperei mit der Gaffky-Nummer ihn zur Verzweiflung? Konnte er nicht mit sich selber ins Reine daruber kommen, ob er den Herbst hier erwarten oder falsche Abreise halten sollte?

In Wirklichkeit war es noch etwas anderes, wodurch dies gereizte Beben in Joachims Stimme kam und weshalb er des botanischen Kollegs von neulich in fast hohnischem Tone erwahnt hatte. Von diesem Etwas wu?te Hans Castorp nichts, oder vielmehr, er wu?te nicht, da? Joachim davon wu?te, denn er selbst, dieser Durchganger, dies Sorgenkind des Lebens und der Padagogik, er wu?te nur zu gut davon. Mit einem Worte,

Joachim war seinem Vetter auf gewisse Schliche gekommen, er hatte ihn unversehens bei einer Verraterei belauscht, ahnlich derjenigen, deren er sich am Faschingsdienstag schuldig gemacht, - einer neuen Treulosigkeit, verscharft durch den Umstand, an dem nicht zu zweifeln war, da? Hans Castorp sie dauernd verubte.

Zum ewig eintonigen Rhythmus des Zeitablaufs, zur kurzweilig feststehenden Gliederung des Normaltages, der immer derselbe, der sich selbst zum Verwechseln und bis zur Verwirrung ahnlich war, identisch mit sich, die stehende Ewigkeit, so da? schwer zu begreifen war, wie er Veranderung zu zeitigen vermochte, - zur unverbruchlichen Alltagsordnung also gehorte, wie jedermann sich erinnert, der Rundgang Dr. Krokowskis zwischen halb vier und vier Uhr nachmittags durch alle Zimmer, das ist uber alle Balkons, von Liegestuhl zu Liegestuhl. Wie oft hatte nicht der Berghof-Normaltag sich erneut, seit damals, als Hans Castorp in seiner horizontalen Lebenslage sich geargert hatte, weil der Assistent einen Bogen um ihn beschrieb und ihn nicht in Betracht zog! Langst war aus dem Gaste von damals ein Kamerad geworden, - Dr. Krokowski redete ihn sogar haufig mit diesem Namen an bei seiner Kontrollvisite, und wenn das militarische Wort, dessen r-Laut er auf exotische Weise durch nur einmaliges Anschlagen der Zunge am vorderen Gaumen hervorbrachte, ihm auch scheu?lich zu Gesichte stand, wie Hans Castorp gegen Joachim geurteilt hatte, so pa?te es doch nicht schlecht zu seiner stammigen, mannhaft heiteren und zu frohlichem Vertrauen auffordernden Art, die freilich wiederum durch seine Schwarzbleichheit in gewisser Weise Lugen gestraft wurde, und der denn doch etwas Bedenkliches jederzeit anhaftete.

"Nun, Kamerad, wie gehts, wie stehts!" sagte Dr. Krokowski, indem er, vom russischen Barbarenpaare kommend, an das Kopfende von Hans Castorps Lager trat; und der so frischerweise Angeredete, die Hande auf der Brust gefaltet, lachelte taglich wieder gepeinigt-freundlich uber die scheu?liche Anrede, indem er des Doktors gelbe Zahne betrachtete, die sich in seinem schwarzen Barte zeigten. "Recht wohl geruht?" fuhr Dr. Krokowski dann wohl fort. "Fallende Kurve? Steigende heut? Nun, hat nichtsauf sich, kommt bis zur Hochzeit schon wieder in Ordnung. Ich gru?e Sie." Und mit diesem Wort, das ebenfalls scheu?lich klang, da er es wie "gdie?e" sprach, ging er schon weiter, zu Joachim hinuber - es handelte sich um einen Rundgang, einen kurzen Blick nach dem Rechten und um nichts weiter.

Manchmal freilich auch verweilte Dr. Krokowski sich langer, plauderte, breitschultrig dastehend und immer mannhaft lachelnd, mit dem Kameraden uber dies und jenes, uber die Witterung, uber Abreisen und Ankunfte, uber des Patienten Stimmung, seine gute oder schlechte Laune, seine personlichen Verhaltnisse auch wohl, seine Herkunft und seine Aussichten, bis er "ich gdie?e Sie" sagte und weiterging; und Hans Castorp, die Hande zur Abwechslung hinter dem Kopf gefaltet, antwortete ihm, ebenfalls lachelnd, auf all das, - mit dem durchdringenden Gefuhle der Scheu?lichkeit, gewi?, aber er antwortete ihm. Sie plauderten gedampft, - obgleich die glaserne Scheidewand die Loggien nicht vollig trennte, konnte Joachim die Unterhaltung nebenan nicht verstehen und machte ubrigens auch nicht den leisesten Versuch dazu. Er horte seinen Vetter sogar vom Liegestuhl aufstehen und mit Dr. Krokowski ins Zimmer gehen, vermutlich um ihm seine Fieberkurve zu zeigen; und dort setzte dann das Gesprach sich wohl noch eine langere Weile fort, der Verzogerung nach zu urteilen, womit der Assistent auf dem inneren Wege bei Joachim eintraf.

Woruber plauderten die Kameraden? Joachim fragte nicht; aber sollte jemand aus unserer Mitte sich an ihm kein Beispiel nehmen und die Frage aufwerfen, so ist allgemein darauf hinzuweisen, wieviel Stoff und Anla? zu geistigem Austausch vorhanden ist zwischen Mannern und Kameraden, deren Grundanschauungen idealistisches Geprage tragen, und von denen der eine auf seinem Bildungswege dazu gelangt ist, die Materie als den Sundenfall des Geistes, als eine schlimme Reizwucherung desselben aufzufassen, wahrend der andere, als Arzt, den sekundaren Charakter organischer Krankheit zu lehren gewohnt ist. Wie manches, meinen wir, lie? sich da nicht erortern und austauschen uber die Materie als unehrbare Ausartung des Immateriellen, uber das Leben als Impudizitat der Materie, uber die Krankheit als unzuchtige Form des Lebens! Da konnte, unter Anlehnung an laufende Konferenzen, die Rede gehen von der Liebe als krankheitbildender Macht, vom ubersinnlichen Wesen des Merkmals, uber "alte" und "frische" Stellen, uber losliche Gifte und Liebestranke, uber die Durchleuchtung des Unbewu?ten, den Segen der Seelenzergliederung, die Ruckverwandlung des Symptoms - und was wissen wir, - von deren Seite dies alles nur Vorschlage und Vermutungen sind, wenn die Frage aufgeworfen wird, was Dr. Krokowski und der junge Hans Castorp miteinander zu plaudern hatten!

Ubrigens plauderten sie nicht mehr, das lag zuruck, nur eine Weile, einige Wochen lang war es so gewesen; in letzter Zeit hielt Dr. Krokowski sich bei diesem Patienten wieder nicht langerauf als bei allen anderen, - "Nun, Kamerad?" und "Ich gdie?e Sie", darauf beschrankte sich nun die Visite meistens wieder. Dafur hatte Joachim eine andere Entdeckung gemacht, eben die, die er als Verraterei von seiten Hans Castorps empfand, und gemacht hatte er sie vollig unwillkurlich, ohne in seiner militarischen Arglosigkeit im mindesten auf Spaherwegen gegangen zu sein, das darf man glauben. Er war ganz einfach an einem Mittwoch aus der ersten Liegekur abgerufen worden, hinunterbeordert ins Souterrain, um sich vom Bademeister wiegen zu lassen, - und da sah er es also. Er kam die Treppe hinunter, die reinlich linoleumbelegte Treppe mit Aussicht auf die Tur zum Ordinationszimmer, zu dessen beiden Seiten die Durchleuchtungskabinette gelegen waren, links das organische und rechts um die Ecke das um eine Stufe vertiefte psychische, mit Dr. Krokowskis Besuchskarte an der Tur. Auf halber Hohe der Treppe aber blieb Joachim stehen, denn eben verlie? Hans Castorp, von der Injektion kommend, das Ordinationszimmer. Mit beiden Handen schlo? er die Tur, durch die er rasch getreten war, und wandte sich, ohne um sich zu blicken, nach rechts, gegen die Tur, an der die Karte auf Rei?nageln sa?, und die er mit wenigen, lautlos vorwartswiegenden Schritten erreichte. Er klopfte, neigte sich hin beim Klopfen und hielt das Ohr zu dem pochenden Finger. Und da des Bewohners baritonales "Herein!" mit dem exotisch anschlagenden r-Laut und dem verzerrten Diphthong aus dem Gelasse erschollen war, sah Joachim seinen Vetter im Halbdunkel von Dr. Krokowskis analytischer Grube verschwinden.

Noch jemand

Lange Tage, die langsten, sachlich gesprochen und mit Bezug auf die Anzahl ihrer Sonnenstunden; denn ihrer Kurzweiligkeit vermochte astronomische Ausdehnung nichts anzuhaben, weder was jeden einzelnen betraf, noch ihre einformige Flucht. Fruhlings-Nachtgleiche lag fast drei Monate zuruck, Sommersonnenwende war da. Aber das naturliche Jahr bei uns hier oben folgte dem Kalender zuruckhaltend: erst jetzt, erst dieser Tage war endgultig Fruhling geworden, ein Fruhling noch ohne alle Sommerschwere, wurzig, dunnluftig und leicht, mit silbrig strahlender Himmelsblaue und kindlich kunterbunter Wiesenblute.

Hans Castorp fand an den Hangen dieselben Blumen wieder, von

denen Joachim freundlicherweise ihm einige letzte einst zur Begru?ung ins Zimmer gestellt: Schafsgarbe und Glockenblumen, - ein Zeichen fur ihn, da? das Jahr in sich selber lief. Allein was hatte sich nun nicht alles aus dem jungen, smaragdenen Grase der Schragen und Wiesengebreite des Grundes an organischem Leben als Stern, Kelch und Glocke oder von unregelma?igerer Gestalt, die sonnige Luft mit trockener Wurze erfullend, hervorgebildet: Pechnelken und wilde Stiefmutterchen in ganzen Massen, Ganseblumchen, Margueriten, Primeln in gelb und rot, viel schoner und gro?er, als Hans Castorp sie im Flachlande je erblickt zu haben meinte, soweit er dort unten darauf achtgegeben; dazu die nickenden Soldanellen mit ihren gewimperten Glockchen,blau, purpurn und rosig, eine Spezialitat dieser Sphare.

Er pfluckte von all der Lieblichkeit, trug Strau?e heim, ernsten Sinnes und nicht sowohl zum Schmuck seines Zimmers, als zur streng wissenschaftlichen Bearbeitung, wie er es sich vorgesetzt. Einiges floristische Rustzeug war angeschafft, ein Lehrbuch der allgemeinen Botanik, ein handlicher kleiner Spaten zum Ausheben der Pflanzen, ein Herbarium, eine kraftige Lupe; und damit wirtschaftete der junge Mann in seiner Loggia, - sommerlich gekleidet nun wieder, in einen der Anzuge, die er damals gleich mit sich heraufgebracht, - auch dies ein Merkmal der Jahresrundung.

Frische Blumen standen in mehreren Wasserglasern auf den Mobelplatten des inneren Zimmers, auf dem Lampentischchen zur Seite seines vorzuglichen Liegestuhls. Blumen, halb welk, schon matt, aber noch in Saft, fanden sich lose auf der Balkonbrustung, am Boden der Loggia verstreut, wahrend andere, wohlausgebreitet, zwischen Loschpapierbogen, die ihre Feuchtigkeit tranken, der Presse von Steinen unterlagen, damit Hans Castorp die flachen Trockenpraparate mit gummierten Papierstreifen in sein Album kleben konnte. Er lag, die Knie hochgezogen, dazu noch eins uber das andere geschlagen, und wahrend der Rucken des offen umgelegten Leitfadens auf seiner Brust einen Dachfirst bildete, hielt er das dickgeschliffene Rund des Vergro?erungsglases zwischen seine einfachen blauen Augen und eine Blute, deren Krone er teilweise mit dem Taschenmesser entfernt hatte, um besser den Fruchtboden studieren zu konnen, und die hinter der starken Linse zum abenteuerlich fleischigen Gebilde schwoll. Da schutteten die Staubbeutel, an der Spitze der Filamente, ihren gelben Pollen aus, vom Ovarium starrte der narbige Griffel, und legte man einen Schnitt durch

ihn, so konnte man den zarten Kanal betrachten, durch den die Pollenkorner und -schlauche von zuckriger Ausscheidung in die Fruchtknotenhohle geschwemmt wurden. Hans Castorp zahlte, prufte und verglich; er untersuchte Bau und Stellung der Kelch- und Blumenblatter wie der mannlichen und weiblichen Geschlechtsorgane, beaufsichtigte die Ubereinstimmung dessen, was er sah, mit schematischen und naturlichen Abbildungen, stellte die wissenschaftliche Richtigkeit in dem Bau ihm bekannter Pflanzen mit Befriedigung fest und ging dazu uber, solche, die er nicht zu nennen gewu?t hatte, an der Hand des Linne nach Abteilung, Gruppe, Ordnung, Art, Familie und Gattung zu bestimmen. Da er viel Zeit hatte, gelangen ihm einige Fortschritte in botanischer Systematik auf Grund vergleichender Morphologie. Unter die getrocknete Pflanze ins Herbarium schrieb er kalligraphisch den lateinischen Namen, den die humanistische Wissenschaft ihr galanterweise beigelegt, schrieb ihre kennzeichnenden Eigenschaften dazu und zeigte es dem guten Joachim, der sich wunderte.

Am Abend betrachtete er die Gestirne. Ein Interesse fur das in sich laufende Jahr hatte ihn uberkommen, - der doch schon einige zwanzig Sonnenumlaufe auf Erden verbracht und sich noch niemals um dergleichen gekummert hatte. Wenn wir selbst uns unwillkurlich in Ausdrucken wie "Fruhlings-Nachtgleiche" bewegten, so geschah es in seinemGeist und schon in Hinsicht auf Gegenwartiges. Denn dieser Art waren die Termini, die er neuerdings um sich zu streuen liebte, und auch durch hier einschlagende Kenntnisse setzte er seinen Vetter in Erstaunen.

"Jetzt ist die Sonne nahe daran, ins Zeichen des Krebses zu treten," mochte er auf einem Spaziergang beginnen, "bist du dir daruber im Klaren? Das ist das erste Sommerzeichen des Tierkreises, verstehst du? Es geht nun uber den Lowen und die Jungfrau auf den Herbstpunkt zu, den einen Aquinoktialpunkt, gegen Ende September, wenn wieder der Sonnenort auf den Himmelsaquator fallt, wie neulich im Marz, als die Sonne in den Widderpunkt trat."

"Das ist mir entgangen", sagte Joachim murrisch. "Was redest denn du dir da so gelaufig zusammen? Widderpunkt? Tierkreis?"

"Allerdings, der Tierkreis; zodiacus. Die uralten Himmelszeichen, - Skorpion, Schutze, Steinbock, aquarius und wie sie hei?en, wie soll man sich dafur nicht interessieren! Es sind zwolf, das wirst du wenigstens

wissen, drei fur jede Jahreszeit, die aufsteigenden und die niedersteigenden, der Kreis der Sternbilder, durch die die Sonne wandert, - gro?artig meiner Ansicht nach! Stelle dir vor, da? man sie in einem agyptischen Tempel als Deckenbild gefunden hat, - einem Tempel der Aphrodite noch dazu, nicht weit von Theben. Die Chaldaer kannten sie auch schon, - die Chaldaer, ich bitte dich, dies alte Zauberervolk, arabisch-semitisch, hochgelehrt in Astrologie und Wahrsagerei. Die haben auch schon den Himmelsgurtel studiert, in dem die Planeten laufen, und ihn in die zwolf Sternbildzeichen eingeteilt, die Dodekatemoria, wie sie auf uns gekommen sind. Das ist gro?artig. Es ist die Menschheit!"

"Nun sagst du 'Menschheit', wie Settembrini."

"Ja, wie er, oder etwas anders. Man mu? sie nehmen, wie sie ist, aber gro?artig ist es schon damit. Ich denke viel mit Sympathie an die Chaldaer, wenn ich so liege und den Planeten zusehe, die sie auch schon kannten, denn alle kannten sie nicht, so gescheit sie waren. Aber die sie nicht kannten, kann ich auch nicht sehen, Uranus ist ja erst neulich mit dem Fernrohr entdeckt worden, vor hundertzwanzig Jahren."

"Neulich?"

"Das nenne ich 'neulich', wenn du erlaubst, im Vergleich mit den dreitausend Jahren bis damals. Aber wenn ich so liege und mir die Planeten besehe, dann werden die dreitausend Jahre auch zu 'neulich', und ich denke intim an die Chaldaer, die sie auch sahen und sich ihren Vers darauf machten, und das ist die Menschheit."

"Na, gut; du hast ja gro?zugige Entwurfe in deinem Kopf."

"Du sagst 'gro?zugig', und ich sage 'intim', - wie man es nun nennen will. Aber wenn nun also die Sonne in die Wage tritt, in zirka drei Monaten, dann haben die Tage wieder so weit abgenommen, da? Tag und Nacht gleich sind,und dann nehmen sie weiter ab bis gegen Weihnachten, das ist dir bekannt. Willst du aber, bitte, bedenken, da?, wahrend die Sonne durch die Winterzeichen geht, den Steinbock, den Wassermann und die Fische, die Tage schon wieder zunehmen! Denn dann kommt neuerdings der Fruhlingspunkt, zum dreitausendstenmal seit den Chaldaern, und die Tage wachsen weiter bis ubers Jahr, wenn wieder Sommersanfang ist."

"Selbstverstandlich."

"Nein, das ist eine Eulenspiegelei! Im Winter wachsen die Tage, und

wenn der langste kommt, 21. Juni, Sommersanfang, dann geht es schon wieder bergab, sie werden schon wieder kurzer, und es geht gegen den Winter. Du nennst das selbstverstandlich, aber wenn man einmal davon absieht, da? es selbstverstandlich ist, dann kann einem angst und bange werden, momentweise, und man mochte krampfhaft nach etwas greifen. Es ist, als ob Eulenspiegel es so eingerichtet hatte, da? zu Wintersanfang eigentlich der Fruhling beginnt und zu Sommersanfang eigentlich der Herbst ... Man wird ja an der Nase herumgezogen, im Kreise herumgelockt mit der Aussicht auf etwas, was schon wieder Wendepunkt ist ... Wendepunkt im Kreise. Denn das sind lauter ausdehnungslose Wendepunkte, woraus der Kreis besteht, die Biegung ist unme?bar, es gibt keine Richtungsdauer, und die Ewigkeit ist nicht 'geradeaus, geradeaus', sondern 'Karussell, Karussell'."

"Hor' auf!"

"Sonnwendfeier!" sagte Hans Castorp, "Sommersonnenwende! Bergfeuer und Ringelreihn rund um die lodernde Flamme herum mit angefa?ten Handen! Ich habe es nie gesehen, aber ich hore, so wird es gemacht von urwuchsigen Menschen, so feiern sie die erste Sommernacht, mit der der Herbst beginnt, die Mittagsstunde und Scheitelhohe des Jahres, von wo es abwarts geht, - sie tanzen und drehen sich und jauchzen. Woruber jauchzen sie in ihrer Urwuchsigkeit, - kannst du dir das begreiflich machen? Woruber sind sie so ausgelassen lustig? Weil es nun abwarts geht ins Dunkel, oder vielleicht, weil es bisher aufwarts ging und nun die Wende gekommen ist, der unhaltbare Wendepunkt, Mittsommernacht, die volle Hohe, mit Wehmut im Ubermut? Ich sage es, wie es ist, mit den Worten, die mir dafur einfallen. Es ist melancholischer Ubermut und ubermutige Melancholie, weshalb die Urwuchsigen jauchzen und um die Flamme tanzen, sie tun es aus positiver Verzweiflung, wenn du so sagen willst, zu Ehren der Eulenspiegelei des Kreises und der Ewigkeit ohne Richtungsdauer, in der alles wiederkehrt."

"Ich will nicht so sagen," murmelte Joachim, "bitte, schiebe es nicht auf mich. Es sind ja weitlaufige Dinge, mit denen du dich beschaftigst des Abends, wenn du liegst."

"Ja, ich will nicht leugnen, da? du dich nutzlicher beschaftigst mit deiner russischen Grammatik. Du mu?t die Sprache nachstens ja flie?end beherrschen, Mensch, naturlich ein gro?er Vorteil fur dich, wenn es Krieg gibt, was Gott verhute."

"Verhute? Du sprichst wie ein Zivilist. Krieg ist notwendig. Ohne Kriegewurde bald die Welt verfaulen, hat Moltke gesagt."

"Ja, dazu hat sie wohl eine Neigung. Und so viel kann ich dir zugeben", setzte Hans Castorp an und wollte eben auf die Chaldaer zuruckkommen, die ebenfalls Krieg gefuhrt und Babylonien erobert hatten, obgleich sie Semiten und also beinahe Juden gewesen seien, - als beide gleichzeitig gewahr wurden, da? zwei Herren, die dicht vor ihnen gingen, die Kopfe nach ihnen wandten, aufmerksam gemacht durch ihre Reden, gestort in eigener Unterhaltung.

Es war auf der Hauptstra?e, zwischen dem Kurhaus und dem Hotel Belvedere, auf dem Ruckweg nach Davos-Dorf. Das Tal lag im Festkleide, in zarten, lichten und frohen Farben. Die Luft war kostlich. Eine Sinfonie von heiteren Wiesenblumenduften erfullte die reine, trockene, klar durchsonnte Atmosphare.

Sie erkannten Lodovico Settembrini zur Seite eines Fremden; doch schien es, als erkenne er seinerseits sie nicht oder als wunsche er kein Zusammentreffen, denn er wandte rasch den Kopf wieder ab und vertiefte sich gestikulierend in die Unterhaltung mit seinem Begleiter, wobei er sogar rascher vorwarts zu kommen suchte. Als freilich die Vettern, rechts neben ihm, durch heitere Verbeugung gru?ten, stellte er sich wunder wie angenehm uberrascht, mit "Sapristi!" und "Teufel noch einmal!", wollte aber nun wieder zuruckhalten, die beiden voruber- und vorangehen lassen, was sie jedoch nicht verstanden, das hei?t: nicht bemerkten, weil sie keine Vernunft darin sahen. Ehrlich erfreut vielmehr, ihm nach langerer Trennung wieder zu begegnen, hielten sie sich bei ihm und schuttelten ihm die Hand, indem sie nach seinem Ergehen fragten und in hoflicher Erwartung dabei zu seinem Gefahrten hinuberblickten. So zwangen sie ihn, zu tun, was er offenbar lieber nicht getan hatte, was aber ihnen als die naturlichste und zu gewartigendste Sache von der Welt erschien: namlich sie mit jenem bekannt zu machen, - was denn also im Gehen und halben Stehenbleiben derart geschah, da? Settembrini, vor sich, mit verbindenden Handbewegungen und lustigen Reden die Herren miteinander in Beziehung setzte, sie vor seiner Brust sich die Hande reichen lie?.

Es stellte sich heraus, da? der Fremde, der Settembrinis Jahre haben mochte, dessen Hausgenosse war: der andere Aftermieter Lukaceks, des Damenschneiders, Naphta mit Namen, soviel die jungen Leute verstanden. Er war ein kleiner, magerer Mann, rasiert und von so

scharfer, man mochte sagen: atzender Ha?lichkeit, da? die Vettern sich geradezu wunderten. Alles war scharf an ihm: die gebogene Nase, die sein Gesicht beherrschte, der schmal zusammengenommene Mund, die dickgeschliffenen Glaser der im ubrigen leicht gebauten Brille, die er vor seinen hellgrauen Augen trug, und selbst das Schweigen, das er bewahrte, und dem zu entnehmen war, da? seine Rede scharf und folgerecht sein werde. Er war barhaupt, wie es sich gehorte, und im blo?en Anzug, - sehrwohlgekleidet dabei: sein dunkelblauer Flanellanzug mit wei?en Streifen zeigte guten, gehalten modischen Schnitt, wie der weltkindlich prufende Blick der Vettern feststellte, die ubrigens einem ebensolchen, nur rascheren und scharferen, an ihren Personen hinabgleitenden Blick von seiner, des kleinen Naphta Seite, begegneten. Hatte Lodovico Settembrini seinen faserigen Flaus und seine gewurfelten Hosen nicht mit so viel Anmut und Wurde zu tragen gewu?t, - seine Erscheinung hatte unvorteilhaft abstechen mussen von der feinen Gesellschaft. Sie tat es jedoch um so weniger, als die Gewurfelten frisch aufgebugelt waren, so da? man sie auf den ersten Blick fast fur neu hatte halten konnen, - ein Werk seines Quartiergebers zweifellos, nach beilaufiger Uberlegung der jungen Leute. Wenn aber der ha?liche Naphta nach der Gute und Weltlichkeit seiner Kleidung den Vettern naher stand als seinem Hausgenossen, so ordneten doch nicht allein seine vorgeruckteren Jahre ihn mit diesem gegen die Junglinge zusammen, sondern entschieden noch etwas anderes, was sich am bequemsten auf die Gesichtsfarbe der beiden Paare zuruckfuhren lie?, namlich darauf, da? die einen braun und rotgebrannt, die anderen aber bleich waren: Joachims Gesicht war im Laufe des Winters noch bronzefarbener nachgedunkelt, und dasjenige Hans Castorps gluhte rosenrot unter seinem blonden Scheitel; aber Herrn Settembrinis welscher Blasse, die gar edel zu seinem schwarzen Schnurrbart stand, hatte die Strahlung nichts anzuhaben vermocht, und sein Genosse, obgleich blonden Haares - es war ubrigens aschblond, metallisch-farblos, und er trug es glatt aus der fliehenden Stirn uber den ganzen Kopf zuruckgestrichen -, zeigte gleichfalls die mattwei?e Gesichtshaut brunetter Rassen. Zwei von den vieren trugen Spazierstocke, namlich Hans Castorp und Settembrini; denn Joachim ging aus militarischen Grunden ohne einen solchen, und Naphta legte nach erfolgter Vorstellung sogleich wieder die Hande auf dem Rucken zusammen. Sie waren klein und zart, wie auch seine Fu?e sehr zierlich waren, ubrigens seiner Figur entsprechend. Da? er erkaltet wirkte und auf eine gewisse schwachliche und unforderliche Art hustete,

fiel nicht auf.

Jenen Anflug von Betroffenheit oder Verstimmung beim Gewahrwerden der jungen Leute hatte Settembrini sofort mit Eleganz uberwunden. Er zeigte sich in der besten Laune und machte die drei unter Scherzreden bekannt, - zum Beispiel bezeichnete er Naphta als "Princeps scholasticorum". Die Frohlichkeit, sagte er, "halte glanzvoll Hof im Saale seiner Brust", wie Aretino sich ausgedruckt habe, und das sei des Fruhlings Verdienst, eines Fruhlings, den er sich lobe. Die Herren wu?ten, da? er gegen die Welt hier oben manches auf dem Herzen habe, sooft er es sich bereits davon heruntergeredet. Ehre jedoch dem Hochgebirgsfruhling! - vorubergehend vermoge er ihn mit allen Greueln dieser Sphare zu versohnen. Da fehle alles Verwirrende und Aufreizende des Fruhlings der Ebene. Kein Gebrodel in der Tiefe! Keine feuchten Dufte, kein schwuler Dunst! Sondern Klarheit,Trockenheit, Heiterkeit und herbe Anmut. Es sei nach seinem Herzen, es sei superb!

Sie gingen in unregelma?iger Reihe, nebeneinander alle vier, so weit es moglich war, aber bald, wenn Entgegenkommende vorbeigingen, mu?te Settembrini, der den rechten Flugel hielt, auf die Fahrstra?e treten, bald loste ihre Front durch das Zuruckbleiben und Einlenken einzelner Glieder, Naphtas etwa, linkerseits, oder Hans Castorps, der den Platz zwischen dem Humanisten und Vetter Joachim hatte, sich vorubergehend auf. Naphta lachte kurz, mit einer vom Schnupfen sordinierten Stimme, die beim Sprechen an den Klang eines gesprungenen Tellers erinnerte, an den man mit dem Knochel klopft. Indem er mit dem Kopf seitlich zu dem Italiener hinuberwies, sagte er mit schleppendem Akzent:

"Man hore den Voltairianer, den Rationalisten. Er lobt die Natur, weil sie uns auch bei fertilster Gelegenheit nicht mit mystischen Dampfen verwirrt, sondern klassische Trockenheit wahrt. Wie hie? doch die Feuchtigkeit auf lateinisch?"

"Der Humor," rief Settembrini uber die linke Schulter, "der Humor in der Naturbetrachtung unseres Professors besteht darin, da? er, wie die heilige Katharina von Siena, an die Wunden Christi denkt, wenn er rote Primeln sieht."

Naphta erwiderte:

"Das ware eher witzig als humoristisch. Aber es hie?e immerhin Geist in die Natur tragen. Sie hat es notig."

"Die Natur," sagte Settembrini mit gesenkter Stimme und nicht mehr vollig uber die Schulter hinweg, sondern nur noch an ihr hinunter, "hat Ihren Geist durchaus nicht notig. Sie ist selber Geist."

"Sie langweilen sich nicht mit Ihrem Monismus?"

"Ah, Sie geben also zu, da? es Vergnugungssucht ist, wenn Sie die Welt feindlich entzweien, Gott und Natur auseinanderrei?en!"

"Es interessiert mich, da? Sie Vergnugungssucht nennen, was ich im Sinne habe, wenn ich Passion und Geist sage."

"Zu denken, da? Sie, der so gro?e Worte fur so frivole Bedurfnisse setzt, mich manchmal einen Redner nennen!"

"Sie bleiben dabei, da? Geist Frivolitat bedeutet. Aber er kann nichts dafur, da? er von Hause aus dualistisch ist. Der Dualismus, die Antithese, das ist das bewegende, das leidenschaftliche, das dialektische, das geistreiche Prinzip. Die Welt feindlich gespalten sehen, das ist Geist. Aller Monismus ist langweilig. Solet Aristoteles quaerere pugnam."

"Aristoteles? Aristoteles hat die Wirklichkeit der allgemeinen Ideen in die Individuen verlegt. Das ist Pantheismus."

"Falsch. Geben Sie den Individuen substantiellen Charakter, denken Sie das Wesen der Dinge aus dem Allgemeinen fort in die Einzelerscheinung, wie Thomas und Bonaventura es als Aristoteliker taten, so haben Sie die Welt aus jeder Einheit mit der hochsten Idee gelost, sie ist au?ergottlich und Gott transzendent. Das ist klassisches Mittelalter, mein Herr."

"Klassisches Mittelalter ist eine kostliche Wortverbindung!"

"Ich bitte um Entschuldigung, aber ich lasse den Begriff des Klassischen statthaben, wo er am Platze ist, das hei?t, wo immer eine Idee auf ihren Gipfel kommt. Die Antike warnicht immer klassisch. Ich stelle eine Abneigung gegen die ... Freizugigkeit der Kategorien bei Ihnen fest, gegen das Absolute. Sie wollen auch nicht den absoluten Geist. Sie wollen, der Geist, das sei der demokratische Fortschritt."

"Ich hoffe uns einig in der Uberzeugung, da? der Geist, so absolut er sei, niemals den Anwalt der Reaktion wird machen konnen."

"Er ist jedoch immer der Anwalt der Freiheit!"

"Jedoch? Freiheit ist das Gesetz der Menschenliebe, nicht Nihilismus und Bosheit."

"Wovor Sie offenbar Angst haben."

Settembrini warf den Arm uber den Kopf. Das Geplankel brach ab. Joachim blickte verwundert von einem zum andern, wahrend Hans Castorp mit hochgezogenen Brauen auf seinen Weg niedersah. Naphta hatte scharf und apodiktisch gesprochen, wiewohl er es gewesen war, der die weitere Freiheit verfochten hatte. Besonders seine Art, mit "Falsch!" zu widersprechen, bei dem "sch"-Laut die Lippen vorzuschieben und dann den Mund zu verkneifen, war unangenehm. Settembrini hatte ihm teils auf heiterere Weise Widerpart gehalten, teils auch eine schone Warme in seine Worte gelegt, etwa dort, wo er zur Einigkeit in gewissen Grundgesinnungen gemahnt hatte. Jetzt, wahrend Naphta schwieg, begann er, den Vettern die Existenz des ihnen Fremden zu erlautern, womit er dem Bedurfnis nach Aufklarung entgegenkam, das er nach seinem Wortwechsel mit Naphta bei ihnen voraussetzte. Dieser lie? es geschehen, ohne sich darum zu kummern. Er sei Professor der alten Sprachen in den obersten Klassen des Fridericianums, erklarte Settembrini, indem er den Stand des Vorzustellenden nach italienischer Art moglichst pomphaft herausstrich. Sein Schicksal sei dem seinen, Settembrinis eigenem, gleich. Durch seinen Gesundheitszustand vor funf Jahren heraufgefuhrt, habe er sich uberzeugen mussen, da? er des Aufenthaltes fur lange Frist bedurftig sei, habe sein Sanatorium verlassen und sich privat-ansassig gemacht, bei Lukacek, dem Damenschneider. Des hervorragenden Latinisten, Zoglings einer Ordensschule, wie er sich etwas unbestimmt ausdruckte, habe sich klugerweise die hohere Lehranstalt des Ortes als eines Dozenten versichert, der ihr zur Zierde gereiche ... Kurz, Settembrini erhob den ha?lichen Naphta nicht wenig, obgleich er doch eben noch etwas wie einen abstrakten Streit mit ihm gehabt, und obgleich dieser streitahnliche Wortwechsel sich sogleich fortsetzen sollte.

Settembrini ging namlich jetzt dazu uber, Herrn Naphta Erlauterungen uber die Vettern zu geben, wobei sich ubrigens zeigte, da? er ihm schon fruher von ihnen erzahlt hatte. Dies sei also der junge Ingenieur mit den drei Wochen, bei dem Hofrat Behrens eine feuchte Stelle gefunden habe, sagte er, und dies hier jene Hoffnung der preu?ischen Heeresorganisation, Leutnant Ziem?en. Und er sprach von Joachims Gemutsemporung und Reiseplanen, um hinzuzufugen, da? man dem Ingenieur zweifellos zu nahe treten wurde, wenn man ihm nicht dieselbe Ungeduld zuschriebe, zur Arbeit zuruckzukehren.

Naphta verzog das Gesicht. Er sagte:

"Die Herren haben da einen beredten Vormund. Ich hutemich, zu bezweifeln, da? er Ihre Gedanken und Wunsche zutreffend verdolmetscht. Arbeit, Arbeit -, ich bitte, gleich wird er mich einen Feind der Menschheit schelten, einen inimicus humanae naturae, wenn ich es wage, an Zeiten zu erinnern, wo er mit dieser Fanfare den gewohnten Effekt durchaus nicht erzielt hatte, namlich an Zeiten, wo das Gegenteil seines Ideals in unvergleichlich hoheren Ehren stand. Bernhard von Clairvaux etwa lehrte eine andere Stufenfolge der Vollkommenheit, als Herr Lodovico sie sich je hat traumen lassen. Wollen Sie wissen, welche? Sein unterster Stand befindet sich in der 'Muhle', der zweite auf dem 'Acker', der dritte und lobenswerteste aber - horen Sie nicht zu, Settembrini -, 'auf dem Ruhebett'. Die Muhle, das ist das Sinnbild des Weltlebens, - nicht schlecht gewahlt. Der Acker bedeutet die Seele des weltlichen Menschen, darauf der Prediger und geistliche Lehrer wirkt. Diese Stufe ist schon wurdiger. Auf dem Bette aber -"

"Genug! Wir wissen!" rief Settembrini. "Meine Herren, jetzt wird er Ihnen Zweck und Gebrauch des Lotterbettes vor Augen fuhren!"

"Ich wu?te nicht, da? Sie prude sind, Lodovico. Wenn man Sie den Madchen zuzwinkern sieht ... Wo bleibt die heidnische Unbefangenheit? Das Bett also ist der Ort der Beiwohnung des Minnenden mit dem Gemeinten und als Symbolum die beschauliche Abgeschiedenheit von Welt und Kreatur zum Zwecke der Beiwohnung mit Gott."

"Puh! Andate, andate!" wehrte der Italiener fast weinend ab. Man lachte. Dann aber fuhr Settembrini mit Wurde fort:

"Ah, nein, ich bin Europaer, Okzidentale. Ihre Rangordnung da ist reiner Orient. Der Osten verabscheut die Tatigkeit. Lao-Tse lehrte, da? Nichtstun forderlicher sei, als jedes Ding zwischen Himmel und Erde. Wenn alle Menschen aufgehort haben wurden, zu tun, werde vollkommene Ruhe und Gluckseligkeit auf Erden herrschen. Da haben Sie Ihre Beiwohnung."

"Was Sie nicht sagen. Und die abendlandische Mystik? Und der Quietismus, der Fenelon zu den Seinen zahlen darf, und der lehrte, da? jedes Handeln fehlerhaft sei, da tatig sein zu wollen, Gott beleidigen hei?e, der allein handeln wolle? Ich zitiere die Propositionen von Molinos. Es scheint doch, da? die geistige Moglichkeit, das Heil in der Ruhe zu finden, allgemeine menschliche Verbreitung besitzt."

Hier griff Hans Castorp ein. Mit dem Mut der Einfalt mischte er sich ins Gesprach und au?erte ins Leere blickend:

"Beschaulichkeit, Abgeschiedenheit. Es hat was fur sich, es la?t sich horen. Wir leben ja ziemlich hochgradig abgeschieden, wir hier oben, das kann man sagen. Funftausend Fu? hoch liegen wir auf unseren Stuhlen, die auffallend bequem sind, und sehen auf Welt und Kreatur hinunter und machen uns unsere Gedanken. Wenn ich mir's uberlege und soll die Wahrheit sagen, so hat das Bett, ich meine damit den Liegestuhl, verstehen Sie wohl, mich in zehn Monatenmehr gefordert und mich auf mehr Gedanken gebracht, als die Muhle im Flachlande all die Jahre her, das ist nicht zu leugnen."

Settembrini sah ihn mit traurig schimmernden schwarzen Augen an. "Ingenieur," sagte er gepre?t, "Ingenieur!" Und er nahm Hans Castorp am Arm und hielt ihn ein wenig zuruck, gleichsam um hinter dem Rucken der anderen privatim auf ihn einzureden.

"Wie oft habe ich Ihnen gesagt, da? man wissen sollte, was man ist, und denken, wie es einem zukommt! Sache des Abendlanders, trotz aller Propositionen, ist die Vernunft, die Analyse, die Tat und der Fortschritt, - nicht das Faulbett des Monches!"

Naphta hatte zugehort. Er sprach nach hinten:

"Des Monchs! Man dankt den Monchen die Kultur des europaischen Bodens! Man dankt ihnen, da? Deutschland, Frankreich und Italien nicht mit Wildwald und Ursumpfen bedeckt sind, sondern uns Korn, Obst und Wein bescheren! Die Monche, mein Herr, haben sehr wohl gearbeitet ..."

"Ebbe, nun also!"

"Ich bitte. Die Arbeit des Religiosen war weder Selbstzweck, das hei?t: Betaubungsmittel, noch lag ihr Sinn darin, die Welt zu fordern oder geschaftliche Vorteile zu erlangen. Sie war reine asketische Ubung, Bestandteil der Bu?disziplin, Heilsmittel. Sie gewahrte Schutz gegen das Fleisch, diente der Abtotung der Sinnlichkeit. Sie trug also - erlauben Sie mir, das festzustellen - vollig unsozialen Charakter. Sie war ungetrubtester religioser Egoismus."

"Ich bin Ihnen fur die Aufklarung sehr verbunden und freue mich, den Segen der Arbeit auch gegen den Willen des Menschen sich bewahren zu sehen."

"Ja, gegen seine Absicht. Wir bemerken da nichts Geringeres, als den Unterschied zwischen dem Nutzlichen und dem Humanen."

"Ich bemerke vor allem mit Unmut, da? Sie schon wieder Weltentzweiung treiben."

"Ich bedauere, mir Ihr Mi?fallen zugezogen zu haben, aber man mu? die Dinge scheiden und ordnen und die Idee des Homo Dei von unreinen Bestandteilen freihalten. Ihr Italiener habt das Wechslergeschaft und die Banken erfunden; das verzeih' euch Gott. Aber die Englander erfanden die okonomistische Gesellschaftslehre, und das wird der Genius des Menschen ihnen niemals verzeihen."

"Ah, der Genius der Menschheit war auch in den gro?en okonomischen Denkern jener Inseln lebendig! - Sie wollten sprechen, Ingenieur?"

Das leugnete Hans Castorp, sagte aber dennoch - und Naphta sowohl wie Settembrini horten ihm mit einer gewissen Spannung zu:

"An dem Beruf meines Vetters mussen Sie demnach Gefallen haben, Herr Naphta, und einverstanden sein mit seiner Ungeduld, ihn zu ergreifen ... Ich bin ja Zivilist durch und durch, mein Vetter macht es mir ofters zum Vorwurf. Ich habe nicht mal gedient und bin ganz ausgesprochen ein Kind des Friedens und habe sogar schon manchmal gedacht, da? ich sehr gut auch Geistlicher hatte werden konnen, - fragen Sie meinen Vetter, ich habe verschiedentlich sowas geau?ert. Aber wenn ichvon meinen personlichen Neigungen mal absehe - und vielleicht brauch' ich, genau genommen, gar nicht so ganz davon abzusehen -, so habe ich eine Menge Verstandnis und Neigung fur den militarischen Stand. Es hat ja eine verteufelt ernsthafte Bewandtnis damit, eine 'asketische', wenn Sie wollen - Sie waren vorhin so freundlich, den Ausdruck irgendwie zu gebrauchen -, und immer mu? er damit rechnen, es mit dem Tode zu tun zu bekommen, - mit dem ja letzten Endes auch der geistliche Stand es zu tun hat, - womit denn sonst. Daher hat der Soldatenstand die bienseance und die Rangordnung und den Gehorsam und die spanische Ehre, wenn ich so sagen darf, und es ist ziemlich gleich, ob einer einen steifen Uniformkragen tragt oder eine gestarkte Halskrause, es kommt auf dasselbe hinaus, auf das 'Asketische', wie Sie vorhin so hervorragend sich ausdruckten ... Ich wei? nicht, ob es mir gelingt, Ihnen meinen Gedankengang ..."

"Doch, doch", sagte Naphta und warf einen Blick zu Settembrini hinuber, der seinen Stock drehte und den Himmel betrachtete.

"Und darum meine ich," fuhr Hans Castorp fort, "da? die Neigungen meines Vetters Ziem?en Ihnen sympathisch sein mu?ten, nach allem, was Sie sagen. Ich denke da nicht an 'Thron und Altar' und solche Verbindungen, womit manche Leute, so schlechthin ordnungsliebende und einfach blo? wohlgesinnte Leute, die Zusammengehorigkeit

manchmal rechtfertigen. Sondern ich denke daran, da? die Arbeit des Soldatenstandes, das hei?t der Dienst - in diesem Falle spricht man von Dienst - absolut nicht um geschaftlicher Vorteile willen geschieht und zur 'okonomischen Gesellschaftslehre', wie Sie sagten, gar keine Beziehungen hat, weshalb denn auch die Englander nur wenig Soldaten haben, ein paar fur Indien und ein paar zu Hause fur die Parade ..."

"Es ist zwecklos, da? Sie fortfahren, Ingenieur", unterbrach ihn Settembrini. "Die soldatische Existenz - ich sage das, ohne unserm Leutnant zu nahe treten zu wollen - ist geistig indiskutabel, denn sie ist rein formal, an und fur sich ohne Inhalt, der Grundtypus des Soldaten ist der Landsknecht, der sich fur diese oder auch jene Sache anwerben lie?, - kurzum, es gab den Soldaten der spanischen Gegenreformation, den Soldaten der Revolutionsheere, den napoleonischen, den Garibaldis, es gibt den preu?ischen. Lassen Sie mich uber den Soldaten reden, wenn ich wei?, wofur er sich schlagt!"

"Da? er sich schlagt," versetzte Naphta, "bleibt immerhin eine greifbare Eigentumlichkeit seines Standes, lassen wir das gut sein. Es ist moglich, da? sie nicht hinreicht, diesen Stand in Ihrem Sinne 'geistig diskutabel' zu machen, aber sie ruckt ihn in eine Sphare, worein burgerlicher Lebensbejahung jeder Einblick verwehrt ist."

"Was Sie burgerliche Lebensbejahung zu nennen belieben," entgegnete Herr Settembrini mit dem vorderen Teil der Lippen, wahrend seine Mundwinkel unterdem geschwungenen Schnurrbart sich straff in die Breite zogen und sein Hals sich auf ganz eigentumliche Art schrag und ruckweise aus dem Kragen herausschraubte, "wird immer bereit gefunden werden, fur die Ideen der Vernunft und der Sittlichkeit und fur ihren rechtma?igen Einflu? auf junge schwankende Seelen in jeder beliebigen Form einzutreten."

Ein Schweigen folgte. Die jungen Leute blickten betroffen vor sich hin. Nach einigen Schritten sagte Settembrini, der Kopf und Hals wieder in naturliche Stellung gebracht hatte:

"Sie durfen sich nicht wundern, dieser Herr und ich, wir zanken uns oft, aber es geschieht in aller Freundschaft und auf Grund manchen Einverstandnisses."

Das tat wohl. Es war ritterlich und human von Herrn Settembrini. Aber Joachim, der es ebenfalls gut meinte und das Gesprach harmlos fortzufuhren gedachte, sagte trotzdem, als stunde er unter irgendeinem Druck und Zwang, und gleichsam gegen seinen Willen:

"Zufallig sprachen wir vom Kriege, mein Vetter und ich, vorhin, als wir hinter Ihnen gingen."

"Das horte ich", antwortete Naphta. "Ich fing das Wort auf und sah mich um. Politisierten Sie? Erorterten Sie die Weltlage?"

"Oh, nein", lachte Hans Castorp. "Wie sollten wir dazu wohl kommen! Fur meinen Vetter hier ware es von Berufs wegen geradezu unpassend, sich um Politik zu kummern, und ich verzichte freiwillig darauf, verstehe garnichts davon. Seit ich hier bin, habe ich noch nicht einmal eine Zeitung in der Hand gehabt ..."

Settembrini fand das, wie fruher schon einmal, tadelnswert. Er zeigte sich sofort aufs beste unterrichtet uber die gro?en Verhaltnisse und beurteilte sie beifallig insofern, als die Dinge einen der Zivilisation gunstigen Verlauf nahmen. Die europaische Gesamtatmosphare sei von Friedensgedanken, von Abrustungsplanen erfullt. Die demokratische Idee marschiere. Er erklarte, vertrauliche Informationen zu besitzen, dahingehend, das Jungturkentum beende soeben seine Vorbereitungen zu grundsturzenden Unternehmungen. Die Turkei als National- und Verfassungsstaat, - welch ein Triumph der Menschlichkeit!

"Liberalisierung des Islam", spottete Naphta. "Vorzuglich. Der aufgeklarte Fanatismus, - sehr gut. Ubrigens geht das Sie an", wandte er sich an Joachim. "Wenn Abdul Hamid fallt, ist es mit Ihrem Einflu? in der Turkei zu Ende, und England wirft sich zum Protektor auf ... Sie mussen die Verbindungen und Informationen unseres Settembrini durchaus ernst nehmen", sagte er zu beiden Vettern, und auch dies klang impertinent, da er sie fur geneigt zu halten schien, Herrn Settembrini nicht ernst zu nehmen. "In national-revolutionaren Dingen wei? er Bescheid. Bei ihm zu Hause unterhalt man gute Beziehungen zum englischen Balkankomitee. Was wird aber aus den Abmachungen von Reval, Lodovico, wenn Ihre Fortschrittsturken Gluck haben? Eduard der Siebente wird den Russen die Offnung der Dardanellen nicht mehr zugestehen konnen, und wenn Osterreich sich trotzdem zu einer aktiven Balkanpolitik aufrafft, so ..."

"Mit Ihrer Katastrophenprophetie!" wehrte Settembrini ab. "Nikolaus liebt den Frieden. Man verdankt ihmdie Konferenzen im Haag, die moralische Tatsachen ersten Ranges bleiben."

"Ei, Ru?land mu?te sich nach seinem kleinen Mi?geschick im Osten noch etwas Erholung gonnen!"

"Pfui, mein Herr. Sie sollten die Sehnsucht der Menschheit nach ihrer

gesellschaftlichen Vervollkommnung nicht verhohnen. Das Volk, das solche Bestrebungen durchkreuzt, wird sich unzweifelhaft der moralischen Achtung aussetzen."

"Wozu ware die Politik auch da, als einander Gelegenheit zu geben, sich moralisch zu kompromittieren!"

"Sie huldigen dem Pangermanismus?"

Naphta zuckte die Schultern, die nicht ganz gleichma?ig standen. Er war wohl eigentlich etwas schief, zu seiner sonstigen Ha?lichkeit. Er verschmahte es, zu antworten. Settembrini urteilte:

"Jedenfalls ist es zynisch, was Sie da sagen. In den hochherzigen Anstrengungen der Demokratie, sich international durchzusetzen, wollen Sie nichts erblicken, als politische List ..."

"Sie verlangen wohl, da? ich Idealismus oder gar Religiositat darin erblicke? Es handelt sich um letzte, schwachliche Regungen des Restes von Selbsterhaltungsinstinkt, uber den ein verurteiltes Weltsystem noch verfugt. Die Katastrophe soll und mu? kommen, sie kommt auf allen Wegen und auf alle Weise. Nehmen Sie die britische Staatskunst. Englands Bedurfnis, das indische Glacis zu sichern, ist legitim. Aber die Folgen? Eduard wei? so gut wie Sie und ich, da? die Machthaber von Petersburg die mandschurische Scharte auswetzen mussen und die Ableitung der Revolution so notwendig brauchen wie das liebe Brot. Trotzdem lenkt er - er mu? es wohl! - den russischen Ausdehnungsdrang nach Europa, weckt eingeschlummerte Rivalitaten zwischen Petersburg und Wien -"

"Ach, Wien! Sie sorgen sich um dieses Welthindernis, vermutlich, weil Sie in dem morschen Imperium, dessen Haupt es ist, die Mumie des Heiligen Romischen Reiches deutscher Nation erkennen!"

"Und Sie finde ich russophil, vermutlich aus humanistischer Sympathie mit dem Casaro-Papismus."

"Mein Herr, die Demokratie hat selbst vom Kreml mehr zu hoffen, als von der Hofburg, und es ist eine Schande fur das Land Luthers und Gutenbergs -"

"Es ist au?erdem wahrscheinlich eine Dummheit. Aber auch diese Dummheit ist ein Werkzeug der Fatalitat -"

"Ach, gehen Sie mir mit der Fatalitat! Die menschliche Vernunft braucht sich nur starker zu wollen als die Fatalitat, und sie ist es!"

"Gewollt wird immer nur das Schicksal. Das kapitalistische Europa will

das seine."

"Man glaubt an das Kommen des Krieges, wenn man ihn nicht hinlanglich verabscheut!"

"Ihr Abscheu ist logisch abrupt, solange Sie ihn nicht beim Staate selbst beginnen lassen."

"Der nationale Staat ist das Prinzip des Diesseits, das Sie dem Teufel zuschreiben mochten. Machen Sie aber die Nationen frei und gleich, schutzen Sie die kleinen und schwachen vor Unterdruckung, schaffen Sie Gerechtigkeit, schaffen Sie nationale Grenzen ..."

"Die Brennergrenze, ich wei?. Die Liquidation Osterreichs. Wenn ich nur wu?te, wie Sie sie ohne Krieg zu bewerkstelligen gedenken!"

"Und ich wu?te wahrhaftig gern, wann jemals ich den nationalen Krieg verdammt haben soll."

"Ich horedoch wohl -"

"Nein, das mu? ich Herrn Settembrini bestatigen", mischte sich Hans Castorp in den Disput, dem er im Gehen gefolgt war, indem er den jeweils Sprechenden mit schragem Kopfe aufmerksam von der Seite betrachtet hatte. "Mein Vetter und ich haben ja schon manchmal den Vorzug gehabt, uns mit ihm uber diese und ahnliche Dinge zu unterhalten, das hei?t, naturlich lief es darauf hinaus, da? wir ihm zuhorten, wie er seine Meinungen entwickelte und alles klarstellte. Und da kann ich denn bestatigen, und auch mein Vetter hier wird sich daran erinnern, da? Herr Settembrini mehr als einmal mit gro?er Begeisterung von dem Prinzip der Bewegung und der Rebellion und der Weltverbesserung sprach, das ja an sich kein so ganz friedliches Prinzip ist, sollte ich meinen, und da? diesem Prinzip noch gro?e Anstrengungen bevorstanden, ehe es uberall gesiegt haben werde und die allgemeine gluckliche Weltrepublik stattfinden konne. Das waren seine Worte, wenn sie auch naturlich viel plastischer und schriftstellerischer waren als meine, das versteht sich von selbst. Was ich aber ganz genau wei? und wortlich behalten habe, weil ich als ausgepichter Zivilist direkt etwas daruber erschrak, das war, da? er sagte, dieser Tag werde, wenn nicht auf Taubenfu?en, so auf Adlerschwingen kommen(uber die Adlerschwingen erschrak ich, wie ich mich erinnere), und Wien musse aufs Haupt geschlagen sein, wenn man das Gluck in die Wege leiten wolle. Man kann also nicht sagen, da? Herr Settembrini den Krieg uberhaupt verworfen hat. Habe ich recht, Herr Settembrini?"

"Ungefahr", sagte der Italiener kurz, indem er abgewandten Kopfes seinen Stock schwenkte.

"Schlimm", lachelte Naphta ha?lich. "Da sind Sie von Ihrem eigenen Schuler kriegerischer Neigungen uberfuhrt. Assument pennas ut aquilae ..."

"Voltaire selbst hat den Zivilisationskrieg bejaht und Friedrich dem Zweiten den Krieg gegen die Turken empfohlen."

"Statt dessen verbundete er sich mit ihnen, he, he. Und dann die Weltrepublik! Ich unterlasse es, mich zu erkundigen, was aus dem Prinzip der Bewegung und der Rebellion wird, wenn das Gluck und die Vereinigung hergestellt sind. In diesem Augenblick wurde die Rebellion zum Verbrechen ..."

"Sie wissen sehr wohl, und auch diese jungen Herren wissen es, da? es sich um einen als unendlich gedachten Fortschritt der Menschheit handelt."

"Alle Bewegung ist aber kreisformig", sagte Hans Castorp. "Im Raume und in der Zeit, das lehren die Gesetze von der Erhaltung der Masse und von der Periodizitat. Mein Vetter und ich sprachen vorhin noch davon. Kann denn bei geschlossener Bewegung ohne Richtungsdauer von Fortschritt die Rede sein? Wenn ich abends so liege und den Zodiakus betrachte, das hei?t: die Halfte, die zu sehen ist, und an die alten weisen Volker denke ..."

"Sie sollten nicht grubeln und traumen, Ingenieur," unterbrach ihn Settembrini, "sondern sich entschlossen denInstinkten Ihrer Jahre und Ihrer Rasse anvertrauen, die Sie zur Tatigkeit drangen mussen. Auch Ihre naturwissenschaftliche Bildung mu? Sie der Fortschrittsidee verbinden. Sie sehen in ungemessenen Zeitraumen das Leben vom Infusor zum Menschen sich fort- und emporentwickeln, Sie konnen nicht zweifeln, da? dem Menschen noch unendliche Vervollkommnungsmoglichkeiten offen stehen. Versteifen Sie sich denn aber auf die Mathematik, so fuhren Sie Ihren Kreislauf von Vollkommenheit zu Vollkommenheit und erquicken Sie sich an der Lehre unseres achtzehnten Jahrhunderts, da? der Mensch ursprunglich gut, glucklich und vollkommen war, da? nur die gesellschaftlichen Irrtumer ihn entstellt und verdorben haben, und da? er auf dem Wege kritischer Arbeit am Gesellschaftsbau wieder gut, glucklich und vollkommen werden soll, werden wird -"

"Herr Settembrini versaumt, hinzuzufugen," fiel Naphta ein, "da? das

Rousseausche Idyll eine vernunftlerische Verballhornung der kirchlichen Doktrin von der ehemaligen Staat- und Sundlosigkeit des Menschen ist, seiner ursprunglichen Gottesunmittelbarkeit und Gotteskindschaft, zu der er zuruckkehren soll. Die Wiederherstellung des Gottesstaates nach Auflosung aller irdischen Formen liegt aber dort, wo Erde und Himmel, Sinnliches und Ubersinnliches sich beruhren, das Heil ist transzendent, und was Ihre kapitalistische Weltrepublik anbelangt, lieber Doktor, so ist es recht sonderbar, Sie in diesem Zusammenhang vom "Instinkt" reden zu horen. Das Instinktive ist durchaus auf seiten des Nationalen, und Gott selbst hat den Menschen den naturlichen Instinkt eingepflanzt, der die Volker veranla?t hat, sich in verschiedenen Staaten voneinander zu sondern. Der Krieg ..."

"Der Krieg," rief Settembrini, "selbst der Krieg, mein Herr, hat schon dem Fortschritt dienen mussen, wie Sie mir einraumen werden, wenn Sie sich gewisser Ereignisse aus Ihrer Lieblingsepoche, ich meine: wenn Sie sich der Kreuzzuge erinnern! Diese Zivilisationskriege haben die Beziehungen der Volker im wirtschaftlichen und handelspolitischen Verkehr aufs glucklichste begunstigt und die abendlandische Menschheit im Zeichen einer Idee vereinigt."

"Sie sind sehr duldsam gegen die Idee. Desto hoflicher will ich Sie dahin berichtigen, da? die Kreuzzuge nebst der Verkehrsbelebung, die sie zeitigten, nichts weniger als international ausgleichend gewirkt haben, sondern im Gegenteil die Volker lehrten, sich voneinander zu unterscheiden und die Ausbildung der nationalen Staatsidee kraftig forderten."

"Sehr zutreffend, soweit das Verhaltnis der Volker zur Klerisei in Frage kommt. Ja! damals begann das Gefuhl staatlich nationaler Ehre sich gegen hierarchische Anma?ung zu festigen ..."

"Und dabei ist, was Sie hierarchische Anma?ung nennen, nichts als die Idee menschlicher Vereinigung im Zeichen des Geistes!"

"Man kennt diesen Geist, und man bedankt sich."

"Es ist klar, da? Ihre nationale Manie den weltuberwindenden Kosmopolitismus der Kirche verabscheut. Wenn ich nur wu?te, wie Sie den Abscheu vor dem Kriege damit zu vereinigen gedenken. Ihr antikisierender Staatskult mu? Sie zum Verfechter positiver Rechtsauffassung machen, und als solcher ..."

"Sind wir beim Recht? Im Volkerrecht, mein Herr, bleibt der Gedanke

des Naturrechtes und allmenschlicherVernunft lebendig ..."

"Pah, Ihr Volkerrecht ist abermals nichts als eine Rousseausche Verballhornung des ius divinum, das weder mit Natur noch Vernunft etwas zu schaffen hat, sondern auf Offenbarung beruht ..."

"Streiten wir uns nicht um Namen, Professor! Nennen Sie ungehindert ius divinum, was ich als Natur- und Volkerrecht verehre. Die Hauptsache ist, da? uber den positiven Rechten der Nationalstaaten ein hoher-gultiges, allgemeines sich erhebt und die Schlichtung strittiger Interessenfragen durch Schiedsgerichte ermoglicht."

"Durch Schiedsgerichte! Wenn ich das Wort hore! Durch ein burgerliches Schiedsgericht, das uber Fragen des Lebens entscheidet, Gottes Willen ermittelt und die Geschichte bestimmt! Gut, soviel von den Taubenfu?en. Und wo bleiben die Adlersschwingen?"

"Die burgerliche Gesittung -"

"Ei, die burgerliche Gesittung wei? nicht, was sie will! Da schreien sie nach Bekampfung des Geburtenruckganges, fordern, da? die Kosten der Kinderaufzucht und der Berufsvorbereitung verbilligt werden. Und dabei erstickt man im Gedrange, und alle Berufe sind so uberfullt, da? der Kampf um den E?napf an Schrecken alle Kriege der Vergangenheit in den Schatten stellt. Freie Platze und Gartenstadte! Ertuchtigung der Rasse! Aber wozu Ertuchtigung, wenn die Zivilisation und der Fortschritt wollen, da? kein Krieg mehr sei? Der Krieg ware das Mittel gegen alles und fur alles. Fur die Ertuchtigung und sogar gegen den Geburtenruckgang."

"Sie scherzen. Das ist nicht mehr ernst. Unser Gesprach lost sich auf und tut es im rechten Augenblick. Wir sind zur Stelle", sagte Settembrini und zeigte den Vettern das Hauschen, vor dessen Zaunpforte sie hielten, mit dem Stock. Es lag nahe dem Eingang von "Dorf" an der Stra?e, von der nur ein schmales Vorgartchen es trennte, und war bescheiden. Wilder Wein schwang sich aus blo?liegenden Wurzeln um die Haustur und streckte einen gebogenen, an die Mauer geschmiegten Arm gegen das ebenerdige Fenster zur Rechten hin, das Schaufenster eines kleinen Kramladens. Das Erdgescho? sei des Kramers, erklarte Settembrini. Naphtas Logis befinde sich eine Treppe hoch in der Schneiderei, und er selbst domiziliere im Dach. Es sei ein friedlicher Studio.

Mit uberraschend hervorgekehrter Liebenswurdigkeit gab Naphta der Hoffnung Ausdruck, da? weitere Begegnungen aus dieser folgen mochten. "Besuchen Sie uns", sagte er. "Ich wurde sagen: Besuchen Sie

mich, wenn Dr. Settembrini hier nicht altere Rechte auf Ihre Freundschaft hatte. Kommen Sie, wann Sie wollen, sobald Sie Lust zu einem kleinen Kolloquium haben. Ich schatze den Austausch mit der Jugend, bin auch vielleicht nicht ohne alle padagogische Uberlieferung ... Wenn unser Meister vom Stuhl"(er deutete auf Settembrini) "alle padagogische Aufgelegtheit und Berufung dem burgerlichen Humanismus vorbehalten will, so mu? man ihm widersprechen. Auf bald also!"

Settembrini machte Schwierigkeiten. Es bestunden solche, sagte er. Die Tage des Leutnants hier oben seien gezahlt, und der Ingenieur werde seinen Eifer im Kurdienst verdoppeln wollen, um ihm sehr bald indie Ebene nachfolgen zu konnen.

Die jungen Leute stimmten beiden zu, dem einen nach dem andern. Sie hatten Naphtas Einladung mit Verbeugungen aufgenommen und erkannten im nachsten Augenblick die Bedenken Settembrinis mit Kopf und Schultern als berechtigt an. So blieb alles offen.

"Wie hat er ihn genannt?" fragte Joachim, als sie die Wegschleife zum "Berghof" emporstiegen ...

"Ich habe 'Meister vom Stuhl' verstanden," sagte Hans Castorp, "und denke auch eben daruber nach. Es ist wohl irgend so ein Witz; sie haben ja sonderbare Namen fureinander. Settembrini nannte Naphta 'princeps scholasticorum', - auch nicht ubel. Die Scholastiker, das waren ja wohl die Schriftgelehrten des Mittelalters, dogmatische Philosophen, wenn du willst. Hm. Vom Mittelalter war ja denn auch verschiedentlich die Rede, - wobei mir einfiel, wie Settembrini gleich am ersten Tage sagte, es mute manches mittelalterlich an bei uns hier oben: wir kamen darauf durch Adriatica von Mylendonk, durch den Namen. - Wie hat er dir gefallen?"

"Der Kleine? Nicht gut. Er sagte manches, was mir gefiel. Schiedsgerichte sind naturlich eine Duckmauserei. Aber er selbst hat mir wenig gefallen, und da kann einer noch so viel Gutes sagen, was habe ich davon, wenn er selbst ein zweifelhafter Kerl ist. Und zweifelhaft ist er, das kannst du nicht leugnen. Allein schon die Geschichte mit dem 'Orte der Beiwohnung' war entschieden bedenklich. Und dabei hat er ja eine Judennase, sieh ihn dir doch an! So miekrig von Figur sind auch immer nur die Semiten. Hast du denn ernstlich vor, den Mann zu besuchen?"

"Selbstverstandlich werden wir ihn besuchen!" erklarte Hans Castorp. "Die Miekrigkeit, - das ist nur das Militar, das da aus dir spricht. Aber die Chaldaer hatten auch solche Nasen und waren doch hollisch auf dem

Posten, nicht blo? in den Geheimwissenschaften. Naphta hat auch was von Geheimwissenschaft, er interessiert mich nicht wenig. Ich will auch nicht behaupten, da? ich heute schon klug aus ihm geworden bin, aber wenn wir ofter mit ihm zusammenkommen, so werden wir es vielleicht, und ich halte es gar nicht fur ausgeschlossen, da? wir uberhaupt kluger werden bei dieser Gelegenheit."

"Ach, Mensch, du wirst ja immer kluger hier oben, mit deiner Biologie und Botanik und deinen unhaltbaren Wendepunkten. Und mit der 'Zeit' hattest du es gleich am ersten Tage zu tun. Und dabei sind wir doch hier, um gesunder, und nicht um gescheuter zu werden, - gesunder und ganz gesund, damit sie uns endlich in Freiheit setzen und als geheilt ins Flachland entlassen konnen!"

"Auf den Bergen wohnt die Freiheit!" sang Hans Castorp leichtsinnig. "Sage mir erst mal, was Freiheit ist", fuhr er sprechend fort. "Naphta und Settembrini stritten vorhin ja auch daruber und kamen zu keiner Einigung. 'Freiheit istdas Gesetz der Menschenliebe!' sagt Settembrini, und das klingt nach seinem Vorfahren, dem Carbonaro. Aber so tapfer der Carbonaro war, und so tapfer unser Settembrini selber ist, ..."

"Ja, er wurde ungemutlich, als auf personlichen Mut die Rede kam."

"... so glaube ich doch, da? er vor manchem Angst hat, wovor der kleine Naphta nicht Angst hat, verstehst du, und da? seine Freiheit und Tapferkeit ziemlich ete-pe-tete sind. Meinst du, da? er Mut genug hatte, de se perdre ou meme de se laisser deperir?"

"Was fangst du an, franzosisch zu sprechen?"

"Nur so ... Die Atmosphare hier ist ja so international. Ich wei? nicht, wer mehr Gefallen daran finden mu?te: Settembrini, von wegen der burgerlichen Weltrepublik, oder Naphta mit seinem hierarchischen Kosmopolis. Ich habe scharf aufgepa?t, wie du siehst, aber klar ist die Sache mir nicht geworden, ich fand im Gegenteil, die Konfusion war gro?, die herauskam bei ihren Reden."

"Das ist immer so. Das wirst du immer so finden, da? blo? Konfusion herauskommt beim Reden und Meinungen haben. Ich sage dir ja, es kommt uberhaupt nicht drauf an, was fur Meinungen einer hat, sondern darauf, ob einer ein rechter Kerl ist. Am besten ist, man hat gleich gar keine Meinung, sondern tut seinen Dienst."

"Ja, so kannst du sagen, als Landsknecht und rein formale Existenz, die du bist. Bei mir ist es was andres, ich bin Zivilist, ich bin gewisserma?en

verantwortlich. Und mich regt es auf, solche Konfusion zu sehen, wie da? der eine die internationale Weltrepublik predigt und den Krieg grundsatzlich verabscheut, dabei aber so patriotisch ist, da? er partout die Brennergrenze verlangt und dafur einen Zivilisationskrieg fuhren will, - und da? der andere den Staat fur Teufelswerk halt und von der allgemeinen Vereinigung am Horizonte flotet, aber im nachsten Augenblick das Recht des naturlichen Instinktes verteidigt und sich uber Friedenskonferenzen lustig macht. Unbedingt mussen wir hingehen, um klug daraus zu werden. Du sagst zwar, wir sollen hier nicht kluger werden, sondern gesunder. Aber das mu? sich vereinigen lassen, Mann, und wenn du das nicht glaubst, dann treibst du Weltentzweiung, und so was zu treiben, ist immer ein gro?er Fehler, will ich dir mal bemerken."

Vom Gottesstaat und von ubler Erlosung

Hans Castorp bestimmte in seiner Loge ein Pflanzengewachs, das jetzt, da der astronomische Sommer begonnen hatte und die Tage kurzer zu werden begannen, an vielen Stellen wucherte: die Akelei oder Aquilegia, eine Ranunkulazeenart, die staudenartig wuchs, hochgestielt, mit blauen und veilchenfarbnen, auch rotbraunen Bluten und krautartigen Blattern von geraumiger Flache. Die Pflanze wuchs da und dort, massenweis aber namentlich in dem stillen Grunde, wo er sie vor nun bald einem Jahre zuerst gesehen: der abgeschiedenen, wildwasserdurchrauschten Waldschlucht mit Steg und Ruhebank,wo sein voreilig-freizugiger und unbekommlicher Spaziergang von damals geendigt hatte, und die er nun manchmal wieder besuchte.

Es war, wenn man es weniger unternehmend anfing, als er damals getan, nicht gar so weit dorthin. Stieg man vom Ziel der Schlittlrennen in "Dorf" ein wenig die Lehne hinan, so war der malerische Ort auf dem Waldwege, dessen Holzbrucken die von der Schatzalp kommende Bobbahn uberkreuzten, ohne Umwege, Operngesang und Erschopfungspausen in zwanzig Minuten zu erreichen, und wenn Joachim durch dienstliche Pflichten, durch Untersuchung, Innenphotographie, Blutprobe, Injektion oder Gewichtsfeststellung ans Haus gefesselt war, so wanderte Hans Castorp wohl bei heiterer Witterung nach dem zweiten Fruhstuck, zuweilen auch schon nach dem ersten dorthin, und auch die Stunden zwischen Tee und Abendessen benutzte er wohl zu einem Besuch seines Lieblingsortes, um auf der Bank zu sitzen, wo ihn einst das machtige Nasenbluten uberkommen, dem Gerausche des Gie?bachs

mit schragem Kopfe zu lauschen und das geschlossene Landschaftsbild um sich her zu betrachten, sowie die Menge von blauer Akelei, die nun wieder in ihrem Grunde bluhte.

Kam er nur dazu? Nein, er sa? dort, um allein zu sein, um sich zu erinnern, die Eindrucke und Abenteuer so vieler Monate zu uberschlagen und alles zu bedenken. Es waren ihrer viele und mannigfaltige, - nicht leicht zu ordnen dabei, denn sie erschienen ihm vielfach verschrankt und ineinanderflie?end, so da? das Handgreifliche kaum vom blo? Gedachten, Getraumten und Vorgestellten zu sondern war. Nur abenteuerlichen Wesens waren sie alle, in dem Grade, da? sein Herz, beweglich, wie es hier oben vom ersten Tage an gewesen und geblieben war, stockte und hammerte, wenn er ihrer gedachte. Oder genugte bereits die Vernunftuberlegung, da? die Aquilegia hier, wo ihm einst in einem Zustand herabgesetzter Lebenstatigkeit Pribislav Hippe leibhaftig erschienen war, nicht immer noch, sondern schon wieder bluhte, und da? aus den "drei Wochen" demallernachst ein rundes Jahr geworden sein wurde, um sein bewegliches Herz so abenteuerlich zu erschrecken?

Ubrigens bekam er kein Nasenbluten mehr auf seiner Bank am Wildwasser, das war vorbei. Seine Akklimatisation, die Joachim ihm sogleich als schwierig hingestellt und die ihre Schwierigkeit denn auch bewahrt hatte, war vorgeschritten, sie mu?te nach elf Monaten als vollendet gelten, und Weitergehendes in dieser Richtung war kaum zu gewartigen. Der Chemismus seines Magens hatte sich geregelt und angepa?t, Maria Mancini schmeckte, die Nerven seiner ausgetrockneten Schleimhaute kosteten langst wieder empfanglich die Blume dieses preiswerten Fabrikats, das er sich nach wie vor, wenn der Vorrat zur Neige ging, mit einer Art von Pietatsgefuhl aus Bremen verschrieb, obgleich sehr einladende Ware sich in den Schaufenstern des internationalen Kurortes empfahl. Bildete Maria nicht eine Art von Verbindung zwischen ihm, dem Entruckten, und dem Flachlande, der alten Heimat? Unterhielt undbewahrte sie dergleichen Beziehungen nicht wirksamer, als etwa die Postkarten, die er dann und wann nach unten an die Onkel richtete, und deren Abstande voneinander in demselben Ma?e gro?er geworden waren, als er sich unter Annahme hiesiger Begriffe eine gro?artigere Zeitbewirtschaftung zu eigen gemacht hatte? Es waren meistens Ansichtskarten, der gro?eren Gefalligkeit halber, mit hubschen Bildern des Tales im Schnee wie in sommerlicher Verfassung, und sie boten fur Schriftliches nur eben soviel Raum, als notig war, um die

neueste arztliche Verlautbarung zu uberliefern, das Ergebnis einer Monats- oder Generaluntersuchung verwandtschaftlich zu melden, das hei?t also: etwa mitzuteilen, da? akustisch wie optisch eine unverkennbare Besserung zu verzeichnen gewesen, da? er aber noch nicht entgiftet sei, und da? die leichte Ubertemperatur, in der er immer noch stehe, von den kleinen Stellen komme, die eben noch vorhanden seien, aber bestimmt ohne Rest verschwinden wurden, wenn er Geduld ube, so da? er dann keinesfalls wiederzukommen brauche. Er durfte sicher sein, da? daruber hinausgehende briefstellerische Leistungen von ihm nicht verlangt und erwartet wurden; es war keine humanistisch rednerische Sphare, an die er sich wandte; die Antworten, die er erhielt, waren ebensowenig ergu?hafter Art. Sie begleiteten meistens die geldlichen Subsistenzmittel, die ihm von zu Hause zukamen, die Zinsen seines vaterlichen Erbes, die sich in hiesiger Munze so vorteilhaft ausnahmen, da? er sie niemals verzehrt hatte, wenn eine neue Lieferung eintraf, und bestanden in einigen Zeilen Maschinenschrift, gezeichnet James Tienappel, mit Gru?en und Genesungswunschen vom Gro?onkel und manchmal auch von dem seefahrenden Peter.

Die Verabfolgung der Injektionen, so meldete Hans Castorp nach Hause, hatte der Hofrat neuestens unterbrochen. Sie bekamen diesem jungen Patienten nicht, verursachten ihm Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme und Mudigkeit, hatten die "Temperatur" zunachst erhoht und dann nicht beseitigt. Sie gluhte als trockene Hitze subjektiv fort in seiner rosenroten Miene, als Mahnung daran, da? die Akklimatisation fur diesen Spro?ling der Tiefebene und ihrer feuchtfrohlichen Meteorologie doch eben wohl hauptsachlich in der Gewohnung daran bestand, da? er sich nicht gewohnte, - was ubrigens Rhadamanthys ja selber nicht tat, der immer blaue Backen hatte. "Manche gewohnen sich nie", hatte Joachim gleich gesagt, und dies schien Hans Castorps Fall. Denn auch das Genickzittern, das ihn hier oben bald nach der Ankunft zu belastigen begonnen, hatte sich nicht wieder verlieren wollen, sondern stellte sich im Gehen, im Gesprach, ja selbst hier oben am blau bluhenden Orte seines Nachdenkens uber den Komplex seiner Abenteuer unvermeidlich ein, so da? ihm die wurdige Kinnstutze Hans Lorenz Castorps beinahe schon zur festen Gewohnheit geworden war, - nicht ohne ihn selbst, wenn er sie benutzte, an die Vatermorder des Alten, die Interimsform der Ehrenkrause, an das bla?goldene Rund der Taufschale, an den frommen Ur-Ur-Laut und ahnliche Verwandtschaften unter derHand zu erinnern und ihn so zum

Uberdenken seines Lebenskomplexes neuerdings hinzuleiten.

Pribislav Hippe erschien ihm nicht mehr leibhaftig, wie vor elf Monaten. Seine Akklimatisation war vollendet, er hatte keine Visionen mehr, lag nicht mit stillgestelltem Leibe auf seiner Bank, wahrend sein Ich in ferner Gegenwart weilte - nichts mehr von solchen Zufallen. Deutlichkeit und Lebendigkeit dieses Erinnerungsbildes, wenn es ihm denn vorschwebte, hielten sich in normalen, gesunden Grenzen; und im Zusammenhange damit zog dann Hans Castorp wohl aus seiner Brusttasche das glaserne Angebinde, das er dort in einem gefutterten Briefumschlag und hierauf in der Brieftasche verwahrt hielt: ein Tafelchen, das, wenn man es in gleicher Ebene mit dem Erdboden hielt, schwarz-spiegelnd und undurchsichtig schien, aber, gegen das Himmelslicht aufgehoben, sich erhellte und humanistische Dinge vorwies: das transparente Bild des Menschenleibes, Rippenwerk, Herzfigur, Zwerchfellbogen und Lungengeblase, dazu das Schlussel- und Oberarmgebein, umgeben dies alles von bla?-dunstiger Hulle, dem Fleische, von dem Hans Castorp in der Faschingswoche vernunftwidriger Weise gekostet hatte. Was Wunder, da? sein bewegliches Herz stockte und sturzte, wenn er das Angebinde betrachtete und dann fortfuhr, "alles" zu uberschlagen und zu bedenken, gelehnt an die schlicht gezimmerte Lehne der Ruhebank, die Arme gekreuzt, den Kopf zur Schulter geneigt, im Gerausche des Gie?wassers und angesichts der blaubluhenden Akelei?

Das Hochgebild organischen Lebens, die Menschengestalt schwebte ihm vor, wie in jener Frost- und Sternennacht anla?lich gelehrter Studien, und an ihre innere Anschauung knupften sich fur den jungen Hans Castorp so manche Fragen und Unterscheidungen, mit denen sich abzugeben der gute Joachim nicht verpflichtet sein mochte, fur die aber er als Zivilist sich verantwortlich zu fuhlen begonnen hatte, obwohl auch er im Flachlande drunten ihrer niemals ansichtig geworden war und vermutlich nie ansichtig wurde geworden sein, wohl aber hier, wo man aus der beschaulichen Abgeschiedenheit von funftausend Fu? auf Welt und Kreatur hinabblickte und sich seine Gedanken machte, - vermoge einer durch losliche Gifte erzeugten Steigerung des Korpers auch wohl, die als trockene Hitze im Antlitz brannte. Er dachte an Settembrini im Zusammenhang mit jener Anschauung, an den padagogischen Drehorgelmann, dessen Vater in Hellas zur Welt gekommen, und der die Liebe zum Hochgebild als Politik, Rebellion und Eloquenz erlauterte, indem er die Pike des Burgers am Altar der Menschheit weihte; dachte

auch an den Kameraden Krokowski und an das, was er seit einiger Zeit im verdunkelten Zimmergela? mit ihm trieb, besann sich uber das doppelte Wesen der Analyse und wie weit sie der Tat und dem Fortschritte forderlich sei, wie weit dem Grabe verwandt und seiner anruchigen Anatomie. Er rief die Bilder der beiden Gro?vater neben- und gegeneinander herauf, des rebellischen und des getreuen, die Schwarz trugen aus unterschiedlichen Grunden, und erwog ihre Wurde; gingferner mit sich zu Rate uber so weitlaufige Komplexe wie Form und Freiheit, Geist und Korper, Ehre und Schande, Zeit und Ewigkeit, - und unterlag einem kurzen, aber sturmischen Schwindel bei dem Gedanken, da? die Akelei wieder bluhte und das Jahr in sich selber lief.

Er hatte ein sonderbares Wort fur diese seine verantwortliche Gedankenbeschaftigung am malerischen Orte seiner Zuruckgezogenheit: er nannte sie "Regieren", - gebrauchte dies Spiel- und Knabenwort, diesen Kinderausdruck dafur, als fur eine Unterhaltung, die er liebte, obwohl sie mit Schrecken, Schwindel und allerlei Herztumulten verbunden war und seine Gesichtshitze uberma?ig verstarkte. Doch fand er es nicht unschicklich, da? die mit dieser Tatigkeit verbundene Anstrengung ihn notigte, sich der Kinnstutze zu bedienen; denn diese Haltung stimmte wohl mit der Wurde uberein, die das "Regieren" angesichts des vorschwebenden Hochgebildes ihm innerlich verlieh.

"Homo Dei" hatte der ha?liche Naphta das Hochgebild genannt, als er es gegen die englische Gesellschaftslehre verteidigte. Was Wunder, da? Hans Castorp um seiner zivilistischen Verantwortlichkeit willen und im Regierungsinteresse sich gehalten fand, mit Joachim bei dem Kleinen Besuch zu machen? Settembrini sah es ungern, - dies deutlich zu spuren, war Hans Castorp schlau und dunnhautig genug. Schon die erste Begegnung war dem Humanisten unangenehm gewesen, er hatte sie offensichtlich zu verhindern gestrebt und die jungen Leute, namentlich aber ihn selbst - so sagte sich das durchtriebene Sorgenkind - vor der Bekanntschaft mit Naphta padagogisch huten wollen, obgleich ja er fur seine Person mit ihm verkehrte und disputierte. So sind die Erzieher. Sich selber gonnen sie das Interessante, indem sie sich ihm "gewachsen" nennen; der Jugend aber verbieten sie es und verlangen, da? sie sich dem Interessanten nicht "gewachsen" fuhle. Ein Gluck nur, da? es dem Drehorgelmann im Ernst uberhaupt nicht zustand, dem jungen Hans Castorp etwas zu verbieten, und da? er ja auch gar nicht den Versuch dazu gemacht hatte. Der Sorgenzogling brauchte seine Dunnhautigkeit

nur zu verleugnen und Unschuld vorzuschutzen, so hinderte nichts ihn, der Einladung des kleinen Naphta freundlich zu folgen, - was er denn auch getan hatte, mit dem wohl oder ubel sich anschlie?enden Joachim, wenige Tage nach dem ersten Zusammentreffen, an einem Sonntagnachmittag, nach dem Hauptliegedienst.

Es waren wenige Minuten Wegs vom Berghof hinunter zum Hauschen mit der weinumkranzten Haustur. Sie traten ein, lie?en den Zugang zum Kramerladen zur Rechten liegen und erklommen die schmale braune Stiege, die sie vor eine Etagentur fuhrte, neben deren Klingel lediglich das Namensschild Lukaceks, des Damenschneiders, angebracht war. Die Person, die ihnen offnete, war ein halbwuchsiger Knabe in einer Art von Livree, gestreifter Jacke und Gamaschen, ein Dienerchen, kurzgeschoren und rotbackig. Ihn fragten sie nach Herrn Professor Naphta und pragten ihm, da sie mit Karten nicht ausgestattet waren, ihreNamen ein, die er Herrn Naphta - er gebrauchte keinen Titel - zu nennen ging. Die dem Eingang gegenuberliegende Zimmertur stand offen und gewahrte Einblick in die Schneiderei, wo des Feiertags ungeachtet Lukacek mit untergeschlagenen Beinen auf einem Tische sa? und nahte. Er war bleich und kahlkopfig; von einer ubergro?en, abfallenden Nase hing ihm der schwarze Schnurrbart mit saurem Ausdruck zu seiten des Mundes herab.

"Guten Tag!" wunschte Hans Castorp.

"Grutsi", antwortete der Schneider mundartlich, obgleich das Schweizerische weder zu seinem Namen noch zu seinem Au?eren pa?te und etwas falsch und sonderbar klang.

"So flei?ig?" fuhr Hans Castorp nickend fort ... "Es ist ja Sonntag!"

"Eilige Arbeit", versetzte Lukacek kurz und stichelte.

"Ist wohl was Feines," vermutete Hans Castorp, "was rasch gebraucht wird, fur eine Reunion oder so?"

Der Schneider lie? diese Frage eine Weile unbeantwortet, bi? den Faden ab und fadelte neu ein. Nachtraglich nickte er.

"Wird es hubsch?" fragte Hans Castorp noch. "Machen Sie Armel daran?"

"Ja, Armel, es ist fur eine Olte", antwortete Lukacek mit stark bohmischem Akzent. Die Ruckkehr des Dienerchens unterbrach dies durch die Tur gefuhrte Gesprach. Herr Naphta lasse bitten, naher zu treten, meldete er und offnete den jungen Leuten eine Tur, zwei oder drei Schritte weiter rechts, wobei er auch noch eine zusammenfallende

Portiere vor ihnen aufzuheben hatte. Die Eintretenden empfing Naphta, in Schleifenschuhen auf moosgrunem Teppich stehend.

Beide Vettern waren uberrascht durch den Luxus des zweifenstrigen Arbeitszimmers, das sie aufgenommen hatte, ja geblendet durch Uberraschung; denn die Durftigkeit des Hauschens, seiner Treppe, seines armseligen Korridors lie? dergleichen nicht entfernt erwarten und verlieh der Eleganz von Naphtas Einrichtung durch Kontrastwirkung etwas Marchenhaftes, was sie an und fur sich kaum besa? und auch in den Augen Hans Castorps und Joachim Ziem?ens nicht besessen hatte. Immerhin, sie war fein, ja glanzend, und zwar so, da? sie trotz Schreibtisch und Bucherschranken den Charakter des Herrenzimmers eigentlich nicht wahrte. Es war zuviel Seide darin, weinrote, purpurrote Seide: die Vorhange, die die schlechten Turen verbargen, waren daraus, die Fenster-Uberfalle und ebenso die Bezuge der Meubles-Gruppe, die an einer Schmalseite, der zweiten Tur gegenuber, vor einem die Wand fast ganz bespannenden Gobelin angeordnet war. Es waren Barockarmstuhle mit kleinen Polstern auf den Seitenlehnen, um einen runden, metallbeschlagenen Tisch gruppiert, hinter dem ein mit Seidenpluschkissen ausgestattetes Sofa desselben Stiles stand. Die Bucherspinde nahmen die Wandpartien neben den beiden Turen ein. Sie waren, wie der Schreibtisch, oder vielmehr der mit einem gewolbten Rolldeckel versehene Sekretar, der zwischen den Fenstern Platz gefunden hatte, in Mahagoni gearbeitet, mit Glasturen, hinter die grune Seide gespannt war. Aber in dem Winkel links von der Sofagruppe war ein Kunstwerk zu sehen, eine gro?e, auf rot verkleidetem Sockel erhohte bemalte Holzplastik, - etwas innig Schreckhaftes,eine Pieta, einfaltig und wirkungsvoll bis zum Grotesken: die Gottesmutter in der Haube, mit zusammengezogenen Brauen und jammernd schief geoffnetem Munde, den Schmerzensmann auf ihrem Scho?, eine im Gro?enverhaltnis primitiv verfehlte Figur mit kra? herausgearbeiteter Anatomie, die jedoch von Unwissenheit zeugte, das hangende Haupt von Dornen starrend, Gesicht und Glieder mit Blut befleckt und berieselt, dicke Trauben geronnenen Blutes an der Seitenwunde und den Nagelmalen der Hande und Fu?e. Dies Schaustuck verlieh dem seidenen Zimmer nun freilich einen besonderen Akzent. Auch die Tapete, uber den Bucherschranken und an der Fensterwand sichtbar, war ubrigens offenbar eine Leistung des Mieters: das Grun ihrer Langsstreifen war das des weichen Teppichs, der uber die rote Bodenbespannung gebreitet war. Nur der niedrigen Decke war wenig zu helfen gewesen. Sie war kahl und rissig. Doch hing

ein kleiner venezianischer Luster daran herab. Die Fenster waren mit cremefarbenen Stores verhullt, die bis zum Boden reichten.

"Da haben wir uns zu einem Kolloquium eingefunden!" sagte Hans Castorp, wahrend seine Augen mehr an dem frommen Schrecknis im Winkel, als an dem Bewohner des uberraschenden Zimmers hafteten, der es anerkannte, da? die Vettern Wort gehalten hatten. Er wollte sie mit gastlichen Bewegungen seiner kleinen Rechten zu den seidenen Sitzen leiten, aber Hans Castorp ging geradeswegs und gebannt auf die Holzgruppe zu und blieb, Arme in die Huften gestemmt, mit seitwarts geneigtem Kopf davor stehen.

"Was haben Sie denn da!" sagte er leise. "Das ist ja schrecklich gut. Hat man je so ein Leiden gesehn. Etwas Altes, naturlich?"

"Vierzehntes Jahrhundert", antwortete Naphta. "Wahrscheinlich rheinischer Herkunft. Es macht Ihnen Eindruck?"

"Enormen", sagte Hans Castorp. "Das kann seinen Eindruck auf den Beschauer denn doch wohl gar nicht verfehlen. Ich hatte nicht gedacht, da? etwas zugleich so ha?lich - entschuldigen Sie - und so schon sein konnte."

"Erzeugnisse einer Welt der Seele und des Ausdrucks," versetzte Naphta, "sind immer ha?lich vor Schonheit und schon vor Ha?lichkeit, das ist die Regel. Es handelt sich um geistige Schonheit, nicht um die des Fleisches, die absolut dumm ist. Ubrigens auch abstrakt ist sie", fugte er hinzu. "Die Schonheit des Leibes ist abstrakt. Wirklichkeit hat nur die innere, die des religiosen Ausdrucks."

"Das haben Sie dankenswert richtig unterschieden und angeordnet", sagte Hans Castorp. "Vierzehntes?" versicherte er sich ... "Dreizehnhundertsoundso? Ja, das ist das Mittelalter, wie es im Buche steht, ich erkenne gewisserma?en die Vorstellung darin wieder, die ich mir in letzter Zeit vom Mittelalter gemacht habe. Ich wu?te eigentlich nichts davon, ich bin ja ein Mann des technischen Fortschritts, soweit ich uberhaupt in Frage komme. Aber hier oben ist mir die Vorstellung des Mittelalters verschiedentlich nahe gebracht worden. Die okonomistische Gesellschaftslehre gab es damals noch nicht, soviel ist klar. Wie hie? der Kunstler dennwohl?"

Naphta zuckte die Achseln.

"Was liegt daran?" sagte er. "Wir sollten danach nicht fragen, da man auch damals, als es entstand, nicht danach fragte. Das hat keinen

wunderwie individuellen Monsieur zum Autor, es ist anonym und gemeinsam. Es ist ubrigens sehr vorgeschrittenes Mittelalter, Gotik, Signum mortificationis. Sie finden da nichts mehr von der Schonung und Beschonigung, mit der noch die romanische Epoche den Gekreuzigten darstellen zu mussen glaubte, keine Konigskrone, keinen majestatischen Triumph uber Welt und Martertod. Alles ist radikale Verkundigung des Leidens und der Fleischesschwache. Erst der gotische Geschmack ist der eigentlich pessimistisch-asketische. Sie werden die Schrift Innozenz des Dritten, 'De miseria humanae conditionis', nicht kennen, - ein au?erst witziges Stuck Literatur. Sie stammt vom Ende des zwolften Jahrhunderts, aber erst diese Kunst liefert die Illustrationen dazu."

"Herr Naphta," sagte Hans Castorp nach einem Aufseufzen, "mich interessiert jedes Wort von dem, was Sie da hervorheben. 'Signum mortificationis' sagten Sie? Das werde ich mir merken. Vorher sagten Sie etwas von 'anonym und gemeinsam', was auch der Muhe wert scheint, daruber nachzudenken. Sie vermuten leider richtig, da? ich die Schrift des Papstes - ich nehme an, da? Innozenz der Dritte ein Papst war - nicht kenne. Habe ich richtig verstanden, da? sie asketisch und witzig ist? Ich mu? gestehen, ich habe mir nie vorgestellt, da? das so Hand in Hand gehen konnte, aber wenn ich es ins Auge fasse, so leuchtet es mir ein, naturlich, eine Abhandlung uber das menschliche Elend bietet zum Witz schon Gelegenheit, auf Kosten des Fleisches. Ist die Schrift denn erhaltlich? Wenn ich mein Latein zusammennahme, vielleicht konnte ich sie lesen."

"Ich besitze das Buch", antwortete Naphta, mit dem Kopf nach einem der Schranke weisend. "Es steht Ihnen zur Verfugung. Aber wollen wir uns nicht setzen? Sie sehen die Pieta auch vom Sofa aus. Eben kommt unser kleines Vespermahl ..."

Es war das Dienerchen, das Tee brachte, dazu einen hubschen silberbeschlagenen Korb, worin in Stucke geschnittener Baumkuchen lag. Hinter ihm aber, durch die offene Tur, wer trat beschwingten Schrittes mit "Sapperlot!" "Accidenti!" und feinem Lacheln herein? Das war Herr Settembrini, wohnhaft eine Treppe hoher, der sich einfand, in der Absicht, den Herren Gesellschaft zu leisten. Durch sein Fensterchen, sagte er, habe er die Vettern kommen sehen und rasch noch eine enzyklopadische Seite heruntergeschrieben, die er eben unter der Feder gehabt, um sich dann ebenfalls hier zu Gaste zu bitten. Nichts war naturlicher, als da? er kam. Seine alte Bekanntschaft mit den

Berghofbewohnern berechtigte ihn dazu, und dann war auch sein Verkehr und Austausch mit Naphta, trotz tiefgehender Meinungsverschiedenheiten, ja offenbar uberhaupt sehr lebhaft, - wie denn der Gastgeber ihn leichthin und ohne Uberraschung als Zugehorigen begru?te. Das hinderte nicht, da?Hans Castorp von seinem Kommen sehr deutlich einen doppelten Eindruck gewann. Erstens, so empfand er, stellte Herr Settembrini sich ein, um ihn und Joachim, oder eigentlich kurzweg ihn, nicht mit dem ha?lichen kleinen Naphta allein zu lassen, sondern durch seine Anwesenheit ein padagogisches Gegengewicht zu schaffen; und zweitens war klar ersichtlich, da? er gar nichts dagegen hatte, sondern die Gelegenheit recht gern benutzte, den Aufenthalt in seinem Dach auf eine Weile mit dem in Naphtas seidenfeinem Zimmer zu vertauschen und einen wohlservierten Tee einzunehmen: er rieb sich die gelblichen, an der Kleinfingerseite des Ruckens mit schwarzen Haaren bewachsenen Hande, bevor er zugriff, und speiste mit unverkennbarem, auch lobend ausgesprochenem Genu? von dem Baumkuchen, dessen schmale, gebogene Scheiben von Schokoladeadern durchzogen waren.

Das Gesprach fuhr noch fort, sich mit der Pieta zu beschaftigen, da Hans Castorp mit Blick und Wort an dem Gegenstand festhielt, wobei er sich an Herrn Settembrini wandte und diesen gleichsam mit dem Kunstwerk in kritischen Kontakt zu setzen suchte, - wahrend ja der Abscheu des Humanisten gegen diesen Zimmerschmuck deutlich genug in der Miene zu lesen war, mit der er sich danach umwandte: denn er hatte sich mit dem Rucken gegen jenen Winkel gesetzt. Zu hoflich, um alles zu sagen, was er dachte, beschrankte er sich darauf, Fehlerhaftigkeiten in den Verhaltnissen und den Korperformen der Gruppe zu beanstanden, Versto?e gegen die Naturwahrheit, die weit entfernt seien, ruhrend auf ihn zu wirken, da sie nicht fruhzeitlichem Unvermogen, sondern bosem Willen, einem grundfeindlichen Prinzip entsprangen, - worin Naphta ihm boshaft zustimmte. Gewi?, von technischem Ungeschick konne nicht entfernt die Rede sein. Es handle sich um bewu?te Emanzipation des Geistes vom Naturlichen, dessen Verachtlichkeit durch die Verweigerung jeder Demut davor religios verkundet werde. Als aber Settembrini die Vernachlassigung der Natur und ihres Studiums fur menschlich abwegig erklarte und gegen die absurde Formlosigkeit, der das Mittelalter und die ihm nachahmenden Epochen gefront hatten, das griechisch-romische Erbe, den Klassizismus, Form, Schonheit, Vernunft und naturfromme Heiterkeit, die allein die

Sache des Menschen zu fordern berufen seien, in prallen Worten zu erheben begann, mischte Hans Castorp sich ein und fragte, was denn aber bei solcher Bewandtnis mit Plotinus los sei, der sich nachweislich seines Korpers geschamt, und mit Voltaire, der im Namen der Vernunft gegen das skandalose Erdbeben von Lissabon revoltiert habe? Absurd? Das sei auch absurd gewesen, aber wenn man alles recht uberlege, so konne man seiner Ansicht nach das Absurde recht wohl als das geistig Ehrenhafte bezeichnen, und die absurde Naturfeindschaft der gotischen Kunst sei am Ende ebenso ehrenhaft gewesen wie das Gebaren der Plotinus und Voltaire, denn es drucke sich dieselbe Emanzipation von Fatum und Faktum darin aus, derselbe unknechtische Stolz, der sichweigere, vor der dummen Macht, namlich vor der Natur, abzudanken ...

Naphta brach in Lachen aus, das sehr an den bewu?ten Teller erinnerte und in Husten endigte. Settembrini sagte vornehm:

"Sie schadigen unseren Wirt, indem Sie so witzig sind und erweisen sich also undankbar fur dies kostliche Geback. Ist Dankbarkeit uberhaupt Ihre Sache? Wobei ich voraussetze, da? Dankbarkeit darin besteht, von empfangenen Geschenken einen guten Gebrauch zu machen ..."

Da Hans Castorp sich schamte, setzte er scharmant hinzu:

"Man kennt Sie als Schalk, Ingenieur. Ihre Art, das Gute freundschaftlich zu necken, la?t mich keineswegs an Ihrer Liebe zu ihm verzweifeln. Sie wissen selbstverstandlich, da? nur diejenige Auflehnung des Geistes gegen das Naturliche ehrenhaft zu nennen ist, die die Wurde und Schonheit des Menschen im Auge hat, nicht diejenige, welche, wenn sie seine Entwurdigung und Erniedrigung nicht bezweckt, sie doch jedenfalls nach sich zieht. Sie wissen auch, welche entmenschte Greuel, welche mordgierige Unduldsamkeit die Epoche, der das Artefakt da hinter mir sein Dasein verdankt, gezeitigt hat. Ich brauche Sie nur an den entsetzlichen Typ der Ketzerrichter, an die blutige Figur eines Konrad von Marburg etwa, zu erinnern und an seine infame Priesterwut gegen alles, was der Herrschaft des Ubernaturlichen entgegenstand. Sie sind weit entfernt, Schwert und Scheiterhaufen als Instrumente der Menschenliebe anzuerkennen ..."

"In deren Dienst dagegen," au?erte Naphta, "arbeitete die Maschinerie, mit der der Konvent die Welt von schlechten Burgern reinigte. Alle Kirchenstrafen, auch der Scheiterhaufen, auch die Exkommunikation, wurden verhangt, um die Seele vor ewiger

Verdammnis zu retten, was man von der Vertilgungslust der Jakobiner nicht sagen kann. Ich erlaube mir, zu bemerken, da? jede Pein- und Blutjustiz, die nicht dem Glauben an ein Jenseits entspringt, viehischer Unsinn ist. Und was die Entwurdigung des Menschen betrifft, so fallt ihre Geschichte exakt mit der des burgerlichen Geistes zusammen. Renaissance, Aufklarung und die Naturwissenschaft und Okonomistik des neunzehnten Jahrhunderts haben nichts, aber auch nichts zu lehren unterlassen, was irgend tauglich schien, diese Entwurdigung zu fordern, angefangen mit der neuen Astronomie, die aus dem Zentrum des Alls, dem erlauchten Schauplatz, wo Gott und Teufel um den Besitz des beiderseits hei? begehrten Geschopfes kampften, einen gleichgultigen kleinen Wandelstern machte und der gro?artigen kosmischen Stellung des Menschen, auf der ubrigens die Astrologie beruhte, vorderhand ein Ende bereitete."

"Vorderhand?" Herrn Settembrinis Miene hatte, wie er es lauernd fragte, selber etwas von der eines Ketzerrichters und Inquisitors, der darauf wartet, da? der Aussagende sich im unzweifelhaft Straflichen verfange.

"Allerdings. Fur ein paar hundert Jahre", bestatigte Naphta kalt. "Eine Ehrenrettung der Scholastik steht, wenn nicht alles tauscht, auch in dieser Beziehung bevor, sie ist schon im vollen Gange. Kopernikus wird von Ptolemaus geschlagen werden. Die heliozentrische These begegnet nachgerade einem geistigen Widerstand, dessen Unternehmungen wahrscheinlichzum Ziele fuhren werden. Die Wissenschaft wird sich philosophisch genotigt sehen, die Erde in alle Wurden wieder einzusetzen, die das kirchliche Dogma ihr wahren wollte."

"Wie? Wie? Geistiger Widerstand? Philosophisch genotigt sehen? Zum Ziele fuhren? Welche Art von Voluntarismus spricht aus Ihnen? Und die voraussetzungslose Forschung? Die reine Erkenntnis? Die Wahrheit, mein Herr, die mit der Freiheit so innig verbunden ist, und deren Blutzeugen, aus denen Sie Beleidiger der Erde machen wollen, diesem Stern vielmehr zur ewigen Zierde gereichen??"

Herr Settembrini hatte eine gewaltige Art, zu fragen. Hochaufgerichtet sa? er und lie? seine ehrenhaften Worte auf den kleinen Herrn Naphta niedersausen, am Ende die Stimme so machtig hochziehend, da? man wohl horte, wie sicher er war, da? des Gegners Antwort hierauf nur in beschamtem Schweigen bestehen konne. Er hatte ein Stuck Baumkuchen zwischen den Fingern gehalten, wahrend er sprach, legte

es aber nun auf den Teller zuruck, da er nach dieser Fragestellung nicht hineinbei?en mochte.

Naphta erwiderte mit unangenehmer Ruhe:

"Guter Freund, es gibt keine reine Erkenntnis. Die Rechtma?igkeit der kirchlichen Wissenschaftslehre, die sich in Augustins Satz 'Ich glaube, damit ich erkenne' zusammenfassen la?t, ist vollig unbestreitbar. Der Glaube ist das Organ der Erkenntnis und der Intellekt sekundar. Ihre voraussetzungslose Wissenschaft ist eine Mythe. Ein Glaube, eine Weltanschauung, eine Idee, kurz: ein Wille ist regelma?ig vorhanden, und Sache der Vernunft ist es, ihn zu erortern, ihn zu beweisen. Es lauft immer und in allen Fallen auf das 'Quod erat demonstrandum' hinaus. Schon der Begriff des Beweises enthalt, psychologisch genommen, ein stark voluntaristisches Element. Die gro?en Scholastiker des zwolften und dreizehnten Jahrhunderts waren einig in der Uberzeugung, da? in der Philosophie nicht wahr sein konne, was vor der Theologie falsch sei. Lassen wir die Theologie aus dem Spiel, wenn Sie wollen, aber eine Humanitat, die nicht anerkennt, da? in der Naturwissenschaft nicht wahr sein kann, was vor der Philosophie falsch ist, das ist keine Humanitat. Die Argumentation des heiligen Offiziums gegen Galilei lautete dahin, da? seine Satze philosophisch absurd seien. Eine schlagendere Argumentation gibt es nicht."

"Eh, eh, die Argumente unseres armen, gro?en Galilei haben sich als stichhaltiger erwiesen! Nein, lassen Sie uns ernsthaft reden, Professore! Beantworten Sie mir vor diesen beiden aufmerksamen jungen Leuten die Frage: Glauben Sie an eine Wahrheit, an die objektive, die wissenschaftliche Wahrheit, der nachzustreben oberstes Gesetz aller Sittlichkeit ist, und deren Triumphe uber die Autoritat die Ruhmesgeschichte des Menschengeistes bilden?!"

Hans Castorp und Joachim wandten die Kopfe von Settembrini zu Naphta, der erstere schneller, als der andere. Naphta antwortete:

"Ein solcher Triumph ist nicht moglich, denn die Autoritat ist der Mensch, sein Interesse, seine Wurde, sein Heil, und zwischen ihr und der Wahrheit kann es keinen Widerstreit geben. Sie fallen zusammen."

"DieWahrheit ware demnach -"

"Wahr ist, was dem Menschen frommt. In ihm ist die Natur zusammengefa?t, in aller Natur ist nur er geschaffen und alle Natur nur fur ihn. Er ist das Ma? der Dinge und sein Heil das Kriterium der

Wahrheit. Eine theoretische Erkenntnis, die des praktischen Bezuges auf die Heilsidee des Menschen entbehrt, ist derma?en uninteressant, da? jeder Wahrheitswert ihr abzusprechen und ihre Nichtzulassung geboten ist. Die christlichen Jahrhunderte waren vollig einig uber die menschliche Unerheblichkeit der Naturwissenschaft. Lactantius, den Konstantin der Gro?e zum Lehrer seines Sohnes wahlte, fragte gerade heraus, welche Seligkeit er denn gewinnen werde, wenn er wisse, wo der Nil entspringt, oder was die Physiker vom Himmel faseln. Das beantworten Sie ihm einmal! Wenn man die platonische Philosophie jeder anderen vorzog, so darum, weil sie sich nicht mit Naturerkenntnis, sondern mit der Erkenntnis Gottes abgab. Ich kann Sie versichern, die Menschheit ist im Begriff, zu diesem Gesichtspunkt zuruckzufinden und einzusehen, da? es nicht Aufgabe wahrer Wissenschaft ist, heillosen Erkenntnissen nachzulaufen, sondern das Schadliche oder auch nur ideell Bedeutungslose grundsatzlich auszuscheiden und mit einem Worte Instinkt, Ma?, Wahl zu bekunden. Es ist kindisch, zu meinen, die Kirche habe die Finsternis gegen das Licht verteidigt. Sie tat dreimal wohl daran, ein 'voraussetzungsloses' Streben nach Erkenntnis der Dinge, das hei?t: ein solches, das sich der Rucksicht auf das Geistige, auf den Zweck der Heilserwerbung entschlagt, fur strafbar zu erklaren, und was den Menschen in Finsternis gefuhrt hat und immer tiefer fuhren wird, ist vielmehr die 'voraussetzungslose', die aphilosophische Naturwissenschaft."

"Sie lehren da einen Pragmatismus," erwiderte Settembrini, "den Sie nur ins Politische zu ubertragen brauchen, um seiner ganzen Verderblichkeit ansichtig zu werden. Gut, wahr und gerecht ist, was dem Staate frommt. Sein Heil, seine Wurde, seine Macht ist das Kriterium des Sittlichen. Schon! Damit ist jedem Verbrechen Tur und Tor geoffnet, und die menschliche Wahrheit, die individuelle Gerechtigkeit, die Demokratie - sie mogen sehen, wo sie bleiben ..."

"Ich bringe ein wenig Logik in Vorschlag", versetzte Naphta. "Entweder Ptolemaus und die Scholastik behalten recht, und die Welt ist endlich in Zeit und Raum. Dann ist die Gottheit transzendent, der Gegensatz von Gott und Welt bleibt aufrecht, und auch der Mensch ist eine dualistische Existenz: das Problem seiner Seele besteht in dem Widerstreit des Sinnlichen und des Ubersinnlichen, und alles Gesellschaftliche ist mit Abstand zweiten Ranges. Nur diesen Individualismus kann ich als konsequent anerkennen. Oder aber Ihre Renaissance-Astronomen fanden

die Wahrheit, und der Kosmos ist unendlich. Dann gibt es keine ubersinnliche Welt, keinen Dualismus; das Jenseits ist ins Diesseits aufgenommen, der Gegensatz von Gott und Natur hinfallig, und da in diesem Falle auch die menschliche Personlichkeit nicht mehr Kriegsschauplatz zweier feindlicher Prinzipien, sondern harmonisch, sonderneinheitlich ist, so beruht der innermenschliche Konflikt lediglich auf dem der Einzel- und der gesamtheitlichen Interessen, und der Zweck des Staates wird, wie es gut heidnisch ist, zum Gesetz des Sittlichen. Eines oder das andere."

"Ich protestiere!" rief Settembrini, indem er seine Teetasse dem Gastgeber mit ausgestrecktem Arm entgegenhielt. "Ich protestiere gegen die Unterstellung, da? der moderne Staat die Teufelsknechtschaft des Individuums bedeute! Ich protestiere zum drittenmal, und zwar gegen die vexatorische Alternative von Preu?entum und gotischer Reaktion, vor die Sie uns stellen wollen! Die Demokratie hat keinen anderen Sinn, als den einer individualistischen Korrektur jedes Staatsabsolutismus. Wahrheit und Gerechtigkeit sind Kronjuwelen individueller Sittlichkeit, und im Falle des Konflikts mit dem Staatsinteresse mogen sie wohl sogar den Anschein staatsfeindlicher Machte gewinnen, wahrend sie in der Tat das hohere, sagen wir es doch: das uberirdische Wohl des Staates im Auge haben. Die Renaissance der Ursprung der Staatsvergottung! Welche Afterlogik! Die Errungenschaften - ich sage mit etymologischer Betonung: die Errungenschaften von Renaissance und Aufklarung, mein Herr, hei?en Personlichkeit, Menschenrecht, Freiheit!"

Die Zuhorer atmeten aus, denn sie hatten die Luft angehalten bei Herrn Settembrinis gro?er Replik. Hans Castorp konnte sogar nicht umhin, mit der Hand, wenn auch zuruckhaltenderweise, auf den Tischrand zu schlagen. "Brillant!" sagte er zwischen den Zahnen, und auch Joachim zeigte starke Befriedigung, obgleich ein Wort gegen das Preu?entum gefallen war. Dann aber wandten sich beide dem eben zuruckgeschlagenen Interlokutor zu, Hans Castorp mit solchem Eifer, da? er den Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Faust stutzte, ungefahr wie beim Schweinchen-Zeichnen, und Herrn Naphta aus nachster Nahe gespannt ins Gesicht blickte.

Dieser sa? still und scharf, die mageren Hande im Scho?. Er sagte:

"Ich suchte Logik in unser Gesprach einzufuhren, und Sie antworten mir mit Hochherzigkeiten. Da? die Renaissance all das zur Welt gebracht

hat, was man Liberalismus, Individualismus, humanistische Burgerlichkeit nennt, war mir leidlich bekannt; aber Ihre 'etymologischen Betonungen' lassen mich kuhl, denn das 'ringende', das heroische Lebensalter Ihrer Ideale ist langst voruber, diese Ideale sind tot, sie liegen heute zum mindesten in den letzten Zugen, und die Fu?e derer, die ihnen den Garaus machen werden, stehen schon vor der Tur. Sie nennen sich, wenn ich nicht irre, einen Revolutionar. Aber wenn Sie glauben, da? das Ergebnis kunftiger Revolutionen - Freiheit sein wird, so sind Sie im Irrtum. Das Prinzip der Freiheit hat sich in funfhundert Jahren erfullt und uberlebt. Eine Padagogik, die sich heute noch als Tochter der Aufklarung versteht und in der Kritik, der Befreiung und Pflege des Ich, der Auflosung absolut bestimmter Lebensformen ihre Bildungsmittel erblickt, - eine solche Padagogik mag noch rhetorische Augenblickserfolge davontragen, aber ihre Ruckstandigkeit ist fur den Wissenden uber jeden Zweifel erhaben. Alle wahrhaft erzieherischenVerbande haben von jeher gewu?t, um was es sich in Wahrheit bei aller Padagogik immer nur handeln kann: namlich um den absoluten Befehl, die eiserne Bindung, um Disziplin, Opfer, Verleugnung des Ich, Vergewaltigung der Personlichkeit. Zuletzt bedeutet es ein liebloses Mi?verstehen der Jugend, zu glauben, sie finde ihre Lust in der Freiheit. Ihre tiefste Lust ist der Gehorsam."

Joachim richtete sich gerade auf. Hans Castorp errotete. Herr Settembrini drehte erregt an seinem schonen Schnurrbart.

"Nein!" fuhr Naphta fort. "Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird, das ist - der Terror."

Er hatte das letzte Wort leiser als alles Vorhergehende gesprochen, ohne eine Korperbewegung; nur seine Brillenglaser hatten kurz aufgeblitzt. Alle drei, die ihn horten, waren zusammengezuckt, auch Settembrini, der sich aber bald lachelnd wieder fa?te.

"Und darf man sich erkundigen," fragte er, "wen oder was - Sie sehen, ich bin ganz Frage, ich wei? nicht einmal, wie ich fragen soll - wen oder was Sie sich als Trager dieses - ich wiederhole ungern das Wort - dieses Terrors denken?"

Naphta sa? stille, scharf und blitzend. Er sagte:

"Ich stehe zu Diensten. Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich unsere Ubereinstimmung voraussetze in der Annahme eines idealen Urzustandes der Menschheit, eines Zustandes der Staat- und

Gewaltlosigkeit, der unmittelbaren Gotteskindschaft, worin es weder Herrschaft noch Dienst gab, nicht Gesetz noch Strafe, kein Unrecht, keine fleischliche Verbindung, keine Klassenunterschiede, keine Arbeit, kein Eigentum, sondern Gleichheit, Bruderlichkeit, sittliche Vollkommenheit."

"Sehr gut. Ich stimme zu", erklarte Settembrini. "Ich stimme zu bis auf den Punkt der fleischlichen Verbindung, die offenbar jederzeit stattgehabt haben mu?, da der Mensch ein hochstentwickeltes Wirbeltier ist und nicht anders, als andere Wesen -"

"Wie Sie meinen. Ich konstatiere unser grundsatzliches Einverstandnis, was den anfanglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustand betrifft, der durch den Sundenfall verloren ging. Ich glaube, da? wir noch ein weiteres Stuck Weges Seite an Seite bleiben konnen, namlich indem wir den Staat auf einen der Sunde Rechnung tragenden, zum Schutz gegen das Unrecht geschlossenen Gesellschaftsvertrag zuruckfuhren und darin den Ursprung der herrschaftlichen Gewalt erblicken."

"Benissimo!" rief Settembrini. "Gesellschaftsvertrag ... das ist die Aufklarung, das ist Rousseau. Ich hatte nicht gedacht -"

"Ich bitte. Unsere Wege scheiden sich hier. Aus der Tatsache, da? alle Herrschaft und Gewalt ursprunglich beim Volke war, und da? dieses sein Recht an der Gesetzgebung und seine ganze Gewalt dem Staate, dem Fursten ubertrug, folgert Ihre Schule vor allem das revolutionare Recht des Volkes vor dem Konigtum. Wir dagegen -"

"Wir?" dachte Hans Castorp gespannt ... Wer sind "wir"? Ich mu? unbedingt nachher Settembrini danach fragen, wen er mit "wir" meint.

"Wir unsererseits," sprach Naphta,"vielleicht nicht weniger revolutionar als Sie, haben daraus von jeher in erster Linie den Vorrang der Kirche vor dem weltlichen Staat gefolgert. Denn wenn die Ungottlichkeit des Staates ihm nicht an der Stirn geschrieben stande, wurde ein Hinweis auf eben dieses historische Faktum, da? er auf den Willen des Volkes und nicht, wie die Kirche, auf gottliche Stiftung zuruckzufuhren ist, genugen, um ihn, wenn nicht geradezu als eine Veranstaltung der Bosheit, so doch jedenfalls als eine solche der Notdurft und der sundhaften Unzulanglichkeit zu erweisen."

"Der Staat, mein Herr -"

"Ich wei?, wie Sie uber den nationalen Staat denken. 'Uber alles geht

die Vaterlandsliebe und grenzenlose Ruhmesbegier.' Das ist Vergil. Sie korrigieren ihn durch etwas liberalen Individualismus, und das ist die Demokratie; aber Ihr grundsatzliches Verhaltnis zum Staat bleibt dadurch vollig unberuhrt. Da? seine Seele das Geld ist, ficht Sie offenbar nicht an. Oder wollen Sie es bestreiten? Die Antike war kapitalistisch, weil sie staatsfromm war. Das christliche Mittelalter hat den immanenten Kapitalismus des weltlichen Staates klar erkannt. 'Das Geld wird Kaiser sein', - das ist eine Prophezeiung aus dem elften Jahrhundert. Leugnen Sie, da? das wortlich eingetroffen, und da? die Verteufelung des Lebens damit restlos erreicht ist?"

"Lieber Freund, Sie haben das Wort. Ich bin ungeduldig, mit dem gro?en Unbekannten, dem Trager des Schreckens, bekannt gemacht zu werden."

"Eine gewagte Neugier bei dem Sprecher einer Gesellschaftsklasse, welche Trager der Freiheit ist, die die Welt zugrunde gerichtet hat. Ich kann auf Ihre Widerrede zur Not verzichten, denn die politische Ideologie der Burgerlichkeit ist mir bekannt. Ihr Ziel ist das demokratische Imperium, die Selbstubersteigerung des nationalen Staatsprinzips ins Universelle, der Weltstaat. Der Kaiser dieses Imperiums? Wir kennen ihn. Ihre Utopie ist gra?lich, und doch, - wir finden uns an diesem Punkt gewisserma?en wieder zusammen. Denn Ihre kapitalistische Weltrepublik hat etwas Transzendentes, tatsachlich, der Weltstaat ist die Transzendenz des weltlichen Staates, und wir stimmen uberein in dem Glauben, da? einem vollkommenen Anfangszustande der Menschheit ein in Horizontferne liegender vollkommener Endzustand entsprechen soll. Seit den Tagen Gregors des Gro?en, Grunders des Gottesstaates, hat die Kirche es als ihre Aufgabe betrachtet, den Menschen unter die Leitung Gottes zuruckzufuhren. Der Herrschaftsanspruch des Papstes wurde nicht um seiner selbst willen erhoben, sondern seine stellvertretende Diktatur war Mittel und Weg zum Erlosungsziel, Ubergangsform vom heidnischen Staat zum himmlischen Reich. Sie haben diesen Lernenden hier von Bluttaten der Kirche, ihrer strafenden Unduldsamkeit gesprochen, - hochst torichterweise, denn Gotteseifer kann selbstverstandlich nicht pazifistisch sein, und Gregor hat das Wort gesprochen: 'Verflucht sei der Mensch, der sein Schwert zuruckhalt vom Blute!' Da? die Macht bose ist, wissen wir. Aber der Dualismus von Gut und Bose, von Jenseits und Diesseits, Geist und Macht mu?, wenn das Reichkommen soll, vorubergehend aufgehoben werden in einem Prinzip,

das Askese und Herrschaft vereinigt. Das ist es, was ich die Notwendigkeit des Terrors nenne."

"Der Trager! Der Trager!"

"Sie fragen? Sollte Ihrem Manchestertum die Existenz einer Gesellschaftslehre entgangen sein, die die menschliche Uberwindung des Okonomismus bedeutet, und deren Grundsatze und Ziele mit denen des christlichen Gottesstaates genau zusammenfallen? Die Vater der Kirche haben Mein und Dein verderbliche Worte und das Privateigentum Usurpation und Diebstahl genannt. Sie haben den Guterbesitz verworfen, weil nach dem gottlichen Naturrecht die Erde allen Menschen gemeinsam sei und daher auch ihre Fruchte fur den gemeinschaftlichen Gebrauch aller hervorbringe. Sie lehrten, da? nur die Habgier, eine Folge des Sundenfalls, die Besitzrechte vertritt und das Sondereigentum geschaffen habe. Sie waren human genug, antihandlerisch genug, wirtschaftliche Tatigkeit uberhaupt eine Gefahr fur das Seelenheil, das hei?t: fur die Menschlichkeit zu nennen. Sie haben das Geld und die Geldgeschafte geha?t und den kapitalistischen Reichtum den Brennstoff des hollischen Feuers genannt. Das okonomische Grundgesetz, da? der Preis das Ergebnis des Verhaltnisses von Angebot und Nachfrage ist, haben sie von ganzem Herzen verachtet und das Ausnutzen der Konjunktur als zynische Ausbeutung einer Notlage des Nachsten verdammt. Es gab eine noch frevelhaftere Ausbeutung in ihren Augen: die der Zeit, das Unwesen, sich fur den blo?en Zeitverlauf eine Pramie zahlen zu lassen, namlich den Zins, und auf diese Weise eine allgemein gottliche Einrichtung, die Zeit, zum Vorteil des einen und Schaden des anderen zu mi?brauchen."

"Benissimo!" rief Hans Castorp, indem er sich vor Eifer der Zustimmungsformel Herrn Settembrinis bediente. "Die Zeit ... Eine allgemein gottliche Einrichtung ... Das ist hochwichtig ...!"

"Allerdings", fuhr Naphta fort. "Diese menschlichen Geister haben den Gedanken einer selbsttatigen Vermehrung des Geldes als ekelhaft empfunden, alle Zins- und Spekulationsgeschafte unter den Begriff des Wuchers fallen lassen und erklart, da? jeder Reiche entweder ein Dieb oder eines Diebes Erbe sei. Sie sind weiter gegangen. Sie betrachteten, wie Thomas von Aquino, den Handel uberhaupt, das reine Handelsgeschaft, das Kaufen und Verkaufen unter Einziehung eines Nutzens, aber ohne Bearbeitung, Verbesserung des wirtschaftlichen Gutes, als ein schimpfliches Gewerbe. Sie waren nicht geneigt, die Arbeit

an und fur sich sehr hoch zu schatzen, denn sie ist nur eine ethische Angelegenheit, keine religiose, sie geschieht im Dienste des Lebens, nicht Gottes. Und wenn es sich denn blo? um das Leben handeln sollte und um Wirtschaft, so verlangten sie, da? produktive Werktatigkeit als Bedingung wirtschaftlichen Vorteils und als Ma?stab der Achtbarkeit gelte. Ehrenwert war ihnen der Ackerbauer, der Handwerker, nicht der Handler, nicht der Industrielle. Denn sie wollten, da? die Produktion sich nach dem Bedurfnis richte, und verabscheuten die Massengutererzeugung. Nun denn, - alle diese wirtschaftlichen Grundsatze und Ma?stabe halten nach jahrhundertelanger Verschuttung ihre Auferstehung in dermodernen Bewegung des Kommunismus. Die Ubereinstimmung ist vollkommen bis hinein in den Sinn des Herrschaftsanspruchs, den die internationale Arbeit gegen das internationale Handler- und Spekulantentum erhebt, das Weltproletariat, das heute die Humanitat und die Kriterien des Gottesstaates der burgerlich-kapitalistischen Verrottung entgegenstellt. Die Diktatur des Proletariats, diese politisch-wirtschaftliche Heilsforderung der Zeit, hat nicht den Sinn der Herrschaft um ihrer selbst willen und in Ewigkeit, sondern den einer zeitweiligen Aufhebung des Gegensatzes von Geist und Macht im Zeichen des Kreuzes, den Sinn der Weltuberwindung durch das Mittel der Weltherrschaft, den Sinn des Uberganges, der Transzendenz, den Sinn des Reiches. Das Proletariat hat das Werk Gregors aufgenommen, sein Gotteseifer ist in ihm, und so wenig wie er wird es seine Hand zuruckhalten durfen vom Blute. Seine Aufgabe ist der Schrecken zum Heile der Welt und zur Gewinnung des Erlosungsziels, der staats- und klassenlosen Gotteskindschaft."

So Naphtas scharfe Rede. Die kleine Versammlung schwieg. Die jungen Leute blickten Herrn Settembrini an. An ihm war es, sich irgendwie zu verhalten. Er sagte:

"Erstaunlich. Gewi?, ich gestehe meine Erschutterung, ich hatte das nicht erwartet. Roma locuta. Und wie, - und wie hat es gesprochen! Vor unseren Augen hat er ein hieratisches Saltomortale vollfuhrt, - wenn das ein Widerspruch im Beiwort ist, so hat er ihn 'zeitweilig aufgehoben', ah, ja! Ich wiederhole: es ist erstaunlich. Halten Sie Einwendungen fur denkbar, Professor, - Einwendungen lediglich vom Standpunkt der Konsequenz? Sie bemuhten sich vorhin, uns einen christlichen, auf der Zweiheit von Gott und Welt beruhenden Individualismus begreiflich zu machen und uns seinen Vorrang vor aller politisch bestimmten

Sittlichkeit zu beweisen. Wenige Minuten spater treiben Sie den Sozialismus bis zur Diktatur und zum Schrecken. Wie reimt sich das?"

"Gegensatze," sagte Naphta, "mogen sich reimen. Ungereimt ist nur das Halbe und Mediokre. Ihr Individualismus, wie ich mir schon anzumerken erlaubte, ist eine Halbheit, ein Zugestandnis. Er korrigiert Ihre heidnische Staatssittlichkeit durch ein wenig Christentum, ein wenig 'Recht des Individuums', ein wenig sogenannte Freiheit, das ist alles. Ein Individualismus dagegen, der von der kosmischen, der astrologischen Wichtigkeit der Einzelseele ausgeht, ein nicht sozialer, sondern religioser Individualismus, der das Menschliche nicht als Widerstreit von Ich und Gesellschaft, sondern als den von Ich und Gott, von Fleisch und Geist erlebt, - ein solcher, eigentlicher Individualismus vertragt sich mit bindungsvollster Gemeinschaft recht wohl ..."

"Anonym und gemeinsam ist er", sagte Hans Castorp.

Settembrini sah ihn mit gro?en Augen an.

"Schweigen Sie, Ingenieur!" befahl er mit einer Strenge, die auf Rechnung seiner Nervositat und Anspannung zu setzen war. "Unterrichten Sie sich, aber produzieren Sie nicht! - Das ist eine Antwort", sagte er, wieder zu Naphta gewandt. "Sie trostet mich wenig, aber es ist eine. Blicken wir allen Konsequenzen ins Auge ... Mit der Industrieverneint der christliche Kommunismus die Technik, die Maschine, den Fortschritt. Mit dem, was Sie Handlertum nennen, dem Gelde und Geldgeschaft, das der Antike weit hoher als Landwirtschaft und Handwerk galt, verneint er die Freiheit. Denn es ist ja klar, es bei?t in die Augen, da? dadurch, wie im Mittelalter, alle privaten und offentlichen Verhaltnisse an den Grund und Boden gebunden werden, auch die - es fallt mir nicht eben ganz leicht, es auszusprechen - auch die Personlichkeit. Kann nur der Boden ernahren, so ist er es allein, der Freiheit verleiht. Handwerker und Bauern, als so ehrenwert sie immer gelten mogen, - besitzen sie keinen Boden, so sind sie Horige dessen, der welchen besitzt. Tatsachlich bestand bis tief ins Mittelalter hinein die gro?e Menge selbst der Stadte aus Horigen. Sie haben im Gange des Gesprachs dies und das von menschlicher Wurde verlauten lassen. Unterdessen verfechten Sie eine Wirtschaftsmoral, an der die Unfreiheit und Wurdelosigkeit der menschlichen Personlichkeit hangt."

"Uber Wurde und Wurdelosigkeit," erwiderte Naphta, "lie?e sich reden. Vorderhand ware es mir eine Genugtuung, wenn diese Zusammenhange Ihnen Veranlassung gaben, die Freiheit nicht so sehr als schone Geste,

denn als ein Problem zu begreifen. Sie stellen fest, da? die christliche Wirtschaftsmoral in ihrer Schonheit und Menschlichkeit Unfreie schafft. Ich stelle dagegen, da? die Sache der Freiheit, die Sache der Stadte, wie man konkreter sagen darf, - da? diese Sache, hochst sittlich, wie sie immer sei, historisch verbunden ist mit der unmenschlichsten Entartung der Wirtschaftsmoral, mit allen Greueln des modernen Handler- und Spekulantentums, mit der Satansherrschaft des Geldes, des Geschaftes."

"Ich mu? darauf bestehen, da? Sie sich nicht hinter Zweifel und Antinomien zuruckziehen, sondern sich klar und unzweideutig zur schwarzesten Reaktion bekennen!"

"Der erste Schritt zu wahrer Freiheit und Humanitat ware, sich der schlotternden Furcht vor dem Begriff 'Reaktion' zu entschlagen."

"Nun, es ist genug", erklarte Herr Settembrini mit leicht bebender Stimme, indem er Tasse und Teller von sich schob, die ubrigens leer waren, und sich vom seidenen Sofa erhob. "Es ist genug fur heute, genug fur einen Tag, wie mir scheint. Professor, wir danken fur die schmackhafte Bewirtung, fur das sehr spirituelle Gesprach. Meine Freunde vom Berghof hier ruft die Kur, und ich habe den Wunsch, ihnen, bevor sie gehen, meine Klause droben zu zeigen. Kommen Sie, meine Herren! Addio, Padre!"

Jetzt hatte er Naphta gar "Padre" genannt! Hans Castorp vermerkte es mit hohen Augenbrauen. Man lie? es geschehen, da? Settembrini den Aufbruch leitete, uber die Vettern verfugte und nicht in Frage kommen lie?, ob Naphta vielleicht sich anzuschlie?en wunsche. Die jungen Leute verabschiedeten sich, ebenfalls dankend, und wurden wiederzukommen ermutigt. Sie gingen mit dem Italiener, nicht ohne da? Hans Castorp das Buch "De miseria humanae conditionis",einen morschen Pappband, leihweise mit auf den Weg bekam. Noch immer sa? der sauerbartige Lukacek auf seinem Tisch, das Armelkleid fur die Alte fertigend, als sie an seiner offenen Tur voruberschritten, um die fast leiterartige Stiege zum Dachgescho? zu gewinnen. Das war ubrigens, klar geschaut, gar kein Gescho?. Es war einfach der Dachstuhl, mit nacktem Gebalk unter der Innenseite der Schindeln und mit der sommerlichen Atmosphare des Speichers, dem Geruch warmen Holzes. Aber der Dachstuhl enthielt zwei Kammern, und diese bewohnte der republikanische Kapitalist, sie dienten dem schongeistigen Mitarbeiter an der "Soziologie der Leiden" als Studio und Schlafkabinett. Mit Heiterkeit zeigte er sie den jungen Freunden, nannte das Kompartiment separiert und traulich, um ihnen die

richtigen Worte an die Hand zu geben, deren sie sich zum Lobe bedienen mochten, - was sie denn einstimmig taten. Es sei ganz reizend, fanden sie beide, separiert und traulich, genau wie er sage. Sie taten einen Blick ins Schlafzimmerchen, wo vor der schmalen und kurzen Bettstatt im Mansardenwinkel ein kleiner Flickenteppich lag, und wandten sich dann dem Arbeitsraum wieder zu, der nicht weniger notdurftig ausgestattet war, dabei aber eine gewisse paradema?ige und sogar frostige Ordnung aufwies. Plumpe und altmodische Stuhle, vier an der Zahl, mit Sitzflachen aus Stroh, waren symmetrisch zu seiten der Turen aufgestellt, und auch der Diwan war an die Wand geruckt, so da? der grungedeckte Rundtisch, auf dem zum Schmuck oder zur Erquickung und jedenfalls nuchternerweise eine Wasserflasche mit uber den Hals gestulptem Glase stand, einsam die Mitte des Zimmers hielt. Bucher, gebunden und broschiert, lehnten auf einem kleinen Wandbort schrag aneinander, und bei dem offenen Fensterchen ragte hochbeinig ein leichtgezimmertes Klapp-Pult mit einem kleinen, dicken Bodenbelag aus Filz davor, eben gro? genug, um darauf stehen zu konnen. Hans Castorp nahm einen Augenblick probeweise hier Aufstellung, - an Herrn Settembrinis Arbeitsstatte, wo er die schone Literatur zu enzyklopadischen Zwecken unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Leiden behandelte, - stutzte die Ellbogen auf die schrage Platte und urteilte, da? es sich hier separiert und traulich stehe. So, meinte er, mochte Lodovicos Vater einst zu Padua an seinem Pulte gestanden haben, mit seiner Nase so lang und fein, - und erfuhr, da? es wirklich das Arbeitspult des verstorbenen Gelehrten sei, vor dem er stehe, ja, auch die Strohstuhle, der Tisch und selbst die Wasserflasche stammten aus dessen Besitz, und mehr noch: die Strohstuhle hatten sogar schon dem Gro?vater Carbonaro gehort, zu Mailand hatten sie die Wande seines Advokatenbureaus geschmuckt. Das war eindrucksvoll. Die Physiognomie der Stuhle gewann etwas politisch Wuhlerisches in den Augen der jungen Leute, und Joachim verlie? den seinen, auf dem er nichtsahnend mit ubergeschlagenem Beine gesessen hatte, betrachtete ihn mi?trauisch und nahmihn nicht wieder ein. Hans Castorp aber, am Stehpult Settembrinis des Alteren, bedachte, wie nun der Sohn daran wirke, indem er die Politik des Gro?vaters mit dem Humanismus des Vaters zur schonen Literatur vereinige. Dann gingen sie alle drei. Der Schriftsteller hatte sich erboten, die Vettern heimzugeleiten.

Sie schwiegen ein Stuck Weges, aber ihr Schweigen handelte von Naphta, und Hans Castorp konnte warten: es war gewi?, da? Herr

Settembrini auf seinen Hausgenossen zu sprechen kommen werde, ja, da? er zu diesem Zwecke mit ihnen gegangen sei. Er tauschte sich nicht. Nach einem Aufatmen, das einem Anlauf gleichkam, begann der Italiener:

"Meine Herren - ich mochte Sie warnen."

Da er eine Pause eintreten lie?, so fragte Hans Castorp naturlich mit falscher Verwunderung: "Wovor?" Er hatte wenigstens fragen konnen: "Vor wem?" aber er fa?te sich unpersonlich, um seine ganze Unschuld zu bekunden, wahrend doch sogar Joachim genau Bescheid wu?te.

"Vor der Personlichkeit, deren Gaste wir soeben waren," antwortete Settembrini, "und deren Bekanntschaft ich Ihnen gegen Wunsch und Absicht vermittelt habe. Sie wissen, der Zufall wollte es, ich konnte nicht umhin; aber ich trage die Verantwortung und trage schwer daran. Es ist meine Pflicht, Ihre Jugend wenigstens auf die geistigen Gefahren hinzuweisen, die sie im Umgang mit diesem Manne lauft, und Sie ubrigens zu bitten, den Verkehr mit ihm in weisen Grenzen zu halten. Seine Form ist Logik, aber sein Wesen ist Verwirrung."

"Na, allerdings," meinte Hans Castorp, so ganz geheuer sei es ja wohl gerade nicht mit Naphta, ein bi?chen sonderbar muteten seine Reden wohl manchmal an; es hatte ja geradezu geklungen, als wollte er wahrhaben, da? die Sonne sich um die Erde drehe. Doch schlie?lich, wie hatten sie, die Vettern, auf den Gedanken kommen sollen, es konne unratsam sein, mit einem Freunde von ihm, Settembrini, in gesellschaftlichen Verkehr zu treten? Er sage es selbst: durch ihn hatten sie Naphta kennengelernt, mit ihm hatten sie ihn getroffen, er gehe mit ihm spazieren, er komme zwanglos zu ihm zum Tee herunter; das beweise doch -

"Gewi?, Ingenieur, gewi?." Herrn Settembrinis Stimme klang sanft, resigniert und enthielt doch ein leises Beben. "Dies la?t sich mir erwidern, und darum erwidern Sie es mir. Gut, ich verantworte mich bereitwillig. Ich lebe mit diesem Herrn unter einem Dach, Begegnungen sind unvermeidlich, ein Wort gibt das andere, man macht Bekanntschaft. Herr Naphta ist ein Mann von Kopf - das ist selten. Er ist eine diskursive Natur - ich bin es auch. Verurteile mich, wer will, aber ich mache Gebrauch von der Moglichkeit, mit einem immerhin ebenburtigen Gegner die Klinge der Idee zu kreuzen. Ich habe niemanden weit und breit ... Kurz, es ist wahr, ich komme zu ihm, erkommt zu mir, wir promenieren auch miteinander. Wir streiten. Wir streiten uns aufs Blut,

fast jeden Tag, aber ich gestehe, die Gegensatzlichkeit und Feindseligkeit seiner Gedanken bildet einen Reiz mehr fur mich, mit ihm zusammenzutreffen. Ich brauche die Friktion. Gesinnungen leben nicht, wenn sie keine Gelegenheit haben, zu kampfen, und - ich bin in den meinen gefestigt. Wie konnten Sie von sich dasselbe behaupten - Sie, Leutnant, oder auch Sie, Ingenieur? Sie sind ungewappnet gegen intellektuelles Blendwerk, Sie sind der Gefahr ausgesetzt, unter den Einwirkungen dieser halb fanatischen und halb boshaften Rabulistik Schaden zu nehmen an Geist und Seele."

Ja, ja, sagte Hans Castorp, wohl wahr, sein Vetter und er, sie seien wohl mehr oder weniger bedrohte Naturen. Es sei die Geschichte mit den Sorgenkindern des Lebens, er verstehe. Aber demgegenuber konne man ja Petrarca anfuhren mit seinem Wahlspruch, Herr Settembrini wisse schon, und horenswert sei es doch unter allen Umstanden, was Naphta so vorbringe: man musse gerecht sein, das mit der kommunistischen Zeit, fur deren Ablauf niemand eine Pramie bekommen durfe, sei vorzuglich gewesen, und dann habe es ihn auch sehr interessiert, einiges uber Padagogik zu horen, was er ohne Naphta wohl nie zu horen bekommen hatte ...

Herr Settembrini pre?te die Lippen zusammen, und so beeilte sich Hans Castorp hinzuzufugen, da? er selbst sich naturlich jeder Partei- und Stellungnahme enthalte, nur eben horenswert habe er es gefunden, was Naphta uber die Lust der Jugend gesagt habe. "Erklaren Sie mir aber nun erst einmal eines!" fuhr er fort. "Da hat nun dieser Herr Naphta - ich sage 'dieser Herr', um anzudeuten, da? ich durchaus nicht unbedingt mit ihm sympathisiere, sondern mich im Gegenteil innerlich hochst reserviert verhalte -"

"Woran Sie wohltun!" rief Settembrini dankbar.

"- Da hat er nun also eine Menge gegen das Geld geredet, die Seele des Staates, wie er sich ausdruckt, und gegen das Eigentum, weil es Diebstahl sei, kurz, gegen den kapitalistischen Reichtum, von dem er, glaube ich, sagte, er sei der Brennstoff des hollischen Feuers - so druckte er sich annahernd einmal aus, wenn ich nicht irre, und lobte das mittelalterliche Zinsverbot in allen Tonen. Und dabei, er selbst ... Entschuldigen Sie, aber er mu? doch ... Es ist ja eine Uberraschung sondergleichen, wenn man so bei ihm eintritt. All die Seide ..."

"Ei, ja," lachelte Settembrini, "das ist eine charakteristische Geschmacksrichtung."

"... die schonen alten Meubles," erinnerte sich Hans Castorp weiter, "die Pieta aus dem vierzehnten Jahrhundert ... Der venezianische Kronleuchter ... der kleine Heiduck in Livree ... und beliebig viel Schokoladebaumkuchen gab es auch ... Er mu? doch fur seine Person -"

"Herr Naphta," antwortete Settembrini, "ist fur seine Person so wenig Kapitalist wie ich."

"Aber?"fragte Hans Castorp ... "Es ist nun ein Aber fallig in Ihrer Rede, Herr Settembrini."

"Nun, die dort lassen keinen darben, der zu ihnen gehort."

"Wer, 'die dort'?"

"Jene Vater."

"Vater? Vater?"

"Aber, Ingenieur, ich meine die Jesuiten!"

Das gab eine Pause. Die Vettern zeigten gro?te Betroffenheit. Hans Castorp rief:

"Was, Himmel, Kreuz, verflucht nochmal - der Mann ist ein Jesuit?!"

"Sie haben es erraten", sprach Herr Settembrini fein.

"Nein, nie im Leben hatte ich ... Wer kommt denn auf so was! Darum also haben Sie ihn Padre tituliert?"

"Das war eine kleine Hoflichkeitsubertreibung", entgegnete Settembrini. "Herr Naphta ist nicht Pater. Die Krankheit ist schuld daran, da? er es vorderhand nicht soweit gebracht hat. Aber er hat das Noviziat absolviert und die ersten Gelubde getan. Die Krankheit zwang ihn, seine theologischen Studien zu unterbrechen. Er hat dann noch einige Jahre als Prafekt in einem Ordensinstitut Dienst verrichtet, das hei?t: als Aufseher, Praceptor, Gouverneur der jungen Zoglinge. Das kam seinen padagogischen Neigungen entgegen. Hier kann er ihnen weiter nachhangen, indem er am Fridericianum Lateinisch lehrt. Er ist seit funf Jahren hier. Es ist unsicher geworden, ob und wann er diesen Ort wird verlassen durfen. Aber er ist Angehoriger des Ordens, und ware er ihm selbst lockerer verbunden, es konnte ihm nirgends fehlen. Ich sagte Ihnen, da? er fur seine Person arm, will sagen: besitzlos ist. Naturlich, das ist Vorschrift. Aber der Orden verfugt uber ungemessene Reichtumer, und er sorgt fur die Seinen, wie Sie sahen."

"Donner - Keil", murmelte Hans Castorp. "Und ich habe uberhaupt nicht gewu?t und gedacht, da? es sowas in allem Ernste noch gabe! Ein

Jesuit. Ja so! ... Aber sagen Sie mir eins: Wenn er nun also von dorther so wohl versorgt und versehen ist - warum in aller Welt wohnt er dann ... Ich will gewi? Ihrem Logis nicht zu nahe treten, Herr Settembrini, Sie haben es reizend bei Lukacek, so angenehm separiert und au?erdem besonders traulich. Ich meine aber: wenn Naphta es nun doch so dicke hat, um mich gewohnlich auszudrucken - warum nimmt er sich nicht eine andere Wohnung, statioser, mit ordentlichem Aufgang und gro?en Zimmern, in einem feinen Haus? Es hat ja direkt was Verstecktes und Abenteuerliches, wie er da in dem Loch mit all seiner Seide ..."

Settembrini zuckte die Achseln.

"Es mussen wohl Takt- und Geschmacksgrunde sein," sagte er, "die ihn dazu bestimmen. Ich nehme an, er verbessert sein antikapitalistisches Gewissen, indem er die Zimmer eines Armen bewohnt, und sich schadlos halt durch die Art, wie er sie bewohnt. Auch Diskretion wird im Spiele sein. Man bindet es den Leuten nicht auf die Nase, wie gut einen der Teufel von hinten versorgt. Man schutzt eine rechtunscheinbare Fassade vor und entfaltet dahinter seinen seidenen Priestergeschmack ..."

"Hochmerkwurdig!" sagte Hans Castorp. "Absolut neu und geradezu aufregend fur mich, wie ich gestehe. Nein, wir sind Ihnen wirklich zu Dank verbunden, Herr Settembrini, fur diese Bekanntschaft. Wollen Sie glauben, da? wir noch manches liebe Mal hingehen werden und ihn besuchen? Das ist ausgemacht. So ein Umgang erweitert ja den Horizont in ganz unverhofftem Grade und gibt Einblick in eine Welt, von deren Existenz man keine blasse Ahnung hatte. Ein richtiger Jesuit! Und wenn ich sage: 'richtig', so gebe ich mir selbst das Stichwort, fur das, was mir durch den Kopf geht, und was ich denn doch noch bemerken mu?. Ich frage: Ist er denn richtig? Ich wei? wohl, Sie meinen, da? es uberhaupt nicht richtig ist mit einem, den der Teufel von hinten versorgt. Was ich aber meine, lauft auf die Fragestellung hinaus: Ist er richtig als Jesuit - das geht mir im Kopf herum. Er hat da Dinge geau?ert - Sie wissen, welche ich meine - uber den modernen Kommunismus und uber den Gotteseifer des Proletariats, das seine Hand nicht zuruckhalten soll vom Blute - kurzum, Dinge, ich sage nichts weiter daruber, aber Ihr Gro?vater mit seiner Burgerpike war ja das reine Lammlein dagegen, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Geht denn das? Hat das die Zustimmung seiner Vorgesetzten? Vertragt es sich mit der romischen Lehre, fur die doch der Orden in aller Welt intrigieren soll, soviel ich wei?? Ist es nicht - wie hei?t das Wort - haretisch, abweichend, inkorrekt? Das uberlege ich

mir bezuglich Naphtas und horte gern, was Sie denken."

Settembrini lachelte.

"Sehr einfach. Herr Naphta ist allerdings in erster Linie Jesuit, ist es recht und ganz. Zum zweiten aber ist er ein Mann von Geist - ich wurde sonst nicht seine Gesellschaft suchen -, und als solcher trachtet er nach neuen Kombinationen, Anpassungen, Anknupfungen, zeitgema?en Abwandlungen. Sie sahen mich selbst uberrascht durch seine Theorien. Er hatte sich mir so weitgehend noch nicht offenbart. Ich benutzte die Anregung, die ihm sichtlich Ihre Gegenwart gewahrte, um ihn zu reizen, in gewisser Beziehung sein letztes Wort zu sagen. Es lautete schnurrig genug, gra?lich genug ..."

"Ja, ja; aber warum ist er nicht Pater geworden? Er hatte doch wohl das Alter dazu."

"Ich sagte Ihnen ja, da? die Krankheit es war, die ihn vorlaufig daran gehindert hat."

"Gut, aber meinen Sie nicht: wenn er erstens Jesuit ist und zweitens ein Mann von Geist, mit Kombinationen - da? dies zweite, hinzukommende, mit der Krankheit zu tun hat?"

"Was wollen Sie damit sagen?"

"Nein, nein, Herr Settembrini. Ich meine nur: er hat eine feuchte Stelle, und die hinderte ihn, Pater zu werden. Aber seine Kombinationen hattenihn auch wohl daran gehindert, und insofern - gewisserma?en, gehoren die Kombinationen und die feuchte Stelle zusammen. Er ist auf seine Art auch so was wie ein Sorgenkind des Lebens, ein joli jesuite mit einem petite tache humide."

Sie hatten das Sanatorium erreicht. Auf der Plattform vorm Hause blieben sie noch etwas stehen, bevor sie sich trennten, traten zu einer kleinen Gruppe zusammen, wahrend ein paar Patienten, die am Portal herumlungerten, ihrem Gesprache zusahen. Herr Settembrini sagte:

"Um es zu wiederholen, meine jungen Freunde, ich warne Sie. Ich kann Ihnen nicht verwehren, die einmal gemachte Bekanntschaft zu kultivieren, wenn die Neugier Sie dazu treibt. Aber wappnen Sie Herz und Geist dabei mit Mi?trauen, lassen Sie es niemals fehlen an kritischem Widerstand. Ich werde Ihnen diesen Mann mit einem Worte kennzeichnen. Er ist ein Wollustiger."

Die Gesichter der Vettern verzogen sich. Dann fragte Hans Castorp:

"Ein ... wie? Erlauben Sie, er ist doch Ordensmann. Da sind ja

bestimmte Gelubde zu leisten, soviel ich wei?, und au?erdem ist er so miekerig und leibarm ..."

"Sie reden toricht, Ingenieur", erwiderte Herr Settembrini. "Das hat mit Leibarmut gar nichts zu tun, und was die Gelubde betrifft, so gibt es da Vorbehalte. Ich sprach jedoch in einem weiteren und geistigeren Sinn, fur den ich nachgerade Verstandnis bei Ihnen sollte voraussetzen durfen. Erinnern Sie sich wohl noch, wie ich Sie eines Tages auf Ihrem Zimmer besuchte - es ist lange her, furchtbar lange -, Sie absolvierten eben die Bettruhe nach erfolgter Aufnahme ..."

"Selbstverstandlich! Sie traten in der Dammerung ein und machten Licht, ich wei? es wie heute ..."

"Gut, damals kamen wir im Plaudern, wie es gottlob des ofteren geschieht, auf hohere Gegenstande. Ich glaube gar, wir sprachen von Tod und Leben, von den Wurden des Todes, insofern er Bedingung und Zubehor des Lebens ist, und von der Fratzenhaftigkeit, der er verfallt, wenn der Geist ihn abscheulicherweise als Prinzip isoliert. Meine Herren!" fuhr Herr Settembrini fort, indem er dicht vor die beiden jungen Leute hintrat, Daumen und Mittelfinger der Linken gabelformig gegen sie spreizte, gleichsam, um sie zur Aufmerksamkeit zusammenzufassen, und den Zeigefinger der Rechten mahnend erhob ... "Pragen Sie sich ein, da? der Geist souveran ist, sein Wille ist frei, er bestimmt die sittliche Welt. Isoliert er dualistisch den Tod, so wird derselbe durch diesen geistigen Willen wirklich und in der Tat, actu, Sie verstehen mich, zur eigenen, dem Leben entgegengesetzten Macht, zum widersacherischen Prinzip, zur gro?en Verfuhrung, und sein Reich ist das der Wollust. Sie fragen mich, warum der Wollust? Ich antworte Ihnen: weil er lost und erlost, weil er die Erlosung ist, aber nicht die Erlosung vom Ubel, sondern die uble Erlosung. Erlost Sitte und Sittlichkeit, er erlost von Zucht und Haltung, er macht frei zur Wollust. Wenn ich Sie warne vor dem Manne, dessen Bekanntschaft ich Ihnen ungern vermittelte, wenn ich Sie auffordere, im Verkehr und Diskurs mit ihm Ihre Herzen dreimal mit Kritik zu umgurten, so geschieht es, weil alle seine Gedanken wollustiger Art sind, denn sie stehen unter dem Schutze des Todes, - einer hochst liederlichen Macht, wie ich Ihnen damals sagte, Ingenieur, - ich erinnere mich wohl meines Ausdrucks, ich behalte tuchtige und treffliche Au?erungen, die zu tun ich Gelegenheit fand, stets im Gedachtnis -, einer gegen Gesittung, Fortschritt, Arbeit und Leben gerichteten Macht, vor deren mephitischem Hauch junge Seelen zu schutzen des Erziehers vornehmste Pflicht ist."

Man konnte nicht besser sprechen als Herr Settembrini, nicht klarer und gerundeter. Hans Castorp und Joachim Ziem?en bedankten sich recht schon bei ihm fur das Gehorte, empfahlen sich und erstiegen das Berghofportal, wahrend Herr Settembrini, eine Treppe uber Naphtas seidene Zelle hinaus, an sein Humanistenpult zuruckkehrte.

Es war der erste Besuch der Vettern bei Naphta, dessen Verlauf wir hier festhielten. Seither waren demselben zwei oder drei weitere gefolgt, einer sogar in Abwesenheit Herrn Settembrinis; und auch sie lieferten dem jungen Hans Castorp Stoff zur Betrachtung, wenn er, indes das Hochgebild, genannt Homo Dei, seinem inneren Auge vorschwebte, an dem blaubluhenden Ort seiner Zuruckgezogenheit sa? und "regierte".

Jahzorn. Und noch etwas ganz Peinliches

So kam der August, und glucklich war unter seinen ersten Tagen der Jahrestag von unseres Helden Ankunft bei uns hier oben vorubergeschlupft. Nur gut, da? er voruber war, - er hatte dem jungen Hans Castorp etwas unangenehm vorgestanden. So war es die Regel. Der Tag der Ankunft war nicht beliebt, es wurde seiner unter den Voll- und Mehrjahrigen nicht gedacht, und wahrend doch sonst kein Vorwand zu Festivitat und Becherklang unbenutzt blieb, die allgemeinen und gro?en Betonungen im Jahresrhythmus und -pulslauf durch moglichst viele private und irregulare vermehrt und Geburtstage, Generaluntersuchungen, bevorstehende wilde oder echte Abreisen und dergleichen Anlasse mehr mit Schmaus und Pfropfenknall im Restaurant begangen wurden, - widmete man diesem Gedenktage nichts als Stillschweigen, lie? sich daruber hinweggleiten, verga? auch wohl wirklich, auf ihn zu achten und durfte vertrauen, da? die andern ihn uberhaupt nicht so genau im Sinne hatten. Auf Gliederung hielt man wohl; man beobachtete den Kalender, den Turnus, die au?ere Wiederkehr. Aber die Zeit, die sich fur den einzelnen mit dem Raum hier oben verband, die personliche und individuelle Zeit also zu messen und zu zahlen war Sache der Kurzfristigen und Anfanger; die Eingesessenen lobten sich in dieser Hinsicht das Ungemessene und Achtlos-Ewige, den Tag, der immer derselbe war, und einer setzte mit Zartgefuhl beim anderen einen Wunschvoraus, den er selber hegte. Es hatte fur ganz und gar ungeschickt und brutal gegolten, jemandem zu sagen, heut sei er drei Jahre hier, - das kam nicht vor. Frau Stohr selbst, so weit es ihr sonst immer fehlen mochte, in diesem Punkt war sie taktfest und

abgeschliffen, nie ware ein solcher Versto? ihr untergelaufen. Ihr Kranksein, der Fieberstand ihres Korpers war mit gro?er Unbildung verbunden, gewi?. Noch kurzlich hatte sie bei Tische von der "Affektation" ihrer Lungenspitzen gesprochen und, als das Gesprach auf historische Dinge gekommen war, erklart, Geschichtszahlen seien nun einmal ihr "Ring des Polykrates", was ebenfalls eine gewisse Erstarrung der Umsitzenden hervorgerufen hatte. Aber da? sie etwa im Februar den jungen Ziem?en an sein Jubilaum hatte erinnern sollen, ware undenkbar gewesen, obgleich sie wahrscheinlich daran gedacht hatte. Denn ihr unseliger Kopf war naturlich voll unnutzer Daten und Dinge, und sie liebte es, anderen nachzurechnen; aber die Sitte hielt sie im Zaum.

So denn auch an Hans Castorps Tage. Sie hatte ihm wohl beim Essen einmal bedeutlich zuzuzwinkern versucht, aber da er dem Zeichen mit leerer Miene begegnet war, hatte sie sich schleunig zuruckgezogen. Auch Joachim hatte gegen den Vetter geschwiegen, und doch war er des Datums wohl eingedenk gewesen, an dem er den Zu-Besuch-Kommenden von Station "Dorf" abgeholt hatte. Aber Joachim, zum Reden von Natur schon nicht sehr geneigt, bei weitem nicht so, wie Hans Castorp es wenigstens hier oben geworden, von Humanisten und Rabulisten ihrer Bekanntschaft ganz zu schweigen, - Joachim hatte sich in letzter Zeit eine besondere und auffallende Schweigsamkeit angeeignet, nur Einsilbigkeiten kamen noch uber seine Lippen, aber in seiner Miene arbeitete es. Es war klar, da? sich fur ihn mit Station "Dorf" andere Vorstellungen verbanden als die des Abholens und der Ankunft ... Er stand in regem Briefwechsel mit dem Flachlande. Entschlusse reiften in ihm. Vorbereitungen, die er traf, naherten sich ihrem Abschlu?.

Der Juli war warm und heiter gewesen. Aber mit Anbruch des neuen Monats fiel schlechtes Wetter ein, trube Nasse, Schneeregen, dann unzweideutiger Schneefall, und mit Einschaltung einzelner prangender Sommertage dauerte das an, uber das Monatsende hin, in den September hinein. Anfangs hielten die Zimmer sich noch warm von der vorhergegangenen Sommerperiode; man hatte zehn Grad darin, das galt fur behaglich. Aber rasch wurde es kalter und kalter, und man war froh uber den Schnee, der das Tal bedeckte, denn sein Anblick - nur dieser, der Tiefstand der Temperatur allein ware ohne Folge geblieben - bewog die Verwaltung, zu heizen, zuerst nur den Speisesaal, dann auch die Zimmer, und man konnte, wenn man, nach geleistetem Liegedienst aus seinen zwei Decken gewickelt, von der Loggia hereinkam, mit den

feuchtstarren Handen die belebten Rohren betasten,deren trockener Hauch freilich das Brennen der Wangen verstarkte.

War das der Winter? Die Sinne konnten sich diesem Eindruck nicht entziehen, und man klagte, man sei "um den Sommer betrogen", obgleich man, unterstutzt von naturlichen und kunstlichen Umstanden, durch einen innerlich wie au?erlich verschwenderischen Zeitverbrauch sich selber um ihn betrogen hatte. Die Vernunft wollte wissen, da? noch schone Herbsttage folgen wurden; vielleicht sogar serienweise wurden sie erscheinen und in so warmer Pracht, da? ihnen mit dem Namen des Sommers nicht zuviel Ehre wurde angetan werden, vorausgesetzt, da? man sich den schon flacheren Tageslauf der Sonne, ihren schon zeitigen Abschied aus dem Sinne schlug. Aber die Wirkung auf das Gemut, die der Anblick der Winterlandschaft drau?en hervorbrachte, war starker als solche Trostungen. Man stand an seiner geschlossenen Balkontur und starrte mit Ekel hinaus in das Gestober, - Joachim war es, der so stand, und mit gepre?ter Stimme sagte er:

"Soll nun das wieder losgehen?"

Hans Castorp, hinter ihm im Zimmer, erwiderte:

"Das ware etwas fruh, es kann nicht endgultig sein, aber es gibt sich allerdings eine schauderhaft endgultige Miene. Wenn Winter in Dunkelheit, Schnee und Kalte und warmen Rohren besteht, dann ist wieder Winter, da gibt es nichts zu leugnen. Und wenn man bedenkt, da? ja eben erst Winter war und kaum die Schneeschmelze voruber ist - jedenfalls scheint es uns so, nicht wahr, als ob doch gerade erst Fruhling gewesen ware, - dann kann einem momentweise schlecht werden, das gebe ich zu. Es ist gefahrlich fur die menschliche Lebenslust, - la? dir erlautern, wie ich das meine. Ich meine es so, da? die Welt normaler Weise so eingerichtet ist, wie es den Bedurfnissen des Menschen entspricht und der Lebenslust zukommlich ist, das mu? man anerkennen. Ich will nicht so weit gehen, zu sagen, da? die Naturordnung, zum Beispiel also gleich mal die Gro?e der Erde, die Zeit, die sie zur Umdrehung um sich selbst und um die Sonne braucht, der Wechsel der Tages- und Jahreszeiten, der kosmische Rhythmus, wenn du willst, - nach unserem Bedurfnis bemessen ist, - das ware wohl frech und einfaltig, es ware Teleologie, wie der Denker sagt. Aber die Sache ist einfach so, da? unser Bedurfnis und die allgemeinen, grundlegenden Naturtatsachen gottlob miteinander in Einklang stehen - gottlob, sage ich, denn es ist wirklich ein Anla?, Gott zu loben -, und wenn im Flachland der Sommer

kommt oder der Winter, dann ist der vorige Sommer oder Winter genau so lange her, da? Sommer und Winter uns wieder neu und willkommen sind, und darauf beruht die Lebenslust. Bei uns hier oben nun aber ist diese Ordnung und dieser Einklang gestort, erstens weil es hier eigentlich gar keinerichtigen Jahreszeiten gibt, wie du selbst mal bemerktest, sondern blo? Sommertage und Wintertage pele-mele durcheinander, und au?erdem, weil es uberhaupt keine Zeit ist, was einem hier vergeht, so da? der neue Winter, wenn er kommt, gar nicht neu ist, sondern wieder der alte; und daraus erklart sich das Mi?vergnugen, mit dem du da durch die Scheibe guckst."

"Danke sehr", sagte Joachim. "Und nun, wo du es erklart hast, da bist du, glaub' ich, so zufrieden, da? du unter anderm auch mit der Sache selbst zufrieden bist, obgleich sie doch ... Nein!" sagte Joachim. "Schlu?!" sagte er. "Es ist eine Schweinerei. Das Ganze ist eine ungeheuere, ekelhafte Schweinerei, und wenn du fur dein Teil ... Ich ..." Und er verlie? raschen Schrittes das Zimmer, zog zornig die Tur hinter sich zu, und wenn nicht alles tauschte, so hatten Tranen in seinen schonen, sanften Augen gestanden.

Der andere blieb betreten zuruck. Er hatte gewisse Entschlusse des Vetters nicht sehr ernst genommen, solange dieser sich in lauten Ankundigungen ergangen hatte. Nun aber, da es nur noch schweigend in Joachims Miene arbeitete und er sich benahm wie eben, erschrak Hans Castorp, weil er begriff, da? dieser Militar der Mann war, zu Taten uberzugehen, - erschrak bis zum Erblassen und zwar fur sie beide, fur sich und ihn. Fort possible qu'il va mourir, dachte er, und da das sicherlich eine Wissenschaft aus dritter Hand war, so mischte sich auch noch die Pein alten, nie gestillten Verdachtes hinein, wahrend er gleichzeitig dachte: Ist es moglich, da? er mich allein hier oben la?t, - mich, der ich doch nur gekommen bin, ihn zu besuchen?! um hinzuzufugen: das ware doch toll und schrecklich, - es ware derma?en toll und schrecklich, da? ich fuhle, wie ich ganz kalt im Gesicht werde und mein Herz sich regellos auffuhrt, denn wenn ich allein hier oben zuruckbleibe - und das tue ich, wenn er abreist; da? ich mit ihm fahre, ist platterdings ausgeschlossen -, dann ist es ja - aber nun steht mein Herz uberhaupt still - dann ist es ja fur immer und ewig, denn allein finde ich nie und nimmermehr den Weg ins Flachland zuruck ...

Soweit Hans Castorps schreckhafter Gedankengang. Noch am selben Nachmittag sollte er uber den Lauf der Dinge Gewi?heit erlangen:

Joachim erklarte sich, die Wurfel fielen, es kam zu Schlag und Entscheidung.

Nach dem Tee stiegen sie ins helle Souterrain hinab zur Monatsuntersuchung. Es war Anfang September. Beim Eintritt ins trocken durchhauchte Ordinationszimmer fanden sie Dr. Krokowski an seinem Schreibtischplatz, wahrend der Hofrat, sehr blau im Gesicht, mit untergeschlagenen Armen an der Wand lehnte, in der einen Hand das Horrohr, mit dem er sich gegendie Schulter klopfte. Er gahnte zur Decke empor. "Mahlzeit, Kinder!" sagte er matt und lie? auch fernerhin eine recht schlaffe Laune merken, Melancholie, allgemeinen Verzicht. Wahrscheinlich hatte er geraucht. Es lagen aber auch sachliche Argernisse vor, von denen die Vettern schon gehort hatten, Anstaltsinterna von sattsam bekannter Art: ein junges Madchen, Ammy Nolting mit Namen, welches, eingetreten zuerst im Herbst vorvorigen Jahres und nach neun Monaten, im August, als gesund entlassen, sich vor Ablauf des September schon wieder eingefunden hatte, weil sie sich zu Hause "nicht wohlgefuhlt" habe, zum Februar abermals vollig gerauschlos befunden und dem Flachlande zuruckgegeben worden war, aber seit Mitte Juli schon wieder ihren Platz am Tische der Iltis einnahm, - diese Ammy war 1 Uhr nachts mit einem Leidenden namens Polypraxios, demselben Griechen, der beim Faschingsfest durch die Wohlgestalt seiner Beine berechtigtes Aufsehen erregt hatte, einem jungen Chemiker, dessen Vater am Piraus Farbwerke besa?, in ihrem Zimmer ertappt worden und zwar durch eine von Eifersucht verstorte Freundin, die auf demselben Wege in Ammys Zimmer gelangt war wie Polypraxios, namlich uber die Balkons, und, zerrissen von Schmerz und Wut uber das Wahrgenommene, ein furchtbares Geschrei erhoben, alles in Bewegung gesetzt und die Sache an die gro?e Glocke gehangt hatte. Behrens hatte allen dreien, dem Athener, der Nolting und ihrer Freundin, die vor Leidenschaft der eigenen Ehre wenig geachtet hatte, den Laufpa? geben mussen und eben jetzt mit seinem Assistenten, bei dem ubrigens Ammy sowohl wie die Verraterin in Privatbehandlung gestanden hatten, die widrige Sache durchgesprochen. Auch wahrend der Untersuchung der Vettern fuhr er noch fort, im Tone der Schwermut und der Resignation sich daruber auszulassen; denn er war ein so fertiger Kunstler der Auskultation, da? er zugleich eines Menschen Inneres belauschen, von etwas anderem reden und dem Assistenten das Erhorchte diktieren konnte.

"Ja, ja, gentlemen, die verfluchte libido!" sagte er. "Sie haben naturlich noch Ihr Vergnugen an der Chose, Ihnen kann's recht sein. - Vesikular. - Aber so ein Anstaltschef, der hat davon die Neese plein, das konnen Sie mir - Dampfung - das konnen Sie mir glauben. Kann ich dafur, da? die Phthise nun mal mit besonderer Konkupiszenz verbunden ist - leichte Rauhigkeit? Ich habe es nicht so eingerichtet, aber eh' man sich's versieht, steht man da wie ein Huttchenbesitzer, - verkurzt hier unter der linken Achsel. Wir haben die Analyse, wir haben die Aussprache, - ja Mahlzeit! Je mehr die Rasselbande sich ausspricht, desto lusterner wird sie. Ich predige die Mathematik. - Besser hier, das Gerausch ist weg. - Die Beschaftigung mit der Mathematik, sage ich, ist das beste Mittel gegen die Kupiditat. Staatsanwalt Paravant, der stark angefochten war, hat sich drauf geworfen, er hat es jetzt mitder Quadratur des Kreises und spurt gro?e Erleichterung. Aber die meisten sind ja zu dumm und zu faul dazu, da? Gott erbarm'. - Vesikular. - Sehen Sie, ich wei? ganz gut, da? junges Volk hier gar nicht ganz unschwer verlumpt und verkommt, und fruher habe ich manchmal einzuschreiten versucht gegen die Debauchen. Aber dann ist es mir passiert, da? irgendein Bruder oder Brautigam mich ins Gesicht hinein gefragt hat, was es mich eigentlich angehe. Seitdem bin ich nur noch Arzt - schwaches Rasseln rechts oben."

Er war fertig mit Joachim, steckte sein Horrohr in die Kitteltasche und rieb sich mit der riesigen Linken die beiden Augen, wie er zu tun pflegte, wenn er "abfiel" und melancholisch war. Halb mechanisch und zwischendurch gahnend vor Mi?laune sagte er sein Spruchlein her:

"Na, Ziem?en, nur immer munter. Ist ja noch immer nicht alles genau so, wie es im Physiologiebuche steht, hapert noch da und da, und mit Gaffky haben Sie Ihre Angelegenheiten auch noch nicht restlos bereinigt, sind sogar in der Skala gegen neulich um eine Nummer aufgeruckt, - sechs ist es diesmal, aber darum nur keinen Weltschmerz geblasen. Als Sie herkamen, waren Sie kranker, das kann ich Ihnen schriftlich geben, und wenn Sie noch funf, sechs Manote - wissen Sie, da? man fruher 'manot' sagte und nicht 'Monat'? War eigentlich viel volltoniger. Ich habe mir vorgenommen, nur noch 'Manot' zu sagen -"

"Herr Hofrat", setzte Joachim an ... Er stand, mit blo?em Oberkorper, in geschlossener Haltung, Brust heraus, die Absatze zusammengenommen, und war so fleckig im Gesicht wie damals, als Hans Castorp bei bestimmter Gelegenheit erstmals bemerkt hatte, da? dies die Art des

tief Gebraunten sei, bla? zu werden.

"Wenn Sie," redete Behrens uber seinen Anlauf hin, "noch rund ein halbes Jahrchen hier stramm Gamaschendienst tun, dann sind Sie ein gemachter Mann, dann konnen Sie Konstantinopel erobern, dann konnen Sie vor lauter Markigkeit Oberbefehlshaber in den Marken werden -"

Wer wei?, was er in seiner Verdusterung noch alles gekohlt haben wurde, wenn Joachims unbeirrte Haltung, seine unverkennbare Gewilltheit, zu sprechen, und zwar mutig zu sprechen, ihn nicht aus dem Konzept gebracht hatte.

"Herr Hofrat," sagte der junge Mann, "ich wollte gehorsamst melden, da? ich mich entschlossen habe, zu reisen."

"Nanu? Wollen Sie Reisender werden? Ich dachte, Sie wollten spater mal, als gesunder Mensch, zum Militar?"

"Nein, ich mu? jetzt abreisen, Herr Hofrat, in acht Tagen."

"Sagen Sie mal, hor' ich recht? Sie werfen die Flinte hin, Sie wollen durchbrennen? Wissen Sie, da? das Desertion ist?"

"Nein, das ist nicht meine Auffassung, Herr Hofrat. Ich mu? nun zum Regiment."

"Obgleich ich Ihnen sage, da? ich Sie in einem halben Jahr bestimmt entlassen kann, da? ich Sie abervor einem halben Jahr nicht entlassen kann?"

Joachims Haltung wurde immer dienstlicher. Er nahm den Magen herein und sagte kurz und gepre?t:

"Ich bin uber anderthalb Jahre hier, Herr Hofrat. Ich kann nicht langer warten. Herr Hofrat haben ursprunglich gesagt: ein Vierteljahr. Dann ist meine Kur immer wieder viertel- und halbjahrsweise verlangert worden, und ich bin immer noch nicht gesund."

"Ist das mein Fehler?"

"Nein, Herr Hofrat. Aber ich kann nicht langer warten. Wenn ich nicht ganz den Anschlu? verpassen will, so kann ich meine richtige Genesung hier oben nicht abwarten. Ich mu? jetzt hinunter. Ich brauche noch etwas Zeit fur meine Equipierung und andere Vorbereitungen."

"Sie handeln im Einverstandnis mit Ihrer Familie?"

"Meine Mutter ist einverstanden. Es ist alles abgemacht. Ich trete ersten Oktober als Fahnenjunker bei den Sechsundsiebzigern ein."

"Auf jede Gefahr?" fragte Behrens und sah ihn aus blutunterlaufenen

Augen an ...

"Zu Befehl, Herr Hofrat", antwortete Joachim mit zuckenden Lippen.

"Na, dann is gut, Ziem?en." Der Hofrat wechselte die Miene, gab nach in seiner Haltung und lie? in jeder Weise locker. "Is gut, Ziem?en. Ruhren Sie! Reisen Sie mit Gott. Ich sehe, Sie wissen, was Sie wollen, Sie nehmen die Sache auf sich, und soviel stimmt, da? es Ihre Sache ist, nicht meine, von dem Augenblick an, wo Sie sie auf sich nehmen. Selbst ist der Mann. Sie reisen ohne Garantie, ich stehe fur nichts. Aber bewahre, es kann ganz gut gehen. Ist ja ein luftiger Beruf, den Sie ergreifen. Kann durchaus sein, da? es Ihnen bekommt und da? Sie sich herausbei?en."

"Jawohl, Herr Hofrat."

"Na, und Sie, junger Mann aus dem Zivilpublikum? Sie wallen wohl mit?"

Das war Hans Castorp, der antworten sollte. Er stand da, ebenso bleich wie vor Jahresfrist bei jener Untersuchung, die seine Aufnahme herbeigefuhrt hatte, stand auf demselben Fleck wie damals, und wieder war deutlich das Pulsen seines Herzens gegen die Rippen zu sehen. Er sagte:

"Ich mochte es von Ihrem Votum abhangig machen, Herr Hofrat."

"Meinem Votum. Schon!" Und er zog ihn am Arme an sich, horchte und klopfte. Er diktierte nicht. Es ging ziemlich schnell. Als er fertig war, sagte er:

"Sie konnen reisen."

Hans Castorp stotterte:

"Das hei?t ... wieso. Bin ich denn gesund?"

"Ja, Sie sind gesund. Die Stelle links oben ist nicht mehr der Rede wert. Ihre Temperatur pa?t nicht zu der Stelle. Woher sie kommt, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich nehme an, da? sie weiter nichts zu bedeuten hat. Meinetwegen konnen Sie reisen."

"Aber ... Herr Hofrat ... Das ist vielleicht im Augenblick nicht Ihr voller Ernst?"

"Nicht mein Ernst? Wieso denn? Was denken Sie denn? Was denken Sie uberhaupt so beilaufig von mir, mochte ich wissen? Wofur halten Sie mich? Fur einen Huttchenbesitzer?!"

Es war Jahzorn.Die Blaue in des Hofrats Gesicht hatte sich ins

Veilchenfarbene vertieft durch lodernden Zudrang, die einseitige Schurzung seiner Lippe mit dem Schnurrbartchen sich heftig verstarkt, so da? die seitlichen Oberzahne sichtbar wurden, er schob den Kopf vor, wie ein Stier, seine Augen quollen tranend und blutig.

"Das verbitte ich mir!" schrie er. "Ich bin erstens uberhaupt kein Besitzer! Ich bin ein Angestellter hier! Ich bin Arzt! Ich bin nur Arzt, verstehen Sie mich?! Ich bin kein Kuppelonkel! Ich bin kein Signor Amoroso auf dem Toledo im schonen Neapel, verstehen Sie mich wohl?! Ich bin ein Diener der leidenden Menschheit! Und sollten Sie sich eine andere Auffassung gebildet haben von meiner Person, dann konnen Sie beide zum Kuckuck gehen, in die Binsen oder vor die Hunde, ganz nach beliebiger Auswahl! Gluckliche Reise!"

Mit langen und breiten Schritten ging er zur Tur hinaus, durch die Tur, die ins Vorzimmer des Durchleuchtungsraumes fuhrte, und lie? sie hinter sich zukrachen.

Rat suchend blickten die Vettern auf Dr. Krokowski, der sich jedoch in seine Papiere vertieft und vergraben zeigte. Sie sputeten sich, in ihre Kleider zu kommen. Auf der Treppe sagte Hans Castorp:

"Das war ja schrecklich. Hast du ihn schon mal so gesehen?"

"Nein, so noch nicht. Das sind so Vorgesetzten-Anfalle. Das einzig Richtige ist, da? man sie in einwandfreier Haltung uber sich ergehen la?t. Er war ja naturlich gereizt durch die Geschichte mit Polypraxios und der Nolting. Aber hast du gesehen," fuhr Joachim fort, und man merkte, wie die Freude daruber, da? er seine Sache durchgefochten, in ihm aufstieg und ihm die Brust beengte, "hast du gesehen, wie er klein beigab und kapitulierte, als er einsah, da? es mein Ernst war? Man mu? nur Schneid zeigen, sich nur nicht zudecken lassen. Nun habe ich sozusagen Erlaubnis, - er selbst hat gesagt, da? ich mich wahrscheinlich herausbei?en werde, - und uber acht Tage reisen ... in drei Wochen bin ich beim Regiment", verbesserte er sich, indem er Hans Castorp aus dem Spiele lie? und seine freudebebende Aussage auf die eigene Person beschrankte.

Hans Castorp schwieg. Er sagte nichts uber Joachims "Erlaubnis", noch uber seine eigene, von der ja allenfalls auch zu reden gewesen ware. Er machte Toilette zur Liegekur, steckte das Thermometer in den Mund, schlug mit kurzen und sicheren Griffen, mit voll ausgebildeter Kunst, jener geheiligten Praktik gema?, von der im Flachlande niemand eine Ahnung hatte, die beiden Kamelhaardecken um sich und lag dann still,

als ebenma?ige Walze, auf seinem vorzuglichen Liegestuhl in der kalten Feuchte des Fruhherbstnachmittags.

Die Regenwolken hingen tief, die Phantasiefahne drunten war eingezogen, Schneereste lagen auf den nassen Zweigen der Edeltanne. Aus der unteren Liegehalle, von wo vor Jahr undTag zuerst Herrn Albins Stimme an sein Ohr geschlagen, drang leises Gesprach zu dem Diensttuenden herauf, dessen Finger und Angesicht sich in Kurze na?kalt versteiften. Er war es gewohnt und wu?te der hiesigen, ihm langst zur einzig denkbaren gewordenen Lebenshaltung Dank fur die Gunst, in Geborgenheit liegen und alles bedenken zu durfen.

Es war entschieden, Joachim wurde reisen. Radamanth hatte ihn entlassen, - nicht rite, nicht als gesund, aber mit halber Billigung entlassen eben doch, auf Grund und in Anerkennung seiner Standhaftigkeit. Er wurde hinunterfahren, mit der Schmalspurbahn in die Tiefe nach Landquart, nach Romanshorn, dann uber den weiten, abgrundigen See, uber den im Gedichte der Reiter ritt, und durch ganz Deutschland nach Hause. Er wurde dort leben, in der Welt des Flachlandes, unter lauter Menschen, die keine Ahnung hatten, wie man leben mu?te, die nichts wu?ten vom Thermometer, von der Kunst des Sicheinwickelns, vom Pelzsack, vom dreimaligen Lustwandel, von ... es war schwer zu sagen, schwer aufzuzahlen, wovon alles sie drunten nichts wu?ten, aber die Vorstellung, da? Joachim, nachdem er langer als anderthalb Jahre hier oben verbracht, unter den Unwissenden leben sollte, - diese Vorstellung, die nur Joachim betraf, und nur ganz von fern und versuchsweise auch ihn, Hans Castorp, - verwirrte ihn so, da? er die Augen schlo? und eine abwehrende Handbewegung machte. "Unmoglich, unmoglich", murmelte er.

Da es denn aber unmoglich war, so wurde er also allein und ohne Joachim hier oben weiter leben? Ja. Wie lange? Bis Behrens ihn als geheilt entlie?, und zwar im Ernst, nicht so wie heute. Aber erstens war das ein Zeitpunkt, zu dessen Bestimmung man nur, wie Joachim einst bei irgendeiner Gelegenheit, in die Luft hinein die Gebarde des Unabsehbaren machen konnte, und zweitens: wurde das Unmogliche dann moglicher geworden sein? Im Gegenteil eher. Und soviel war loyalerweise zuzugeben, da? eine Hand ihm geboten war, jetzt, wo das Unmogliche vielleicht noch nicht ganz so unmoglich war, wie es spater sein wurde, - eine Stutze und Fuhrung fur ihn, durch Joachims wilde Abreise, auf dem Wege ins Flachland, den er von sich aus in Ewigkeit nie

zuruckfinden wurde. Wie wurde humanistische Padagogik ihn mahnen, die Hand zu ergreifen und die Fuhrung anzunehmen, wenn die humanistische Padagogik von der Gelegenheit erfuhr! Aber Herr Settembrini war nur ein Vertreter - von Dingen und Machten, die horenswert waren, aber nicht allein, nicht unbedingt; und auch mit Joachim stand es so. Er war Militar, jawohl. Er reiste ab - beinahe in dem Augenblick, wo die hochbrustige Marusja zuruckkehren sollte(am ersten Oktober kehrte sie bekanntlich zuruck), wahrend ihm, dem zivilistischen Hans Castorp, die Abreise namentlich und abgekurzt gesprochen darum unmoglich schien, weil er auf Clawdia Chauchat warten mu?te, vonderen Ruckkehr bei weitem noch nichts verlautete. "Das ist nicht meine Auffassung", hatte Joachim gesagt, als Radamanth ihm von Desertion gesprochen hatte, was zweifellos in Hinsicht auf Joachim nur Kohl und Geschwafel gewesen war von des verdusterten Hofrats Seite. Aber fur ihn, den Zivilisten, lagen die Dinge denn doch wohl anders. Fur ihn(ja, ganz ohne Zweifel, so war es! Um diesen entscheidenden Gedanken aus seinem Gefuhle emporzuarbeiten, hatte er sich heute hier ins Na?kalte gelegt) - fur ihn ware es wirklich Desertion gewesen, die Gelegenheit zu ergreifen und wilde oder halbwilde Abreise ins Flachland zu halten, Desertion von ausgebreiteten Verantwortlichkeiten, die ihm aus der Anschauung des Hochgebildes, genannt Homo Dei, hier oben erwachsen, Verrat an schweren und erhitzenden, ja seine naturlichen Krafte ubersteigenden, doch abenteuerlich begluckenden Regierungspflichten, denen er hier in der Loge und am blau bluhenden Orte oblag.

Er ri? das Thermometer aus dem Munde, so heftig, wie vorher nur einmal: nach erster Benutzung, nachdem die Oberin ihm eben das zierliche Werkzeug verkauft, und blickte mit ebensolcher Begierde wie damals darauf nieder. Merkurius war kraftig emporgewandert, er zeigte siebenunddrei?ig-acht, fast -neun.

Hans Castorp warf die Decken von sich, sprang auf und tat einen schnellen Gang ins Zimmer, zur Korridortur und zuruck. Dann, wieder in horizontaler Lage, rief er leise Joachim an und fragte nach dessen Kurve.

"Ich messe nicht mehr", antwortete Joachim.

"Na, ich habe Tempus", sagte Hans Castorp, das Wort in Nachfolge Frau Stohrs nach Analogie von "Schampus" behandelnd; worauf Joachim hinter der Glaswand sich schweigend verhielt.

Auch spater sagte er nichts, an diesem Tag und den folgenden, forschte mit Worten nicht nach des Vetters Planen und Entschlussen, die

sich ganz von selbst, bei knapp gesetzter Frist, offenbaren mu?ten: durch Handlungen oder das Unterlassen von Handlungen, und das taten sie, namlich durch letzteres. Er schien es mit dem Quietismus zu halten, der hatte wissen wollen, da? Handeln Gott beleidigen hei?e, der es allein tun wolle. Jedenfalls hatte Hans Castorps Aktivitat in diesen Tagen sich auf einen Besuch bei Behrens beschrankt, eine Rucksprache, von der Joachim wu?te, und deren Verlauf und Ergebnis er sich an funf Fingern ausrechnen konnte. Sein Vetter hatte erklart, er erlaube sich, auf des Hofrats fruhere vielfaltige Ermahnungen, seinen Fall hier grundlich auszuheilen, damit er niemals wiederkommen musse, mehr Gewicht zu legen, als auf das rasche Wort einer unwilligen Minute; er habe 37,8, er konne sich nicht als rite entlassen fuhlen, und wenn des Hofrats Au?erung von neulich nicht etwa als Relegation zu verstehen gewesen sei, zu welcher Ma?regel Anla? gegeben zu haben er, Sprecher, sich nicht bewu?t sei, so habe er, nach ruhiger Uberlegung und in bewu?tem Gegensatz zu Joachim Ziem?en, beschlossen, noch hier zu bleiben undseine vollige Entgiftung abzuwarten. Worauf der Hofrat ziemlich wortlich erwidert hatte: "Bon und schon!" und: "Nichts fur ungut!" und: das hei?e er wie ein vernunftiger Kerl reden, und: er habe es doch gleich gesehen, da? Hans Castorp mehr Talent zum Patienten habe, als dieser Durchganger und Haudegen da. Und so fort.

Dies also war, nach Joachims annahernd genauer Kalkulation, der Hergang des Gespraches gewesen, und so sagte er nichts und stellte eben nur schweigend fest, da? Hans Castorp sich seinen die Abreise vorbereitenden Schritten nicht anschlo?. Wieviel hatte aber auch der gute Joachim mit sich selber zu tun! Er konnte sich wirklich um Schicksal und Verbleib des Vetters nicht weiter kummern. Ein Sturm wogte in seiner Brust, - man kann es sich denken. Nur gut, vielleicht, da? er sich nicht mehr ma?, sondern sein Instrument, angeblich, indem er es hatte fallen lassen, zerbrochen hatte: Messungen hatten beirrende Ergebnisse zeitigen mogen, - so furchtbar aufgeregt, bald dunkel gluhend, bald bleich vor Freude und Spannung, wie Joachim war. Er konnte nicht mehr liegen; den ganzen Tag ging er in seinem Zimmer auf und ab, wie Hans Castorp horte: zu all den Stunden, viermal am Tage, in welchen auf "Berghof" die Horizontale herrschte. Anderthalb Jahre! Und nun hinunter ins Flachland, nach Hause, nun wirklich zum Regiment, wenn auch nur mit halber Erlaubnis! Das war keine Kleinigkeit, in keinem Sinne, Hans Castorp fuhlte es dem ruhelos wandernden Vetter nach. Achtzehn Monate, den vollen Jahreszirkel und dann die Halfte noch einmal

durchlaufen hier oben, tief eingelebt, eingefahren in dieses Ordnungsgeleis, diesen unverbruchlichen Lebensgang, den er in siebenmal siebenzig Tagen zu allen Gezeiten erprobt, - und nun nach Haus in die Fremde, zu den Unwissenden! Welche Akklimatisationsschwierigkeiten mochten da drohen? Und durfte man sich wundern, wenn Joachims gro?e Aufregung nicht nur aus Freude bestand, sondern auch Bangigkeit, Weh des Abschieds vom durch und durch Gewohnten ihn durch sein Zimmer trieb? - Von Marusja hier ganz zu schweigen.

Aber die Freude uberwog. Herz und Mund gingen dem guten Joachim uber davon; er sprach von sich, er lie? des Vetters Zukunft auf sich beruhen. Er sprach davon, wie neu und erfrischt alles sein werde, das Leben, er selbst, die Zeit - jeder Tag, jede Stunde. Solide Zeit werde er wieder haben, langsam gewichtige Jugendjahre. Er sprach von seiner Mutter, Hans Castorps Stieftante Ziem?en, die ebenso sanfte, schwarze Augen hatte, wie Joachim, und die dieser all die Bergzeit her nicht gesehen, da sie, hingehalten von Monat zu Monat, von Halbjahr zu Halbjahr gleich ihm, zu einem Besuche des Sohnes sich nie entschlossen hatte. Er sprach mit begeistertem Lacheln vom Fahneneid, den er nun baldigst ablegen wurde -: inGegenwart der Fahne wurde er unter feierlichen Umstanden geleistet, ihr selbst, der Standarte wurde er zugeschworen. "Nanu?" fragte Hans Castorp. "Ernstlich? Der Stange? Dem Fetzen Tuch?" - Ja, allerdings; und bei der Artillerie dem Geschutz, symbolischer Weise. - Das seien ja schwarmerische Sitten, meinte der Zivilist, empfindsam-fanatische, konne man sagen; wozu Joachim stolz und glucklich mit dem Kopfe nickte.

Er ging auf in Vorbereitungen, er beglich seine Schlu?nota auf der Verwaltung, begann schon Tage vor dem selbstgesetzten Termin mit dem Kofferpacken. Sommer- und Winterzeug packte er ein und lie? den Pelzsack nebst den Kamelhaardecken vom Hausdiener in Sackleinen nahen: vielleicht, da? er sie im Manover einmal gebrauchen konnte. Er fing an, Lebewohl zu sagen. Er machte Abschiedsvisite bei Naphta und Settembrini - allein, denn sein Vetter schlo? sich nicht an bei diesem Gange und fragte auch nicht, was Settembrini zu Joachims bevorstehender Abreise und Hans Castorps bevorstehender Nicht-Abreise gemeint und geau?ert: ob er nun "Szieh, szieh" oder "Szo, szo" gesagt hatte, oder beides, oder "Poveretto", das mu?te ihm gleichgultig bleiben.

Dann kam der Vorabend der Abreise, wo Joachim alles zum letztenmal absolvierte, jede Mahlzeit, jede Liegekur, jeden Lustwandel, und von den Arzten, der Oberin Urlaub nahm. Und es tagte der Morgen selbst: hei?augig und mit kalten Handen kam Joachim zum Fruhstuck, denn er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, nahm auch kaum einen Bissen zu sich und schnellte, als die Zwergin meldete, das Gepack sei aufgeschnallt, hastig vom Stuhl, um von den Tischgenossen zu scheiden. Frau Stohr vergo? Tranen, die leicht flie?enden, salzlosen Tranen der Ungebildeten, beim Lebewohl und zeigte gleich darauf hinter Joachims Rucken der Lehrerin mit Kopfschutteln und gespreizt hin und her gedrehter Hand eine faule Miene voll uberaus ordinarer Zweifelsucht in Hinsicht auf Joachims Befugnis zur Abreise und auf sein Wohlergehen. Hans Castorp sah es, indem er im Stehen seine Tasse austrank, um dem Vetter auf dem Fu?e zu folgen. Noch gab es Trinkgelder zu reichen, den amtlichen Abschiedsgru? eines Gesandten der Verwaltung im Vestibul zu erwidern. Wie immer standen Patienten bereit, der Abfahrt zuzusehen: Frau Iltis mit dem "Sterilett", die elfenbeinfarbene Levi, der ausschweifende Popow mit seiner Braut. Sie winkten mit Tuchern, wahrend der Wagen, am Hinterrad gebremst, die Anfahrt hinabschurrte. Joachim hatte Rosen erhalten. Er trug einen Hut auf dem Kopf. Hans Castorp nicht.

Der Morgen war prachtig, der erste sonnige nach langer Trube. Das Schiahorn, die Grunen Turme, die Kuppe des Dorfberges standen unveranderlich wahrzeichenhaft vor der Blaue, und Joachims Augen ruhten darauf. Fast schade, meinte Hans Castorp, da? gerade zur Abreise so schones Wetter geworden. Es lage Bosheit darin, und ein recht unwirtlicher Schlu?eindruck erleichtere jede Trennung. Worauf Joachim: der Erleichterung bedurfe er nicht, und das seivorzugliches Ausbildungswetter, er konne es drunten wohl brauchen. Sonst sprachen sie wenig. Wie alles lag fur jeden von beiden und zwischen ihnen, gab es freilich nichts Rechtes zu sagen. Auch hatten sie vor sich den Hinkenden auf dem Bock neben dem Kutscher.

Hochsitzend, gesto?en auf den harten Kissen des Kabrioletts, hatten sie den Wasserlauf, das schmale Geleise zuruckgelassen, fuhren sie hin auf der unregelma?ig bebauten, der Eisenbahn gleichlaufenden Stra?e und hielten auf steinigem Platz vorm Bahnhofsgebaude von "Dorf", das nicht viel mehr als ein Schuppen war. Hans Castorp erkannte alles mit Schrecken wieder. Seit seiner Ankunft vor dreizehn Monaten, bei einfallender Dammerung, hatte er die Station nicht wieder gesehen.

"Hier bin ich ja angekommen", sagte er uberflussigerweise, und Joachim antwortete nur: "Tja, das bist du", und entlohnte den Kutscher.

Der ruhrige Hinkende besorgte alles, den Fahrschein, das Gepack. Sie standen beieinander auf dem Perron, am Miniaturzuge, neben dem kleinen, grau gepolsterten Wagenabteil, worin Joachim mit Mantel, Plaidrolle und Rosen einen Platz belegt hatte. "Na, dann schwore du nur deinen schwarmerischen Eid!" sagte Hans Castorp, und Joachim erwiderte: "Wird gemacht." Was noch? Letzte Gru?e trugen sie einander auf, Gru?e an die dort unten, an die hier oben. Dann zeichnete Hans Castorp nur noch mit seinem Stock auf dem Asphalt. Als zum Einsteigen gerufen wurde, fuhr er auf, sah Joachim an und dieser ihn. Sie gaben einander die Hand. Hans Castorp lachelte unbestimmt; des andren Augen waren ernst und traurig dringlich. "Hans!" sagte er - allmachtiger Gott! hatte sich etwas so Peinliches schon je in der Welt ereignet? Er redete Hans Castorp mit Vornamen an! Nicht mit "Du" oder "Mensch", wie sie es ihrer Lebtag gehalten hatten, sondern aller Sittensprodigkeit zum Trotz und peinlichst uberschwanglicher Weise mit Vornamen! "Hans", sagte er und druckte mit dringlicher Angst dem Vetter die Hand, wahrend dieser bemerken mu?te, da? dem Ubernachtigen, Reisefiebrigen, Erschutterten das Genick zitterte, wie ihm beim "Regieren" - "Hans", sagte er instandig, "komm bald nach!" Dann schwang er sich aufs Trittbrett. Die Tur schlug zu, es pfiff, die Wagen stie?en aneinander, die kleine Lokomotive zog an, der Zug entglitt. Der Reisende winkte durchs Fenster mit dem Hut, der Zuruckbleibende mit der Hand. Zerwuhlten Herzens stand er noch lange, allein. Dann ging er langsam den Weg zuruck, den Joachim ihn vor Jahr und Tag gefuhrt.

Abgewiesener Angriff

Das Rad schwang. Der Weiser ruckte. Knabenkraut und Akelei waren verbluht, die wilde Nelke ebenfalls. Die tiefblauen Sterne des Enzian, die Herbstzeitlose, bla? und giftig, zeigten sich wieder im feuchten Grase, und uber den Waldungen lag es rotlich. Herbstnachtgleiche war voruber, Allerseelen in Sicht und fur geubtere Zeitverbraucher wohl auch der erste Advent, der kurzeste Tag und das Weihnachtsfest. Nochaber reihten sich schone Oktobertage - Tage von der Art dessen, an dem die Vettern des Hofrats Olgemalde besichtigt hatten.

Seit Joachims Weggang sa? Hans Castorp nicht mehr am Tische der

Stohr, nicht mehr an demjenigen, von dem Dr. Blumenkohl weggestorben war, und an dem Marusja ihre unbegrundete Heiterkeit im Apfelsinentuchlein erstickt hatte. Neue Gaste sa?en jetzt dort, vollig fremde. Unser Freund aber hatte, zweieinhalb Monate tief in sein zweites Jahr eingeruckt, von der Verwaltung einen anderen Platz zugewiesen bekommen, an einem Nachbartische, der schrag vor dem alten stand, weiter gegen die linke Verandatur, zwischen seinem ehemaligen und dem Guten Russentisch, kurzum am Tisch Settembrinis. Ja, an des Humanisten verwaistem Platze sa? Hans Castorp jetzt, am Tischende wiederum, gegenuber dem Doktor-Sitz, der an jeder der sieben Tafeln dem Hofrat und seinem Famulus zum Hospitieren aufgespart blieb.

Dort oben, links von dem medizinischen Prasidium, hockte auf mehreren Kissen der bucklige Amateur-Photograph aus Mexiko, dessen Gesichtsausdruck vermoge sprachlicher Einsamkeit der eines Tauben war, und ihm zur Seite hatte das altliche Fraulein aus Siebenburgen ihren Platz, das, wie schon Herr Settembrini geklagt hatte, das Interesse aller Welt fur ihren Schwager in Anspruch nahm, obgleich niemand etwas von diesem Menschen wu?te, noch wissen wollte. Ein Stockchen mit Tulasilberkrucke, dessen sie sich auch bei ihren Dienstpromenaden bediente, quer im Nacken, sah man sie zu bestimmten Stunden des Tages an der Brustung ihrer Balkonloge ihre tellerflache Brust in hygienischen Tiefatmungen dehnen. Ein tschechischer Mann sa? ihr gegenuber, den man Herr Wenzel nannte, da niemand seinen Familiennamen auszusprechen verstand. Herr Settembrini hatte sich seinerzeit zuweilen darin versucht, die krause Konsonantenfolge hervorzusto?en, aus der dieser Name bestand, - gewi? nicht in ehrlichem Bemuhen, sondern nur um die vornehme Hilflosigkeit seiner Latinitat an dem wilden Lautgestrupp heiter zu erproben. Obwohl feist wie ein Dachs und von einer selbst unter Denen hier oben erstaunlich sich hervortuenden E?lust, versicherte der Bohme seit vier Jahren, da? er sterben musse. Bei der Abendgeselligkeit klimperte er zuweilen auf einer bebanderten Mandoline die Lieder seiner Heimat und erzahlte von seiner Zuckerrubenplantage, auf der lauter hubsche Madchen arbeiteten. Schon in Hans Castorps Nahe folgten dann zu beiden Seiten des Tisches Herr und Frau Magnus, die Bierbrauersehegatten aus Halle. Melancholie umgab dieses Paar atmospharisch, da beide lebenswichtige Stoffwechselprodukte, Herr Magnus Zucker, Frau Magnus dagegen Eiwei?, verloren. Die Gemutsverfassung, namentlich der bleichen Frau Magnus, schien jedes Einschlages von Hoffnung zu entbehren;

Geistesode ging wie ein kelleriger Hauch von ihr aus, und fast noch ausdrucklicher als die ungebildete Stohr stellte sie jene Vereinigung von Krankheit und Dummheit dar, an der Hans Castorp, getadelt deswegen von Herrn Settembrini, geistigen Ansto? genommen hatte. Herr Magnus war regeren Sinnes und gesprachiger, wenn auch nur in der Art,die ehemals Settembrinis literarische Ungeduld erregt hatte. Auch neigte er zum Jahzorn und stie? ofters mit Herrn Wenzel aus politischen und sonstigen Anlassen feindlich zusammen. Denn ihn erbitterten die nationalen Aspirationen des Bohmen, der sich uberdies zum Antialkoholismus bekannte und uber den Erwerbszweig des Brauers moralisch Absprechendes au?erte, wogegen dieser mit rotem Kopf die sanitare Unanfechtbarkeit des Getrankes vertrat, mit dem seine Interessen so innig verbunden waren. Bei solchen Gelegenheiten hatte fruher Herr Settembrini humoristisch ausgleichend gewirkt; Hans Castorp aber, an seiner Statt, fand sich wenig geschickt und konnte nicht hinreichende Autoritat in Anspruch nehmen, ihn darin zu ersetzen.

Nur mit zwei Tischgenossen verbanden ihn personlichere Beziehungen: A. K. Ferge aus Petersburg, sein Nachbar zur Linken, war der eine, dieser gutmutige Dulder, der unter dem Gebusch seines rotbraunen Schnurrbarts hervor von Gummischuhfabrikation und fernen Gegenden, dem Polarkreis, dem ewigen Winter am Nordkap erzahlte, und mit dem Hans Castorp sogar zuweilen einen dienstlichen Lustwandel gemeinsam zurucklegte. Der andere aber, der sich ihnen dabei, so oft es sich treffen wollte, als Dritter anschlo?, und der am oberen Tafelende, gegenuber dem mexikanischen Buckligen, seinen Platz hatte, war der dunnhaarige Mannheimer mit schlechten Zahnen, Wehsal mit Namen, Ferdinand Wehsal und Kaufmann seines Zeichens, er, dessen Augen stets mit so truber Begierde an Frau Chauchats anmutiger Person gehangen hatten, und der seit Fastnacht Hans Castorps Freundschaft suchte.

Er tat es mit Zahigkeit und Demut, einer von unten blickenden Hingebung, die fur den Betroffenen viel Widrig-Schauerliches hatte, da er ihren komplizierten Sinn begriff, der aber menschlich zu begegnen er sich anhielt. Ruhig blickend, da er wu?te, da? ein leichtes Zusammenziehen der Brauen genugte, um den elend Empfindenden sich ducken und zuruckschrecken zu lassen, duldete er das dienerische Wesen Wehsals, der jede Gelegenheit wahrnahm, sich vor ihm zu verneigen und ihm schon zu tun, duldete sogar, da? jener ihm zuweilen beim Lustwandel den Uberzieher trug - mit einer gewissen Andacht trug

er ihn uber dem Arm -, duldete endlich des Mannheimers Gesprach, das trube war. Wehsal war erpicht, Fragen aufzuwerfen, wie die, ob es Sinn und Verstand habe, einer Frau, die man liebe, die aber nichts von einem wissen wolle, seine Liebe zu erklaren - die aussichtslose Liebeserklarung, was die Herren davon hielten. Er fur sein Teil halte Hochstes davon, sei der Meinung, da? sich unendliches Gluck damit verbinde. Wenn namlich der Akt des Gestandnisses zwar Ekel errege und viel Selbsterniedrigung berge, so stelle er doch fur den Augenblick die volle Liebesnahe des begehrten Gegenstandes her, rei?e diesen ins Vertrauen, in das Element der eigenen Leidenschaft, und wenn damit freilich alles zu Ende sei, so sei der ewige Verlust mit der Verzweiflungswonne eines Augenblicks nicht uberzahlt; denn das Bekenntnisbedeute Gewalt, und je gro?er der widerstehende Abscheu dagegen sei, desto genu?reicher -. Hier scheuchte eine Verfinsterung von Hans Castorps Miene Wehsal zuruck, was aber mehr in Hinsicht auf die Gegenwart des gutmutigen Ferge geschah, dem, wie er oft betonte, alle hoheren und schwierigeren Gegenstande vollig fern lagen, als aus sittenrichterlicher Steifigkeit auf Seiten unseres Helden. Denn, da wir immer gleich weit entfernt bleiben, diesen besser oder schlechter machen zu wollen, als er war, so sei mitgeteilt, da?, als der arme Wehsal eines abends unter vier Augen mit bleichen Worten in ihn drang, ihm von den Erlebnissen und Erfahrungen der nachgesellschaftlichen Fastnacht doch um Gottes willen Naheres zu vertrauen, Hans Castorp ihm mit ruhiger Gute willfahrte, ohne da?, wie der Leser glauben mag, dieser gedampften Szene irgend etwas niedrig Leichtfertiges angehaftet hatte. Dennoch haben wir Grunde, ihn und uns davon auszuschlie?en und fugen nur noch an, da? Wehsal danach mit verdoppelter Hingabe den Paletot des freundlichen Hans Castorp trug.

Soviel von Hansens neuer Tischgenossenschaft. Der Platz zu seiner Rechten war frei, war nur vorubergehend besetzt, nur einige Tage lang: von einem Hospitanten, wie er es einst gewesen, einem Verwandtenbesuch, Gast aus dem Flachlande und Sendboten von dort, wie man sagen mochte, - mit einem Worte von Hansens Onkel James Tienappel.

Das war abenteuerlich, da? plotzlich ein Vertreter und Abgesandter der Heimat neben ihm sa?, die Atmosphare des Alten, Versunkenen, des fruheren Lebens, einer tiefliegenden "Oberwelt" noch frisch im Gewebe seines englischen Anzugs tragend. Aber es hatte kommen mussen.

Langst hatte Hans Castorp im stillen mit einem solchen Vorsto? des Flachlandes gerechnet und sogar die Personlichkeit, die sich nun wirklich mit der Erkundung betraut zeigte, ganz zutreffend dafur in Aussicht genommen, - was eben nicht schwer gewesen war; denn Peter, der seefahrende, kam wenig dafur in Frage, und vom Gro?onkel Tienappel selbst stand fest, da? keine zehn Pferde ihn je in diese Gegenden schleppen wurden, von deren Luftdruckverhaltnissen er alles zu furchten hatte. Nein, James mu?te es sein, der sich nach dem Abhandengekommenen im heimatlichen Auftrage umsehen wurde; schon fruher war er erwartet. Seit aber Joachim allein zuruckgekehrt war und im Verwandtenkreis von der hiesigen Sachlage Nachricht gegeben hatte, war der Angriff fallig und uberfallig, und so war denn Hans Castorp nicht im geringsten verblufft, als, knappe vierzehn Tage nach Joachims Abreise, der Concierge ihm ein Telegramm uberhandigte, das, ahnungsvoll geoffnet, sich als James Tienappels kurzfristige Anmeldung erwies. Er hatte auf Schweizer Boden zu tun und sich zu dem Gelegenheitsausflug in Hansens Hohe entschlossen. Ubermorgen war er zu erwarten.

"Gut", dachte Hans Castorp. "Schon", dachte er. Und sogar etwas wie "Bitte sehr!" fugte er innerlich hinzu. "Wenn du eine Ahnung hattest!" sagte er inGedanken zu dem sich Nahernden. Mit einem Worte, er nahm die Meldung mit gro?er Ruhe auf, gab sie ubrigens an Hofrat Behrens und an die Verwaltung weiter, lie? ein Zimmer bereitstellen - das Zimmer Joachims war noch zur Verfugung - und fuhr am ubernachsten Tage, um die Stunde seiner eigenen Ankunft, abends gegen acht also, es war schon dunkel, mit demselben harten Vehikel, in dem er Joachim fortgeleitet, zum Bahnhof "Dorf", um den Sendboten des Flachlandes abzuholen, der nach dem Rechten sehen wollte.

Zinnoberrot, ohne Hut, im blo?en Anzug, stand er am Rande des Bahnsteiges, als das Zuglein einrollte, stand unter dem Fenster seines Verwandten und forderte ihn auf, nur immer herauszukommen, denn er sei da. Konsul Tienappel - er war Vizekonsul, entlastete den Alten auch auf diesem ehrenamtlichen Gebiete sehr dankenswert -, verfroren in seinen Wintermantel gehullt, denn wirklich war der Oktoberabend empfindlich kalt, nicht viel fehlte und es hatte von klarem Frost die Rede sein konnen, ja, gegen Morgen wurde es sicher frieren, entstieg dem Abteil in uberraschter Heiterkeit, die er in den etwas dunnen, sehr zivilisierten Formen des feinen nordwestdeutschen Herrn verlautbarte,

begru?te den vetterlichen Neffen unter betonten Ausdrucken der Genugtuung uber sein vorzugliches Aussehen, sah sich vom Hinkenden aller Sorge um sein Gepack uberhoben und erkletterte drau?en mit Hans Castorp den hohen und harten Sitz ihres Gefahrtes. Unter reichem Sternenhimmel fuhren sie dahin, und Hans Castorp, den Kopf zuruckgelegt und den Zeigefinger in der Luft, erlauterte dem Onkel-Cousin die oberen Gefilde, fa?te mit Wort und Gebarde ein und das andere funkelnde Sternbild zusammen und nannte Planeten bei Namen, - wahrend jener, aufmerksam mehr auf die Person seines Begleiters als auf den Kosmos, sich innerlich sagte, da? es zwar moglich sei und nicht geradezu verruckt anmute, jetzt, hier und sofort gerade von Sternen zu sprechen, da? aber doch manches andere naher gelegen hatte. Seit wann er denn da oben so sicher Bescheid wisse, fragte er Hans Castorp; worauf dieser erwiderte, das sei ein Erwerb der abendlichen Liegekur auf dem Balkon im Fruhling, Sommer, Herbst und Winter. - Wie? bei Nacht liege er auf dem Balkon? - O ja. Und der Konsul werde es auch tun. Es werde ihm nichts anderes ubrigbleiben.

"Gewi?, selbstvers-tandlich", sagte James Tienappel entgegenkommend und etwas eingeschuchtert. Sein Pflegebruder sprach ruhig und eintonig. Ohne Hut, ohne Paletot sa? er neben ihm in der frostnahen Frische des Herbstabends. "Dich friert wohl gar nicht?" fragte ihn James; denn er selbst zitterte unter dem zolldicken Tuch seines Mantels, und seine Sprechweise hatte etwas zugleich Hastiges und Lahmes, da seine Zahne eine Neigung bekundeten, aneinanderzuschlagen. "Uns friert nicht", antwortete Hans Castorp ruhig und kurz.

Der Konsul konnte ihn nichtgenug von der Seite betrachten. Hans Castorp erkundigte sich nicht nach den Verwandten und Bekannten zu Hause. Gru?e von dort, die James ubermittelte, auch diejenigen Joachims, der bereits beim Regiment sei und vor Gluck und Stolz leuchte, empfing er ruhig dankend, ohne auf die Umstande der Heimat weiter einzugehen. Beunruhigt durch ein unbestimmtes Etwas, von dem er sich nicht zu sagen wu?te, ob es von dem Neffen ausging oder etwa in ihm selbst, dem physischen Befinden des Reisenden, seinen Ursprung habe, blickte James umher, ohne von der Hochtallandschaft viel erkennen zu konnen, und zog tief die Luft ein, die er ausatmend fur herrlich erklarte. Gewi?, antwortete der andere, nicht umsonst sei sie ja weit beruhmt. Sie habe starke Eigenschaften. Obgleich sie die Allgemeinverbrennung

beschleunige, setze der Korper in ihr doch Eiwei? an. Krankheiten, die jeder Mensch latent in sich trage, sei sie zu heilen imstande, doch befordere sie sie zunachst einmal kraftig, bringe sie vermoge eines allgemeinen organischen An- und Auftriebes sozusagen zu festlichem Ausbruch. - Er moge erlauben, - festlich? - Allerdings. Ob jener nie bemerkt habe, da? der Ausbruch einer Krankheit etwas Festliches habe, eine Art Korperlustbarkeit darstelle. - "Gewi?, selbstvers-tandlich", hastete der Onkel mit unbeherrschtem Unterkiefer und teilte dann mit, da? er acht Tage bleiben konne, das hei?e: eine Woche, sieben Tage also, vielleicht auch nur sechs. Da er, wie gesagt, Hans Castorps Aussehen, dank einem Kuraufenthalt, der sich ja uber alles Erwarten in die Lange gezogen habe, hervorragend gut und gekraftigt finde, nehme er an, da? der Neffe gleich mit ihm hinunter nach Hause fahren werde.

"Na, na, nur nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand", sagte Hans Castorp. Onkel James rede recht wie einer von unten. Er solle sich hier bei uns nur erst mal ein bi?chen umsehen und einleben, dann werde er seine Ideen schon andern. Es komme auf restlose Heilung an, die Restlosigkeit sei das Entscheidende, und ein halbes Jahr habe Behrens ihm neulich noch aufgebrummt. Hier redete der Onkel ihn mit "Junge" an und fragte, ob er verruckt sei. "Bist du denn ganz verruckt?" fragte er. Ein Ferienaufenthalt von funf Vierteljahren sei das nachgerade, und nun noch ein halbes! Man habe in des allmachtigen Gottes Namen doch nicht soviel Zeit! - Da lachte Hans Castorp ruhig und kurz zu den Sternen empor. Ja Zeit! Was nun gerade diese betreffe, die menschliche Zeit, so werde James seine mitgebrachten Begriffe zu allererst revidieren mussen, bevor er hier oben daruber mitrede. - Er werde in Hansens Interesse schon morgen ein ernstes Wortchen mit dem Herrn Hofrat reden, versprach Tienappel. - "Das tu'!" sagte Hans Castorp. "Er wird dir gefallen. Ein interessanter Charakter, forschund melancholisch zugleich." Und dann wies er auf die Lichter von Sanatorium Schatzalp hin und erzahlte beilaufig von den Leichen, die man die Bob-Bahn hinunterbefordere.

Die Herren speisten zusammen im Berghof-Restaurant, nachdem Hans Castorp den Gast in Joachims Zimmer eingefuhrt und ihm Gelegenheit gegeben hatte, sich etwas zu erfrischen. Mit H?CO sei das Zimmer gerauchert worden, sagte Hans Castorp, - ebenso grundlich, wie wenn nicht wilde Abreise von dort gehalten worden ware, sondern eine ganz andere, kein exodus, sondern ein exitus. Und da der Onkel sich nach

dem Sinn erkundigte: "Jargon!" sagte der Neffe. "Ausdrucksweise!" sagte er. "Joachim ist desertiert, - zur Fahne desertiert, das gibt es auch. Aber mach', damit du noch warmes Essen bekommst!" Und so sa?en sie denn im behaglich erwarmten Restaurant einander gegenuber, an erhohtem Platz. Die Zwergin bediente sie hurtig, und James lie? eine Flasche Burgunder kommen, die, in einem Korbchen liegend, aufgestellt wurde. Sie stie?en an und lie?en sich von der milden Glut durchrinnen. Der Jungere sprach von dem Leben hier oben im Wandel der Jahreszeiten, von einzelnen Erscheinungen des Speisesaals, vom Pneumothorax, dessen Wesen er erklarte, indem er den Fall des gutmutigen Ferge heranzog und sich uber die grasse Natur des Pleura-Choks verbreitete, auch der drei farbigen Ohnmachten gedachte, in die Herr Ferge gefallen sein wollte, der Geruchshalluzination, die beim Chok eine Rolle gespielt und des Gelachters, das er im Abschnappen ausgesto?en. Er bestritt die Kosten der Unterhaltung. James a? und trank stark, wie er es gewohnt war und mit uberdies noch durch Reise und Luftwechsel gescharftem Appetit. Dennoch unterbrach er sich zuweilen in der Nahrungsaufnahme, - sa?, den Mund voller Speisen, die er zu kauen verga?, Messer und Gabel im stumpfen Winkel uber dem Teller stillgestellt, und betrachtete Hans Castorp unverwandt, scheinbar ohne es zu wissen, auch ohne da? jener sich weiter empfindlich dafur gezeigt hatte. Geschwollene Adern zeichneten sich an Konsul Tienappels mit dunnem blonden Haar bedeckten Schlafen ab.

Von heimatlichen Dingen war nicht die Rede, weder von personlich-familiaren, noch stadtischen, noch geschaftlichen, noch von der Firma Tunder & Wilms, Schiffswerft, Maschinenfabrik und Kesselschmiede, die immer noch auf den Eintritt des jungen Praktikanten wartete, was aber naturlich so wenig ihre einzige Beschaftigung war, da? man sich fragen mochte, ob sie uberhaupt noch wartete. James Tienappel hatte wohl alle diese Gegenstande wahrend der Wagenfahrt und spater beruhrt, aber sie waren zu Boden gefallen und tot liegen geblieben, - abgeprallt von Hans Castorps ruhiger, bestimmter und ungekunstelter Gleichgultigkeit, einer Art von Unberuhrbarkeit oder Gefeitheit, die an sein Unempfindlichsein gegen die herbstliche Abendkuhle, an sein Wort "Uns friert nicht", erinnerte und vielleicht Ursache war, weshalb sein Onkel ihn manchmal so unverwandt betrachtete. Auch von der Oberin,den Arzten ging die Unterhaltung, von den Konferenzen Dr. Krokowskis - es traf sich, da? James einer davon beiwohnen wurde, wenn er acht Tage blieb. Wer sagte dem Neffen, da? der Onkel gewillt sei, den Vortrag zu besuchen?

Niemand. Er nahm es an, setzte es mit so ruhiger Bestimmtheit als ausgemacht voraus, da? jenem selbst der Gedanke, er konne etwa nicht daran teilnehmen, in unnaturlichem Lichte erscheinen mu?te, und da? er mit eiligem "Gewi?, selbstvers-tandlich" jedem Verdachte zuvorzukommen suchte, als habe er einen Augenblick Unmogliches geplant. Dies eben war die Macht, deren unbestimmte, aber zwingende Empfindung Herrn Tienappel unbewu?t anhielt, den Vetter zu betrachten, - jetzt ubrigens mit offenem Munde, denn der Atmungsweg der Nase hatte sich ihm verschlossen, obgleich seines Wissens der Konsul keinen Schnupfen hatte. Er horte seinen Verwandten von der Krankheit sprechen, die hier das gemeinsame Berufsinteresse aller bildete, und von der Aufnahmelustigkeit fur sie; von Hans Castorps eigenem bescheidenen, aber langwierigen Fall, dem Reiz, den die Bazillen auf die Gewebszellen der Luftrohrenverastelungen und der Lungenblaschen ausubten, der Tuberkelbildung und Erzeugung loslicher Beschwipsungsgifte, dem Zellenzerfall und Verkasungsproze?, von dem dann die Frage sei, ob er durch kalkige Petrifizierung und bindegewebige Vernarbung zu heilsamem Stillstand gelange oder zu gro?eren Erweichungsherden sich fortbilde, umsichgreifende Locher fresse und das Organ zerstore. Er horte von der wild beschleunigten, galoppierenden Form dieses Vorganges, die in ein paar Monaten schon, ja in Wochen zum Exitus fuhre, horte von Pneumotomie, des Hofrats meisterlich geubtem Handwerk, von Lungenresektion, wie sie morgen oder demnachst bei einer neueingetroffenen Schweren, einer ursprunglich reizenden Schottin, vorgenommen werden sollte, die von Gangraena pulmonum, vom Lungenbrande ergriffen worden sei, so da? eine schwarzlich-grune Verpestung in ihr walte und sie den ganzen Tag zerstaubte Karbolsaurelosung einatme, um nicht aus Ekel vor sich selber den Verstand zu verlieren: - und plotzlich geschah es dem Konsul, vollig unerwartet fur ihn selbst und zu seiner gro?ten Beschamung, da? er herausplatzte. Prustend lachte er los, besann und beherrschte sich freilich sofort mit Schrecken, hustete und suchte das sinnlos Geschehene auf alle Weise zu vertuschen, - wobei er ubrigens zu seiner Beruhigung, die aber neue Beunruhigung in sich trug, wahrnahm, da? Hans Castorp sich um den Unfall, der ihm unmoglich entgangen sein konnte, gar nicht kummerte, vielmehr mit einer Achtlosigkeit daruber hinwegging, die sich nicht etwa als Takt, Rucksicht, Hoflichkeit, sondern als reine Gleichgultigkeit und Unberuhrbarkeit, als eine Duldsamkeit unheimlichen Grades kennzeichnete, wie wenn er es langst verlernt hatte, sich durch

solche Vorkommnisse befremdet zu fuhlen. Sei es aber, da? der Konsul seinem Heiterkeitsausbruch nachtraglich ein Mantelchen von Vernunft und Sinn umzuhangen wunschte oder in welchem Zusammenhange sonst, - plotzlich brach er ein Manner- und Klubgesprach vom Zaun, fing mit hochgeschwollenen Kopfadernan, von einer sogenannten "Chansonette", einer Bankelsangerin zu reden, einem ganz tollen Weibsstuck, das zurzeit in St. Pauli ihr Wesen treibe und mit ihren temperamentgeladenen Reizen, die er dem Vetter schilderte, die Herrenwelt der Heimatrepublik in Atem halte. Seine Zunge lallte etwas bei diesen Erzahlungen, doch brauchte er sich davon nicht anfechten zu lassen, da sich die nicht zu befremdende Duldsamkeit seines Gegenubers offenbar auch auf diese Erscheinung erstreckte. Immerhin wurde ihm die ubermachtige Reisemudigkeit, deren Opfer er war, allmahlich so deutlich, da? er schon gegen halb 11 Uhr die Beendigung des Beisammenseins befurwortete und es innerlich wenig begru?te, da? es in der Halle noch zu einer Begegnung mit dem mehrfach erwahnten Dr. Krokowski kam, der zeitunglesend an der Tur eines Salons gesessen hatte, und mit dem sein Neffe ihn bekannt machte. Auf die stammig-heitere Anrede des Doktors wu?te er fast nichts anderes mehr als "Gewi?, selbstvers-tandlich", zu erwidern und war froh, als sein Neffe sich mit der Ankundigung, er werde ihn morgen um 8 Uhr zum Fruhstuck abholen, auf dem Balkonwege aus Joachims desinfiziertem Zimmer in sein eigenes begeben hatte und er mit der gewohnten Gute-Nacht-Zigarette sich ins Bett des Fahnenfluchtlings fallen lassen konnte. Um ein Haar hatte er Feuersbrunst gestiftet, da er zweimal, das glimmende Raucherwerk zwischen den Lippen, in Schlaf verfiel.

James Tienappel, den Hans Castorp abwechselnd "Onkel James" und einfach nur "James" anredete, war ein langbeiniger Herr von gegen Vierzig, gekleidet in englische Stoffe und blutenhafte Wasche, mit kanariengelbem, gelichtetem Haar, nahe beisammenliegenden blauen Augen, einem strohigen, gestutzten, halb wegrasierten Schnurrbartchen und bestens gepflegten Handen. Gatte und Vater seit einigen Jahren, ohne darum genotigt gewesen zu sein, die geraumige Villa des alten Konsuls am Harvestehuder Weg zu verlassen, - vermahlt mit einer Angehorigen seines Gesellschaftskreises, die ebenso zivilisiert und fein, von ebenso leiser, rascher und spitzig-hoflicher Sprechweise war wie er selbst, gab er zu Hause einen sehr energischen, umsichtigen und bei aller Eleganz kalt sachlichen Geschaftsmann ab, nahm aber in fremdem Sittenbereich, auf Reisen, etwa im Suden des Landes, ein gewisses

ubersturztes Entgegenkommen in sein Wesen auf, eine hoflich eilfertige Bereitwilligkeit zur Selbstverleugnung, in der sich nichts weniger als eine Unsicherheit der eigenen Kultur, sondern im Gegenteil das Bewu?tsein ihrer starken Geschlossenheit bekundete, nebst dem Wunsche, seine aristokratische Bedingtheit zu korrigieren und selbst inmitten von Lebensformen, die er unglaublich fand, nichts von Befremdung merken zu lassen. "Naturlich, gewi?, selbstvers-tandlich!" beeilte er sich zu sagen, damit niemand denke, er sei zwar fein, aber beschrankt. Hierher gekommen nun freilich in einer bestimmten sachlichen Sendung, namlich mit dem Auftrage und der Absicht, energisch nach dem Rechten zu sehen, den saumigen jungen Verwandten, wie er sich innerlich ausdruckte, "loszueisen" und daheim wieder einzuliefern, warer sich doch wohl bewu?t, auf fremdem Boden zu operieren, - schon im ersten Augenblicke empfindlich von der Ahnung beruhrt, da? eine Welt und Sittensphare ihn als Gast aufgenommen habe, die an geschlossener Selbstsicherheit seiner eigenen nicht nur nicht nachstand, sondern sie sogar noch darin ubertraf, so da? seine Geschaftsenergie sofort in Zwiespalt mit seiner Wohlerzogenheit geriet und zwar in einen sehr schweren; denn die Selbstgewi?heit der Wirtssphare erwies sich als wahrhaft erdruckend.

Dies eben hatte Hans Castorp vorausgesehen, als er des Konsuls Telegramm innerlich mit gelassenem "Bitte sehr!" beantwortet hatte; aber man mu? nicht denken, da? er bewu?t die Charakterstarke der Umwelt gegen seinen Onkel ausgenutzt hatte. Dazu war er langst zu sehr ein Teil von ihr, und nicht er bediente sich ihrer gegen den Angreifer, sondern umgekehrt, so da? alles sich in sachlicher Einfalt vollzog, von dem Augenblick an, wo eine erste Ahnung der Aussichtslosigkeit seines Unternehmens den Konsul von seines Neffen Person her unbestimmt angeweht hatte, bis zum Ende und Ausgang, das mit einem melancholischen Lacheln zu begleiten Hans Castorp denn freilich doch nicht umhin konnte.

Am ersten Morgen nach dem Fruhstuck, bei welchem der Eingesessene den Hospitanten mit der Korona der Tischgenossenschaft bekannt gemacht hatte, erfuhr Tienappel von Hofrat Behrens, der lang und bunt, gefolgt von dem schwarzbleichen Assistenten, in den Saal gerudert kam, um mit seiner rhetorischen Morgenfrage "Fein geschlafen?" fluchtig darin herumzustreichen, - erfuhr er, sagen wir, vom Hofrate nicht nur, da? es eine glanzvolle Bieridee von ihm gewesen sei, dem vereinsamten Neveu

hier oben ein bi?chen Gesellschaft zu leisten, sondern da? er auch im ureigensten Interesse sehr recht daran tue, da er ja offenbar total anamisch sei. - Anamisch, er, Tienappel? - Na, und ob! sagte Behrens und zog ihm mit dem Zeigefinger ein unteres Augenlid herunter. Hochgradig! sagte er. Der Herr Onkel werde direkt schlau handeln, wenn er es sich fur ein paar Wochen hier auf seinem Balkon der Lange nach bequem mache und uberhaupt in allen Stucken dem Vorbilde seines Neffen nachstrebe. In seinem Zustande konne man gar nichts Aufgeweckteres tun, als mal eine Weile so zu leben, wie bei leichter tuberculosis pulmonum, die ubrigens immer vorhanden sei. - "Gewi?, selbstvers-tandlich!" sagte der Konsul rasch und blickte dem hochnackig Davonrudernden noch eine Weile eifrig-hoflich geoffneten Mundes nach, wahrend sein Neffe gelassen und abgebruht neben ihm stand. Dann traten sie den Lustwandel zur Bank an der Wasserrinne an, der das Gegebene war, und danach hielt James Tienappel seine erste Liegestunde, angeleitet von Hans Castorp, der ihm zum mitgebrachten Plaid die eine seiner Kameldecken lieh - er selbst hatte in Anbetracht des schonen Herbstwetters an einer reichlich genug - und ihn in der uberlieferten Kunstdes Sicheinwickelns Griff fur Griff getreulich unterwies, - ja, er loste, nachdem er den Konsul schon zur Mumie gerundet und geglattet, alles noch einmal auf, um ihn auf eigene Hand und nur unter verbessernd einspringender Beihilfe die feststehende Prozedur wiederholen zu lassen, und lehrte ihn, den Leinenschirm am Stuhl zu befestigen und gegen die Sonne zu richten.

Der Konsul witzelte. Noch war der Geist des Flachlandes stark in ihm, und er machte sich lustig uber das, was er da erlernte, wie er sich schon uber den abgemessenen Lustwandel nach dem Fruhstuck lustig gemacht hatte. Aber als er das ruhig verstandnislose Lacheln sah, mit dem der Neffe seinen Scherzen begegnete und worin die ganze geschlossene Selbstgewi?heit der Sittensphare sich malte, da wurde ihm angst, er furchtete fur seine Geschaftsenergie und beschlo? hastig, das entscheidende Gesprach mit dem Hofrat in Sachen seines Neffen sofort, baldmoglichst, schon diesen Nachmittag herbeizufuhren, solange er noch Eigengeist, Krafte von unten zuzusetzen hatte; denn er fuhlte, da? diese schwanden, da? der Geist des Ortes mit seiner Wohlerzogenheit einen gefahrlichen Feindesbund gegen sie bildete.

Ferner fuhlte er, da? ganz unnotigerweise der Hofrat ihm empfohlen hatte, hier oben seiner Anamie wegen sich den Gebrauchen der Kranken

anzuschlie?en: das ergab sich von selbst, es bestand, wie es schien, gar keine andere Denkbarkeit, und wie weit, vermoge Hans Castorps Ruhe und unberuhrbarer Selbstsicherheit, dies eben nur so schien, wie weit in der Tat und unbedingt genommen nichts anderes moglich und denkbar war, das war fur einen wohlerzogenen Menschen von Anfang an nicht zu unterscheiden. Nichts konnte einleuchtender sein, als da? nach der ersten Liegekur das ausgiebige zweite Fruhstuck erfolgte, aus welchem der Lustwandel nach "Platz" hinunter uberzeugend sich ergab, - und danach wickelte Hans Castorp seinen Onkel wieder ein. Er wickelte ihn ein, das war das Wort. Und in der Herbstsonne, auf einem Stuhl, dessen Bequemlichkeit vollig unbestreitbar, ja hochst ruhmenswert war, lie? er ihn liegen, wie er selber lag, bis der erschutternde Gong zu einem Mittagessen im Kreise der Patientenschaft rief, das sich als erstklassig, tip-top und derma?en ausgiebig erwies, da? der sich anschlie?ende General-Liegedienst mehr als au?erer Brauch, da? er innere Notwendigkeit war und aus personlichster Uberzeugung geubt wurde. So ging es fort bis zum gewaltigen Souper und zur Abendgeselligkeit im Salon mit den optischen Scherzinstrumenten, - es gab gegen eine Tagesordnung, die sich mit so milder Selbstverstandlichkeit aufdrangte, ganz einfach nichts zu erinnern, und auch dann hatte sie keine Gelegenheit zu Einwanden geboten, wenn nicht des Konsuls kritische Fahigkeiten durch ein Befinden herabgesetzt gewesen waren, das er nicht geradezu Ubelbefinden nennen wollte, das sich aber aus Mudigkeit und Aufregung bei gleichzeitigen Hitze- und Frostgefuhlen lastig zusammensetzte.

Zur Herbeifuhrung der unruhig erwunschtenUnterredung mit Hofrat Behrens war der Dienstweg beschritten worden: Hans Castorp hatte beim Bademeister den Antrag gestellt und dieser ihn der Oberin weitergegeben, deren eigentumliche Bekanntschaft Konsul Tienappel bei dieser Gelegenheit machte, dergestalt, da? sie auf seinem Balkon erschien, wo sie ihn liegend fand und durch fremdartige Sitten die Wohlerzogenheit des hilflos walzenformig Gewickelten stark in Anspruch nahm. Das geehrte Menschenskind, erfuhr er, moge sich gefalligst ein paar Tage gedulden, der Hofrat sei besetzt, Operationen, Generaluntersuchungen, die leidende Menschheit gehe vor, nach christlichen Grundsatzen, und da er ja angeblich gesund sei, so musse er sich schon daran gewohnen, da? er hier nicht Nummer Eins sei, sondern zuruckstehen und warten musse. Etwas anderes, wenn er etwa eine Untersuchung beantragen wolle, - woruber sie, Adriatica, sich weiter

nicht wundern wurde, er solle sie doch mal ansehen, so, Auge in Auge, die seinen seien etwas trube und flackernd, und wie er da so vor ihr liege, sehe es alles in allem nicht viel anders aus, als ob auch mit ihm nicht alles so ganz in Ordnung sei, nicht so ganz sauber, er solle sie recht verstehen, - und ob es sich nun bei seinem Antrage um eine Untersuchung oder um eine Privatunterhaltung handle. - Um letzteres, selbstvers-tandlich, um eine Privatunterhaltung! versicherte der Liegende. - Dann moge er warten, bis er Bescheid bekomme. Zu Privatunterhaltungen habe der Hofrat selten Zeit.

Kurz, alles ging anders, als James es sich gedacht hatte, und das Gesprach mit der Oberin hatte seinem Gleichgewicht einen nachhaltigen Sto? versetzt. Zu zivilisiert, um dem Neffen, dessen Einigkeit mit den Erscheinungen hier oben aus seiner unberuhrbaren Ruhe deutlich hervorging, unhoflicherweise zu sagen, wie abschreckend ihm das Frauenzimmer dunkte, klopfte er nur vorsichtig mit der Erkundigung bei ihm an, die Oberin sei wohl eine recht originelle Dame, - was Hans Castorp, nachdem er fluchtig prufend in die Luft geblickt, ihm halbwegs zugab, indem er die Frage zuruckgab, ob die Mylendonk ihm ein Thermometer verkauft habe. - "Nein, mir? Ist das ihre Branche?" entgegnete der Onkel ... Aber das Schlimme war, wie deutlich aus seines Neffen Miene hervorging, da? er sich auch dann nicht gewundert haben wurde, wenn geschehen ware, wonach er fragte. "Uns friert nicht", stand in dieser Miene geschrieben. Den Konsul aber fror, ihn fror andauernd bei hei?em Kopfe, und er uberlegte, da?, wenn die Oberin ihm tatsachlich ein Thermometer angeboten hatte, er es gewi? zuruckgewiesen haben wurde, da? dies aber am Ende nicht richtig gewesen ware, da man ein fremdes, zum Beispiel das des Neffen, zivilisierterweise nicht benutzen konnte.

So vergingen einige Tage, vier oder funf. Das Leben des Sendboten lief auf Schienen, - auf denen, die ihm gelegt waren, undda? es au?erhalb ihrer laufen konne, schien keine Denkbarkeit. Der Konsul hatte seine Erlebnisse, gewann seine Eindrucke, - wir wollen ihn nicht weiter dabei belauschen. Er hob eines Tages in Hans Castorps Zimmer ein schwarzes Glasplattchen auf, das unter anderem kleinen Privatbesitz, womit der Inhaber sein reinliches Heim geschmuckt, gestutzt von einer geschnitzten Miniaturstaffelei, auf der Kommode stand und sich, gegen das Licht erhoben, als photographisches Negativ erwies. "Was ist denn das?" fragte der Onkel betrachtend ... Er mochte wohl fragen! Das

Portrat war ohne Kopf, es war das Skelett eines menschlichen Oberkorpers in nebelhafter Fleischeshulle, - ein weiblicher Torso ubrigens, wie sich erkennen lie?. "Das? Ein Souvenir", antwortete Hans Castorp. Worauf der Onkel "Pardon!" sagte, das Bildnis auf die Staffelei zuruckstellte und sich rasch davon entfernte. Dies nur als Beispiel fur seine Erlebnisse und Eindrucke in diesen vier oder funf Tagen. Auch an einer Conference des Dr. Krokowski nahm er teil, da es undenkbar war, sich davon auszuschlie?en. Und was die erstrebte Privatunterhaltung mit Hofrat Behrens betraf, so bekam er am sechsten Tage seinen Willen. Er wurde bestellt und stieg nach dem Fruhstuck, entschlossen, ein ernstes Wort mit dem Manne wegen seines Neffen und dessen Zeitverbrauchs zu reden, ins Souterrain hinab.

Als er wieder heraufkam, fragte er mit verminderter Stimme:

"Hast du so etwas schon gehort?!"

Aber es war klar, da? Hans Castorp bestimmt auch so etwas schon gehort haben, da? ihn auch dabei nicht frieren werde, und so brach er ab und antwortete auf des Neffen wenig gespannte Gegenerkundigung nur: "Nichts, nichts", zeigte aber von Stund an eine neue Gewohnheit: namlich mit zusammengezogenen Brauen und gespitzten Lippen irgendwohin schrag aufwarts zu spahen, dann in heftiger Wendung den Kopf herumzuwerfen und den beschriebenen Blick in die entgegengesetzte Richtung zu lenken ... War auch die Unterredung mit Behrens anders verlaufen, als der Konsul gedacht hatte? War auf die Dauer nicht nur von Hans Castorp, sondern auch von ihm selbst, James Tienappel, die Rede gewesen, so, da? dem Gesprach der Charakter als Privatunterhaltung verloren gegangen war? Sein Benehmen lie? darauf schlie?en. Der Konsul zeigte sich stark aufgeraumt, plauderte viel, lachte grundlos und stie? den Neffen mit der Faust in die Weiche, indem er ausrief: "Hallo, alter Bursche!" Zwischendurch hatte er jenen Blick, dahin und dann plotzlich dorthin. Aber seine Augen gingen auch bestimmtere Wege, bei Tische wie auf den Dienstwegen und bei der Abendgeselligkeit.

Der Konsul hatte einer gewissen Frau Redisch, Gattin eines polnischen Industriellen, die am Tische der zur Zeit abwesenden Frau Salomon und des gefra?igen Schulers mit der Rundbrille sa?, anfangs keine besondere Beachtung geschenkt; und in der Tat war sie nur eine Liegehallendame wie eine andere, ubrigens eine untersetzte und fulligeBrunette, nicht mehr die Jungste, schon etwas angegraut, aber mit zierlichem

Doppelkinn und lebhaften braunen Augen. Kein Gedanke daran, da? sie sich im Punkte der Zivilisation mit Frau Konsul Tienappel drunten im Flachlande hatte messen konnen. Allein am Sonntag Abend, nach dem Souper, in der Halle, hatte der Konsul, dank einem dekolletierten schwarzen Paillettenkleid, das sie trug, die Entdeckung gemacht, da? Frau Redisch Bruste besa?, mattwei?e, stark zusammengepre?te Weibesbruste, deren Teilung ziemlich weit sichtbar gewesen war, und diese Entdeckung hatte den reifen und feinen Mann bis in den Grund seiner Seele erschuttert und begeistert, so, als habe es eine vollig neue, ungeahnte und unerhorte Bewandtnis damit. Er suchte und machte Frau Redischs Bekanntschaft, unterhielt sich lange mit ihr, zuerst im Stehen, dann im Sitzen, und ging singend schlafen. Am nachsten Tage trug Frau Redisch kein schwarzes Paillettenkleid mehr, sondern war verhullt; aber der Konsul wu?te, was er wu?te und blieb seinen Eindrucken treu. Er suchte die Dame auf den Dienstwegen abzufangen, um sich plaudernd, auf eine besondere, angelegentliche und charmante Art ihr zugewandt und zugeneigt, neben ihr zu bewegen, trank ihr bei Tische zu, was sie erwiderte, indem sie lachelnd die Goldkapseln blitzen lie?, mit denen mehrere ihrer Zahne uberkleidet waren, und erklarte sie im Gesprach mit seinem Neffen geradezu fur ein "gottliches Weib", - worauf er wieder zu singen begann. Dies alles lie? Hans Castorp sich in ruhiger Duldsamkeit gefallen, mit einer Miene, als musse es so sein. Aber die Autoritat des alteren Verwandten konnte es wenig starken, und mit des Konsuls Sendung stimmte es schlecht uberein.

Die Mahlzeit, bei der er Frau Redisch mit erhobenem Glase gru?te, und zwar zweimal: beim Fischragout und spater beim Sorbett, war dieselbe, die Hofrat Behrens am Tische Hans Castorps und seines Gastes einnahm, - er hospitierte ja immer reihum an jedem der sieben, und uberall war das Gedeck an der oberen Schmalseite ihm vorbehalten. Die riesigen Hande vor seinem Teller gefaltet, sa? er mit seinem geschurzten Bartchen zwischen Herrn Wehsal und dem mexikanischen Buckligen, mit dem er spanisch sprach - denn er beherrschte alle Sprachen, auch Turkisch und Ungarisch, - und sah mit blau quellenden, rot unterlaufenen Augen zu, wie Konsul Tienappel Frau Redisch druben mit seinem Bordeauxglase salutierte. Spater im Laufe des Essens hielt der Hofrat einen kleinen Vortrag, angefeuert dazu durch James, der ihm uber die ganze Lange des Tisches hin aus dem Stegreif die Frage vorlegte, wie es sei, wenn der Mensch verwese. Der Hofrat habe doch das Korperliche studiert, der Korper sei ganz ausgesprochen seine Branche, er sei

sozusagen eine Art Korperfurst, wenn man sich so ausdrucken durfe, und nun solle er mal erzahlen, wie es sozugehe, wenn der Korper sich auflose!

"Vor allen Dingen platzt Ihnen der Bauch", versetzte der Hofrat, bei aufgelegten Ellbogen uber seine gefalteten Hande gebeugt. "Sie liegen da auf Ihren Hobelspanen und Ihrem Sagemehl, und die Gase, verstehen Sie, treiben Sie auf, sie blahen Sie machtig, so wie bose Bengels es mit Froschen machen, denen sie Luft einblasen - der reine Ballon sind Sie schlie?lich, und dann halt Ihre Bauchdecke die Hochspannung nicht mehr aus und platzt. Pardautz, Sie erleichtern sich merklich, Sie machen es wie Judas Ischarioth, als er vom Aste fiel, Sie schutten sich aus. Tja, und danach sind Sie eigentlich wieder gesellschaftsfahig. Wenn Sie Urlaub bekamen, so konnten Sie Ihre Hinterbliebenen besuchen, ohne weiter Ansto? zu erregen. Man nennt das ausgestunken haben. Begibt man sich danach an die Luft, so wird man noch wieder ein ganz feiner Kerl, wie die Burger von Palermo, die in den Kellergangen der Kapuziner vor Porta Nuova hangen. Trocken und elegant hangen sie da und genie?en die allgemeine Achtung. Es kommt nur darauf an, ausgestunken zu haben."

"Selbstvers-tandlich!" sagte der Konsul. "Ich danke verbindlichst!" Und am nachsten Morgen war er verschwunden.

Er war weg, verreist, mit dem allerfruhesten Zuglein in die Ebene hinunter - naturlich nicht ohne seine Angelegenheiten geordnet zu haben: wer kame auf andere Gedanken! Er hatte seine Rechnung bereinigt, fur eine stattgehabte Untersuchung das Honorar erlegt, hatte in aller Stille, ohne seinem Verwandten ein Sterbenswortchen zu sagen, seine beiden Handkoffer in Bereitschaft gesetzt - wahrscheinlich war das abends oder gegen Morgen zu noch nachtschlafener Zeit geschehen - und als Hans Castorp um die Stunde des ersten Fruhstucks das Zimmer des Onkels betrat, fand er es geraumt.

Mit eingestemmten Armen stand er und sagte "So, so". Hier war es, da? ein melancholisches Lacheln sich in seinen Zugen hervorbildete. "Ach so", sagte er und nickte. Da hatte einer Fersengeld gegeben. Hals uber Kopf, in stummer Eile, als musse er die Entschlu?kraft eines Augenblicks wahrnehmen und durfe beileibe diesen Augenblick nicht verpassen, hatte er seine Sachen in die Koffer geworfen und war davon: allein, nicht zu zweien, nicht nach Erfullung seiner ehrenhaften Sendung, aber heilfroh, auch nur allein davonzukommen, der Biedermann und Fluchtling zur Flachlandsfahne, Onkel James. Na, gluckliche Reise!

Hans Castorp lie? niemanden merken, da? er von dem bevorstehenden Aufbruch des Verwandtenbesuches nichts gewu?t hatte, besonders den Hinkenden nicht, der den Konsul zum Bahnhof begleitet. Er bekam eine Karte vom Bodensee, des Inhaltes, James habe ein Telegramm erhalten, das ihn per sofort geschaftlich in die Ebene berufen habe. Er habe den Neffen nicht storen wollen. - Eine Formluge. - "Angenehmen Aufenthalt auch weiterhin!" - War das Spott? Dann war es ein recht erkunstelter Spott,fand Hans Castorp, denn dem Onkel war bestimmt nicht nach Spott und Spa? zu Sinn gewesen, als er sich in die Abreise gesturzt hatte, sondern er hatte wahrgenommen, innerlich und vorstellungsweise mit blassem Entsetzen wahrgenommen, da?, wenn er jetzt, nach achttagigem Aufenthalte hier oben, ins Flachland zuruckkehrte, es ihm eine gute Weile dort unten vollig falsch, unnaturlich und unerlaubt scheinen werde, nach dem Fruhstuck keinen dienstlichen Lustwandel anzutreten und sich dann nicht, auf rituelle Art in Decken gewickelt, wagerecht ins Freie zu legen, sondern statt dessen sein Kontor aufzusuchen. Und diese erschreckende Wahrnehmung war der unmittelbare Grund seiner Flucht gewesen.

So endete der Versuch des Flachlandes, den au?engebliebenen Hans Castorp wieder einzuholen. Der junge Mann machte sich kein Hehl daraus, da? der vollkommene Fehlschlag, den er vorhergesehen, fur sein Verhaltnis zu denen dort unten von entscheidender Bedeutung war. Er bedeutete fur das Flachland achselzuckend-endgultigen Verzicht, fur ihn aber die vollendete Freiheit, vor welcher sein Herz nachgerade nicht mehr erbebte.

Operationes spirituales

Leo Naphta stammte aus einem kleinen Ort in der Nahe der galizisch-wolhynischen Grenze. Sein Vater, von dem er mit Achtung sprach, offenbar in dem Gefuhl, seiner ursprunglichen Welt nachgerade weit genug entwachsen zu sein, um wohlwollend daruber urteilen zu konnen, war dort schochet, Schachter, gewesen - und wie sehr hatte dieser Beruf sich von dem des christlichen Fleischers unterschieden, der Handwerker und Geschaftsmann war. Nicht ebenso Leos Vater. Er war Amtsperson und zwar eine solche geistlicher Art. Vom Rabbiner gepruft in seiner frommen Fertigkeit, von ihm bevollmachtigt, schlachtbares Vieh nach dem Gesetze Mosis, gema? den Vorschriften des Talmud zu toten, hatte Elia Naphta, dessen blaue Augen nach des Sohnes Schilderung einen

Sternenschein ausgestrahlt hatten, von stiller Geistigkeit erfullt gewesen waren, selbst etwas Priesterliches in sein Wesen aufgenommen, eine Feierlichkeit, die daran erinnert hatte, da? in Urzeiten das Toten von Schlachttieren in der Tat eine Sache der Priester gewesen war. Wenn Leo, oder Leib, wie er in seiner Kindheit genannt worden war, hatte zusehen durfen, wie der Vater auf seinem Hof mit Hilfe eines gewaltigen Knechtes, eines jungen Mannes von athletischem judischen Schlage, neben dem der schmachtige Elia mit seinem blonden Rundbart noch zierlicher und zarter erschien, seines rituellen Amtes waltete, wie er gegen das gefesselte und geknebelte, aber nicht betaubte Tier das gro?e Schachotmesser schwang und es zu tiefem Schnitt in die Gegend des Halswirbels traf, wahrend der Knecht das hervorbrechende, dampfende Blut in rasch sich fullenden Schusseln auffing, hatte er dies Schauspiel mit jenem Kinderblick aufgenommen, der durch das Sinnliche ins Wesentliche dringt und dem Sohn des sternaugigen Elia in besonderem Ma?e zu eigen gewesen sein mochte. Er wu?te, da? die christlichen Fleischer gehalten waren, ihre Tiere mit dem Schlag einer Keule oder einesBeiles bewu?tlos zu machen, bevor sie sie toteten, und da? diese Vorschrift ihnen gegeben war, damit Tierqualerei und Grausamkeit vermieden werde; wahrend sein Vater, obgleich so viel zarter und weiser, als jene Lummel, dazu sternenaugig, wie keiner von ihnen, nach dem Gesetz handelte, indem er der Kreatur bei unbetaubten Sinnen den Schlachtschnitt versetzte und sie so sich ausbluten lie?, bis sie hinsank. Der Knabe Leib empfand, da? die Methode jener plumpen Gojim von einer la?lichen und profanen Gutmutigkeit bestimmt war, mit der dem Heiligen nicht die gleiche Ehre erwiesen wurde wie mit der feierlichen Mitleidslosigkeit im Brauche des Vaters, und die Vorstellung der Frommigkeit verband sich ihm so mit der der Grausamkeit, wie sich in seiner Phantasie der Anblick und Geruch sprudelnden Blutes mit der Idee des Heiligen und Geistigen verband. Denn er sah wohl, da? der Vater sein blutiges Handwerk nicht aus dem brutalen Geschmack, den leibesstarke Christenburschen oder auch sein eigener judischer Knecht daran finden mochten, erwahlt hatte, sondern geistigerweise und, bei zarter Leibesbeschaffenheit, im Sinn seiner Sternenaugen.

Wirklich war Elia Naphta ein Grubler und Sinnierer gewesen, ein Erforscher der Thora nicht nur, sondern auch ein Kritiker der Schrift, der mit dem Rabbiner uber ihre Satze disputierte und nicht selten in Streit mit ihm geriet. In der Gegend, und zwar nicht nur bei seinen

Glaubensgenossen, hatte er fur etwas Besonderes gegolten, fur einen, der mehr wu?te, als andere - frommerweise zum Teil, zum anderen aber auch auf eine Art, die nicht ganz geheuer sein mochte und jedenfalls nicht in der gewohnlichen Ordnung war. Etwas sektiererisch Unregelma?iges haftete ihm an, etwas von einem Gottesvertrauten, Baal-Schem oder Zaddik, das ist Wundermann, zumal er in der Tat einmal ein Weib von bosem Ausschlage, ein andermal einen Knaben von Krampfen geheilt hatte und zwar mit Blut und Spruchen. Aber eben dieser Nimbus einer irgendwie gewagten Frommigkeit, bei welchem der Blutgeruch seines Gewerbes eine Rolle spielte, war sein Verderben geworden. Denn bei Gelegenheit einer Volksbewegung und Wutpanik, hervorgerufen durch den unaufgeklarten Tod zweier Christenkinder, war Elia auf schreckliche Weise ums Leben gekommen: mit Nageln gekreuzigt, hatte man ihn an der Tur seines brennenden Hauses hangend gefunden, worauf sein Weib, obgleich schwindsuchtig und bettlagerig, mit ihren Kindern, dem Knaben Leib und seinen vier Geschwistern, samtlich mit erhobenen Armen schreiend und wehklagend, landfluchtig geworden war.

Nicht ganz und gar mittellos, dank Elias Vorsorge, war die geschlagene Familie in einem Stadtchen des Vorarlbergs zur Ruhe gekommen, wo Frau Naphta in einer Baumwollspinnerei Arbeit gefunden hatte, der sie nachging, soweit und solange ihre Krafte es ihr erlaubten, wahrend die gro?eren Kinder die Volksschule besuchten. Wenn aber die geistigen Darreichungen dieser Anstalt der Verfassung und den Bedurfnissen von Leos Geschwisternhatten genugen mogen, so war, was ihn selbst, den Altesten betraf, dies bei weitem nicht der Fall gewesen. Von der Mutter hatte er den Keim der Brustkrankheit, vom Vater aber, au?er der Zierlichkeit der Gestalt, einen au?erordentlichen Verstand geerbt, Geistesgaben, die sich fruh mit hoffartigen Instinkten, hoherem Ehrgeiz, bohrender Sehnsucht nach vornehmeren Daseinsformen verbanden und ihn uber die Sphare seiner Herkunft leidenschaftlich hinausstreben lie?en. Neben der Schule hatte der Vierzehn- und Funfzehnjahrige durch Bucher, die er sich zu verschaffen gewu?t, seinen Geist auf regellose und ungeduldige Weise fortgebildet, seinem Verstand Nahrstoff zugefuhrt. Er dachte und au?erte Dinge, die seine hinkrankelnde Mutter veranla?ten, den Kopf schief zwischen die Schultern zu ziehen und beide abgezehrten Hande emporzuspreizen. Durch sein Wesen, seine Antworten fesselte er im Religionsunterricht die Aufmerksamkeit des Kreisrabbiners, eines frommen und gelehrten Menschen, der ihn zu seinem Privatschuler

machte und seinen formalen Trieb mit hebraischem und klassischem Sprachunterricht, seinen logischen mit mathematischer Anleitung sattigte. Dafur aber hatte der gute Mann recht schlimmen Dank geerntet; es stellte sich je langer je mehr heraus, da? er eine Schlange an seinem Busen genahrt hatte. Wie einst zwischen Elia Naphta und seinem Rabbi, so ging es nun hier: man vertrug sich nicht, es kam zwischen Lehrer und Schuler zu religiosen und philosophischen Reibereien, die sich immer verscharften, und der redliche Schriftgelehrte hatte unter der geistigen Aufsassigkeit, der Krittel- und Zweifelsucht, dem Widerspruchsgeist, der schneidenden Dialektik des jungen Leo das Erdenklichste zu leiden. Hinzu kam, da? Leos Spitzfindigkeit und geistiges Wuhlertum neuestens ein revolutionares Geprage angenommen hatten: die Bekanntschaft mit dem Sohn eines sozialdemokratischen Reichsratsmitgliedes und mit diesem Massenhelden selbst hatte seinen Geist auf politische Pfade gelenkt, seiner logischen Leidenschaft eine gesellschaftskritische Richtung gegeben; er fuhrte Reden, die dem guten Talmudisten, dem die eigene Loyalitat teuer war, die Haare zu Berge steigen lie?en und dem Einvernehmen zwischen Lehrer und Schuler den Rest gaben. Kurz, es war dahin gekommen, da? Naphta von dem Meister versto?en, auf immer seines Studierzimmers verwiesen worden war, und zwar gerade um die Zeit, als seine Mutter, Rahel Naphta, im Sterben lag.

Damals aber auch, unmittelbar nach dem Verscheiden der Mutter, hatte Leo die Bekanntschaft des Paters Unterpertinger gemacht. Der Sechzehnjahrige sa? einsam auf einer Bank in den Parkanlagen des sogenannten Margaretenkopfes, einer Anhohe westlich des Stadtchens, am Ufer der Ill, von wo man einen weiten und heiteren Ausblick uber das Rheintal geno?, - sa? dort, verloren in trube und bittere Gedanken uber sein Geschick, seine Zukunft, als ein spazierendes Mitglied des Lehrkorpers vom Pensionat der Gesellschaft Jesu, genannt "Morgenstern", neben ihm Platz nahm, seinen Hut neben sich legte, ein Bein unter dem Weltpriesterkleid uber das andere schlug und nach einiger Lekture in seinem Brevier eineUnterhaltung begann, die sich sehr lebhaft entwickelte und fur Leos Schicksal entscheidend werden sollte. Der Jesuit, ein umgetriebener Mann von gebildeten Formen, Padagog aus Passion, ein Menschenkenner und Menschenfischer, horchte auf bei den ersten hohnisch klar artikulierten Satzen, mit denen der armselige Judenjungling seine Fragen beantwortete. Eine scharfe und gequalte Geistigkeit wehte ihn daraus an, und weiterdringend stie? er auf ein

Wissen und eine boshafte Eleganz des Denkens, die durch das abgerissene Au?ere des jungen Menschen nur noch uberraschender wurde. Man sprach von Marx, dessen "Kapital" Leo Naphta in einer Volksausgabe studiert hatte, und kam von ihm auf Hegel, von dem oder uber den er ebenfalls genug gelesen, um einiges Markante uber ihn au?ern zu konnen. Sei es aus allgemeinem Hang zur Paradoxie oder aus hoflicher Absicht, - er nannte Hegel einen "katholischen" Denker; und auf die lachelnde Frage des Paters, wie das begrundet werden konne, da doch Hegel als preu?ischer Staatsphilosoph wohl recht eigentlich und wesentlich als Protestant zu gelten habe, erwiderte er: gerade das Wort "Staatsphilosoph" bekraftige, da? er im religiosen, wenn auch naturlich nicht im kirchlich-dogmatischen Sinn mit seiner Behauptung von Hegels Katholizitat im Rechte sei. Denn(diese Konjunktion liebte Naphta ganz besonders; sie gewann etwas Triumphierend-Unerbittliches in seinem Munde, und seine Augen hinter den Brillenglasern blitzten auf, jedesmal, wenn er sie einfugen konnte), denn der Begriff des Politischen sei mit dem des Katholischen psychologisch verbunden, sie bildeten eine Kategorie, die alles Objektive, Werkhafte, Tatige, Verwirklichende, ins Au?ere Wirkende umfasse. Ihr gegenuber stehe die pietistische, aus der Mystik hervorgegangene, protestantische Sphare. Im Jesuitentum, fugte er hinzu, werde das politisch-padagogische Wesen des Katholizismus evident; Staatskunst und Erziehung habe dieser Orden immer als seine Domanen betrachtet. Und er nannte noch Goethe, der, im Pietismus wurzelnd und gewi? Protestant, eine stark katholische Seite besessen habe, namlich kraft seines Objektivismus und seiner Tatigkeitslehre. Er habe die Ohrenbeichte verteidigt und sei als Erzieher ja beinahe Jesuit gewesen.

Mochte Naphta diese Dinge vorgebracht haben, weil er daran glaubte, oder weil er sie witzig fand, oder um seinem Zuhorer nach dem Munde zu reden, als ein Armer, der schmeicheln mu? und wohl berechnet, wie er sich nutzen, wie schaden kann: der Pater hatte sich um ihren Wahrheitswert weniger gekummert, als um die allgemeine Gescheitheit, von der sie zeugten; das Gesprach hatte sich fortgesponnen, Leos personliche Umstande waren dem Jesuiten bald bekannt gewesen, und die Begegnung hatte mit der Aufforderung Unterpertingers an Leo geschlossen, ihn im Padagogium zu besuchen.

So hatte Naphta den Boden der Stella matutina betreten durfen, deren wissenschaftlich und gesellschaftlich anspruchsvolle Atmosphare

vorstellungsweise langst seine Sehnsucht gereizt hatte; und mehr: es war ihm durch diese Wendung der Dinge ein neuer Lehrer und Gonner beschert worden, weit besser aufgelegt, alsder vormalige, sein Wesen zu schatzen und zu fordern, ein Meister, dessen Gute, kuhl ihrer Natur nach, auf Weltlaufigkeit beruhte, und in dessen Lebenskreis einzudringen er gro?te Begierde empfand. Gleich vielen geistreichen Juden war Naphta von Instinkt zugleich Revolutionar und Aristokrat; Sozialist - und zugleich besessen von dem Traum, an stolzen und vornehmen, ausschlie?lichen und gesetzvollen Daseinsformen teilzuhaben. Die erste Au?erung, welche die Gegenwart eines katholischen Theologen ihm entlockt hatte, war, obgleich sie sich rein analytisch-vergleichend gegeben hatte, eine Liebeserklarung an die romische Kirche gewesen, die er als eine zugleich vornehme und geistige, das hei?t anti-materielle, gegenwirkliche und gegen-weltliche, also revolutionare Macht empfand. Und diese Huldigung war echt und stammte aus seines Wesens Mitte; denn, wie er selbst auseinandersetzte, stand das Judentum kraft seiner Richtung aufs Irdisch-Sachliche, seines Sozialismus, seiner politischen Geistigkeit der katholischen Sphare weit naher, war ihr ungleich verwandter, als der Protestantismus in seiner Versenkungssucht und mystischen Subjektivitat, - wie denn also auch die Konversion eines Juden zur romischen Kirche entschieden einen geistlich zwangloseren Vorgang bedeutete, als die eines Protestanten.

Entzweit mit dem Hirten seiner ursprunglichen Religionsgemeinschaft, verwaist und verlassen, dazu voller Verlangen nach reinerer Lebensluft, nach Daseinsformen, auf die seine Gaben ihm Anrecht verliehen, war Naphta, der das gesetzliche Unterscheidungsalter ja langst erreicht hatte, zum konfessionellen Ubertritt so ungeduldig bereit, da? sein "Entdecker" sich jeder Muhe uberhoben sah, diese Seele, oder vielmehr diesen ungewohnlichen Kopf fur die Welt seines Bekenntnisses zu gewinnen. Schon bevor er die Taufe empfing, hatte Leo auf Betreiben des Paters in der "Stella" vorlaufige Unterkunft, leibliche und geistige Versorgung, gefunden. Er war dorthin ubergesiedelt, indem er seine jungeren Geschwister mit gro?ter Gemutsruhe, mit der Unempfindlichkeit des Geistesaristokraten der Armenpflege und einem Schicksal uberlie?, wie es ihrer minderen Begabung gebuhrte.

Grund und Boden der Erziehungsanstalt waren weitlaufig, wie ihre Baulichkeiten, die Raum fur gegen vierhundert Zoglinge boten. Der Komplex umfa?te Walder und Weideland, ein halbes Dutzend Spielplatze,

landwirtschaftliche Gebaude, Stalle fur Hunderte von Kuhen. Das Institut war zugleich Pensionat, Mustergut, Sportakademie, Gelehrtenschule und Musentempel; denn bestandig gab es Theater und Musik. Das Leben hier war herrschaftlich-klosterlich. Mit seiner Zucht und Eleganz, seiner heiteren Gedampftheit, seiner Geistigkeit und Wohlgepflegtheit, der Genauigkeit seiner abwechslungsreichen Tageseinteilung schmeichelte es Leos tiefsten Instinkten. Er war uberglucklich. Er erhielt seine vortrefflichen Mahlzeiten in einem weiten Refektorium, wo Schweigepflicht herrschte, wie auf den Gangen der Anstalt, und in dessen Mitte ein junger Prafekt auf hohem Katheder sitzend die Essenden mit Vorlesen unterhielt. Sein Eifer beim Unterricht war brennend, und trotz einer Brustschwache bot er alles auf, um nachmittags bei Spiel und Sport seinen Mann zu stehen. Die Devotion, mit der er alltaglich die Fruhmesse horte und Sonntags am feierlichen Amte teilnahm, mu?te die Vater-Padagogen erfreuen. Seine gesellschaftliche Haltung befriedigte sienicht weniger. An Festtagen, nachmittags, nach dem Genu? von Kuchen und Wein, ging er in grau und gruner Uniform, mit Stehkragen, Hosenstreifen und Kappi, in Reihe und Glied spazieren.

Dankbares Entzucken erfullte ihn angesichts der Schonung, die seiner Herkunft, seinem jungen Christentum, seinen personlichen Verhaltnissen uberhaupt zuteil wurde. Da? es ein Freiplatz war, den er in der Anstalt einnahm, schien niemand zu wissen. Die Hausgesetze lenkten die Aufmerksamkeit seiner Kameraden von der Tatsache ab, da? er ohne Familienanhang, ohne Heimat war. Das Empfangen von Paketen mit Lebensmitteln und Leckereien war allgemein verboten. Was etwa dennoch kam, wurde verteilt, und auch Leo erhielt davon. Der Kosmopolitismus der Anstalt verhinderte jedes auffallige Hervortreten seines Rassengeprages. Es waren da junge Exoten, portugiesische Sudamerikaner, die "judischer" aussahen als er, und so kam dieser Begriff abhanden. Der athiopische Prinz, der gleichzeitig mit Naphta Aufnahme gefunden hatte, war sogar ein wolliger Mohrentyp, dabei aber sehr vornehm.

In der Rhetorischen Klasse gab Leo den Wunsch zu erkennen, Theologie zu studieren, um, wenn er irgend wurdig befunden werde, dereinst dem Orden anzugehoren. Dies hatte zur Folge, da? man seinen Freiplatz aus dem "Zweiten Pensionat", dessen Kosten und Lebenshaltung bescheidener waren, in das "Erste" verlegte. Bei Tische

wurde ihm nun von Dienern serviert, und sein Schlafabteil stie? einerseits an das eines schlesischen Grafen von Harbuval und Chamare, andererseits an das eines Marquis di Rangoni-Santacroce aus Modena. Er absolvierte glanzend und vertauschte, getreu seinem Entschlu?, das Zoglingsleben des Padagogiums mit dem des Noviziathauses im benachbarten Tisis, einem Leben dienender Demut, schweigender Unterordnung und religiosen Trainings, dem er geistige Luste im Sinne fruher fanatischer Konzeptionen abgewann.

Unterdessen aber litt seine Gesundheit - und zwar weniger unmittelbar, durch die Strenge des Pruflingslebens, in dem es an korperlicher Erfrischung nicht fehlte, als von innen her. Die Erziehungspraktiken, deren Gegenstand er war, kamen in ihrer Klugheit und Spitzfindigkeit seinen personlichen Anlagen entgegen und forderten sie zugleich heraus. Bei den geistigen Operationen, mit denen er seine Tage und noch einen Teil seiner Nachte verbrachte, bei all diesen Gewissenserforschungen, Betrachtungen, Erwagungen und Beschauungen verstrickte er sich mit boshaft querulierender Leidenschaft in tausend Schwierigkeiten, Widerspruche und Streitfalle. Er war die Verzweiflung - wenn auch zugleich die gro?e Hoffnung - seines Exerzitienleiters, dem er mit seiner dialektischen Wut und seinem Mangel an Einfalt alltaglich die Holle hei? machte. "Ad haec quid tu?" fragte er mit funkelnden Brillenglasern ... Und dem in die Enge getriebenen Pater blieb nichts ubrig, als ihn zum Gebet zu ermahnen, damit er zur Ruhe der Seele gelange - "ut in aliquem gradum quietis in anima perveniat". Allein diese "Ruhe" bestand, wenn sie erreicht wurde, in einer vollstandigen Abstumpfung des Eigenlebens und Abtotung zum blo?en Werkzeuge, einem geistigen Kirchhofsfrieden, dessen unheimlicheau?ere Merkmale Bruder Naphta in mancher hohl blickenden Physiognomie seiner Umgebung studieren konnte, und die zu erreichen ihm nie gelingen wurde, es sei denn auf dem Wege korperlichen Ruins.

Es sprach fur den geistigen Rang seiner Vorgesetzten, da? diese Anstande und Beschwerden seinem Ansehen bei ihnen keinen Abbruch taten. Der Pater Provinzial selbst zitierte ihn am Ende des zweijahrigen Noviziates zu sich, unterhielt sich mit ihm, genehmigte seine Aufnahme in den Orden; und der junge Scholastiker, der vier niedere Weihen, namlich die eines Turhuters, Me?dieners, Vorlesers und Teufelsbeschworers empfangen, auch die "einfachen" Gelubde abgelegt hatte und der Sozietat nun endgultig angehorte, ging nach dem

Kollegienhause des hollandischen Falkenburg ab, um sein theologisches Studium aufzunehmen.

Damals war er zwanzigjahrig, und drei Jahre spater hatte unter dem Einflu? eines ihm gefahrlichen Klimas und geistiger Anstrengungen sein ererbtes Leiden solche Fortschritte gemacht, da? sein Verbleib sich bei Lebensgefahr verbot. Ein Blutsturz, den er erlitt, alarmierte seine Oberen, und nachdem er wochenlang zwischen Leben und Tod geschwebt, schickten sie den notdurftig Genesenen an seinen Ausgangspunkt zuruck. In derselben Erziehungsanstalt, deren Schuler er gewesen, fand er als Prafekt, als Aufseher der Alumnen und Lehrer der Humaniora und Philosophie Verwendung. Diese Einschaltung war ohnedies Vorschrift, nur, da? man von solcher Dienstleistung gemeinhin nach wenigen Jahren ins Kolleg zuruckkehrte, um das siebenjahrige Gottesstudium fortzufuhren und abzuschlie?en. Dies war dem Bruder Naphta verwehrt. Er krankelte fort; Arzt und Obere urteilten, der Dienst hier am Orte, in gesunder Luft mit den Zoglingen und bei landwirtschaftlicher Betatigung, sei der ihm vorlaufig angemessene. Er empfing wohl die erste hohere Weihe, gewann das Recht, am Sonntag beim feierlichen Amt die Epistel zu singen, - ein Recht, das er ubrigens nicht ausubte, erstens, weil er vollstandig unmusikalisch war und dann auch, weil die krankhafte Bruchigkeit seiner Stimme ihn zum Singen wenig geschickt machte. Uber das Subdiakonat aber brachte er es nicht hinaus, - weder zum Diakonat noch gar zur Priesterweihe; und da die Blutung sich wiederholte, auch das Fieber nicht schwinden wollte, so hatte er auf Ordenskosten zu langerer Kur hier oben Aufenthalt genommen, und sie zog sich hin in das sechste Jahr - kaum noch als Kur, sondern bereits und nachgerade im Sinne kategorischer Lebensbedingung, in dunner Hohe, beschonigt durch einige Tatigkeit als Lateinlehrer am Krankengymnasium ...

Diese Dinge nebst Weiterem und Genauerem erfuhr Hans Castorp gesprachsweise von Naphta selbst, wenn er ihn in der seidenen Zelle besuchte, allein und auch in Begleitung seiner Tischgenossen Ferge und Wehsal, die er dort eingefuhrt hatte; oder wenn er ihm auf einem Lustwandel begegnete und in seiner Gesellschaft gegen "Dorf" zuruckpilgerte, - erfuhr sie gelegentlich, in Bruchstucken und in Form zusammenhangender Erzahlungen und fand sie nicht nur fur seinePerson hoch merkwurdig, sondern ermunterte auch Ferge und Wehsal, sie so zu finden, was sie auch taten: jener freilich, indem er

einschrankend in Erinnerung brachte, da? alles Hohere ihm fern liege(denn das Erlebnis des Pleurachoks war es allein, was ihn je uber das menschlich Anspruchsloseste hinaus gesteigert hatte), dieser dagegen mit sichtlichem Wohlgefallen an der Gluckslaufbahn eines einst Gedruckten, die nun allerdings, damit die Baume nicht in den Himmel wuchsen, zu stocken und in dem gemeinsamen Korperubel zu versanden schien.

Hans Castorp fur sein Teil bedauerte diesen Stillstand und gedachte mit Stolz und Sorge des ehrliebenden Joachim, der mit heldenmutiger Kraftanstrengung des Rhadamanthys zahes Gewebe von Rederei zerrissen hatte und zu seiner Fahne geflohen war, an deren Schaft er, in Hans Castorps Vorstellung, sich nun klammerte, drei Finger seiner Rechten zum Treuschwur erhoben. Auch Naphta hatte zu einer Fahne geschworen, auch er war unter eine solche aufgenommen worden, wie er selbst sich ausdruckte, wenn er Hans Castorp uber das Wesen seines Ordens unterrichtete; aber offenbar war er ihr weniger treu, mit seinen Abweichungen und Kombinationen, als Joachim der seinen, - wahrend freilich Hans Castorp, wenn er dem ci devant- oder Zukunftsjesuiten zuhorte, als Zivilist und Kind des Friedens sich in seiner Meinung bestarkt fand, da? jeder von beiden an dem Beruf und Stande des anderen Gefallen finden und ihn als dem eigenen nahe verwandt hatte verstehen mussen. Denn das waren militarische Stande, der eine wie der andere, und zwar in allerlei Sinn: in dem der "Askese" sowohl als dem der Rangordnung, des Gehorsams und der spanischen Ehre. Letztere namentlich waltete machtig ob in Naphtas Orden, welcher ja auch aus Spanien stammte, und dessen geistliches Exerzierreglement, eine Art Gegenstuck zu dem, welches spater der preu?ische Friederich fur seine Infanterie erlassen, ursprunglich in spanischer Sprache abgefa?t worden war, weshalb denn Naphta bei seinen Erzahlungen und Belehrungen sich spanischer Ausdrucke ofters bediente. So sprach er von den "dos banderas", von den "zwei Fahnen", um welche die Heere sich zum gro?en Feldzuge scharten: das hollische und das geistliche; in der Gegend von Jerusalem dieses, wo Christus, der "capitan general" aller Guten kommandierte, - in der Ebene von Babylon das andere, wo Luzifer den "caudillo" oder Hauptling machte ...

War nicht die Anstalt "Morgenstern" ein richtiges Kadettenhaus gewesen, dessen Zoglinge, abgeteilt in "Divisionen", zu geistlich-militarischer bienseance ehrenhaft waren angehalten worden, - eine

Verbindung von "Steifem Kragen" und "Spanischer Krause", wenn man so sagen durfte? Die Idee der Ehre und Auszeichnung, die in Joachims Stande eine so glanzende Rolle spielte, - wie deutlich, dachte Hans Castorp, tat sie sich hervor auch in dem, worin Naphta es leider krankheitshalber nicht weit gebracht hatte! Horte man ihn, so setzte derOrden sich aus lauter hochst ehrgeizigen Offizieren zusammen, die nur von dem einen Gedanken beseelt waren, sich im Dienste auszuzeichnen.("Insignes esse" hie? es lateinisch.) Nach der Lehre und dem Reglement des Stifters und ersten Generals, des spanischen Loyola, taten sie mehr, taten herrlicheren Dienst als all diejenigen, die nur nach ihrer gesunden Vernunft handelten. Vielmehr verrichteten sie ihr Werk "ex supererogatione", uber Gebuhr, namlich indem sie nicht nur schlechthin der Emporung des Fleisches("rebellio carnis") Widerstand leisteten, was eben nicht mehr, als Sache jedes durchschnittlich gesunden Menschenverstandes war, sondern dadurch, da? sie kampfend schon gegen die Neigungen der Sinnlichkeit, der Eigen- und Weltliebe handelten, auch in Dingen, die gemeinhin erlaubt sind. Denn kampfend gegen den Feind handeln, "agere contra", angreifen also, war mehr und ehrenhafter, als nur sich verteidigen("resistere"). Den Feind schwachen und brechen! hie? es in der Felddienstvorschrift, und ihr Verfasser, der spanische Loyola, war da wieder ganz eines Sinnes mit Joachims capitan general, dem preu?ischen Friederich und seiner Kriegsregel "Angriff! Angriff!" "Dem Feind in den Hosen gesessen!" "Attaquez donc toujours!"

Was aber der Welt Naphtas und derjenigen Joachims namentlich gemeinsam war, das war ihr Verhaltnis zum Blute und ihr Axiom, da? man seine Hand nicht solle davon zuruckhalten: darin besonders stimmten sie als Welten, Orden und Stande hart uberein, und fur ein Kind des Friedens war es sehr horenswert, wie Naphta von kriegerischen Monchstypen des Mittelalters erzahlte, welche, asketisch bis zur Erschopfung und dabei voll geistlicher Machtbegier, des Blutes nicht hatten schonen wollen, um den Gottesstaat, die Weltherrschaft des Ubernaturlichen herbeizufuhren; von streitbaren Tempelherren, die den Tod im Kampf gegen die Unglaubigen fur verdienstvoller als den im Bette geachtet hatten und, um Christi willen getotet zu werden oder zu toten, fur kein Verbrechen, sondern fur hochsten Ruhm. Nur gut, wenn Settembrini bei diesen Reden nicht zugegen war! Er gab sonst nur wieder den storenden Drehorgelmann ab und schalmeite Frieden, - obgleich da doch der heilige National- und Zivilisationskrieg gegen Wien war, zu dem er durchaus nicht nein sagte, wahrend freilich Naphta nun

gerade diese Passion und Schwache mit Hohn und Verachtung strafte. Wenigstens solange der Italiener von solchen Gefuhlen warm war, fuhrte er eine christliche Weltburgerlichkeit dagegen ins Feld, wollte jedes Land, und auch wieder kein einziges, Vaterland nennen und wiederholte schneidend das Wort eines Ordensgenerals namens Nickel, dahin lautend, die Vaterlandsliebe sei "eine Pest und der sicherste Tod der christlichen Liebe".

Versteht sich, es war die Askese, um derentwillen Naphta die Vaterlandsliebe eine Pest nannte, - denn was begriff er nicht alles unter diesem Wort, was alles lief nicht nach seinem Erachten der Askese und dem Gottesreiche zuwider! Nicht nur die Anhanglichkeit an Familie und Heimat tat das, sondern auchdie an Gesundheit und Leben: sie eben machte er dem Humanisten zum Vorwurf, wenn dieser Frieden und Gluck schalmeite; der Fleischesliebe, der amor carnalis, der Liebe zu den korperlichen Bequemlichkeiten, commodorum corporis, zieh er ihn zankisch und nannte es ihm ins Gesicht hinein stockburgerliche Irreligiositat, auf Leben und Gesundheit auch nur das geringste Gewicht zu legen.

Das war das gro?e Kolloquium uber Gesundheit und Krankheit, das sich eines Tages, schon stark gegen Weihnachten hin, wahrend eines Schneespazierganges nach "Platz" und wieder zuruck aus solchen Differenzen entwickelte, und alle nahmen sie daran teil: Settembrini, Naphta, Hans Castorp, Ferge und Wehsal, - leicht fiebernd samtlich, zugleich betaubt und erregt vom Gehen und Reden im Hohenfrost, zum Zittern geneigt ohne Ausnahme und, ob sie sich nun mehr tatig verhielten, wie Naphta und Settembrini, oder meist aufnehmend und nur mit kurzen Einwurfen das Gesprach begleitend, alle mit so angelegentlichem Eifer, da? sie oft selbstvergessen halt machten, eine tief beschaftigte, gestikulierende und durcheinander sprechende Gruppe bildeten und die Passage versperrten, unbekummert um fremde Leute, die einen Bogen um sie beschreiben mu?ten und ebenfalls stehen blieben, das Ohr hinhielten und staunend ihren ausschweifenden Erorterungen lauschten.

Eigentlich war der Disput von Karen Karstedt ausgegangen, der armen Karen mit den offenen Fingerspitzen, die neulich gestorben war. Hans Castorp hatte nichts von ihrer plotzlichen Verschlechterung und ihrem Exitus gewu?t; sonst hatte er gern an ihrem Begrabnis kameradschaftlich teilgenommen, - bei seiner eingestandenen Vorliebe

fur Begrabnisse uberhaupt. Aber die ortsubliche Diskretion hatte gewollt, da? er zu spat von Karens Hintritt erfahren hatte, und da? sie schon in den Garten des Puttengottes mit der schiefen Schneemutze zu endgultig horizontaler Lage eingegangen war. Requiem aeternam ... Er widmete ihrem Andenken einige freundliche Worte, was Herrn Settembrini darauf brachte, sich spottisch uber Hansens charitative Betatigung, seine Besuche bei Leila Gerngro?, dem geschaftlichen Rotbein, der uberfullten Zimmermann, dem prahlerischen Sohne Tous-les-deux' und der qualvollen Natalie von Mallinckrodt zu au?ern und noch nachtraglich uber die teueren Blumen sich aufzuhalten, mit denen der Ingenieur diesem ganzen trostlosen und ridikulen Gelichter Devotion erwiesen habe. Hans Castorp hatte darauf hingewiesen, da? die Empfanger seiner Aufmerksamkeiten, mit vorlaufiger Ausnahme der Frau von Mallinckrodt und des Knaben Teddy, ja auch ganz ernstlich gestorben seien, worauf Settembrini fragte, ob das sie etwa respektabler mache. Es gebe aber doch etwas, entgegnete Hans Castorp, was man die christliche Reverenz vor dem Elend nennen konne. Und ehe Settembrini ihn zurechtweisen konnte, begann Naphta von frommen Ausschreitungen der Liebestatigkeit zu reden, die das Mittelalter gesehen, erstaunlichen Fallen von Fanatismus und Verzuckung in der Krankenpflege: Konigstochter hatten die stinkenden Wunden Aussatziger geku?t, hatten sich geradezu mit Absicht an Leprosen angesteckt und die Schwaren, die sie sich zugezogen, dann ihre Rosen genannt, hattendas Wasser ausgetrunken, womit sie Eiternde gewaschen, und danach erklart, nie habe ihnen etwas so gut geschmeckt.

Settembrini tat, als musse er sich erbrechen. Weniger das physisch Ekelhafte an diesen Bildern und Vorstellungen, sagte er, kehre ihm den Magen um, als vielmehr der monstrose Irrsinn, der sich in einer solchen Auffassung von tatiger Menschenliebe bekunde. Und er richtete sich auf, gewann wieder heitere Wurde, indem er von neuzeitlich fortgeschrittenen Formen der humanitaren Fursorge, siegreicher Zuruckdrangung der Seuchen sprach und Hygiene, Sozialreform nebst den Taten der medizinischen Wissenschaft jenen Schrecknissen entgegenstellte.

Mit diesen burgerlich ehrbaren Dingen, antwortete Naphta, ware den Jahrhunderten, die er soeben angezogen, aber wenig gedient gewesen und zwar beiden Teilen nicht: den Kranken und Elenden so wenig wie den Gesunden und Glucklichen, die nicht sowohl aus Mitleid, als um des

eigenen Seelenheiles willen sich ihnen milde erwiesen hatten. Denn durch erfolgreiche Sozialreform waren diese des wichtigsten Rechtfertigungsmittels verlustig gegangen, jene aber ihres heiligen Standes beraubt worden. Darum habe dauernde Erhaltung von Armut und Krankheit im Interesse beider Parteien gelegen, und diese Auffassung bleibe solange moglich, als es moglich sei, den rein religiosen Gesichtspunkt festzuhalten.

Ein schmutziger Gesichtspunkt, erklarte Settembrini, und eine Auffassung, deren Albernheit zu bekampfen er sich beinahe zu gut sei. Denn die Idee vom "heiligen Stande" sowie das, was der Ingenieur unselbstandigerweise uber die "christliche Reverenz vor dem Elend" geau?ert habe, sei ja Schwindel, beruhe auf Tauschung, fehlerhafter Einfuhlung, einem psychologischen Schnitzer. Das Mitleid, das der Gesunde dem Kranken entgegenbringe und das er bis zur Ehrfurcht steigere, weil er sich gar nicht denken konne, wie er solche Leiden gegebenenfalles solle ertragen konnen, - dieses Mitleid sei in hohem Grade ubertrieben, es komme dem Kranken gar nicht zu und sei insofern das Ergebnis eines Denk- und Phantasiefehlers, als der Gesunde seine eigene Art, zu erleben, dem Kranken unterschiebe und sich vorstelle, der Kranke sei gleichsam ein Gesunder, der die Qualen eines Kranken zu tragen habe, - was vollig irrtumlich sei. Der Kranke sei eben ein Kranker, mit der Natur und der modifizierten Erlebnisart eines solchen; die Krankheit richte sich ihren Mann schon so zu, da? sie miteinander auskommen konnten, es gebe da sensorische Herabminderungen, Ausfalle, Gnadennarkosen, geistige und moralische Anpassungs- und Erleichterungsma?nahmen der Natur, die der Gesunde naiver Weise in Rechnung zu stellen vergesse. Das beste Beispiel sei all dies Brustkrankengesindel hier oben mit seinem Leichtsinn, seiner Dummheit und Liederlichkeit, seinem Mangel an gutem Willen zur Gesundheit. Und kurz, wenn der mitleidig verehrende Gesunde nur selber krank sei und nicht mehr gesund, so werde er schon sehen, da? Kranksein allerdings ein Stand fur sich sei, aber durchaus kein Ehrenstand, und da? er ihn viel zu ernst genommen habe.

Hier begehrte Anton Karlowitsch Ferge aufund verteidigte den Pleurachok gegen Verunglimpfungen und Despektierlichkeiten. Wie, was, zu ernst genommen sein Pleurachok? Da danke er, und da musse er bitten! Sein gro?er Kehlkopf und sein gutmutiger Schnurrbart wanderten auf und nieder, und er verbat sich jede Mi?achtung dessen, was er

damals durchgemacht. Er sei nur ein einfacher Mann, ein Versicherungsreisender, und alles Hohere liege ihm fern, - schon dieses Gesprach gehe weit uber seinen Horizont. Aber wenn Herr Settembrini etwa zum Beispiel auch den Pleurachok mit einbeziehen wolle in das, was er gesagt habe, - diese Kitzelholle mit dem Schwefelgestank und den drei farbigen Ohnmachten, - dann musse er schon bitten und danke ergebenst. Denn da sei von Herabminderungen und Gnadennarkosen und Phantasiefehlern auch nicht eine Spur die Rede gewesen, sondern das sei die gro?te und krasseste Hundsfotterei unter der Sonne, und wer es nicht erfahren habe, wie er, der konne sich von solcher Gemeinheit uberhaupt keine -

Ei ja, ei ja! sagte Settembrini. Herrn Ferges Collaps werde ja immer gro?artiger, je langer es her sei, da? er ihn erlitten habe, und nachgerade trage er ihn wie einen Heiligenschein um den Kopf. Er, Settembrini, achte die Kranken wenig, die auf Bewunderung Anspruch erhoben. Er sei selber krank, und nicht leicht; aber ohne Affektation sei er eher geneigt, sich dessen zu schamen. Ubrigens spreche er unpersonlich, philosophisch, und was er uber die Unterschiede in der Natur und Erlebnisart des Kranken und des Gesunden bemerkt habe, das habe schon Hand und Fu?, die Herren mochten nur einmal an die Geisteskrankheiten denken, an Halluzinationen zum Beispiel. Wenn einer seiner gegenwartigen Begleiter, der Ingenieur etwa, oder Herr Wehsal, heute abend in der Dammerung seinen verstorbenen Herrn Vater in einer Zimmerecke erblicken wurde, der ihn ansahe und zu ihm sprache, - so ware das fur den betreffenden Herrn etwas schlechthin Ungeheuerliches, ein im hochsten Grade erschutterndes und verstorendes Erlebnis, das ihn an seinen Sinnen, seiner Vernunft irre machen und ihn bestimmen wurde, alsbald das Zimmer zu raumen und sich in eine Nervenbehandlung zu geben. Oder etwa nicht? Aber der Scherz sei eben der, da? den Herren das gar nicht begegnen konne, da sie ja geistig gesund seien. Falls es ihnen aber begegnete, so waren sie nicht gesund, sondern krank und wurden nicht, wie ein Gesunder, das hei?t: mit Entsetzen und Rei?aus, darauf reagieren, sondern die Erscheinung hinnehmen, als ob sie ganz in der Ordnung sei, und sich in eine Konversation mit ihr einlassen, wie das eben die Art der Halluzinanten sei; und zu glauben, fur diese bedeute die Halluzination ein gesundes Schrecknis, das eben sei der Phantasiefehler, der dem Nichtkranken unterlaufe.

Herr Settembrini sprach sehr drollig und plastisch von dem Vaterin der Ecke. Alle mu?ten lachen, auch Ferge, obgleich er gekrankt war durch Geringschatzung seines infernalischen Abenteuers. Der Humanist seinerseits benutzte die erregte Laune, um die Nichtachtbarkeit der Halluzinanten und uberhaupt aller pazzi des weiteren zu erortern und zu vertreten: diese Leute, meinte er, lie?en sich ganz unerlaubt viel durchgehen und hatten es ofters sehr wohl in der Hand, ihrer Tollheit zu steuern, wie er selbst bei gelegentlichen Besuchen in Narrenspitalern gesehen. Denn wenn der Arzt oder ein Fremder auf der Schwelle erscheine, so stelle der Halluzinierende meist seine Grimassen, sein Reden und Fuchteln ein und benehme sich anstandig, solange er sich beobachtet wisse, um sich hernach wieder gehen zu lassen. Denn ein Sichgehenlassen bedeute die Narrheit zweifellos in vielen Fallen, dergestalt, da? sie als Zuflucht vor gro?em Kummer und als Schutzma?nahme einer schwachen Natur gegen uberschwere Schicksalsschlage diene, die klaren Sinnes zu bestehen ein solcher Mensch sich nicht zumute. Da aber konnte sozusagen jeder kommen, und er, Settembrini, habe schon manchen Narren einzig und allein durch seinen Blick, dadurch, da? er seinen Flausen eine Haltung unerbittlicher Vernunft entgegengesetzt habe, wenigstens vorubergehend zur Klarheit angehalten ...

Naphta lachte hohnisch, wahrend Hans Castorp beteuerte, Herrn Settembrini das Gesagte aufs Wort glauben zu wollen. Wenn er sich so vorstelle, wie dieser unter dem Schnurrbart gelachelt und den Schwachkopf mit unnachgiebiger Vernunft ins Auge gefa?t habe, so verstehe er wohl, wie der arme Kerl sich habe zusammennehmen und der Klarheit die Ehre geben mussen, wenn er naturlich auch wohl Herrn Settembrinis Erscheinen als hochst unwillkommene Storung empfunden haben werde ... Aber auch Naphta hatte Irrenanstalten besucht, er entsann sich eines Aufenthaltes in dem "Unruhigen Hause" einer solchen, und da hatten Szenen und Bilder sich ihm dargeboten, vor welchen, du lieber Gott, Herrn Settembrinis vernunftvoller Blick und zuchtiger Einflu? wohl kaum verfangen haben wurde: Dantische Szenen, groteske Bilder des Grauens und der Qual: die nackten Irren im Dauerbade hockend, in allen Posen der Seelenangst und des Entsetzensstupors, einige in lautem Jammer schreiend, andere mit erhobenen Armen und klaffenden Mundern ein Gelachter aussto?end, worin alle Ingredienzien der Holle sich gemischt hatten ...

"Aha", sagte Herr Ferge und erlaubte sich, sein eigenes Gelachter in Erinnerung zu bringen, das ihm beim Abschnappen entflohen war.

Und kurz denn, Herrn Settembrinis unerbittliche Padagogik hatte vollstandig einpacken konnen vor den Gesichten des Unruhigen Hauses, auf welche der Schauder religioser Ehrfurcht denn doch eine menschlichere Ruckwirkung gewesen ware, als jene hochnasige Vernunftmoralisterei, die unser hochstleuchtender Sonnenritter und Vikarius Salomonis hier dem Wahnsinn entgegenzusetzen beliebte.

Hans Castorp hatte keine Zeit, sich mit den Titeln zu beschaftigen, die Naphta Herrn Settembrini da wieder verlieh. Fluchtig nahm er sich vor, der Sache bei erster Gelegenheit auf den Grund zugehen. Im Augenblick aber verzehrte das laufende Gesprach seine Aufmerksamkeit ganz; denn Naphta erorterte eben mit Scharfe die allgemeinen Tendenzen, die den Humanisten bestimmten, der Gesundheit grundsatzlich alle Ehre zu geben und die Krankheit tunlichst zu entehren und zu verkleinern, - in welcher Stellungnahme allerdings eine bemerkenswerte und fast lobliche Selbstentau?erung sich kundtat, da Herr Settembrini selbst ja krank war. Seine Haltung aber, die durch ihre ungemeine Wurde nichts an Fehlerhaftigkeit einbu?te, ergab sich aus einer Achtung und Andacht vor dem Leibe, die gerechtfertigt doch nur gewesen ware, wenn der Leib sich noch in seinem gottesursprunglichen Zustande, statt in dem der Erniedrigung - in statu degradationis - befunden hatte. Denn unsterblich erschaffen, war er vermoge der Verschlimmerung der Natur durch die Erbsunde der Verderbtheit und Abscheulichkeit anheimgefallen, sterblich und verweslich, nicht anders, denn als Kerker und Strafzwinger der Seele zu betrachten und nur geeignet, das Gefuhl der Scham und Verwirrung, pudoris et confusionis sensum, wie der heilige Ignatius sagte, zu erwecken.

Diesem Gefuhle, rief Hans Castorp, habe bekanntlich auch der Humanist Plotinus Ausdruck verliehen. Aber Herr Settembrini, die Hand aus dem Schultergelenk uber den Kopf geworfen, forderte ihn auf, die Gesichtspunkte nicht zu vermengen und sich lieber rezeptiv zu verhalten.

Unterdessen leitete Naphta die Ehrfurcht, die das christliche Mittelalter dem Elend des Leibes gewidmet hatte, aus der religiosen Zustimmung ab, die es dem Anblick fleischlichen Jammers gezollt hatte. Denn die Schwaren des Korpers machten nicht nur dessen Gesunkenheit augenfallig, sondern entsprachen auch der venenosen Verderbtheit der

Seele auf eine erbauliche und geistliche Genugtuung erweckende Weise, - wahrend Leibesblute eine irrefuhrende und das Gewissen beleidigende Erscheinung war, welche durch tiefe Erniedrigung vor der Bresthaftigkeit zu verleugnen man au?erst guttat. Quis me liberabit de corpore mortis hujus? Wer wird mich befreien aus dem Korper dieses Todes? Das war die Stimme des Geistes, welche auf ewig die Stimme wahrer Menschheit war.

Nein, das war eine nachtige Stimme, nach Herrn Settembrinis bewegt vorgetragener Ansicht, - die Stimme einer Welt, der die Sonne der Vernunft und Menschlichkeit noch nicht erschienen war. Ja, obgleich venenos fur seine leibliche Person, hatte er seinen Geist gesund und unverpestet genug erhalten, um dem pfaffischen Naphta in Sachen des Leibes auf schone Art die Spitze zu bieten und sich uber die Seele lustig zu machen. Er verstieg sich dazu, den Menschenleib als den wahren Tempel Gottes zu feiern, worauf Naphta dieses Gewebe fur nichts weiter als fur den Vorhang zwischen uns und der Ewigkeit erklarte, was wieder zur Folge hatte, da? Settembrini ihm den Gebrauch des Wortes "Menschheit" endgultig verbot - und so fort.

Mit froststarren Mienen, barhaupt, in ihren Uberschuhen aus Gummistoff bald die hart knirschende und mit Asche bestreute Schneedecke tretend, dieden Burgersteig aufhohte, bald mit den Fu?en durch die lockeren Schneemassen des Fahrdammes pflugend, Settembrini in einer Winterjacke, deren Biberkragen und Armelrevers vermoge enthaarter Stellen gleichsam raudig wirkten, die er jedoch elegant zu tragen wu?te, Naphta in einem schwarzen, fu?langen und hochgeschlossenen Mantel, der mit Pelz nur gefuttert war und au?en nichts davon sehen lie?, stritten sie um diese Prinzipien mit der personlichsten Angelegentlichkeit, wobei es ofters geschah, da? sie sich nicht aneinander, sondern an Hans Castorp wandten, dem der eben Redende seine Sache vortrug und vorhielt, indem er auf den Gegner nur mit dem Haupte oder dem Daumen deutete. Sie hatten ihn zwischen sich, und er, den Kopf hin und her wendend, stimmte bald dem einen, bald dem anderen zu oder machte, stehen bleibend, den Oberkorper schrag zuruckgebeugt und mit der Hand im gefutterten Ziegenlederhandschuh gestikulierend, etwas Eigenes, selbstverstandlich hochst Unzulangliches geltend, indes Ferge und Wehsal die drei umkreisten, jetzt vor ihnen, dann hinter ihnen sich hielten oder auch eine Reihe mit ihnen bildeten, bis der Verkehr ihre Linie wieder aufloste.

Unter dem Einflu? ihrer Zwischenbemerkungen sprang die Debatte auf dinglichere Gegenstande ab, behandelte rasch nacheinander und unter wachsender Anteilnahme aller die Probleme der Feuerbestattung, der korperlichen Zuchtigung, der Folter und der Todesstrafe. Es war Ferdinand Wehsal, der die Prugelpon aufs Tapet gebracht hatte, und die Anregung stand ihm zu Gesichte, wie Hans Castorp fand. Es uberraschte nicht, da? Herr Settembrini sich in lauteren Worten und unter Anrufung der Menschenwurde gegen dies wuste Verfahren aussprach, in der Padagogik sowohl wie nun gar in der Rechtspflege, - wahrend es zwar ebenfalls nicht uberraschend geschah, aber doch durch eine gewisse dustere Frechheit verbluffte, da? Naphta der Bastonade zugunsten redete. Ihm zufolge war es absurd, hier von Menschenwurde zu faseln, denn unsere wahre Wurde beruhte im Geiste, nicht im Fleische, und da die Menschenseele nur zu sehr dazu neigte, ihre ganze Lebenslust aus dem Leibe zu saugen, so waren Schmerzen, die man diesem zufugte, ein durchaus empfehlenswertes Mittel, ihr die Lust am Sinnlichen zu versalzen und sie gleichsam aus dem Fleisch in den Geist zuruckzutreiben, damit dieser wieder zur Herrschaft gelange. Das Zuchtigungsmittel der Schlage als etwas besonders Schmahliches anzusehen, war ein recht alberner Vorwurf. Die heilige Elisabeth war von ihrem Beichtiger, Konrad von Marburg, aufs Blut gezuchtigt worden, wodurch "ihre Seel'", wie es in der Legende hie?, "entzuckt" worden war "bis in den dritten Chor", und sie selbst hatte eine arme alte Frau, die zu schlafrig war, um zu beichten, mit Ruten geschlagen. Wollte man sich im Ernst unterfangen, die Selbstgei?elungen, denen die Angehorigen gewisser Orden und Sekten sowie uberhaupt tiefer angelegte Personen sich unterzogen hatten, um das Prinzip des Geistigen stark in sich zumachen, barbarisch, unmenschlich zu nennen? Da? die gesetzliche Abschaffung der Schlage in den Landern, die sich vornehm dunkten, ein wirklicher Fortschritt sei, war ein Glaube, der durch seine Unerschutterlichkeit nur an Komik gewann.

Nun, so viel, meinte Hans Castorp, war absolut zuzugeben, da? innerhalb des Gegensatzes von Korper und Geist der Korper zweifellos das bose, teuflische Prinzip ... verkorperte, haha, also verkorperte, insofern als der Korper naturlich Natur war - naturlich Natur, das war auch nicht schlecht! - und als die Natur in ihrem Gegensatz zum Geiste, zur Vernunft entschieden bose war, - mystisch bose, so konnte man sagen, wenn man auf Grund seiner Bildung und seiner Kenntnisse etwas riskierte. Diesen Gesichtspunkt festgehalten, war es dann aber nur

folgerecht, den Korper dementsprechend zu behandeln, namlich ihm Disziplinierungsmittel angedeihen zu lassen, die man ebenfalls, wenn man noch einmal etwas riskierte, als mystisch bose bezeichnen konnte. Vielleicht, da? Herr Settembrini, wenn er damals, als die Schwache seines Korpers ihn gehindert hatte, zum Fortschrittskongre? nach Barcelona zu fahren, eine heilige Elisabeth zur Seite gehabt hatte ...

Man lachte, und da der Humanist auffahren wollte, erzahlte Hans Castorp rasch von Schlagen, die er selbst einst empfangen: auf seinem Gymnasium war in den unteren Klassen diese Strafe teilweise noch getatigt worden, es waren Retstocke vorhanden gewesen, und wenn auch die Lehrer an ihn nicht Hand hatten legen mogen, gesellschaftlicher Rucksicht halber, so war er doch von einem starkeren Mitschuler einmal geprugelt worden, einem gro?en Flegel, mit dem biegsamen Stock auf die Oberschenkel und die nur mit Strumpfen bekleideten Waden, und das hatte ganz schmahlich weh getan, infam, unverge?lich, geradezu mystisch, unter schandlich innigem Sto?schluchzen waren ihm die Tranen nur so hervorgesturzt vor Wut und ehrlosem Wehsal - Herr Wehsal mochte freundlichst das Wort entschuldigen -, und Hans Castorp hatte denn auch gelesen, da? in Zuchthausern bei Empfang der Prugelstrafe die starksten Raubmorder wie kleine Kinder flennten.

Wahrend Herr Settembrini sein Gesicht mit beiden Handen bedeckte, die in sehr abgeschabtem Leder steckten, fragte Naphta mit staatsmannischer Kalte, wie man renitente Verbrecher denn anders bandigen wolle, als durch Bock und Stock, die ubrigens in einem Zuchthause durchaus stilvoll am Platze seien; ein humanes Zuchthaus sei eine asthetische Halbheit, ein Kompromi?, und Herr Settembrini, obgleich er ein Schonredner sei, verstehe im Grunde nichts von Schonheit. Was nun aber gar die Padagogik betraf, so wurzelte, wenn man Naphta horte, der Menschenwurde-Begriff derer, die das korperliche Zuchtmittel daraus verbannen wollten, in dem Liberal-Individualismus der burgerlichen Humanitatsepoche, einem aufgeklarten Absolutismus des Ich, der im Begriffe war, abzusterben und neu heraufziehenden, weniger weichlichen Gesellschaftsideen Platz zu machen, Ideen der Bindung und Beugung, des Zwanges und des Gehorsams, bei denen es ohne heilige Grausamkeit nicht abgehe,und die auch die Zuchtigung des Kadavers wieder mit anderen Augen werde betrachten lassen.

"Daher der Name Kadavergehorsam!" hohnte Settembrini; und da

Naphta hinwarf, da?, da Gott unsern Leib zur Strafe der Sunde der gra?lichen Schmach der Verwesung anheimgebe, es am Ende kein Majestatsverbrechen sei, wenn derselbe Leib auch einmal Prugel bekomme, - so fiel man im Nu auf die Leichenverbrennung.

Settembrini feierte sie. Jener Schmach konne abgeholfen werden, sagte er froh. Die Menschheit sei aus Grunden der Zweckma?igkeit wie auch bewogen durch ideelle Motive im Begriffe, ihr abzuhelfen. Und er erklarte sich fur mitbeteiligt an den Vorbereitungen zu einem internationalen Kongre? fur Feuerbestattung, dessen Schauplatz wahrscheinlich Schweden sein wurde. Die Ausstellung eines musterhaften, gema? aller bisher gemachten Erfahrung eingerichteten Krematoriums nebst Urnenhalle war geplant, und man durfte sich weitgreifender Anregungen und Ermutigungen davon versehen. Was fur ein zopfig-obsoletes Verfahren, die Erdbestattung, - angesichts aller neuzeitlichen Umstande! Die Ausdehnung der Stadte! Die Verdrangung der raumverzehrenden sogenannten Friedhofe an die Peripherie! Die Bodenpreise! Die Ernuchterung des Bestattungsvorganges durch notwendige Benutzung der modernen Verkehrsmittel! Herr Settembrini wu?te uber dies alles nuchtern Treffendes vorzubringen. Er scherzte uber die Figur des tiefgebeugten Witwers, der alltaglich zum Grabe der teuren Abgeschiedenen pilgerte, um an Ort und Stelle mit ihr Zwiesprache zu halten. Ein solcher Idylliker mu?te vor allem am kostbarsten Lebensgute, namlich der Zeit, sich eines befremdlichen Uberflusses erfreuen, und ubrigens wurde der Massenbetrieb des modernen Zentralfriedhofes ihm die atavistische Gefuhlsseligkeit schon verleiden. Die Vernichtung des Leichnams durch Feuersglut, - welche reinliche, hygienische und wurdige, ja heldische Vorstellung war das, im Vergleich mit derjenigen, ihn der elenden Selbstzersetzung und der Assimilation durch niedere Lebewesen zu uberlassen! Ja, auch das Gemut kam besser auf seine Rechnung bei dem neuen Verfahren, das menschliche Bedurfnis nach Dauer. Denn was im Feuer verging, das waren die uberhaupt veranderlichen, die schon bei Lebzeiten dem Stoffwechsel unterworfenen Bestandteile des Korpers; diejenigen dagegen, die am wenigsten an diesem Strome teilnahmen, und die den Menschen fast ohne Veranderung durch sein erwachsenes Dasein begleiteten, sie waren zugleich die feuerbestandigen, sie bildeten die Asche, und mit ihr sammelten die Fortlebenden das, was an dem Geschiedenen unverganglich gewesen war.

"Sehr hubsch", sagte Naphta; oh, das sei sehr, sehr artig. Des Menschen unverganglicher Teil, die Asche.

Ah, selbstverstandlich, Naphta beabsichtigte, die Menschheit in ihrer irrationalen Stellung zu den biologischen Tatsachen festzuhalten, er behauptete die primitiv religiose Stufe, auf welcher der Tod ein Schrecknis war und von Schauern so geheimnisvoller Art umweht, da? es sich verbot, den Blick klarer Vernunft auf dies Phanomen zu richten. Welche Barbarei! Das Todesgrauen stammte aus Epochen niederster Kultur, wo der gewaltsame Tod die Regel gewesen, und das Entsetzliche, das diesem in der Tat anhaftete, hatte sich fur das Gefuhldes Menschen auf lange mit dem Todesgedanken uberhaupt vermahlt. Immer mehr jedoch wurde dank der Entwicklung der allgemeinen Gesundheitslehre und der Festigung der personlichen Sicherheit der naturliche Tod zur Norm, und dem modernen Arbeitsmenschen erschien der Gedanke ewiger Ruhe nach sachgema?er Erschopfung seiner Krafte nicht im geringsten als grauenhaft, sondern vielmehr als normal und wunschenswert. Nein, der Tod war weder ein Schrecknis noch ein Mysterium, er war eine eindeutige, vernunftige, physiologisch notwendige und begru?enswerte Erscheinung, und es ware Raub am Leben gewesen, langer, als gebuhrlich, in seiner Betrachtung zu verharren. Darum war denn auch geplant, jenem Musterkrematorium und der zugehorigen Urnenhalle, der "Halle des Todes" also, eine "Halle des Lebens" anzubauen, worin Architektur, Malerei, Skulptur, Musik und Dichtkunst sich vereinigen sollten, um den Sinn des Fortlebenden von dem Erlebnis des Todes, von stumpfer Trauer und tatenloser Klage auf die Guter des Lebens zu lenken ...

"Eiligst!" spottete Naphta. "Damit er den Todesdienst nur ja nicht bis zur Ungebuhr treibt, ja nicht zu weit geht in der Andacht vor einer so simplen Tatsache, ohne die es freilich weder Architektur, noch Malerei, noch Skulptur, noch Musik, noch Dichtkunst uberhaupt auch nur gabe."

"Er desertiert zur Fahne", sagte Hans Castorp traumerisch.

"Die Unverstandlichkeit Ihrer Au?erung, Ingenieur," antwortete ihm Settembrini, "la?t ihre Tadelhaftigkeit durchschimmern. Das Erlebnis des Todes mu? zuletzt das Erlebnis des Lebens sein, oder es ist nur ein Spuk."

"Wird man obszone Symbole anbringen in der 'Halle des Lebens', wie auf manchen antiken Sargen?" fragte Hans Castorp ernsthaft.

Jedenfalls wurde es fette Sinnenweide geben, stellte Naphta fest. In

Marmor und Olfarbe wurde ein klassizistischer Geschmack den Leib prangen lassen, diesen Sundenleib, den man der Verwesung entzog, was nicht wundernehmen konnte, da man ihn vor lauter Zartlichkeit nicht einmal mehr zuchtigen lassen wollte ...

Hier fiel Wehsal mit dem Thema der Folter ein; es stand ihm zu Gesichte. Das peinliche Verhor, - wie die Herren daruber dachten. Er, Ferdinand, hatte auf Geschaftsreisen immer gern die Gelegenheit benutzt, an alten Kulturstatten jene verschwiegenen Orte zu besichtigen, an denen einst diese Art von Gewissenserforschung geubt worden war. So kannte er die Folterkammern von Nurnberg, von Regensburg, zu Bildungszwecken hatte er sich naher dort umgesehen. Allerdings, dort hatte man dem Leibe um der Seele willen recht unzartlich zugesetzt, auf mancherlei sinnreiche Weise. Und nicht einmal Geschrei hatte es gegeben. Die Birne in den offenen Mund gerammt, die beruhmte Birne, an sich schon kein Leckerbissen, - und dann hatte Stille geherrscht in aller Geschaftigkeit ...

"Porcheria", murmelte Settembrini.

Ferge au?erte, die Birne in Ehren und ebenso die ganze stille Geschaftigkeit. Aber etwas Gemeineres, als das Abtasten der Pleura, habe auch damals niemand ersinnen konnen.

Das war zu seiner Heilung geschehen!

Die verstockte Seele, dieverletzte Gerechtigkeit rechtfertigten nicht weniger eine vorubergehende Mitleidlosigkeit. Zweitens war die Folter ein Ergebnis rationalen Fortschritts gewesen.

Naphta war wohl nicht vollig bei Sinnen.

Doch, er war es so ziemlich. Herr Settembrini war Schongeist, und die mittelalterliche Geschichte des Rechtsganges war ihm offenbar im Augenblick nicht ubersichtlich. Sie war in der Tat ein Proze? fortschreitender Rationalisierung und zwar so, da? allmahlich, auf Grund von Vernunfterwagungen, Gott aus der Rechtspflege ausgeschaltet worden war. Das Gottesgericht war gefallen, weil man hatte bemerken mussen, da? der Starkere siege, auch wenn er im Unrecht sei. Leute von der Art des Herrn Settembrini, Zweifler, Kritiker, hatten diese Wahrnehmung gemacht und es durchgesetzt, da? an die Stelle des alten naiven Rechtsganges der Inquisitionsproze? trat, welcher sich auf Gottes Eingreifen zugunsten der Wahrheit nicht langer verlie?, sondern darauf abzielte, vom Angeklagten das Gestandnis der Wahrheit zu erlangen.

Keine Verurteilung ohne Gestandnis, - man mochte sich nur auch heute noch im Volke umhoren: der Instinkt sa? tief, die Beweiskette mochte noch so geschlossen sein, die Verurteilung wurde als illegitim empfunden, wenn das Gestandnis fehlte. Wie es erwirken? Wie die Wahrheit uber alle blo?en Anzeichen, allen blo?en Verdacht hinaus ermitteln? Wie einem Menschen, der sie verhehlte, verweigerte, ins Herz, ins Hirn blicken? War der Geist boswillig, so blieb nichts ubrig, als sich an den Korper zu wenden, dem man beikommen konnte. Die Folter, als Mittel, das unentbehrliche Gestandnis herbeizufuhren, war vernunftgeboten. Wer aber den Gestandnisproze? verlangt und eingefuhrt hatte, das war Herr Settembrini gewesen, und also war er auch Urheber der Folter.

Der Humanist bat die ubrigen Herren, das nicht zu glauben. Es seien diabolische Scherze. Wenn alles sich verhalten hatte, wie Herr Naphta lehrte, wenn wirklich die Vernunft Erfinderin des Gra?lichen gewesen sei, so beweise das eben nur, wie bitter sie allezeit der Stutze und Aufklarung bedurfe, wie wenig die Anbeter des Naturinstinktes Ursache hatten, zu befurchten, es konne je zu vernunftig zugehen auf Erden! Allein der Vorredner sei sicherlich fehlgegangen. Jener Rechtsgreuel konne schon darum nicht auf die Vernunft zuruckgefuhrt werden, weil sein Urgrund der Hollenglaube gewesen sei. Man moge sich doch umsehen in Museen und Marterkammern: dies Zwacken, Strecken, Schrauben und Sengen sei ja offenbar einer kindlich verblendeten Phantasie entsprungen, dem Wunsche nach frommer Nachahmung dessen, was an den jenseitigen Statten ewiger Pein geschah. Uberdies habe man dem Missetater wohl gar zu helfen gemeint. Man habe angenommen, seine eigene arme Seele ringe nach dem Bekenntnis, und nur das Fleisch als Prinzip des Bosen setze sich seinem besseren Willen entgegen. So habe man ihm geradezu einen Liebesdienst zu erweisen geglaubt, indem man ihm durch die Tortur das Fleisch brach. Asketischer Irrwahn ...

Ob auch die alten Romer darin befangen gewesen seien.

DieRomer? Ma che!

Indessen hatten auch sie die Folter als Proze?mittel gekannt.

Logische Verlegenheit ... Hans Castorp suchte daruber hinwegzuhelfen, indem er selbstherrlich und als konne es seine Sache sein, ein solches Gesprach zu lenken, das Problem der Todesstrafe in die Debatte warf. Die Folter war abgeschafft, obgleich ja die Untersuchungsrichter noch

immer ihre Praktiken hatten, den Angeklagten murbe zu machen. Aber die Todesstrafe schien unsterblich, nicht zu entbehren. Die allerzivilisiertesten Volker hielten daran fest. Die Franzosen hatten mit ihren Deportationen sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Man wu?te einfach nicht, was man praktisch mit gewissen menschenahnlichen Wesen anfangen sollte, au?er, sie einen Kopf kurzer zu machen.

Das seien keine "menschenahnlichen Wesen", belehrte ihn Herr Settembrini; es seien Menschen, wie er, der Ingenieur, und wie der Redende selbst, - nur willensschwach und Opfer einer fehlerhaften Gesellschaft. Und er erzahlte von einem Schwerverbrecher, einem vielfachen Morder, jenem Typ zugehorig, den die Staatsanwalte in ihren Pladoyers als "vertiert", als "Bestien in Menschengestalt" zu bezeichnen pflegten. Dieser Mann hatte die Wande seiner Zelle mit Versen bedeckt. Und sie waren keineswegs schlecht gewesen, diese Verse, - viel besser als die, welche von Staatsanwalten wohl gelegentlich angefertigt wurden.

Das werfe ein eigentumliches Licht auf die Kunst, erwiderte Naphta. Aber sonst sei es in keiner Hinsicht bemerkenswert.

Hans Castorp hatte erwartet, da? Herr Naphta die Hinrichtung werde erhalten wissen wollen. Naphta, meinte er, war wohl ebenso revolutionar wie Herr Settembrini, aber er sei es im erhaltenden Sinn, ein Revolutionar der Erhaltung.

Die Welt, lachelte Herr Settembrini selbstsicher, werde uber die Revolution des antihumanen Ruckschlages zur Tagesordnung ubergehen. Lieber noch verdachtige Herr Naphta die Kunst, ehe er zugebe, da? sie auch den Verworfensten zum Menschen weihe. Mit solchem Fanatismus sei lichtsuchende Jugend unmoglich zu gewinnen. Eine internationale Liga, deren Ziel die gesetzliche Abschaffung der Todesstrafe in allen gesitteten Landern sei, habe sich soeben gebildet. Herr Settembrini habe die Ehre, ihr anzugehoren. Der Schauplatz ihres ersten Kongresses sei noch zu bestimmen, aber die Menschheit habe Grund, zu vertrauen, da? die Redner, die sich dabei wurden vernehmen lassen, mit Argumenten gewappnet sein wurden! Und er fuhrte die Argumente an, darunter das von der immer vorhandenen Moglichkeit des Rechtsirrtums, des Justizmordes, sowie das von der niemals fahren zu lassenden Hoffnung auf Besserung; sogar "die Rache ist mein" zitierte er, lehrte auch, da? der Staat, wenn es ihm um Veredelung und nicht um Gewalt zu tun sei, nicht Boses mit Bosem vergelten durfe, und verwarf den Begriff der

"Strafe", nachdem er vom Boden eines wissenschaftlichen Determinismus aus denjenigen der "Schuld" bekampft hatte.

Darauf mu?te es "lichtsuchende Jugend" mit ansehen, wie Naphta den Argumenten, einem nach dem anderen, den Hals umdrehte. Er machte sich lustig uber die Blutscheu und die Lebensverehrungdes Menschenfreundes, behauptete, da? diese Verehrung des Einzellebens nur den allerplattesten burgerlichen Regenschirmzeitlauften zugehore, da? aber unter leidlich leidenschaftlichen Umstanden, sobald eine einzige Idee, die uber die der "Sicherheit" hinausgehe, irgend etwas Uberpersonliches, Uberindividuelles also, im Spiele sei - und das sei der allein menschenwurdige, im hoheren Sinne folglich der normale Zustand - allezeit das Einzelleben nicht nur dem hoheren Gedanken ohne Federlesen geopfert, sondern auch freiwillig, vom Individuum aus, unbedenklich in die Schanze geschlagen werden wurde. Die Philanthropie seines Herrn Widersachers, sagte er, arbeite darauf hin, dem Leben alle schweren und todernsten Akzente zu nehmen; auf die Kastration des Lebens gehe sie aus, auch mit dem Determinismus ihrer sogenannten Wissenschaft. Aber die Wahrheit sei, da? der Begriff der Schuld durch den Determinismus nicht nur nicht abgeschafft werde, sondern sogar durch ihn noch an Schwere und Schaudern gewonne.

Das war nicht schlecht. Ob er etwa verlange, da? das unselige Opfer der Gesellschaft sich ernstlich schuldig fuhle und den Weg zur Blutbuhne aus Uberzeugung gehe?

Allerdings. Der Verbrecher sei von seiner Schuld durchdrungen wie von sich selbst. Denn er sei, wie er sei, und konne und wolle nicht anders sein, und dies eben sei die Schuld. Herr Naphta verlegte Schuld und Verdienst aus dem Empirischen ins Metaphysische. Im Tun, im Handeln herrsche freilich Determination, hier gebe es keine Freiheit, wohl aber im Sein. Der Mensch sei, wie er habe sein wollen und bis zu seiner Vertilgung sein zu wollen nicht aufhoren werde; er habe eben "fur sein Leben" gern getotet und bezahle folglich mit seinem Leben nicht zu hoch. Er moge sterben, da er die tiefste Lust gebu?t habe.

Die tiefste Lust?

Die tiefste.

Man kniff die Lippen zusammen. Hans Castorp hustelte. Wehsal hatte den Unterkiefer schief gestellt. Herr Ferge seufzte. Settembrini bemerkte fein:

"Man sieht, es gibt eine Art, zu verallgemeinern, die den Gegenstand personlich farbt. Sie hatten Lust, zu toten?"

"Das geht Sie nichts an. Hatte ich es aber getan, so wurde ich einer humanitaren Unwissenheit ins Gesicht lachen, die mich bis zu meinem naturlichen Ende mit Linsen futtern wollte. Es hat keinerlei Sinn, da? der Morder den Gemordeten uberlebt. Sie haben, unter vier Augen, allein miteinander, wie zwei Wesen es nur bei einer zweiten, verwandten Gelegenheit noch sind, der eine duldend, der andere handelnd, ein Geheimnis geteilt, das sie auf immer verbindet. Sie gehoren zusammen."

Settembrini bekannte kuhl, da? ihm das Organ fur diesen Todes- und Mordmystizismus fehle und da? er es auch nicht vermisse. Nichts gegen die religiosen Talente des Herrn Naphta, - sie seien den seinen unzweifelhaft uberlegen, allein er konstatiere seine Neidlosigkeit. Ein unuberwindliches Reinlichkeitsbedurfnis halte ihn einer Sphare fern, wo jene Reverenz vor dem Elend, von der experimentierende Jugend vorhin gesprochen,offenbar nicht nur in physischer, sondern auch in seelischer Beziehung herrsche, kurz, einer Sphare, wo Tugend, Vernunft und Gesundheit fur nichts galten, Laster und Krankheit dagegen in wunder welchen Ehren stunden.

Naphta bestatigte, da? Tugend und Gesundheit in der Tat kein religioser Zustand seien. Es sei viel gewonnen, sagte er, wenn klargestellt sei, da? Religion mit Vernunft und Sittlichkeit uberhaupt nichts zu tun habe. Denn, fugte er hinzu, sie habe nichts mit dem Leben zu tun. Das Leben ruhe auf Bedingungen und Grundlagen, die teils der Erkenntnislehre, teils dem moralischen Gebiet angehorten. Die ersteren hie?en Zeit, Raum, Kausalitat, die letzteren Sittlichkeit und Vernunft. All diese Dinge seien dem religiosen Wesen nicht nur fremd und gleichgultig, sondern sogar feindlich entgegengesetzt; denn sie seien es eben, die das Leben ausmachten, die sogenannte Gesundheit, das hei?e: die Erzphilisterei und Urburgerlichkeit, als deren absolutes und zwar absolut geniales Gegenteil die religiose Welt eben zu bestimmen sei. Ubrigens wolle er, Naphta, der Lebenssphare die Moglichkeit des Genies nicht vollig absprechen. Es gebe eine Lebensburgerlichkeit, deren monumentaler Biedersinn unbestreitbar sei, eine Philistermajestat, die man verehrungswurdig finden moge, sofern man festhalte, da? sie in ihrer breitbeinig aufgepflanzten Wurde, Hande auf dem Rucken und Brust heraus, die inkarnierte Irreligiositat bedeute.

Hans Castorp hob den Zeigefinger, wie in der Schule. Er wunsche nach

keiner Seite anzusto?en, sagte er, aber hier sei offenbar vom Fortschritt die Rede, vom menschlichen Fortschritt, also gewisserma?en von Politik und der beredsamen Republik und der Zivilisation des gebildeten Westens, und da meine er nun, da? der Unterschied, oder, wenn Herr Naphta denn durchaus wolle, der Gegensatz von Leben und Religion auf den von Zeit und Ewigkeit zuruckzufuhren sei. Denn Fortschritt sei nur in der Zeit; in der Ewigkeit sei keiner und auch keine Politik und Eloquenz. Dort lege man, sozusagen, in Gott den Kopf zuruck und schlie?e die Augen. Und das sei der Unterschied von Religion und Sittlichkeit, konfus ausgedruckt.

Die Naivitat seiner Ausdrucksweise, sprach Settembrini, sei weniger bedenklich, als seine Scheu vor dem Ansto? und seine Neigung, dem Teufel Zugestandnisse zu machen.

Na, uber den Teufel hatten sie ja schon vor Jahr und Tag diskuriert, Herr Settembrini und er, Hans Castorp. "O Satana, o ribellione!" Welchem Teufel er denn nun eigentlich Zugestandnisse gemacht habe. Dem mit der Rebellion, der Arbeit und der Kritik oder dem anderen? Es sei ja lebensgefahrlich, - ein Teufel rechts und einer links, wie man in's Teufels Namen da durchkommen solle!

Auf diese Weise, sagte Naphta, sei die Sachlage, wie Herr Settembrini sie zu sehen wunsche, nicht richtig gekennzeichnet. Das Entscheidende in seinem Weltbilde sei, da? er Gott und den Teufel zu zwei verschiedenen Personen oder Prinzipien mache und "das Leben", ubrigens nachstreng mittelalterlichem Vorbilde, als Streitobjekt zwischen sie lege. In Wirklichkeit aber seien sie eins und einig dem Leben entgegengesetzt, der Lebensburgerlichkeit, der Ethik, der Vernunft, der Tugend, - als das religiose Prinzip, das sie gemeinsam darstellten.

"Was fur ein ekelhafter Mischmasch - che guazzabuglio proprio stomachevole!" rief Settembrini. Gut und Bose, Heiligkeit und Missetat, alles vermengt! Ohne Urteil! Ohne Willen! Ohne die Fahigkeit, zu verwerfen, was verworfen sei! Ob Herr Naphta denn wisse, was er leugne, indem er vor den Ohren der Jugend Gott und Teufel zusammenwerfe und im Namen dieser wusten Zweieinigkeit das ethische Prinzip verneine! Er leugne den Wert, - jede Wertsetzung, - abscheulich zu sagen. Schon, es gab also nicht Gut noch Bose, sondern nur das sittlich ungeordnete All! Es gab auch nicht den Einzelnen in seiner kritischen Wurde, sondern nur die alles verschlingende und ausgleichende Gemeinschaft, den mystischen Untergang in ihr! Das

Individuum ...

Kostlich, da? Herr Settembrini sich wieder einmal fur einen Individualisten hielt! Um es zu sein, mu?te man jedoch den Unterschied von Sittlichkeit und Gluckseligkeit kennen, was bei dem Herrn Illuminaten und Monisten schlechterdings nicht der Fall war. Wo das Leben stupiderweise als Selbstzweck angenommen und nach einem daruber hinausgehenden Sinn und Zweck gar nicht gefragt wurde, da herrschte Gattungs- und Sozialethik, Wirbeltiermoralitat, aber kein Individualismus, - als welcher einzig und allein im Bereich des Religiosen und Mystischen, im sogenannten "sittlich ungeordneten All", zu Hause war. Was sie denn sei und wolle, die Sittlichkeit des Herrn Settembrini! Sie sei lebengebunden, also nichts als nutzlich, also unheroisch in erbarmungswurdigem Grade. Sie sei dazu da, da? man alt und glucklich, reich und gesund damit werde und damit Punktum. Diese Vernunft- und Arbeitsphilisterei gelte ihm als Ethik. Was dagegen Naphta betreffe, so erlaube er sich wiederholt, sie als schabige Lebensburgerlichkeit zu kennzeichnen.

Settembrini ersuchte um Ma?igung, doch war seine eigene Stimme leidenschaftlich bewegt, als er es unertraglich fand, da? Herr Naphta bestandig von "Lebensburgerlichkeit" in einem, Gott wu?te, warum, aristokratisch wegwerfenden Tone redete, wie als ob das Gegenteil - und man wu?te ja, was das Gegenteil des Lebens sei - etwa gar das Vornehmere gewesen ware!

Neue Schlag- und Stichworte! Jetzt waren sie bei der Vornehmheit, der aristokratischen Frage! Hans Castorp, uberhitzt und erschopft von Frost und Problematik, taumeligen Urteils auch in Hinsicht auf die Verstandlichkeit oder fiebrige Gewagtheit seiner eigenen Ausdrucksweise, bekannte mit lahmen Lippen, er habe sich den Tod von jeher mit einer gestarkten spanischen Krause vorgestellt, oder allenfalls, in kleiner Uniform sozusagen, mit Vatermordern, das Leben dagegen mit so einem gewohnlichen modernen kleinen Stehkragen ... Doch erschrak er selbst uber das Trunken-Traumerische und Gesellschaftsunfahige seiner Rede und versicherte, nicht dies habe er sagen wollen. Aber ob es sichnicht so verhalte, da? es Leute gebe, gewisse Menschen, die man sich nicht tot vorzustellen vermoge, und zwar, weil sie so besonders ordinar seien! Das solle hei?en: derma?en lebenstuchtig muteten sie an, da? es einem vorkomme, als konnten sie niemals sterben, als seien sie der Weihe des Todes nicht wurdig.

Herr Settembrini hoffte sich nicht zu tauschen in der Annahme, da? Hans Castorp dergleichen nur sage, damit man ihm widerspreche. Der junge Mann werde ihn immer bereit finden, ihm in der geistigen Abwehr solcher Anfechtungen zur Hand zu gehen. "Lebenstuchtig" sage er? Und gebrauche dies Wort in einem abschatzig gemeinen Sinn? "Lebenswurdig!" Dieses Wort moge er dafur einsetzen, - und die Begriffe wurden sich ihm zu wahrer und schoner Ordnung fugen. "Lebenswurdigkeit": und sogleich, auf dem Wege leichtester und rechtma?igster Assoziation, stelle sich auch die Idee der Liebenswurdigkeit ein, so innig nahe verwandt jener ersten, da? man sagen durfe, nur das wahrhaft Lebenswurdige sei auch wahrhaft liebenswurdig. Beides zusammen aber, das Lebens- und also Liebenswurdige, mache das aus, was man das Vornehme nenne.

Hans Castorp fand das reizend und uberaus horenswert. Ganz gewonnen, sagte er, habe ihn Herr Settembrini mit seiner plastischen Theorie. Denn man moge sagen, was man wolle - und einiges sagen lasse sich ja, zum Beispiel, da? Krankheit ein erhohter Lebenszustand sei und also was Festliches habe -: soviel sei gewi?, da? Krankheit eine Uberbetonung des Korperlichen bedeute, den Menschen gleichsam ganz und gar auf seinen Korper zuruckweise und zuruckwerfe und so der Wurde des Menschen bis zur Vernichtung abtraglich sei, indem sie ihn namlich zum blo?en Korper herabwurdige. Krankheit sei also unmenschlich.

Krankheit sei hochst menschlich, setzte Naphta sofort dagegen; denn Mensch sein, hei?e krank sein. Allerdings, der Mensch sei wesentlich krank, sein Kranksein eben mache ihn zum Menschen, und wer ihn gesund machen, ihn veranlassen wolle, seinen Frieden mit der Natur zu schlie?en, "zuruck zur Natur zu kehren"(wahrend er doch nie naturlich gewesen sei), alles was sich heute von Regeneratoren, Rohkostlern, Freiluftlern, Sonnenbademeistern und so fort prophetisch umhertreibe, jede Art Rousseau also erstrebe nichts als seine Entmenschung und Vertierung ... Menschlichkeit? Vornehmheit? Der Geist sei es, was den Menschen, dies von der Natur in hohem Grade geloste, in hohem Ma?e sich ihr entgegengesetzt fuhlende Wesen vor allem ubrigen organischen Leben auszeichne. Im Geist also, in der Krankheit beruhe die Wurde des Menschen und seine Vornehmheit; er sei, mit einem Worte, in desto hoherem Grade Mensch, je kranker er sei, und der Genius der Krankheit sei menschlicher, als der der Gesundheit. Es befremde, da? jemand, der

den Menschenliebhaber spiele, vor solchen Grundwahrheiten der Menschlichkeit die Augen verschlie?e. Herr Settembrini fuhre den Fortschritt im Munde. Als ob aber nicht derFortschritt, so weit dergleichen existiere, einzig der Krankheit verdankt werde, das hei?e: dem Genie, - als welches nichts anderes als eben Krankheit sei! Als ob nicht die Gesunden allezeit von den Errungenschaften der Krankheit gelebt hatten! Es habe Menschen gegeben, die bewu?t und willentlich in Krankheit und Wahnsinn gegangen seien, um der Menschheit Erkenntnisse zu gewinnen, die zur Gesundheit wurden, nachdem sie durch Wahnsinn errungen worden, und deren Besitz und Nutznie?ung nach jener heroischen Opfertat nicht langer durch Krankheit und Wahnsinn bedingt sei. Das sei der wahre Kreuzestod ...

Aha, dachte Hans Castorp, du inkorrekter Jesuit mit deinen Kombinationen und deiner Auslegung des Kreuzestodes! Man sieht schon, warum du nicht Pater geworden bist, joli jesuite a la petite tache humide! Nun brulle du, Lowe! wandte er sich innerlich an Herrn Settembrini. Und dieser "brullte", indem er das alles, was Naphta eben behauptet, fur Blendwerk, Rabulistik, Weltverwirrung erklarte. "Sagen Sie es doch," rief er dem Widersacher zu, "sagen Sie es doch, in Ihrer Verantwortlichkeit als Erzieher, sagen Sie es vor den Ohren bildsamer Jugend gerade heraus, da? Geist - Krankheit sei! Wahrhaftig, damit werden Sie sie zum Geiste ermutigen, sie fur den Glauben an ihn gewinnen! Erklaren Sie andererseits Krankheit und Tod fur vornehm, Gesundheit und Leben aber fur gemein, - das ist die sicherste Methode, den Zogling zum Menschheitsdienste anzuhalten! Da vero, e criminoso!" Und wie ein Ritter trat er fur den Adel der Gesundheit und des Lebens ein, fur denjenigen, welchen die Natur verlieh, und dem es um Geist nicht bange zu sein brauchte. Die Gestalt! sagte er, und Naphta sagte hochtrabender Weise: "Der Logos!" Aber der, welcher vom Logos nichts wissen wollte, sagte "Die Vernunft!", wahrend der Mann des Logos "die Passion" verfocht. Das war konfus. "Das Objekt!" sagte der eine, und der andere: "Das Ich!" Schlie?lich war sogar von "Kunst" auf der einen und "Kritik" auf der anderen Seite die Rede und jedenfalls immer wieder von "Natur" und "Geist" und davon, was das Vornehmere sei, vom "aristokratischen Problem". Aber dabei war keine Ordnung und Klarung, nicht einmal eine zweiheitliche und militante; denn alles ging nicht nur gegeneinander, sondern auch durcheinander, und nicht nur wechselseitig widersprachen sich die Disputanten, sondern sie lagen in Widerspruch auch mit sich selbst. Settembrini hatte oft genug

rednerische Vivats auf die "Kritik" ausgebracht, wo er nun das Gegenteil davon, welches die "Kunst" sein sollte, als das adelige Prinzip in Anspruch nahm; und wahrend Naphta mehr als einmal als Verteidiger des "naturlichen Instinktes" aufgetreten war, gegen Settembrini, der Natur als die "dumme Macht", als blo?es Faktum und Fatum traktiert hatte, wovor Vernunft und Menschenstolz nicht abdanken durften, fa?te jener nun Posto auf seiten desGeistes und der "Krankheit", allwo Adel und Menschheit einzig zu finden seien, indes dieser sich zum Anwalt der Natur und ihres Gesundheitsadels aufwarf, uneingedenk aller Emanzipation. Nicht weniger verworren stand es mit dem "Objekt" und dem "Ich", ja, hier war die Konfusion, die ubrigens immer dieselbe war, sogar am heillosesten und buchstablich derart, da? niemand mehr wu?te, wer eigentlich der Fromme und wer der Freie war. Naphta verbot Herrn Settembrini mit scharfen Worten, sich einen "Individualisten" zu nennen, denn er leugne den Gegensatz von Gott und Natur, verstehe unter der Frage des Menschen, dem innerpersonlichen Konflikt, einzig denjenigen der Einzel- und der gesamtheitlichen Interessen und sei also auf eine lebengebundene und burgerliche Sittlichkeit eingeschworen, die das Leben als Selbstzweck nehme, unheroischerweise auf den Nutzen abziele und im Zweck des Staates das moralische Gesetz erblicke; - wahrend dagegen er, Naphta, wohl wissend, da? das innermenschliche Problem vielmehr auf dem Widerstreit des Sinnlichen und des Ubersinnlichen beruhe, den wahren, den mystischen Individualismus vertrete und recht eigentlich der Mann der Freiheit und des Subjektes sei. War er das aber, wie, dachte Hans Castorp, verhielt es sich dann mit der "Anonymitat und Gemeinsamkeit", - um nur gleich eine Unstimmigkeit beispielsweise hervorzuheben? Wie ferner mit den markanten Dingen, die er im Kolloquium mit Pater Unterpertinger uber die "Katholizitat" des Staatsphilosophen Hegel zum besten gegeben, uber die innere Verbundenheit der Begriffe "Politisch" und "Katholisch" und die Kategorie des Objektiven, die sie gemeinsam bildeten? Hatten nicht Staatskunst und Erziehung immer das spezielle Betatigungsfeld von Naphtas Orden abgegeben? Und was fur eine Erziehung! Herr Settembrini war gewi? ein eifriger Padagog, eifrig bis zum Storenden und Lastigen; aber in Hinsicht auf asketisch ich-verachterische Sachlichkeit konnten seine Prinzipien mit denen Naphtas uberhaupt keinen Wettstreit wagen. Absoluter Befehl! Eiserne Bindung! Vergewaltigung! Gehorsam! Der Terror! Das mochte wohl seine Ehre haben, aber auf die kritische Wurde des Einzelwesens nahm es nur wenig Bedacht. Es war das

Exerzierreglement des preu?ischen Friederich und des spanischen Loyola, fromm und stramm bis aufs Blut; wobei sich nur eines fragte: wie namlich Naphta eigentlich zur blutigen Unbedingtheit kam, da er eingestandenerma?en an gar keine reine Erkenntnis und voraussetzungslose Forschung, kurz, nicht an die Wahrheit glaubte, die objektive, wissenschaftliche Wahrheit, der nachzustreben fur Lodovico Settembrini das oberste Gesetz aller Menschensittlichkeit bedeutete. Das war fromm und streng von Herrn Settembrini, wahrend es von Naphta lax und liederlich war, die Wahrheit auf den Menschen zuruckzubeziehen und zu erklaren, Wahrheit sei, was diesem fromme! War es nicht geradezu Lebensburgerlichkeit und Nutzlichkeitsphilisterei, die Wahrheit solcherma?en vom Interesse des Menschen abhangig zu machen? Eiserne Sachlichkeit war das genau genommen nicht, es war mehr von Freiheit und Subjekt darin, als Leo Naphta wahr haben wollte, - wenn esauch freilich auf ganz ahnliche Weise "Politik" war, wie Herrn Settembrinis lehrhafte Au?erung: Freiheit sei das Gesetz der Menschenliebe. Das hie? offenbar, die Freiheit binden, wie Naphta die Wahrheit band: namlich an den Menschen. Es war entschieden mehr fromm als frei, und dies wiederum war ein Unterschied, der bei solchen Bestimmungen Gefahr lief, abhanden zu kommen. Ach, dieser Herr Settembrini! Nicht umsonst war er ein Literat, das hie?: eines Politikers Enkel und Sohn eines Humanisten. Auf Kritik und schone Emanzipation war er hochherzig bedacht und trallerte die Madchen auf der Stra?e an, wahrend den scharfen, kleinen Naphta harte Gelubde banden. Und doch war dieser beinahe ein Wustling vor lauter Freigeisterei und jener dagegen ein Tugendnarr, wenn man wollte. Vor dem "absoluten Geist" hatte Herr Settembrini Angst und wollte den Geist partout auf den demokratischen Fortschritt festlegen, - entsetzt uber des militarischen Naphta religiose Libertinage, die Gott und Teufel, Heiligkeit und Missetat, Genie und Krankheit zusammenwarf und keine Wertsetzung, kein Vernunfturteil, keinen Willen kannte. Wer war denn nun eigentlich frei, wer fromm, was machte den wahren Stand und Staat des Menschen aus: der Untergang in der alles verschlingenden und ausgleichenden Gemeinschaft, der zugleich wustlingshaft und asketisch war, oder das "kritische Subjekt", bei welchem Windbeutelei und burgerliche Tugendstrenge einander ins Gehege kamen? Ach, die Prinzipien und Aspekten kamen einander bestandig ins Gehege, an innerem Widerspruch war kein Mangel, und so au?erordentlich schwer war es zivilistischer Verantwortlichkeit gemacht, nicht allein, sich zwischen den

Gegensatzen zu entscheiden, sondern auch nur, sie als Praparate gesondert und sauber zu halten, da? die Versuchung gro? war, sich kopfuber in Naphtas "sittlich ungeordnetes All" zu sturzen. Es war die allgemeine Uberkreuzung und Verschrankung, die gro?e Konfusion, und Hans Castorp meinte zu sehen, da? die Streitenden weniger erbittert gewesen waren, wenn sie ihnen selbst nicht beim Streite die Seele bedruckt hatte.

Man war miteinander bis zum "Berghof" hinaufgegangen; dann hatten die drei, die dort wohnten, die Auswartigen bis vor ihr Hauschen zuruckbegleitet, und dort stand man noch lange im Schnee, indes Naphta und Settembrini sich stritten, - padagogischerweise, wie Hans Castorp wohl wu?te, und um die Bildsamkeit lichtsuchender Jugend zu bearbeiten. Fur Herrn Ferge waren das alles viel zu hohe Dinge, wie er wiederholt zu verstehen gab, und Wehsal zeigte sich wenig beteiligt, seitdem nicht mehr von Prugeln und Folter die Rede war. Hans Castorp grub gesenkten Hauptes mit dem Stocke im Schnee und bedachte die gro?e Konfusion.

Schlie?lich trennte man sich. Man konnte nicht ewig stehen, und das Kolloquium war uferlos. Die drei Berghofgaste wandten sich wieder ihrer Heimstatte zu, und die beiden padagogischen Wetteiferer mu?ten zusammen ins Hauschen gehen, der eine, um seine seidene Zelle, der andere, um sein Humanistenstubchenmit Stehpult und Wasserflasche zu gewinnen. Hans Castorp aber begab sich in seine Balkonloge, die Ohren voll vom Wirrwarr und Waffenlarm der beiden Heere, die von Jerusalem und Babylon vorruckend unter den dos banderas zu konfusem Schlachtgetummel zusammentrafen.

Schnee

Funfmal taglich kam an den sieben Tischen einhellige Unzufriedenheit zum Ausdruck mit dem Witterungscharakter des diesjahrigen Winters. Man urteilte, da? er seine Verpflichtungen als Hochgebirgswinter sehr mangelhaft erfulle, da? er die meteorologischen Kurmittel, denen die Sphare ihren Ruf verdankte, durchaus nicht in dem Umfange bereitstelle, wie der Prospekt es verhie?, wie Langjahrige es gewohnt waren und Neulinge es sich ausgemalt hatten. Gewaltige Ausfalle an Sonne waren zu verzeichnen, an Sonnenstrahlung, diesem wichtigen Heilfaktor, ohne dessen Mithilfe die Genesung sich zweifellos verzogerte ... Und wie nun

Herr Settembrini auch uber die Aufrichtigkeit denken mochte, mit der die Berggaste ihre Genesung und ihre Ruckkehr aus der "Heimat" ins Flachland betrieben: jedenfalls verlangten sie ihr Recht, jedenfalls wollten sie auf ihre Kosten kommen, auf diejenigen, die ihre Eltern, ihre Gatten fur sie bestritten, und so murrten sie in ihren Gesprachen bei Tisch, im Lift und in der Halle. Auch zeigte die Oberleitung ein volles Einsehen in ihre Verpflichtung zu Aushilfe und Schadenersatz. Ein neuer Apparat fur "kunstliche Hohensonne" wurde angeschafft, da die beiden schon vorhandenen der Nachfrage derer nicht genugten, die sich auf elektrischem Wege braun brennen lassen wollten, was die jungen Madchen und Frauen gut kleidete und der Mannerwelt trotz horizontaler Lebensweise ein prachtig sportliches und erobererhaftes Ansehen verlieh. Ja, dies Ansehen trug Fruchte im Wirklichen; die Frauen, obwohl vollig im klaren uber die technisch-kosmetische Herkunft dieser Mannlichkeit, waren dumm oder ausgepicht genug, auf Sinnentrug hinlanglich versessen, um sich von der Illusion berauschen und weiblich hinnehmen zu lassen. "Mein Gott!" sagte Frau Schonfeld, eine rothaarige und rotaugige Kranke aus Berlin, abends in der Halle zu einem Kavalier mit langen Beinen und eingefallener Brust, der sich auf seiner Karte als "Aviateur diplome et Enseigne de la Marine allemande" bezeichnete und mit dem Pneumothorax versehen war, ubrigens zum Mittagessen im Smoking erschien und dies Kleidungsstuck abends wieder ablegte, behauptend, bei der Marine sei das so Vorschrift, - "mein Gott!" sagte sie, indem sie den Enseigne gierig betrachtete, "wie herrlich braun er ist von Hohensonne! Wie ein Adlerjager sieht er aus, dieser Teufel!" - "Wart, Nixe!" flusterte er im Lift an ihrem Ohr, so da? eine Gansehaut sie uberlief, "Sie werden mir bu?en mussen fur Ihr verderbliches Augenspiel!" Und uber die Balkons, an den glasernen Scheidewanden vorbei, fand der Teufel und Adlerjager den Weg zur Nixe ...

Dennoch fehlte viel, da? die kunstliche Hohensonne als wirklicher Ausgleich fur den diesjahrigen Fehlbetrag an echtem Himmelslicht empfunden worden ware. Zweioder drei reine Sonnentage im Monat - Tage, die freilich mit tief-tiefer Sammetblaue hinter den wei?en Gipfeln, mit Diamantengeglitzer und kostlich hei?em Brande in den Nacken und die Gesichter der Menschen besonders herrlich aus verschwimmendem Nebelgrau und dicker Verhullung hervorstrahlten - zwei oder drei solcher Tage im Laufe von Wochen, das war zu wenig fur das Gemut von Leuten, deren Schicksal au?erordentliche Trostungsanspruche rechtfertigte, und die innerlich auf einen Pakt pochten, welcher ihnen gegen Verzicht auf

die Freuden und Plagen des Flachland-Menschentums ein zwar lebloses, aber ganz leichtes und vergnugliches Leben verbriefte, - sorglos bis zur Aufhebung der Zeit und vollkommen gunstig. Es half dem Hofrat wenig, wenn er daran erinnerte, wie wenig auch unter diesen Umstanden noch das Berghof-Dasein dem Aufenthalt in einem Bagno oder einem sibirischen Bergwerk gleiche, und welche Vorzuge die hiesige Luft, dunn und leicht wie sie war, leerer Ather des Alls beinahe, arm an irdischen Zusatzen, an Gutem wie Bosem, auch ohne Sonne doch immer noch vor dem Qualm und Brodem der Ebene bewahre: Verdusterung und Protest griffen um sich, Drohungen mit wilder Abreise waren an der Tagesordnung, und es kam vor, da? sie ausgefuhrt wurden, trotz solcher Exempel, wie der jungst erfolgten traurigen Ruckkehr Frau Salomons, deren Fall nicht schwer, wenn auch langwierig gewesen war, durch ihren eigenmachtigen Aufenthalt in dem nassen und zugigen Amsterdam aber lebenslanglichen Charakter gewonnen hatte ...

Statt der Sonne jedoch gab es Schnee, Schnee in Massen, so kolossal viel Schnee, wie Hans Castorp in seinem Leben noch nicht gesehen. Der vorige Winter hatte es in dieser Richtung wahrhaftig nicht fehlen lassen, doch waren seine Leistungen schwachlich gewesen im Vergleich mit denen des diesjahrigen. Sie waren monstros und ma?los, erfullten das Gemut mit dem Bewu?tsein der Abenteuerlichkeit und Exzentrizitat dieser Sphare. Es schneite Tag fur Tag und die Nachte hindurch, dunn oder in dichtem Gestober, aber es schneite. Die wenigen gangbar gehaltenen Wege erschienen hohlwegartig, mit ubermannshohen Schneewanden zu beiden Seiten, alabasternen Tafelflachen, die in ihrem kornig kristallischen Geflimmer angenehm zu sehen waren und den Berggasten zum Schreiben und Zeichnen dienten, zur Ubermittlung von allerlei Nachrichten, Scherzworten und Anzuglichkeiten. Aber auch zwischen den Wanden noch trat man stark aufgehohten Grund, so tief auch geschaufelt war, das merkte man an lockeren Stellen und Lochern, wo plotzlich der Fu? einsank, tief hinab, wohl bis zum Knie: man hatte gut acht zu geben, da? man nicht unversehens das Bein brach. Die Ruhebanke waren verschwunden, versunken; ein Stuck Lehne etwa ragte noch aus ihrem wei?en Begrabnis hervor. Drunten im Ort war das Stra?enniveau so seltsam verlegt, da? die Laden im Erdgescho? der Hauser zu Kellern geworden waren, in die man auf Schneestufen von der Hohedes Burgersteiges hinabstieg.

Und auf die liegenden Massen schneite es weiter, tagaus, tagein, still

niedersinkend bei ma?igem Frost, zehn, funfzehn Kaltegraden, die nicht eben ans Mark gingen, - man spurte sie wenig, es hatten auch funf oder zwei sein konnen, Windstille und Lufttrockenheit nahmen ihnen den Stachel. Es war sehr dunkel am Morgen; man fruhstuckte beim kunstlichen Schein der Lustermonde im Saal mit den lustig schablonierten Gewolbegurten. Drau?en war das trube Nichts, die Welt in grauwei?e Watte, die gegen die Scheiben drangte, in Schneequalm und Nebeldunst dicht verpackt. Unsichtbar das Gebirge; vom nachsten Nadelholz allenfalls mit der Zeit ein wenig zu sehen: beladen stand es, verlor sich rasch im Gebrau, und dann und wann entlud eine Fichte sich ihrer Uberlast, schuttelte staubendes Wei? ins Grau. Um zehn Uhr kam die Sonne als schwach erleuchteter Rauch uber ihren Berg, ein matt gespenstisches Leben, einen fahlen Schein von Sinnlichkeit in die nichtig-unkenntliche Landschaft zu bringen. Doch blieb alles gelost in geisterhafter Zartheit und Blasse, bar jeder Linie, die das Auge mit Sicherheit hatte nachziehen konnen. Gipfelkonturen verschwammen, vernebelten, verrauchten. Bleich beschienene Schneeflachen, die hinter- und ubereinander aufstiegen, leiteten den Blick ins Wesenlose. Dann schwebte wohl eine erleuchtete Wolke, rauchartig, lange, ohne ihre Form zu verandern, vor einer Felswand.

Um Mittag zeigte die Sonne, halb durchbrechend, das Bestreben, den Nebel in Blaue zu losen. Ihr Versuch blieb fern vom Gelingen; doch eine Ahnung von Himmelsblau war augenblicksweise zu erfassen, und das wenige Licht reichte hin, die durch das Schneeabenteuer wunderlich entstellte Gegend weithin diamanten aufglitzern zu lassen. Gewohnlich horte es auf zu schneien um diese Stunde, gleichsam um einen Uberblick uber das Erreichte zu gewahren, ja, diesem Zweck schienen auch die wenigen eingestreuten Sonnentage zu dienen, an denen das Gestober ruhte und der unvermittelte Himmelsbrand die kostlich reine Oberflache der Massen von Neuschnee anzuschmelzen suchte. Das Bild der Welt war marchenhaft, kindlich und komisch. Die dicken, lockeren, wie aufgeschuttelten Kissen auf den Zweigen der Baume, die Buckel des Bodens, unter denen sich kriechendes Holz oder Felsvorsprunge verbargen, das Hockende, Versunkene, possierlich Vermummte der Landschaft, das ergab eine Gnomenwelt, lacherlich anzusehn und wie aus dem Marchenbuch. Mutete aber die nahe Szene, in der man sich muhselig bewegte, phantastisch-schalkhaft an, so waren es Empfindungen der Erhabenheit und des Heiligen, die der hereinschauende fernere Hintergrund, die geturmten Standbilder der

verschneiten Alpen erweckten.

Nachmittags zwischen zwei und vier Uhr lag Hans Castorp in der Balkonloge und blickte wohlverpackt, den Kopf gestutzt von der weder zu steil noch zu flach eingestellten Lehne seines vorzuglichen Liegestuhls, uber die bepolsterte Brustung hin auf Wald und Gebirge. Der grunschwarze, mit Schnee beschwerte Tannenforst stieg die Lehnen hinan, und zwischen den Baumen war aller Boden kissenweich von Schnee.Daruber erhob sich das Felsgebirg ins Grauwei?, mit ungeheueren Schneeflachen, die von einzelnen, dunkler hervorragenden Felsnasen unterbrochen waren, und zart verdunstenden Kammlinien. Es schneite still. Alles verschwamm mehr und mehr. Der Blick, in ein wattiges Nichts gehend, brach sich leicht zum Schlummer. Ein Frosteln begleitete den Augenblick des Hinuberganges, doch gab es dann kein reineres Schlafen als dieses hier in der Eiseskalte, dessen Traumlosigkeit von keinem unbewu?ten Gefuhl organischer Lebenslast beruhrt wurde, da das Atmen der leeren, nichtig-dunstlosen Luft dem Organismus nicht schwerer fiel, als das Nichtatmen den Toten. Beim Erwachen war das Gebirge vollig im Schneenebel verschwunden, und nur Stucke davon, eine Gipfelkuppe, eine Felsnase, traten wechselnd fur einige Minuten hervor, um wieder verhullt zu werden. Dies leise Geisterspiel war au?erst unterhaltend. Man mu?te scharf achtgeben, um die Schleier-Phantasmagorie in ihren heimlichen Wandlungen zu belauschen. Wild und gro? zeigte sich, frei im Dunste, eine Felsgebirgspartie, von der weder Gipfel noch Fu? zu sehen war. Aber da man sie nur eine Minute aus den Augen gelassen, war sie entschwunden.

Dann gab es Schneesturme, die den Aufenthalt in der Balkonlaube uberhaupt verhinderten, da das stobernde Wei? massenweise hereintrieb und alles, Boden und Mobel, dickauf bedeckte. Ja, es konnte auch sturmen in dem gefriedeten Hochtal. Die nichtige Atmosphare geriet in Aufruhr, sie war so ausgefullt von Flockengewimmel, da? man nicht einen Schritt weit sah. Boen von erstickender Starke versetzten das Gestober in wilde, treibende, seitliche Bewegung, sie wirbelten es von unten nach oben, von der Talsohle in die Lufte empor, quirlten es in tollem Tanz durcheinander, - das war kein Schneefall mehr, es war ein Chaos von wei?er Finsternis, ein Unwesen, die phanomenale Ausschreitung einer uber das Gema?igte hinausgehenden Region, worin nur der Schneefink, der plotzlich in Scharen zum Vorschein kam, sich heimatlich auskennen mochte.

Jedoch liebte Hans Castorp das Leben im Schnee. Er fand es demjenigen am Meeresstrande in mehrfacher Hinsicht verwandt: die Urmonotonie des Naturbildes war beiden Spharen gemeinsam; der Schnee, dieser tiefe, lockere, makellose Pulverschnee, spielte hier ganz die Rolle wie drunten der gelbwei?e Sand; gleich reinlich war die Beruhrung mit beiden, man schuttelte das frosttrockene Wei? von Schuhen und Kleidern wie drunten das staubfreie Stein- und Muschelpulver des Meeresgrundes, ohne da? eine Spur hinterblieb, und auf ganz ahnliche Weise muhselig war das Marschieren im Schnee wie eine Dunenwanderung, es sei denn, da? die Flachen vom Sonnenbrand oberflachlich angeschmolzen, nachts aber hart gefroren waren: dann ging es sich leichter und angenehmer darauf, als auf Parkett, - genau so leicht und angenehm, wie auf dem glatten, festen, gespulten und federnden Sandboden am Saume des Meeres.

Nur waren das Schneefalle und lagernde Massen dies Jahr, die fur jedermann, ausgenommen den Skilaufer, die Moglichkeit der Bewegungim Freien karglich verengten. Die Schneepfluge arbeiteten; aber sie hatten Muhe, die allergebrauchlichsten Pfade und die Hauptstra?e des Kurortes notdurftig frei zu halten, und die wenigen Wege, die offen standen und rasch ins Unzugangliche mundeten, waren dicht begangen, von Gesunden und Kranken, von Einheimischen und internationaler Hotelgesellschaft; den Fu?gangern aber stolperten die Rodelfahrer an die Beine, Herren und Damen, welche, zuruckgelehnt, die Fu?e voran, unter Warnungsrufen, deren Ton davon zeugte, wie sehr durchdrungen sie von der Wichtigkeit ihres Unternehmens waren, auf ihren Kinderschlittchen schlingernd und kippend die Abhange hinunterfegten, um, unten angekommen, ihr Modespielzeug am Seile wieder bergan zu ziehen.

Dieser Promenaden war Hans Castorp nun ubersatt. Er hegte zwei Wunsche: der starkste davon war der, mit seinen Gedanken und Regierungsgeschaften allein zu sein, und diesen hatte seine Balkonloge ihm, wenn auch oberflachlich, gewahrt. Der andere aber, verbunden mit jenem, galt lebhaft einer inniger-freieren Beruhrung mit dem schneeverwusteten Gebirge, fur das er Teilnahme gefa?t hatte, und dieser Wunsch war unerfullbar, solange ein unbewehrter und unbeschwingter Fu?ganger es war, der sich mit ihm trug; denn sofort hatte ein solcher bis uber die Brust im Elemente gesteckt, wenn er versucht hatte, uber das allerorts rasch erreichte Ende der geschaufelten

Verkehrspfade hinaus vorzudringen.

So beschlo? Hans Castorp eines Tages, in diesem seinem zweiten Winter hier oben, sich Schneeschuhe zu kaufen und ihren Gebrauch zu erlernen, soweit sein sachliches Bedurfnis es eben erforderte. Er war kein Sportsmann; war, mangels korperlicher Gesinnung, nie einer gewesen; tat auch nicht, als ob er einer sei, wie manche Berghofgaste, die dem Ortsgeist und der Mode zu Gefallen sich geckigerweise so kostumierten, - Frauenzimmer zumal, Hermine Kleefeld zum Beispiel, die, obgleich unzureichende Atmung ihre Nasenspitze und Lippen bestandig blau farbte, zum Lunch in wollener Hosentracht zu erscheinen liebte, darin sie sich nach dem Essen mit gespreizten Knien in einem Korbsessel der Halle recht liederlich lummelte. Hans Castorp ware, wenn er nach des Hofrats Erlaubnis fur sein ausschweifendes Vorhaben gefragt hatte, unbedingt abschlagig beschieden worden. Sportliche Betatigung war der Gemeinschaft derer hier oben, im Berghof wie allerwarts in ahnlichen Anstalten, unbedingt verwehrt; denn ohnehin stellte die scheinbar so leicht eingehende Atmosphare strenge Anforderungen an den Herzmuskel, und was Hans Castorp personlich betraf, so war sein aufgewecktes Wort von der "Gewohnung daran, da? er sich nicht gewohnte", in voller Kraft geblieben, und seine Fieberneigung, die Radamanth von einer feuchten Stelle herleitete, bestand zahe fort. Was hatte er sonst auch hier oben zu suchen gehabt? So war sein Wunsch und Vorhaben widerspruchsvoll und unstatthaft. Nur mu?te man ihn auch recht verstehen. Ihn stach nicht der Ehrgeiz, es den Freiluftgecken und Schicksportlern gleichzutun, die, ware es eben Parole gewesen, mit ebenso wichtigem Eifer dem Kartenspiel im stickigen Zimmer obgelegen hatten.Durchaus fuhlte er sich einer anderen, gebundeneren Gemeinschaft zugehorig, als dem Touristenvolkchen, und unter einem weiteren und neueren Gesichtspunkt noch, auf Grund einer entfremdenden Wurde und dampfenden Verpflichtung war ihm zumute, als sei es nicht seine Sache, sich obenhin zu tummeln gleich jenen und sich im Schnee zu walzen wie ein Narr. Er hatte keine Eskapaden im Sinn, wollte sich schon ma?ig halten, und was er plante, hatte Rhadamanthys ihm recht wohl gestatten konnen. Da er's der Hausordnung halber dennoch verbieten wurde, beschlo? Hans Castorp, hinter seinem Rucken zu handeln.

Gelegentlich sprach er Herrn Settembrini von seinem Vorhaben. Herr Settembrini hatte ihn vor Freuden beinahe umarmt. "Aber ja, aber ja

doch, Ingenieur, um Gottes willen, tun Sie das! Fragen Sie niemanden und tun Sie's, - Ihr guter Engel hat Ihnen das eingeflustert! Tun Sie's sofort, bevor diese gute Lust Sie wieder verla?t! Ich gehe mit Ihnen, ich begleite Sie in das Geschaft, und stehenden Fu?es erwerben wir miteinander diese gesegneten Utensilien! Auch in die Berge wurde ich Sie begleiten, wurde mit Ihnen fahren, Flugelschuhe an den Fu?en, wie Mercurio, aber ich darf es nicht ... Eh, durfen! Ich tate es schon, wenn ich es nur 'nicht durfte', aber ich kann's nicht, ich bin ein verlorener Mann. Dagegen Sie ... es wird Ihnen nicht schaden, durchaus nicht, wenn Sie vernunftig sind und nichts ubertreiben. Ach was, und schadete es Ihnen sogar ein wenig, so wird es immer noch Ihr guter Engel gewesen sein, welcher ... Ich sage nichts weiter. Was fur ein exzellenter Plan! Zwei Jahre hier und noch dieses Einfalls fahig, - ah, nein, Ihr Kern ist gut, man hat keinen Grund, an Ihnen zu verzweifeln. Bravo, bravo! Sie drehen Ihrem Schattenfursten dort oben eine Nase, Sie kaufen diese Schlittschuhe, Sie lassen sie zu mir schicken oder zu Lukacek, oder zu dem Gewurzkramer drunten in unserem Hauschen. Sie holen sie von dort, um sich darauf zu uben, und Sie gleiten dahin ..."

Ganz so geschah es. Unter den Augen Herrn Settembrinis, der den kritischen Sachkenner spielte, obgleich er von Sport keine Ahnung hatte, erstand Hans Castorp in einem Spezialgeschaft der Hauptstra?e ein Paar schmucker Ski, hellbraun lackiert, aus gutem Eschenholz, mit prachtigem Lederzeug und vorne spitz aufgebogen, kaufte auch die Stabe mit Eisenspitze und Radscheibe dazu und lie? es sich nicht nehmen, alles selbst auf der Schulter davonzutragen bis zu Settembrinis Quartier, wo mit dem Kramer eine Ubereinkunft wegen taglicher Unterstellung der Geratschaften bald getroffen war. Durch vielfache Anschauung uber die Art ihres Gebrauches unterrichtet, begann er auf eigene Hand, fern von dem Gewimmel der Ubungsplatze, an einem fast baumfreien Abhang nicht weit hinter Sanatorium Berghof, alltaglich daraufherumzustumpern, wobei das eine und andere Mal Herr Settembrini aus einiger Entfernung ihm zuschaute, auf seinen Stock gestutzt, die Fu?e anmutig gekreuzt, Gewandtheitsfortschritte mit Bravorufen begru?end. Es lief gut ab, als Hans Castorp eines Tages, die geschaufelte Wegschleife gegen "Dorf" hinuntersteuernd, im Begriffe, die Schneeschuhe zum Kramer zuruckzubringen, dem Hofrat begegnete. Behrens erkannte ihn nicht, obgleich es heller Mittag war und der Anfanger fast mit ihm zusammengesto?en ware. Er hullte sich in eine Wolke Zigarrenrauchs und stapfte vorbei.

Hans Castorp erfuhr, da? man eine Fertigkeit rasch gewinnt, deren man innerlich bedurftig ist. Er erhob keine Anspruche auf Virtuosentum. Was er brauchte, war ohne Uberhitzung und Atemlosigkeit in ein paar Tagen erlernt. Er hielt sich an, die Fu?e hubsch beieinander zu halten und gleichlaufende Spuren zu schaffen, probte aus, wie man sich bei der Abfahrt des Stockes zum Lenken bedient, lernte Hindernisse, kleine Bodenerhebungen, die Arme ausgebreitet, im Schwunge nehmen, aufgehoben und abtauchend wie ein Schiff auf sturmischer See, und fiel seit dem zwanzigsten Versuch nicht mehr um, wenn er in voller Fahrt mit Telemarkschwung bremste, das eine Bein vorgeschoben, das andere ins Knie gebeugt. Allmahlich erweiterte er den Umkreis seiner Ubungen. Eines Tages sah Herr Settembrini ihn im wei?lichen Nebel verschwinden, rief ihm durch die hohlen Hande eine Warnung nach und ging padagogisch befriedigt nach Hause.

Es war schon im winterlichen Gebirge, - nicht schon auf gelinde und freundliche Weise, sondern so, wie die Nordseewildnis schon ist bei starkem West, - zwar ohne Donnerlarm, sondern in Totenstille, doch ganz verwandte Ehrfurchtsgefuhle erweckend. Hans Castorps lange, biegsame Sohlen trugen ihn in allerlei Richtung: entlang der linken Lehne gegen Clavadel oder rechtshin an Frauenkirch und Glaris voruber, hinter denen der Schatten des Amselfluhmassivs im Nebel spukte; auch in das Dischmatal oder hinter dem Berghof empor in Richtung auf das bewaldete Seehorn, von dem nur die schneeige Spitze uber die Baumgrenze ragte, und den Drusatschawald, hinter dem man den bleichen Schattenri? der tief verschneiten Rhatikonkette erblickte. Er lie? sich auch mit seinen Holzern von der Drahtseilbahn zur Schatzalp steil aufheben und trieb sich gemachlich dort oben, zweitausend Meter hoch entfuhrt, auf schimmernden Schragflachen von Puderschnee herum, die bei sichtigem Wetter einen hehren Weitblick uber die Landschaft seiner Abenteuer boten.

Er freute sich seiner Errungenschaft, vor welcher die Unzuganglichkeit sich auftat und Hindernisse fast zunichte wurden. Sie umgab ihn mit erwunschter Einsamkeit, der erdenklich tiefsten sogar, einer Einsamkeit, die das Herz mit Empfindungen des menschlich Wildfremden und Kritischen beruhrte. Da war wohl zu seiner einen Seite ein Tannenabsturz hinab in Schneedunst und andererseits ein Felsenaufstieg mit ungeheueren, zyklopischen, gewolbten und gebuckelten, Hohlen und Kappen bildenden Schneemassen. Die Stille, wenn er regungslos stehen

blieb, um sich selbst nicht zu horen, warunbedingt und vollkommen, eine wattierte Lautlosigkeit, unbekannt, nie vernommen, sonst nirgends vorkommend. Da war kein Windhauch, der die Baume auch nur aufs leiseste geruhrt hatte, kein Rauschen, nicht eine Vogelstimme. Es war das Urschweigen, das Hans Castorp belauschte, wenn er so stand, auf seinen Stock gestutzt, den Kopf zur Schulter geneigt, mit offenem Munde; und still und unablassig schneite es weiter darin, ruhig hinsinkend, ohne einen Laut.

Nein, diese Welt in ihrem bodenlosen Schweigen hatte nichts Wirtliches, sie empfing den Besucher auf eigene Rechnung und Gefahr, sie nahm ihn nicht eigentlich an und auf, sie duldete sein Eindringen, seine Gegenwart auf eine nicht geheuere, fur nichts gutstehende Weise, und Gefuhle des still bedrohlich Elementaren, des nicht einmal Feindseligen, vielmehr des Gleichgultig-Todlichen waren es, die von ihr ausgingen. Das Kind der Zivilisation, fern und fremd der wilden Natur von Hause aus, ist ihrer Gro?e viel zuganglicher als ihr rauher Sohn, der, von Kindesbeinen auf sie angewiesen, in nuchterner Vertraulichkeit mit ihr lebt. Dieser kennt kaum die religiose Furcht, mit der jener, die Augenbrauen hochgezogen, vor sie tritt, und die sein ganzes Empfindungsverhaltnis zu ihr in der Tiefe bestimmt, eine bestandige fromme Erschutterung und scheue Erregung in seiner Seele unterhalt. Hans Castorp, in seiner langarmeligen Kamelhaarweste, seinen Wickelgamaschen und auf seinen Luxusski, kam sich im Grunde sehr keck vor im Belauschen der Urstille, der todlich lautlosen Winterwildnis, und das Erleichterungsgefuhl, das sich meldete, wenn auf dem Heimweg die ersten menschlichen Wohnstatten im Geschleier wieder auftauchten, machte ihm seinen vorherigen Zustand bewu?t und lehrte ihn, da? stundenlang ein heimlich-heiliger Schrecken sein Gemut beherrscht hatte. Auf Sylt hatte er, in wei?en Hosen, sicher, elegant und ehrerbietig, am Rande der machtigen Brandung gestanden wie vor einem Lowenkafig, hinter dessen Gitter die Bestie ihren Rachen mit den furchterlichen Rei?zahnen schlundtief ergahnen la?t. Dann hatte er gebadet, wahrend ein Strandwachter auf einem Hornchen denjenigen Gefahr zublies, die frecherweise versuchten, uber die erste Welle hinauszudringen, dem herantreibenden Ungewitter auch nur zu nahe zu kommen, und noch der letzte Auslauf des Katarakts hatte den Nacken wie Prankenschlag getroffen. Von dorther kannte der junge Mensch das Begeisterungsgluck leichter Liebesberuhrungen mit Machten, deren volle Umarmung vernichtend sein wurde. Was er aber nicht gekannt hatte,

war die Neigung, diese begeisternde Beruhrung mit der todlichen Natur so weit zu verstarken, da? die volle Umarmung drohte, - als ein schwaches, wenn auch bewaffnetes und von der Zivilisation leidlich ausgestattetes Menschenkind, das er war, sich so weit ins Ungeheuerliche vorzuwagen, oder doch so lange nicht davor zu fliehen, bis der Verkehr das Kritische streifte und ihm kaum noch beliebig Grenzen zu setzen waren, bis es sich nicht mehr um Schaumauslauf und leichten Prankenschlag handelte, sondern um die Welle, den Rachen,das Meer.

Mit einem Worte: Hans Castorp hatte Mut hier oben, - wenn Mut vor den Elementen nicht stumpfe Nuchternheit im Verhaltnis zu ihnen, sondern bewu?te Hingabe und aus Sympathie bezwungenen Todesschrecken bedeutet. - Sympathie? - Allerdings, Hans Castorp hegte Sympathie mit den Elementen in seiner schmalen, zivilisierten Brust; und da war ein Zusammenhang dieser Sympathie mit dem neuen Wurdegefuhl, dessen er sich beim Anblick des schlittelnden Volkchens bewu?t geworden, und das ihm eine tiefere und gro?ere, weniger hotelbequeme Einsamkeit als die seiner Balkonloge hatte schicklich und wunschenswert erscheinen lassen. Von dort aus hatte er das hohe Nebelgebirg, den Tanz des Schneesturms betrachtet und sich seines Gaffens uber die Brustwehr des Komforts hin in seiner Seele geschamt. Darum, und nicht aus Sportfexerei noch aus angeborner Korperfreudigkeit, hatte er Skilaufen gelernt. Wenn es ihm nicht geheuer war dort in der Gro?e, der schneienden Totenstille - und das war es dem Kinde der Zivilisation durchaus nicht -: nun, so hatte er vom nicht Geheueren langst hier oben mit Geist und Sinn gekostet. Ein Kolloquium mit Naphta und Settembrini war auch nicht just das Geheuerste; ebenfalls fuhrte es ins Weglose und Hochgefahrliche; und wenn von Sympathie mit der gro?en Winterwildnis auf seiten Hans Castorps die Rede sein konnte, so darum, weil er sie, seines frommen Schreckens ungeachtet, als passenden Schauplatz fur das Austragen seiner Gedankenkomplexe empfand, als geziemenden Aufenthalt fur einen, der, ohne freilich recht zu wissen, wie er dazu kam, mit Regierungsgeschaften, betreffend Stand und Staat des homo Dei beschwert war.

Kein Mann war hier, der Vorwitzigen auf einem Hornchen Gefahr geblasen hatte, es sei denn, Herr Settembrini ware dieser Mann gewesen, als er dem entschwindenden Hans Castorp durch die hohlen

Hande zugerufen hatte. Dieser aber hatte Mut und Sympathie, er achtete des Zurufs in seinem Rucken nicht mehr, als er dessen geachtet hatte, der bei gewissen Schritten einst in der Faschingsnacht hinter ihm drein geklungen war. "Eh, Ingeniere, un po' di ragione, sa!" Ach ja, du padagogischer Satana mit deiner ragione und ribellione, dachte er. Ubrigens habe ich dich gern. Du bist zwar ein Windbeutel und Drehorgelmann, aber du meinst es gut, meinst es besser und bist mir lieber als der scharfe kleine Jesuit und Terrorist, der spanische Folter- und Prugelknecht mit seiner Blitzbrille, obgleich er fast immer recht hat, wenn ihr euch zankt ... euch padagogisch um meine arme Seele rauft, wie Gott und Teufel um den Menschen im Mittelalter ...

Die Beine bepudert, stockelte er sich irgendwo bleiche Hohen hinan, deren Lakengebreite sich in Terrassen, absatzweise erhoben, hoher und hoher, man wu?te nicht wohin; es schien, da? sie nirgends hinfuhrten; ihre obere Region verschwamm mit dem Himmel, der ebensonebelwei? war wie sie, und von dem man nicht wu?te, wo er anfing; kein Gipfel, keine Gratlinie war sichtbar, es war das dunstige Nichts, gegen das Hans Castorp sich emporschob, und da auch hinter ihm die Welt, das bewohnte Menschental, sich sehr bald schlo? und den Augen abhanden kam, auch kein Laut von dorther mehr zu ihm drang, so war denn seine Einsamkeit, ja Verlorenheit, ehe er's gedacht, so tief, wie er sie sich nur hatte wunschen konnen, tief bis zum Schrecken, der die Vorbedingung des Mutes ist. "Praeterit figura hujus mundi", sagte er bei sich in einem Latein, das nicht humanistischen Geistes war, - er hatte die Redensart von Naphta gehort. Er blieb stehen und sah sich um. Es war uberall gar nichts und nirgends etwas zu sehen, au?er einzelnen ganz kleinen Schneeflocken, die aus dem Wei? der Hohe kommend auf das Wei? des Grundes niedersanken, und die Stille ringsumher war gewaltig nichtssagend. Wahrend sein Blick sich in der wei?en Leere brach, die ihn blendete, fuhlte er sein Herz sich regen, das vom Aufstieg pochte, - dies Herzmuskelorgan, dessen tierische Gestalt und dessen Art zu schlagen er unter den knatternden Blitzen der Durchleuchtungskammer, frevelhafterweise vielleicht, belauscht hatte. Und eine Art von Ruhrung wandelte ihn an, eine einfache und andachtige Sympathie mit seinem Herzen, dem schlagenden Menschenherzen, so ganz allein hier oben im Eisig-Leeren mit seiner Frage und seinem Ratsel.

Er schob sich weiter, hoher hinauf, gegen den Himmel. Manchmal stie? er das obere Ende seines Skistockes in den Schnee und sah zu, wie

blaues Licht aus der Tiefe des Loches dem Stabe nachsturzte, wenn er ihn herauszog. Das machte ihm Spa?; er konnte lange stehen bleiben, um die kleine optische Erscheinung wieder und wieder zu erproben. Es war so ein eigentumliches zartes Berg- und Tiefenlicht, grunlich-blau, eisklar und doch schattig, geheimnisvoll anziehend. Es erinnerte ihn an das Licht und die Farbe gewisser Augen, schicksalblickender Schragaugen, die Herr Settembrini vom humanistischen Standpunkte aus verachtlich als "Tatarenschlitze" und "Steppenwolfslichter" bezeichnet hatte, - an fruh erschaute und unvermeidlich wieder gefundene, an Hippes und Clawdia Chauchats Augen. "Gern", sagte er halblaut in der Lautlosigkeit. "Aber mach ihn nicht entzwei: Il est a visser, tu sais." Und im Geiste horte er hinter sich wohllautende Mahnungen zur Vernunft.

Rechts seitwarts in einiger Entfernung nebelte Wald. Er wandte sich dorthin, um ein irdisches Ziel vor Augen zu haben, statt wei?licher Transzendenz, und fuhr plotzlich ab, ohne da? er im geringsten eine Gelandesenkung hatte kommen sehen. Die Blendung verhinderte jedes Erkennen der Bodengestaltung. Man sah nichts; alles verschwamm vor den Augen. Ganz unerwartet hoben Hindernisse ihn auf. Er uberlie? sich dem Gefalle, ohne mit dem Auge den Grad seinerNeigung zu unterscheiden.

Das Geholz, das ihn angezogen hatte, lag jenseits der Schlucht, in die er unversehens hineingefahren. Ihr mit lockerem Schnee bedeckter Grund senkte sich nach der Seite des Gebirges hin, wie er bemerkte, als er ihn ein Stuck in dieser Richtung verfolgte. Es ging abwarts; die Seitenschragen erhohten sich; wie ein Hohlweg schien die Falte in den Berg hineinzufuhren. Dann standen die Schnabel seines Fahrzeugs wieder aufwarts; der Boden hob sich, es gab bald keine Seitenwand mehr zu ersteigen; Hans Castorps weglose Fahrt ging wieder auf offener Berghalde gegen den Himmel.

Er sah das Nadelholz seitlich hinter und unter sich, wandte sich dorthin und erreichte in schneller Abfahrt die schneebeladenen Tannen, die sich, keilformig angeordnet, als Auslaufer abschussig vernebelnder Waldungen ins Baumfreie vorschoben. Unter ihren Zweigen rauchte er ausruhend eine Zigarette, in seiner Seele immerfort etwas bedruckt, gespannt, beklommen von der ubertiefen Stille, der abenteuerlichen Einsamkeit, aber stolz, sie erobert zu haben, und mutig im Gefuhl seines Wurdenrechtes auf diese Umgebung.

Es war nachmittags um drei Uhr. Bald nach Tische hatte er sich aufgemacht, um einen Teil der Gro?en Liegekur und die Vespermahlzeit zu schwanzen und vor Dunkelwerden zuruck zu sein. Wohligkeit erfullte ihn bei dem Gedanken, da? mehrere Stunden zum Schweifen im Freien und Gro?artigen vor ihm lagen. Er hatte etwas Schokolade in der Tasche seiner Breeches und eine kleine Flasche mit Portwein in der Westentasche.

Der Stand der Sonne war kaum zu erkennen, so dicht umnebelt war sie. Hinten, in der Gegend des Talausganges, des Gebirgswinkels, den man nicht sah, dunkelte das Gewolk, das Gedunste tiefer und schien sich vorzuschieben. Es sah nach Schnee aus, mehr Schnee, um dringendem Bedarf abzuhelfen, - nach einem ordentlichen Gestober. Und wirklich fielen die kleinen, lautlosen Flocken uber der Halde schon reichlicher.

Hans Castorp trat vor, um ein paar davon auf seinen Armel fallen zu lassen und sie mit den Kenneraugen des Liebhaberforschers zu betrachten. Sie schienen formlose Fetzchen, aber er hatte mehr als einmal ihresgleichen unter seiner guten Linse gehabt und wu?te wohl, aus was fur zierlichst genauen kleinen Kostbarkeiten sie sich zusammensetzten, Kleinodien, Ordenssternen, Brillantagraffen, wie der getreueste Juwelier sie nicht reicher und minuzioser hatte herstellen konnen, - ja, es hatte mit all diesem leichten, lockeren Puderwei?, das in Massen den Wald beschwerte, das Gebreite bedeckte, und uber das seine Fu?bretter ihn trugen, denn doch eine andere Bewandtnis als mit dem heimischen Meersande, an den es erinnerte: das waren bekanntlich nicht Steinkorner, woraus es bestand, es waren Myriaden im Erstarren zu ebenma?iger Vielfalt kristallisch zusammengeschossener Wasserteilchen, - Teilchen eben der anorganischen Substanz, die auch das Lebensplasma, den Pflanzen-, den Menschenleib quellen machte, - und unter den Myriaden von Zaubersternchen in ihrer untersichtigen, demMenschenauge nicht zugedachten, heimlichen Kleinpracht war nicht eines dem anderen gleich; eine endlose Erfindungslust in der Abwandlung und allerfeinsten Ausgestaltung eines und immer desselben Grundschemas, des gleichseitig-gleichwinkligen Sechsecks, herrschte da; aber in sich selbst war jedes der kalten Erzeugnisse von unbedingtem Ebenma? und eisiger Regelma?igkeit, ja, dies war das Unheimliche, Widerorganische und Lebensfeindliche daran; sie waren zu regelma?ig, die zum Leben geordnete Substanz war es niemals in diesem Grade, dem Leben schauderte vor der genauen Richtigkeit, es

empfand sie als todlich, als das Geheimnis des Todes selbst, und Hans Castorp glaubte zu verstehen, warum Tempelbaumeister der Vorzeit absichtlich und insgeheim kleine Abweichungen von der Symmetrie in ihren Saulenordnungen angebracht hatten.

Er stie? sich ab, schlurfte auf seinen Kufen fort, fuhr am Waldrande den dicken Schneebelag der Schrage ins Neblige hinunter und trieb sich, steigend und gleitend, ziellos und gemachlich, weiter in dem toten Gelande umher, das mit seinen leeren, welligen Gebreiten, seiner Trockenvegetation, die aus einzelnen, dunkel hervorstechenden Latschenbuschen bestand, und seiner Horizontbegrenzung von weichen Erhebungen so auffallend einer Dunenlandschaft glich. Hans Castorp nickte zufrieden mit dem Kopf, wenn er stand und sich an dieser Ahnlichkeit weidete; und auch den Brand seiner Miene, die Neigung zum Gliederzittern, die eigentumliche und trunkene Mischung von Aufregung und Mudigkeit, die er spurte, duldete er mit Sympathie, da dies alles ihn an nah verwandte Wirkungen der ebenfalls aufpeitschenden und zugleich mit schlafbringenden Stoffen gesattigten Seeluft vertraulich erinnerte. Er empfand mit Genugtuung seine beschwingte Unabhangigkeit, sein freies Schweifen. Vor ihm lag kein Weg, an den er gebunden war, hinter ihm keiner, der ihn so zuruckleiten wurde wie er gekommen war. Es hatte anfangs Stangen, eingepflanzte Stocke, Schneezeichen gegeben, aber absichtlich hatte er sich bald von ihrer Bevormundung freigemacht, da sie ihn an den Mann mit dem Hornchen erinnerten und seinem inneren Verhaltnis zur gro?en Winterwildnis nicht angemessen schienen.

Hinter verschneiten Felshugeln, zwischen denen er sich, bald rechts, bald links lenkend, hindurchschob, lag eine Schrage, dann eine Ebene, dann gro?es Gebirge, dessen weich gepolsterte Schluchten und Passe so zuganglich und lockend schienen. Ja, die Lockung der Fernen und Hohen, der immer neu sich auftuenden Einsamkeiten war stark in Hans Castorps Gemut, und auf die Gefahr, sich zu verspaten, strebte er tiefer ins wilde Schweigen, ins Nichtgeheure, fur nichts Gutstehende hinein, - ungeachtet, da? uberdies die Spannung und Beklommenheit seines Inneren zur wirklichen Furcht wurde angesichts der vorzeitig zunehmenden Himmelsdunkelheit, die sich wie graue Schleier auf die Gegend herabsenkte. Diese Furcht machte ihm bewu?t, da? er es heimlich bisher geradezu darauf angelegt hatte, sich um die Orientierung zu bringen und zu vergessen, in welcher Richtung Tal und

Ortschaft lagen, was ihm denn auch in erwunschter Vollstandigkeit gelungen war. Ubrigens durfte er sich sagen,da?, wenn er sofort umkehrte und immer bergab fuhr, das Tal, wenn auch moglicherweise fern vom "Berghof", rasch erreicht sein werde, - zu rasch; er wurde zu fruh kommen, wurde seine Zeit nicht ausgenutzt haben, wahrend er allerdings, wenn das Schneeunwetter ihn uberraschte, den Heimweg wohl vorderhand uberhaupt nicht finden wurde. Darum aber vorzeitig fluchtig zu werden, weigerte er sich, - die Furcht, seine aufrichtige Furcht vor den Elementen mochte ihn beklemmen wie sie wollte. Das war kaum sportsmannisch gehandelt; denn der Sportsmann la?t sich mit den Elementen nur ein, solange er sich ihr Herr und Meister wei?, ubt Vorsicht und ist der Klugere, der nachgibt. Was aber in Hans Castorps Seele vorging, war nur mit einem Wort zu bezeichnen: Herausforderung. Und soviel Tadel das Wort umschlie?t, auch wenn - oder besonders wenn - das ihm entsprechende frevelhafte Gefuhl mit so viel aufrichtiger Furcht verbunden ist, so ist doch bei einigem menschlichen Nachdenken ungefahr zu begreifen, da? in den Seelengrunden eines jungen Menschen und Mannes, der jahrelang gelebt hat wie dieser hier, manches sich ansammelt, oder, wie Hans Castorp, der Ingenieur, gesagt haben wurde, "akkumuliert", was eines Tages als ein elementares "Ach was!" oder ein "Komm denn an!" von erbitterter Ungeduld, kurz eben als Herausforderung und Verweigerung kluger Vorsicht sich entladt. Und so fuhr er denn zu auf seinen langen Pantoffeln, glitt noch den Abhang hinunter und schob sich uber die folgende Halde, auf der in einiger Entfernung ein Holzhauschen, Heuschober oder Almhutte mit steinbeschwertem Dache, stand, dem nachsten Berge zu, dessen Rucken borstig von Tannen war, und hinter dem Hochgipfel sich nebelhaft turmten. Die mit einzelnen Baumgruppen besetzte Wand vor ihm war schroff, aber schrag rechtshin mochte man sie in ma?iger Steigung halb umgehen und hinter sie kommen, um zu sehen, was da weiter sein werde, und an dieses Forschergeschaft machte sich Hans Castorp, nachdem er vor dem Feld mit der Sennhutte noch in eine ziemlich tiefe, von rechts nach links abfallende Schlucht hinabgefahren war.

Er hatte eben wieder angefangen zu steigen, als denn also, wie zu erwarten gestanden, Schneefall und Sturm losgingen, da? es eine Art hatte, - der Schneesturm, mit einem Worte, war da, der lange gedroht hatte, wenn man von "Drohung" sprechen kann in Hinsicht auf blinde und unwissende Elemente, die es nicht darauf abgesehen haben, uns zu vernichten, was vergleichsweise anheimelnd ware, sondern denen es auf

die ungeheuerste Weise gleichgultig ist, wenn das nebenbei mit unterlauft. "Hallo!" dachte Hans Castorp und blieb stehen, als der erste Windsto? in das dichte Gestober fuhr und ihn traf. "Das ist eine Sorte von Anhauch. Die geht ins Mark." Und wirklich war dieser Wind von ganzgehassiger Art: die furchtbare Kalte, die tatsachlich herrschte, gegen zwanzig Grad unter Null, war nur dann nicht zu spuren und mutete milde an, wenn die feuchtigkeitslose Luft still und unbewegt war wie gewohnlich; sobald sie sich aber windig regte, schnitt das wie mit Messern ins Fleisch, und wenn es zuging wie jetzt - denn der erste fegende Windlauf war nur ein Vorlaufer gewesen -, so hatten sieben Pelze nicht hingereicht, das Gebein vor eisigem Todesschrecken zu schutzen, und Hans Castorp trug nicht sieben Pelze, sondern nur eine wollene Weste, die ihm sonst auch vollkommen genugt hatte und ihm bei dem geringsten Sonnenschein sogar lastig gewesen war. Ubrigens bekam er den Wind etwas seitlich von hinten, so da? es sich wenig empfahl, umzukehren und ihn von vorn zu empfangen; und da diese Uberlegung sich mit seinem Trotz und mit dem grundlichen "Ach was!" seiner Seele mischte, so strebte der tolle Junge immer noch weiter, zwischen einzeln stehenden Tannen hin, um hinter den in Angriff genommenen Berg zu kommen.

Dabei jedoch war gar kein Vergnugen, denn man sah nichts vor Flockentanz, der scheinbar ohne zu fallen in dichtestem Wirbelgedrange allen Raum erfullte; die dreinfahrenden Eisboen machten die Ohren mit scharfem Schmerze brennen, lahmten die Glieder und lie?en die Hande ertauben, so da? man nicht mehr wu?te, ob man den Pickelstock noch hielt oder nicht. Der Schnee wehte ihm hinten in den Kragen und schmolz ihm den Rucken hinunter, legte sich ihm auf die Schultern und bedeckte seine rechte Flanke; es war ihm, als solle er hier zum Schneemann erstarren, seinen Stock steif in der Hand; und all diese Unzutraglichkeit ergab sich bei vergleichsweise gunstigen Umstanden: wendete er sich, so wurde es schlimmer sein; und doch hatte der Heimweg sich zu einem Stuck Arbeit gestaltet, das in Angriff zu nehmen er wohl nicht zogern sollte.

So blieb er denn stehen, zuckte zornig mit den Achseln und stellte seine Bretter herum. Der Gegenwind verschlug ihm sofort den Atem, so da? er der unbequemen Prozedur der Umstellung sich nochmals unterzog, um zu Luft zu kommen und mit besserer Fassung dem gleichgultigen Feinde die Stirn zu bieten. Bei gesenktem Kopfe und

vorsichtig geregeltem Atemhaushalt gelang ihm denn auch, in umgekehrter Richtung sich in Bewegung zu setzen, - uberrascht, trotz boser Erwartungen, von den Schwierigkeiten des Vorwartskommens, die namentlich aus seiner Blindheit und seiner Atemknappheit erwuchsen. Jeden Augenblick war er zum Haltmachen gezwungen, erstens, um hinter dem Sturme Luft zu schopfen, und dann auch, weil er, geneigten Kopfes aufwarts blinzelnd, nichts sah vor wei?er Verfinsterung und sich vor dem Anrennen an Baume, dem Geworfenwerden durch Hindernisse huten mu?te. Die Flocken flogen ihm massenweise ins Gesicht und schmolzendort, so da? es erstarrte. Sie flogen ihm in den Mund, wo sie mit schwach wasserigem Geschmack zergingen, flogen gegen seine Lider, die sich krampfhaft schlossen, uberschwemmten die Augen und verhinderten jede Ausschau, - die ubrigens nutzlos gewesen ware, da die dichte Verschleierung des Blickfeldes und die Blendung durch all das Wei? den Gesichtssinn ohnedies fast vollig ausschalteten. Es war das Nichts, das wei?e, wirbelnde Nichts, worein er blickte, wenn er sich zwang, zu sehen. Und nur zuweilen tauchten gespenstische Schatten der Erscheinungswelt darin auf: ein Latschenbusch, eine Fichtengruppe, die schwache Silhouette des Schobers auch, an dem er kurzlich vorubergekommen.

Er lie? ihn liegen, suchte uber die Halde hin, wo der Schuppen stand, seinen Ruckweg. Aber ein Weg war ja nicht vorhanden; eine Richtung zu halten, die ungefahre Richtung nach Hause, ins Tal, war weit mehr Glucks- als Verstandessache, da man allenfalls die Hand vor Augen, aber nicht einmal bis zu den Spitzen seiner Schneeschuhe sah; und hatte man auch besser gesehen, so waren doch immer noch ausgiebige Vorkehrungen getroffen gewesen, ein Vorwartskommen aufs au?erste zu erschweren: das Gesicht voll Schnee, den Sturm als Widersacher, der die Atmung zerstorte, sie abschnitt, das Aufnehmen von Luft wie den Aushauch verhinderte und jeden Augenblick zu schnappender Abkehr zwang, - da sollte dieser und jener vorwarts kommen, Hans Castorp oder ein anderer, Starkerer, - man blieb stehen, schnappte, druckte sich blinzelnd das Wasser aus den Wimpern, klopfte den Harnisch von Schnee herunter, der sich einem auf die Frontseite gelegt hatte, und empfand es als unvernunftige Zumutung, unter solchen Umstanden vorwarts zu kommen.

Hans Castorp kam dennoch vorwarts, das hei?t: er kam von der Stelle. Allein ob das ein zweckma?iges Fortkommen, ein Fortkommen in rechter

Richtung war, und ob es nicht weniger falsch gewesen ware, zu bleiben, wo man war(was aber auch nicht tunlich schien), das stand dahin, es sprach sogar die theoretische Wahrscheinlichkeit dagegen, und praktisch genommen, schien es Hans Castorp bald, als sei mit dem Grund und Boden nicht alles in Ordnung, als habe er nicht den richtigen unter den Fu?en, das hei?t die flache Halde, die er von der Schlucht aufsteigend mit gro?er Muhe wieder gewonnen, und die es vor allem wieder zuruckzulegen galt. Die Ebene war zu kurz gewesen, er stieg schon wieder. Offenbar hatte der Sturm, der von Sudwest, aus der Gegend des Talausgangs kam, mit seinem wutenden Gegendrucke ihn abgedrangt. Es war ein falsches Fortkommen, schon langere Zeit, mit dem er sich abmattete. Blindlings, umhullt von wirbelnder, wei?er Nacht, arbeitete er sich nur tiefer ins Gleichgultig-Bedrohliche hinein.

"Na, so was!" sagte er zwischen den Zahnen und machte halt. Pathetischer druckte er sich nicht aus, obgleich es ihm einenAugenblick war, als griffe eine eiskalte Hand nach seinem Herzen, so da? es aufzuckte und dann mit so raschen Schlagen gegen seine Rippen pochte wie damals, als Rhadamanthys die feuchte Stelle bei ihm entdeckt. Denn er sah ein, da? er kein Recht hatte auf gro?e Worte und Gebarden, da Herausforderung sein Teil gewesen und alle Bedenklichkeiten der Lage auf seine eigenste Rechnung kamen. "Nicht schlecht", sagte er und fuhlte, da? seine Gesichtszuge, die Ausdrucksmuskeln seiner Miene, der Seele nicht mehr gehorchten und gar nichts wiederzugeben vermochten, weder Furcht, noch Wut, noch Verachtung, denn sie waren erstarrt. "Was nun? Hier schrag hinunter und fortan hubsch der Nase nach, immer genau gegen den Wind. Das ist zwar leichter gesagt als getan", fuhr er keuchend und abgerissen, aber tatsachlich halblaut sprechend fort, indem er sich wieder in Bewegung setzte; "aber geschehen mu? etwas, ich kann mich nicht hinsetzen und warten, denn dann werde ich zugedeckt von hexagonaler Regelma?igkeit, und Settembrini, wenn er mit seinem Hornchen kommt, um nach mir zu sehen, findet mich hier mit Glasaugen hocken, eine Schneemutze schief auf dem Kopf ..." Er nahm wahr, da? er mit sich selber sprach, und zwar etwas sonderbar. Darum verwies er es sich, tat es aber wiederum halblaut und ausdrucklich, obgleich seine Lippen so lahm waren, da? er auf ihre Benutzung verzichtete und ohne die Konsonanten sprach, die mit ihrer Hilfe gebildet werden, was ihn selbst an eine fruhere Lebenslage erinnerte, in der es ebenso gewesen war. "Schweig still und sieh, da? du fortkommst", sagte er und fugte hinzu: "Mir scheint, du faselst und bist

nicht ganz klar im Kopf. Das ist schlimm in gewisser Hinsicht."

Allein, da? es schlimm war, unter dem Gesichtspunkt seines Davonkommens, war eine reine Feststellung der kontrollierenden Vernunft, gewisserma?en einer fremden, unbeteiligten, wenn auch besorgten Person. Fur sein naturliches Teil war er sehr geneigt, sich der Unklarheit zu uberlassen, die mit zunehmender Mudigkeit Besitz von ihm ergreifen wollte, nahm jedoch von dieser Geneigtheit Notiz und hielt sich gedanklich daruber auf. "Das ist die modifizierte Erlebnisart von einem, der im Gebirge in einen Schneesturm gerat und nicht mehr heimfindet", dachte er arbeitend und redete abgerissene Brocken davon atemlos vor sich hin, indem er deutlichere Ausdrucke aus Diskretion vermied. "Wer nachher davon hort, stellt es sich gra?lich vor, vergi?t aber, da? die Krankheit - und meine Lage ist ja gewisserma?en eine Krankheit - sich ihren Mann schon so zurichtet, da? sie miteinander auskommen konnen. Da gibt es sensorische Herabminderungen, Gnadennarkosen, Erleichterungsma?nahmen der Natur, jawohl ... Man mu? jedoch dagegen kampfen, denn sie haben ein doppeltes Gesicht, sind zweideutig im hochsten Grad; bei ihrer Wurdigung kommt alles auf den Gesichtspunkt an. Siesind gut gemeint und eine Wohltat, sofern man eben nicht heimkommen soll, sind aber sehr schlimm gemeint und au?erst bekampfenswert, sofern von Heimkommen uberhaupt noch die Rede ist, wie bei mir, der ich nicht daran denke, in diesem meinem sturmisch schlagenden Herzen nicht daran denke, mich hier von blodsinnig regelma?iger Kristallometrie zudecken zu lassen ..."

Wirklich war er schon stark mitgenommen und bekampfte die beginnende Unklarheit seines Sensoriums auf unklare und fieberhafte Art. Er erschrak nicht so, wie er gesunderweise hatte erschrecken sollen, als er gewahrte, da? er schon wieder von der ebenen Bahn abgekommen war: diesmal offenbar nach der anderen Seite, dorthin, wo die Halde sich senkte. Denn er fuhr ab, bei schragem Gegenwinde, und obgleich er das vorderhand nicht hatte tun durfen, war es fur den Augenblick das Bequemste. "Schon recht", dachte er. "Weiter unten werde ich wieder Richtung nehmen." Und das tat er oder glaubte es zu tun, oder glaubte es auch selber nicht recht, oder, noch bedenklicher, es fing an, ihm gleichgultig zu werden, ob er es tat oder nicht. So wirkten die zweideutigen Ausfalle, die er nur matt bekampfte. Jene Mischung aus Mudigkeit und Aufregung, die den vertrauten Dauerzustand eines Gastes bildete, dessen Akklimatisation in der Gewohnung daran bestand, da? er

sich nicht gewohnte, hatte sich in ihren beiden Bestandteilen so weit verstarkt, da? von einem besonnenen Verhalten gegen die Ausfalle nicht mehr die Rede sein konnte. Benommen und taumelig, zitterte er vor Trunkenheit und Exzitation, sehr ahnlich wie nach einem Kolloquium mit Naphta und Settembrini, nur ungleich starker; und so mochte es kommen, da? er seine Tragheit im Bekampfen der narkotischen Ausfalle mit betrunkenen Reminiszenzen an solche Erorterungen beschonigte, - trotz seiner verachterischen Emporung gegen das Zugedecktwerden durch hexagonale Regelma?igkeit etwas in sich hineinfaselte, des Sinnes oder Unsinnes: das Pflichtgefuhl, das ihn anhalten wolle, die verdachtigen Herabminderungen zu bekampfen, sei nichts als blo?e Ethik, das hei?e schabige Lebensburgerlichkeit und irreligiose Philisterei. Wunsch und Versuchung, sich niederzulegen und zu ruhen, beschlichen in der Gestalt seinen Sinn, da? er sich sagte, es sei wie bei einem Sandsturm in der Wuste, der die Araber veranlasse, sich aufs Gesicht zu werfen und den Burnus uber den Kopf zu ziehen. Nur eben den Umstand, da? er keinen Burnus habe und da? man eine wollene Weste nicht recht uber den Kopf ziehen konne, empfand er als Einwand gegen ein solches Verhalten, obgleich er kein Kind war und aus mancherlei Uberlieferung ziemlich genau Bescheid wu?te, wie man erfriert.

Nach ma?ig rascher Abfahrt und einiger Ebenheit ging es nun wieder aufwarts, und zwar recht steil. Das brauchte nicht falsch zu sein, denn zwischendurch mu?te es bei dem Wege ins Tal auch wieder einmal aufwarts gehen,und was den Wind betraf, so hatte er sich wohl launisch gedreht, denn Hans Castorp hatte ihn neuerdings im Rucken und fand das dankenswert, an und fur sich. Beugte ihn ubrigens der Sturm oder ubte die vom dammerigen Gestober verschleierte weiche wei?e Schragflache vor ihm eine Anziehung auf seinen Korper aus, so da? er sich ihr zuneigte? Nur um ein Hinlehnen wurde es sich handeln, wenn man sich ihr uberlie?, und die Versuchung dazu war gro?, - ganz so gro?, wie es im Buche stand und als typisch-gefahrlich gekennzeichnet war, was jedoch der lebendig-gegenwartigen Macht der Versuchung durchaus keinen Abbruch tat. Sie behauptete individuelle Rechte, wollte sich ins allgemein Bekannte nicht einordnen lassen, sich nicht darin wiedererkennen, erklarte sich als einmalig und unvergleichbar in ihrer Dringlichkeit, - ohne freilich leugnen zu konnen, da? sie eine Zuflusterung von bestimmter Seite war, die Eingebung eines Wesens in spanischem Schwarz mit schneewei?er, gefalteter Tellerkrause, an dessen Idee und prinzipielle Vorstellung sich allerlei Dusteres, scharf

Jesuitisches und Menschenfeindliches knupfte, allerlei Folter- und Prugelknechtschaft, Herrn Settembrini ein Greuel, als welcher sich aber dem gegenuber auch nur lacherlich machte, mit seiner Drehorgel und seiner ragione ...

Doch hielt Hans Castorp sich redlich und widerstand der Lockung, sich hinzulehnen. Er sah nichts, aber er kampfte und kam von der Stelle, - zweckma?ig oder nicht, aber er tat das Seine und regte sich, den lastenden Banden zum Trotz, in die der Froststurm immer schwerer seine Glieder schlug. Da ihm der Aufstieg zu steil wurde, lenkte er seitlich, ohne sich viel Rechenschaft davon zu geben, und fuhr eine Weile so an der Schrage hin. Die verkrampften Lider zu trennen und auszuspahen, war eine Anstrengung, deren erprobte Nutzlosigkeit wenig dazu ermutigte, sie auf sich zu nehmen. Dennoch sah er zuweilen etwas: Fichten, die zusammentraten, einen Bach oder Graben, dessen Schwarze sich zwischen uberhangenden Schneerandern vom Gelande abzeichnete; und als es zur Abwechslung wieder einmal bergab mit ihm ging, ubrigens gegen den Sturm, gewahrte er vor sich in einiger Ferne, frei schwebend gleichsam im fegenden Schleiergewirr, den Schatten einer menschlichen Baulichkeit.

Willkommener, trostlicher Anblick! Rustig hat er es geschafft, trotz aller Widrigkeiten, da? nun sogar schon menschliche Baulichkeiten erschienen, zum Zeichen, das bewohnte Tal sei nahe. Vielleicht waren Menschen dort; vielleicht konnte man bei ihnen eintreten, um unter Dach und Fach das Ende des Wetters abzuwarten und notigenfalls Begleitung und Fuhrung zu haben, wenn unterdessen die naturliche Dunkelheit sollte eingefallen sein. Er hielt auf das chimarische, oft ganz im Wetterdunkel verschwindende Etwas zu, hatte noch einen krafteverzehrenden Aufstieg gegen den Wind zu uberwinden, um es zu erreichen, und uberzeugte sich, angekommen, mit Emporung, Staunen, Schrecken und Schwindelgefuhl, da? es die bekannte Hutte, derHeuschober mit steinbeschwertem Dache war, den er auf allerlei Umwegen und mit redlichster Anspannung zuruckerobert hatte.

Das war des Teufels. Schwere Verwunschungen losten sich, unter Auslassung der Labiallaute, von Hans Castorps erstarrten Lippen. Er stocherte sich zu seiner Orientierung um die Hutte herum und stellte fest, da? er sie von hinten wieder erreicht und also eine gute Stunde lang - seiner Schatzung nach - den reinsten und nichtsnutzigsten Unsinn getrieben hatte. Aber so ging es, so stand es im Buche. Man lief im

Kreise herum, plagte sich ab, die Vorstellung der Forderlichkeit im Herzen, und beschrieb dabei irgendeinen weiten, albernen Bogen, der in sich selber zuruckfuhrte wie der vexatorische Jahreslauf. So irrte man herum, so fand man nicht heim. Hans Castorp erkannte das uberlieferte Phanomen mit einer gewissen Befriedigung, wenn auch mit Schrecken, und schlug sich auf den Schenkel vor Grimm und Staunen, weil sich das Allgemeine in seinem eigentumlichen, individuellen und gegenwartigen Fall so punktlich ereignet hatte.

Der einsame Schuppen war unzuganglich, die Tur verschlossen, man konnte nirgends hinein. Aber Hans Castorp beschlo? dennoch, vorderhand hier zu bleiben, denn das vorstehende Dach gewahrte die Illusion einer gewissen Wirtlichkeit, und die Hutte selbst, an ihrer dem Gebirge zugekehrten Seite, die Hans Castorp aufsuchte, bot wirklich einigen Schutz gegen den Sturm, wenn man sich mit der Schulter gegen die aus Baumstammen gezimmerte Wand lehnte, da es mit dem Rucken, der langen Schneeschuhe wegen, nicht fuglich gehen wollte. Schrag angelehnt stand er, nachdem er den Skistock neben sich in den Schnee gesto?en, die Hande in den Taschen, den Kragen seiner Wolljacke hochgestellt, das au?ere Bein als Gegenstutze benutzend, und lie? den taumeligen Schadel mit geschlossenen Augen an der Bohlenwand ruhen, indem er nur dann und wann, der Schulter entlang, uber die Schlucht hin zur jenseitigen Bergwand hinuberblinzelte, die manchmal matt im Geschleier sichtbar wurde.

Seine Lage war vergleichsweise behaglich. "So kann ich notfalls die ganze Nacht stehen," dachte er, "wenn ich von Zeit zu Zeit das Bein wechsle, mich sozusagen auf die andere Seite lege und mir zwischendurch naturlich etwas Bewegung mache, was unerla?lich ist. Wenn auch au?en verklammt, habe ich doch innerlich Warme gesammelt bei der Bewegung, die ich gemacht, und so war die Exkursion doch nicht ganz nutzlos, wenn ich auch umgekommen bin und von der Hutte zur Hutte geschweift ... 'Umkommen', was ist denn das fur ein Ausdruck? Man braucht ihn gar nicht, er ist nicht ublich fur das, was mir zugesto?en, ganz willkurlich setze ich ihn dafur ein, weil ich nicht so ganz klar im Kopfe bin; und doch ist es in seiner Art ein richtiges Wort, wie mir scheint ... Nur gut, da? ich es aushalten kann,denn das Treiben, das Schneetreiben, das Unfug-treiben, kann gut und gern bis morgen fruh wahren, und wenn es auch nur bis zum Dunkelwerden wahrt, so ist das schlimm genug, denn bei Nacht ist die Gefahr des Umkommens, des im

Kreise Herumkommens ebenso gro? wie beim Schneesturm ... Es mu?te sogar schon Abend sein, ungefahr sechs, - so viel Zeit, wie ich beim Umkommen vertrodelt habe. Wie spat ist es denn?" Und er sah nach der Uhr, obgleich es den starren Fingern nicht leicht fiel, sie ohne Gefuhl aus den Kleidern zu graben, - nach seiner goldenen Springdeckeluhr mit Monogramm, die lebhaft und pflichttreu hier in der wusten Einsamkeit tickte, ahnlich seinem Herzen, dem ruhrenden Menschenherzen in der organischen Warme seiner Brustkammer ...

Es war halb funf. Was Teufel, so viel war es ja beinahe schon gewesen, als das Wetter losgegangen war. Sollte er glauben, da? sein Herumirren kaum eine Viertelstunde gedauert hatte? "Die Zeit ist mir lang geworden", dachte er. "Das Umkommen ist langweilig, wie es scheint. Aber um funf oder halb sechs wird es regelrecht dunkel, das bleibt bestehen. Wird es vorher aufhoren, rechtzeitig genug, da? ich vor weiterem Umkommen bewahrt bleibe? Darauf konnte ich einen Schluck Portwein nehmen, zu meiner Starkung."

Dies dilettantische Getrank hatte er zu sich gesteckt, einzig und allein, weil es auf "Berghof" in flachen Flaschchen bereit gehalten und Ausfluglern verkauft wurde, wobei selbstverstandlich nicht an solche gedacht war, die sich unerlaubterweise bei Schnee und Frost im Gebirge verirrten und unter solchen Umstanden die Nacht erwarteten. Bei minder herabgesetzten Sinnen hatte er sich sagen mussen, da? es, unter dem Gesichtspunkt des Heimkommens, beinahe das Falscheste war, was er hatte zu sich nehmen konnen; und das sagte er sich auch, nachdem er einige Schlucke genommen, die sofort eine Wirkung zeitigten, ganz ahnlich derjenigen des Kulmbacher Bieres am Abend seines ersten Tages hier oben, als er durch liederlich unbeherrschte Reden von Fischsaucen und dergleichen mehr bei Settembrini angesto?en hatte, - bei Herrn Lodovico, dem Padagogen, der sogar die Tollen, die sich gehen lie?en, mit seinem Blick zur Vernunft anhielt, und dessen wohllautendes Hornchen Hans Castorp eben durch die Lufte vernahm, zum Zeichen, der rednerische Erzieher nahere sich in gro?en Marschen, um den Schmerzenszogling, das Sorgenkind des Lebens aus seiner tollen Lage zu befreien und heimzufuhren ... Was selbstverstandlich lauter Unsinn war und nur von dem Kulmbacher herruhrte, das er aus Versehen getrunken. Denn erstens hatte Herr Settembrini gar kein Hornchen, sondern nur seine Drehorgel, die auf einem Stelzbein auf dem Pflaster stand, und zu deren gelaufigem Spiel er humanistische Augen an den

Hausern emporsandte; und zweitens wu?te und merkte er gar nichts von dem, was vorging, daer sich nicht mehr im Sanatorium "Berghof", sondern bei Damenschneider Lukacek in seinem Speicherstubchen mit der Wasserflasche, oberhalb von Naphtas seidener Zelle, befand, - hatte auch gar kein Recht und keine Moglichkeit zum Einschreiten, so wenig wie dermaleinst in der Faschingsnacht, als Hans Castorp sich in ebenso toller und schlimmer Lage befunden, indem er der kranken Clawdia Chauchat son crayon, seinen Bleistift, Pribislav Hippes Bleistift zuruckgegeben hatte ... Wie war das ubrigens mit der "Lage"? Um sich in einer Lage zu befinden, mu?te er liegen und nicht stehen, damit das Wort seinen gerechten und ordentlichen Sinn, statt eines blo? metaphorischen, gewanne. Horizontal, das war die Lage, die einem langjahrigen Mitgliede Derer hier oben zukam. War er denn nicht daran gewohnt, bei Schnee und Frost im Freien zu liegen, nachts sowohl wie am Tage? Und er machte Anstalt, sich niedersinken zu lassen, als ihn die Einsicht durchfuhr, ihn sozusagen beim Kragen nahm und aufrecht hielt, da? auch dieses sein Gedankengeschwatz von der "Lage" nur auf Rechnung des Kulmbacher Bieres zu setzen war, nur seiner unpersonlichen, als typisch gefahrlich im Buche stehenden Lust zum Liegen und Schlafen entsprang, die ihn mit Sophismen und Wortspielen betoren wollte.

"Da ist ein Mi?griff begangen worden", erkannte er. "Der Portwein war nicht das Rechte, die wenigen Schlucke haben mir den Kopf ganz ubertrieben schwer gemacht, er fallt mir ja auf die Brust, und meine Gedanken sind unklares Zeug und fade Witzeleien, denen ich nicht trauen darf, - nicht nur die ursprunglichen, die mir zuerst einfallen, sondern auch die zweiten, die ich mir kritischerweise uber die ersten mache, das ist das Ungluck. 'Son crayon'! Das hei?t 'ihr' crayon, und nicht seines, in diesem Fall, und man sagt nur 'son', weil 'crayon' ein Maskulinum ist, alles ubrige ist Witzelei. Da? ich mich uberhaupt dabei aufhalte! Wahrend zum Beispiel die Tatsache viel vordringlicher ist, da? mein linkes Bein, gegen das ich mich stutze, auffallend an das holzerne Stelzbein von Settembrinis Drehorgel erinnert, das er immer mit dem Knie vor sich hersto?t, uber das Pflaster hin, wenn er naher unter das Fenster tritt und den Sammethut hinhalt, damit das Magdlein droben ihm etwas hineinwirft. Und dabei zieht es mich unpersonlicherweise formlich mit Handen, da? ich mich in den Schnee lege. Dagegen hilft nur Bewegung. Ich mu? mir Bewegung machen, zur Strafe fur das Kulmbacher und um das Holzbein zu schmeidigen."

Er stie? sich mit der Schulter ab. Aber sowie er sich von dem Schuppen loste, einen Schritt nur vorwarts tat, hieb der Wind wie mit Sensen auf ihn ein und trieb ihn an die schutzende Wand zuruck. Zweifellos war sie der ihm gewiesene Aufenthalt, mit dem er sich vorlaufigabzufinden hatte, wobei es ihm freistand, sich zur Abwechselung mit der linken Schulter anzulehnen und sich auf das rechte Bein zu stutzen, unter einigem Schlenkern des linken, zu dessen Belebung. Bei einem derartigen Wetter verla?t man das Haus nicht, dachte er. Ma?ige Abwechslung ist zulassig, aber keine Neuerungssucht und kein Anbinden mit der Windsbraut. Halte dich still und la? immerhin deinen Kopf hangen, da er nun einmal so schwer ist. Die Wand ist gut, Holzbalken, es scheint eine gewisse Warme davon auszugehen, soweit hier von Warme die Rede sein kann, diskrete Eigenwarme des Holzes, moglicherweise mehr Stimmungssache, subjektiv ... Ah, die vielen Baume! Ah, das lebendige Klima der Lebendigen! Wie es duftet! ...

Es war ein Park, der unter ihm lag, unter dem Balkon, auf dem er wohl stand - ein weiter, uppig grunender Park von Laubbaumen, von Ulmen, Platanen, Buchen, Ahorn, Birken, leicht abgestuft in der Farbung ihres vollen, frischen, schimmernden Blatterschmucks und sacht mit den Wipfeln rauschend. Es wehte eine kostliche, feuchte, vom Atem der Baume balsamierte Luft. Ein warmer Regenschauer zog voruber, aber der Regen war durchleuchtet. Man sah bis hoch zum Himmel hinauf die Luft mit blankem Wassergeriesel erfullt. Wie schon! Oh, Heimatodem, Duft und Fulle des Tieflandes, lang entbehrt! Die Luft war voller Vogellaut, voll zierlich-innigem und su?em Floten, Zwitschern, Girren, Schlagen und Schluchzen, ohne da? eines der Tierchen sichtbar gewesen ware. Hans Castorp lachelte, dankbar atmend. Inzwischen aber lie? alles sich noch schoner an. Ein Regenbogen spannte sich seitwarts uber die Landschaft, voll ausgebildet und stark, die reinste Herrlichkeit, feucht schimmernd mit allen seinen Farben, die satt wie Ol ins dichte, blanke Grun herniederflossen. Das war ja wie Musik, wie lauter Harfenklang, mit Floten untermischt und Geigen. Das Blau und Violett besonders stromten wunderbar. Alles ging zauberisch verschwimmend darin unter, verwandelte, entfaltete sich neu und immer schoner. Es war, wie einmal, manches Jahr war das schon her, als Hans Castorp einen weltberuhmten Sanger hatte horen durfen, einen italienischen Tenor, aus dessen Kehle gnadenvolle Kunst und Krafte sich uber die Herzen der Menschen ergossen hatten. Er hatte einen hohen Ton gehalten, der schon gewesen war gleich am Anfang. Allein allmahlig, von Augenblick zu Augenblick

hatte der leidenschaftliche Wohllaut sich geoffnet, sich schwellend aufgetan, sich immer strahlender erhellt. Schleier auf Schleier, den vorher niemand wahrgenommen, war gleichsam davon abgesunken - ein letzter noch, der nun denn doch, so glaubte man, das au?erste und reinste Licht enthullt hatte, und dann ein aller- und dann ein unwahrscheinlich aberletzter, befreiend einen solchen Uberschwang von Glanz und tranenschimmernder Herrlichkeit, da? dumpfe Laute des Entzuckens, die fast wie Ein- und Widerspruch geklungen, sich aus der Menge gelost hatten und ihn selbst, denjungen Hans Castorp, ein Schluchzen angekommen war. So jetzt mit seiner Landschaft, die sich wandelte, sich offnete in wachsender Verklarung. Blaue schwamm ... Die blanken Regenschleier sanken: da lag das Meer - ein Meer, das Sudmeer war das, tief-tiefblau, von Silberlichtern blitzend, eine wunderschone Bucht, dunstig offen an einer Seite, zur Halfte von immer matter blauenden Bergzugen weit umfa?t, mit Inseln zwischenein, von denen Palmen ragten oder auf denen man kleine, wei?e Hauser aus Zypressenhainen leuchten sah. Oh, oh, genug, ganz unverdient, was war denn das fur eine Seligkeit von Licht, von tiefer Himmelsreinheit, von sonniger Wasserfrische! Hans Castorp hatte das nie gesehen, nichts dergleichen. Er hatte auf Ferienreisen vom Suden kaum genippt, kannte die rauhe, die blasse See und hing daran mit kindlichen, schwerfalligen Gefuhlen, hatte aber das Mittelmeer, Neapel, Sizilien etwa oder Griechenland, niemals erreicht. Dennoch erinnerte er sich. Ja, das war eigentumlicherweise ein Wiedererkennen, das er feierte. "Ach, ja, so ist es!" rief es in ihm - als hatte er das blaue Sonnengluck, das sich da vor ihm breitete, insgeheim und vor sich selbst verschwiegen, von je im Herzen getragen: Und dieses "Je" war weit, unendlich weit, so wie das offene Meer zur Linken, dort, wo der Himmel zart veilchenfarben darauf niederging.

Der Horizont lag hoch, die Weite schien zu steigen, was daher kam, da? Hans den Golf von oben sah, aus einiger Hohe: Die Berge griffen um, als Vorgebirge, buschwaldig, in die See tretend, zogen sie sich von der Mitte der Aussicht im Halbkreis bis dorthin, wo er sa?, und weiter; es war Bergkuste, wo er auf sonnerwarmten steinernen Stufen kauerte; vor ihm fiel das Gestade, moosig-steinig, in Treppenblocken, mit Gestrupp, zu einem ebenen Ufer ab, wo zwischen Schilf das Steingeroll blauende Buchten, kleine Hafen, Vorseen bildete. Und dieses sonnige Gebiet, und diese zuganglichen Kustenhohen, und diese lachenden Felsenbecken, wie auch das Meer hinaus bis zu den Inseln, wo Boote hin und wider

fuhren, war weit und breit bevolkert: Menschen, Sonnen- und Meereskinder, regten sich und ruhten uberall, verstandig-heitere, schone junge Menschheit, so angenehm zu schauen - Hans Castorps ganzes Herz offnete sich weit, ja schmerzlich weit und liebend ihrem Anblick.

Junglinge tummelten Pferde, liefen, die Hand am Halfter, neben ihrem wiehernden, kopfwerfenden Trabe her, zerrten die Bockenden an langem Zugel oder trieben sie, sattellos reitend, mit blo?en Fersen die Flanken der Gaule schlagend, ins Meer hinein, wobei die Muskeln ihrer Rucken unter der goldbraunen Haut in der Sonne spielten und die Rufe, die sie tauschten oder an ihre Tiere richteten, aus irgend einem Grunde bezaubernd klangen. An einer wie ein Bergsee die Ufer spiegelnden Bucht, die weit ins Land trat, war Tanz von Madchen. Eine, vonderen zum Knoten hochgenommenem Nackenhaar besonderer Liebreiz ausging, sa?, die Fu?e in einer Bodenvertiefung und blies auf einer Hirtenflote, die Augen uber ihr Fingerspiel hinweg gerichtet auf die Gefahrtinnen, die, lang- und weitgewandet, einzeln, die Arme lachelnd ausgebreitet, und zu Paaren, die Schlafen lieblich aneinander gelehnt, im Tanze schritten, wahrend im Rucken der Flotenden, der wei? und lang und zart und seitlich gerundet war, infolge der Stellung der Arme, andere Schwestern sa?en oder umschlungen standen, zuschauend in ruhigem Gesprach. Weiterhin ubte sich Jungmannschaft im Bogenschie?en. Es war glucklich und freundschaftlich zu sehen, wie Altere noch Ungeschickte, Lockige im Spannen der Sehne, im Anlegen unterwiesen, mit ihnen zielten und die vom Ruckschlag Taumelnden lachend stutzten, wenn der Pfeil schwirrend hinausging. Andere angelten. Sie lagen bauchlings auf Uferfelsenplatten, mit einem Beine wippend, und hielten die Schnur ins Meer, den Kopf gemachlich plaudernd dem Nachbarn zugewandt, der, in schragem Sitz den Korper reckend, seinen Koder recht weit hinauswarf. Wieder andere waren beschaftigt, ein hochbordiges Boot mit Mast und Segelstange unter Zerren, Schieben und Stemmen ins Meer zu fordern. Kinder spielten und jauchzten zwischen den Wellenbrechern. Ein junges Weib, lang hingestreckt, hintuber blickend, zog mit der einen Hand das blumige Gewand zwischen den Brusten hoch, indem sie mit der andren verlangend in die Luft nach einer Frucht mit Blattern griff, die der Schmalhuftige, zu ihren Haupten aufrecht, ihr mit gestrecktem Arme spielend vorenthielt. Man lehnte in Felsennischen, man zogerte am Rande des Bades, indem man kreuzweise mit den Handen die eigenen Schultern hielt und mit der Zehenspitze die Kuhle des Wassers prufte. Paare ergingen sich das Ufer entlang, und am Ohr des Madchens war

dessen Mund, der sie vertraulich fuhrte. Langzottige Ziegen sprangen von Platte zu Platte, uberwacht von einem jungen Hirten, der, eine Hand in der Hufte, mit der andern auf seinen langen Stab gestutzt, einen kleinen Hut mit hinten aufgeschlagener Krempe auf braunen Locken, am erhohten Orte stand.

"Das ist ja reizend!" dachte Hans Castorp von ganzem Herzen. "Das ist ja uberaus erfreulich und gewinnend! Wie hubsch, gesund und klug und glucklich sie sind! Ja, nicht nur wohlgestalt - auch klug und liebenswurdig von innen heraus. Das ist es, was mich so ruhrt und ganz verliebt macht: der Geist und Sinn, so mocht' ich sagen, der ihrem Wesen zugrunde liegt, in dem sie miteinander sind und leben!" Er meinte damit die gro?e Freundlichkeit und gleichma?ig verteilte hofliche Rucksicht, mit der die Sonnenleute verkehrten: eine leichte und unter Lacheln verborgene Ehrerbietung, die sie einander, unmerklich fast und doch kraft einer deutlich durch alle waltenden Sinnesbindung und eingefleischten Idee, auf Schritt und Tritt erwiesen; eine Wurde und Strenge sogar, doch ganz ins Heitere gelost und einzigals ein unaussprechlicher geistiger Einflu? undusteren Ernstes, verstandiger Frommigkeit ihr Tun und Lassen bestimmend - wenn auch nicht ohne alles Zeremoniell. Denn dort auf einem runden, bemoosten Steine sa? in braunem Kleide, das von der einen Schulter gelost war, eine junge Mutter und stillte ihr Kind. Und jeder, der vorbei kam, gru?te sie auf eine besondre Art, in welcher sich alles versammelte, was in dem allgemeinen Verhalten der Menschen sich so ausdrucksvoll verschwieg: die Junglinge, indem sie, sich gegen die Mutterliche wendend, leicht, rasch und formell die Arme uber der Brust kreuzten und lachelnd den Kopf neigten, die Madchen durch das nicht allzu genaue Andeuten einer Kniebeugung, ahnlich dem Kirchenbesucher, der im Vorubergehn vorm Hochaltar sich leichthin erniedrigt. Doch nickten sie mehrmals lebhaft, lustig und herzlich ihr mit dem Kopfe dabei zu, - und diese Mischung von formlicher Devotion und heiterer Freundschaft, dazu die langsame Milde, mit der die Mutter von ihrem Wurmchen, dem sie das Trinken mit in die Brust gedrucktem Zeigefinger bequem machte, aufblickte und den Reverenz Erweisenden mit einem Lacheln dankte, durchdrang Hans Castorp ganzlich mit Entzucken. Er wurde des Schauens nicht satt und fragte sich dennoch beklommen, ob ihm das Schauen denn auch erlaubt sei, ob das Belauschen dieses sonnig-gesitteten Gluckes ihn, den Unzugehorigen, der sich unedel und ha?lich und plump gestiefelt vorkam, nicht hochlichst strafbar mache.

Es schien unbedenklich. Ein schoner Knabe, dessen volles, seitlich uber den Kopf gelegtes Haar vorn uber der Stirn vorstand und in die Schlafe fiel, hielt sich, gerade unter seinem Sitz, mit auf der Brust verschrankten Armen von den Genossen abseits - nicht traurig oder trotzig, sondern eben nur gelassen abseits. Und dieser sah ihn, wandte den Blick zu ihm hinauf, und seine Augen gingen zwischen dem Spaher und den Bildern des Strandes, sein Lauschen belauschend, hin und her. Plotzlich aber blickte er uber ihn hinaus, sah hinter ihn ins Weite, und augenblicklich verschwand aus seinem schonen, streng geschnittenen, halbkindlichen Gesicht das allen gemeinsame Lacheln hoflich geschwisterlicher Rucksicht - ja, ohne da? seine Brauen sich verfinstert hatten, erstand in seiner Miene ein Ernst, ganz wie aus Stein, ausdruckslos, unergrundlich, eine Todesverschlossenheit, vor der den kaum beruhigten Hans Castorp der blasse Schrecken ankam, nicht ohne eine Beitat von unbestimmter Ahnung ihres Sinnes.

Auch er sah ruckwarts ... Machtige Saulen, ohne Sockel, aus zylindrischen Blocken geturmt, in deren Fugen Moos spro?te, ragten hinter ihm - die Saulen eines Tempeltors, auf dessen in der Mitte offenem Stufenunterbau er sa?. Schweren Herzens stand er auf, stieg seitlich die Stufen hinab und ging in den tiefen Torweg hinein, hindurch, auf einer mit Fliesen belegten Stra?e fort, die ihn alsbald vor neue Propylaen fuhrte. Er durchschritt auch sie, undnun lag vor ihm der Tempel, massig, graugrunlich verwittert anzusehen, mit steilem Treppensockel und breiter Stirn, die auf den Kapitalen solcher gewaltiger und fast gedrungener, nach oben sich verjungender Saulen lag, aus deren Gefuge manchmal ein gekehlter Rundblock, verschoben, seitlich austrat. Mit Muhe, auch unter Gebrauch der Hande und seufzend, denn immer beengter wurde es ihm ums Herz, erkletterte Hans Castorp die hohen Stufen und gewann den Hallenwald der Saulen. Der war sehr tief, er ging darin umher wie zwischen den Stammen des Buchenwaldes am blassen Meer, indem er absichtlich die Mitte vermied und auszuweichen suchte. Doch schweifte er wieder zu ihr zuruck und fand sich, wo die Saulenreihen auseinander traten, vor einer Statuengruppe, zwei steinernen Frauenfiguren auf einem Sockel, Mutter und Tochter, wie es schien: die eine, sitzend, alter, wurdiger, recht milde und gottlich, doch mit klagenden Brauen uber den sternlos leeren Augen, in faltenreicher Tunika und Oberkleid, den gewellten Matronenscheitel mit einem Schleier bedeckt; die andere, stehend, von jener mutterlich umschlungen, mit rundem Jungfrauengesicht, Arme und Hande in die

Falten ihres Ubergewandes geschlungen und darin verborgen.

In der Betrachtung des Standbildes wurde Hans Castorps Herz aus dunklen Grunden noch schwerer, angst- und ahnungsvoller. Er getraute sich kaum und war doch genotigt, die Gestalten zu umgehen und hinter ihnen die nachste doppelte Saulenreihe zuruckzulegen: Da stand ihm die metallene Tur der Tempelkammer offen, und die Knie wollten dem Armen brechen vor dem, was er mit Starren erblickte. Zwei graue Weiber, halbnackt, zottelhaarig, mit hangenden Hexenbrusten und fingerlangen Zitzen, hantierten dort drinnen zwischen flackernden Feuerpfannen aufs gra?lichste. Uber einem Becken zerrissen sie ein kleines Kind, zerrissen es in wilder Stille mit den Handen - Hans Castorp sah zartes blondes Haar mit Blut verschmiert - und verschlangen die Stucke, da? die sproden Knochlein ihnen im Maule knackten und das Blut von ihren wusten Lippen troff. Grausende Eiseskalte hielt Hans Castorp in Bann. Er wollte die Hande vor die Augen schlagen und konnte nicht. Er wollte fliehen und konnte nicht. Da hatten sie ihn schon gesehen bei ihrem greulichen Geschaft, sie schuttelten die blutigen Fauste nach ihm und schimpften stimmlos, aber mit letzter Gemeinheit, unflatig, und zwar im Volksdialekt von Hans Castorps Heimat. Es wurde ihm so ubel, so ubel wie noch nie. Verzweifelt wollte er sich von der Stelle rei?en - und so, wie er dabei an der Saule in seinem Rucken seitlich hingesturzt, so fand er sich, das scheu?liche Flusterkeifen noch im Ohr, von kaltem Grausen noch ganz umklammert an seinem Schuppen im Schnee, auf einem Arme liegend, mit angelehntem Kopf, die Beine mit den Ski-Holzern von sich gestreckt.

Es war jedoch kein rechtes und eigentliches Erwachen; er blinzelte nur, erleichtert,die Greuelweiber los zu sein, doch war es ihm sonst wenig deutlich, noch auch sehr wichtig, ob er an einer Tempelsaule liege oder an einem Schober, und er traumte gewisserma?en fort, - nicht mehr in Bildern, sondern gedankenweise, aber darum nicht weniger gewagt und kraus.

"Dacht ich's doch, da? das getraumt war", faselte er in sich hinein. "Ganz reizend und furchterlich getraumt. Ich wu?te es im Grunde die ganze Zeit, und alles hab ich mir selbst gemacht, - den Laubpark und die liebe Feuchtigkeit und dann das Weitere, Schones wie Scheu?liches, ich wu?te es beinahe im voraus. Wie kann man aber so was wissen und sich machen, sich so beglucken und angstigen? Woher hab ich den schonen Inselgolf und dann den Tempelbezirk, wohin die Augen des einen

Angenehmen, der fur sich stand, mich wiesen? Man traumt nicht nur aus eigener Seele, mocht ich sagen, man traumt anonym und gemeinsam, wenn auch auf eigene Art. Die gro?e Seele, von der du nur ein Teilchen, traumt wohl mal durch dich, auf deine Art, von Dingen, die sie heimlich immer traumt, - von ihrer Jugend, ihrer Hoffnung, ihrem Gluck und Frieden ... und ihrem Blutmahl. Da liege ich an meiner Saule und habe im Leibe noch die wirklichen Reste meines Traums, das eisige Grauen vor dem Blutmahl und auch die Herzensfreude noch von vorher, die Freude an dem Gluck und an der frommen Gesittung der wei?en Menschheit. Es kommt mir zu, behaupte ich, ich habe verbriefte Rechte, hier zu liegen und dergleichen zu traumen. Ich habe viel erfahren bei Denen hier oben von Durchgangerei und Vernunft. Ich bin mit Naphta und Settembrini im hochgefahrlichen Gebirge umgekommen. Ich wei? alles vom Menschen. Ich habe sein Fleisch und Blut erkannt, ich habe der kranken Clawdia Pribislav Hippes Bleistift zuruckgegeben. Wer aber den Korper, das Leben erkennt, erkennt den Tod. Nur ist das nicht das Ganze, - ein Anfang vielmehr lediglich, wenn man es padagogisch nimmt. Man mu? die andere Halfte dazu halten, das Gegenteil. Denn alles Interesse fur Tod und Krankheit ist nichts als eine Art von Ausdruck fur das am Leben, wie ja die humanistische Fakultat der Medizin beweist, die immer so hoflich auf lateinisch zum Leben und seiner Krankheit redet und nur eine Abschattung ist des einen gro?en und dringlichsten Anliegens, das ich mir nun mit aller Sympathie bei seinem Namen nenne: Es ist das Sorgenkind des Lebens, es ist der Mensch und ist sein Stand und Staat ... Ich verstehe mich nicht wenig auf ihn, habe viel gelernt bei Denen hier oben, bin hoch vom Flachlande hinaufgetrieben, so da? mir Armem fast der Atem ausging; doch habich nun vom Fu?e meiner Saule einen nicht schlechten Uberblick ... Mir traumte vom Stande des Menschen und seiner hoflich-verstandigen und ehrerbietigen Gemeinschaft, hinter der im Tempel das gra?liche Blutmahl sich abspielt. Waren sie so hoflich und reizend zueinander, die Sonnenleute, im stillen Hinblick auf eben dies Gra?liche? Das ware eine feine und recht galante Folgerung, die sie da zogen! Ich will es mit ihnen halten in meiner Seele und nicht mit Naphta - ubrigens auch nicht mit Settembrini, sie sind beide Schwatzer. Der eine ist wollustig und boshaft, und der andere blast immer nur auf dem Vernunfthornchen und bildet sich ein, sogar die Tollen ernuchtern zu konnen, das ist ja abgeschmackt. Es ist Philisterei und blo?e Ethik, irreligios, so viel ist ausgemacht. Doch will ich's auch mit des kleinen Naphta Teil nicht halten, mit seiner Religion, die nur ein

guazzabuglio von Gott und Teufel, Gut und Bose ist, eben recht, damit das Einzelwesen sich kopfuber hineinsturze, zwecks mystischen Unterganges im Allgemeinen. Die beiden Padagogen! Ihr Streit und ihre Gegensatze sind selber nur ein guazzabuglio und ein verworrener Schlachtenlarm, wovon sich niemand betauben la?t, der nur ein bi?chen frei im Kopfe ist und fromm im Herzen. Mit ihrer aristokratischen Frage! Mit ihrer Vornehmheit! Tod oder Leben - Krankheit, Gesundheit - Geist und Natur. Sind das wohl Widerspruche? Ich frage: sind das Fragen? Nein, es sind keine Fragen, und auch die Frage nach ihrer Vornehmheit ist keine. Die Durchgangerei des Todes ist im Leben, es ware nicht Leben ohne sie, und in der Mitte ist des homo Dei Stand - inmitten zwischen Durchgangerei und Vernunft - wie auch sein Staat ist zwischen mystischer Gemeinschaft und windigem Einzeltum. Das sehe ich von meiner Saule aus. In diesem Stande soll er fein galant und freundlich ehrerbietig mit sich selber verkehren, - denn er allein ist vornehm, und nicht die Gegensatze. Der Mensch ist Herr der Gegensatze, sie sind durch ihn, und also ist er vornehmer als sie. Vornehmer als der Tod, zu vornehm fur diesen, - das ist die Freiheit seines Kopfes. Vornehmer als das Leben, zu vornehm fur dieses, - das ist die Frommigkeit in seinem Herzen. Da habe ich einen Reim gemacht, ein Traumgedicht vom Menschen. Ich will dran denken. Ich will gut sein. Ich will dem Tode keine Herrschaft einraumen uber meine Gedanken! Denn darin besteht die Gute und Menschenliebe, und in nichts anderem. Der Tod ist eine gro?e Macht. Man nimmt den Hut ab und wiegt sich vorwarts auf Zehenspitzen in seiner Nahe. Er tragt die Wurdenkrause des Gewesenen, und selber kleidet man sich streng und schwarz zu seinen Ehren. Vernunft steht albern vor ihm da, dennsie ist nichts als Tugend, er aber Freiheit, Durchgangerei, Unform und Lust. Lust, sagt mein Traum, nicht Liebe. Tod und Liebe, - das ist ein schlechter Reim, ein abgeschmackter, ein falscher Reim! Die Liebe steht dem Tode entgegen, nur sie, nicht die Vernunft, ist starker als er. Nur sie, nicht die Vernunft, gibt gutige Gedanken. Auch Form ist nur aus Liebe und Gute: Form und Gesittung verstandig-freundlicher Gemeinschaft und schonen Menschenstaats - in stillem Hinblick auf das Blutmahl. Oh, so ist es deutlich getraumt und gut regiert! Ich will dran denken. Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, da? Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren. Der Mensch soll um der Gute und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einraumen uber seine Gedanken. Und

damit wach ich auf ... Denn damit hab ich zu Ende getraumt und recht zum Ziele. Schon langst hab ich nach diesem Wort gesucht: am Orte, wo Hippe mir erschien, in meiner Loge und uberall. Ins Schneegebirge hat mich das Suchen danach auch getrieben. Nun habe ich es. Mein Traum hat es mir deutlichst eingegeben, da? ich's fur immer wei?. Ja, ich bin hoch entzuckt und ganz erwarmt davon. Mein Herz schlagt stark und wei? warum. Es schlagt nicht blo? aus korperlichen Grunden, nicht so, wie einer Leiche noch die Nagel wachsen; menschlicherweise schlagt es und recht von glucklichen Gemutes wegen. Das ist ein Trank, mein Traumwort, - besser als Portwein und Ale, es stromt mir durch die Adern wie Lieb' und Leben, da? ich mich aus meinem Schlaf und Traume rei?e, von denen ich naturlich sehr wohl wei?, da? sie meinem jungen Leben im hochsten Grade gefahrlich sind ... Auf, auf! Die Augen auf! Es sind deine Glieder, die Beine da im Schnee! Zusammenziehn und auf! Sieh da, - gut Wetter!"

Sie hielt gewaltig schwer, die Befreiung aus den Banden, die ihn umstrickten und niederhalten wollten; allein der Antrieb, den er sich zu schaffen gewu?t, war starker. Hans Castorp warf sich auf den Ellenbogen, zog mannhaft die Knie an, ri?, stutzte und turnte sich empor. Er stampfte mit den Brettern den Schnee, schlug sich die Arme um die Rippen und schuttelte die Schultern, indem er erregte und angestrengte Blicke dahin und dorthin und hinauf zum Himmel sandte, wo blasses Blau sich zwischen schleierdunnen, graublauen Wolken zeigte, die sachte zogen und die schmale Sichel des Mondes enthullten. Leichte Dammerung. Kein Sturm, kein Schneefall. Die Bergwand druben mit dem tannenrauhen Rucken war voll und klar zu sehen, lag in Frieden. Schatten reichte bis halbhinauf; die obere Halfte war aufs zarteste rosa belichtet. Was gab es denn, und wie verhielt es sich mit der Welt? War Morgen? Und hatte er die Nacht hindurch im Schnee gelegen, ohne zu erfrieren, wie es im Buche stand? Kein Glied war abgestorben, keines zerbrach ihm klirrend, wahrend er stampfte, sich schuttelte und schlug, worin er nicht saumig war, indem er zu gleicher Zeit die Sachlage gedanklich zu ergrunden suchte. Ohren, Fingerspitzen und Zehen waren wohl taub, allein nicht mehr, als schon so oft beim nachtlich-winterlichen Liegen in der Loge. Es gelang, die Uhr hervorzugraben. Sie ging. Sie war nicht stehen geblieben, wie sie zu tun pflegte, wenn er sie abends aufzuziehen verga?. Sie zeigte noch nicht Funf - bei weitem nicht. Es fehlten zwolf, dreizehn Minuten daran. Erstaunlich! Konnte es denn sein, da? er nur zehn Minuten oder etwas langer hier im Schnee gelegen und

so vieles an Glucks- und Schreckensbildern und waghalsigen Gedanken sich vorgefabelt hatte, indessen das hexagonale Unwesen sich so schnell verzog, wie es gekommen? Dann hatte er anerkennenswertes Gluck gehabt, unter dem Gesichtspunkt des Heimkommens. Denn zweimal hatte sein Traumen und Fabeln eine Wendung genommen, da? er belebt emporgefahren war: einmal vor Grauen und das zweitemal vor Freude. Es schien, das Leben hatte es gut gemeint mit seinem hochverirrten Sorgenkinde ...

Mochte dem nun aber wie immer sein und mochte er Morgen um sich haben oder Nachmittag(ganz ohne Zweifel war es noch immer fruhabendlicher Nachmittag): auf jeden Fall lag nichts in den Umstanden oder in seinem personlichen Zustande, was ihn gehindert hatte, nach Hause zu laufen, und das tat denn Hans Castorp, - gro?zugig, sozusagen in der Luftlinie, fuhr er zu Tal, wo, als er eintraf, schon Lichter brannten, obgleich die Reste von schneebewahrtem Tageslicht ihm unterwegs vollauf genugt hatten. Den Brehmenbuhl, am Rande des Mattenwaldes, kam er herunter und war halb sechs in "Dorf", wo er sein Sportgerat beim Kramer unterstellte, in Herrn Settembrinis Speicherklause Rast machte und ihm Bericht gab, wie er sich nun auch einmal vom Schneesturm habe betreffen lassen. Der Humanist war hochlich erschrocken. Er warf die Hand uber den Kopf, schalt weidlich uber solchen gefahrlichen Leichtsinn und entflammte stehenden Fu?es die puffende Spiritusmaschine, dem recht Erschopften Kaffee zu machen, dessen Starke nicht hinderte, da? Hans Castorp noch bei ihm im Stuhle in Schlaf fiel.

Die hochzivilisierte Atmosphare des "Berghofs" umschmeichelte ihn eine Stunde spater. Beim Diner griff er gewaltig zu. Was er getraumt, war im Verbleichen begriffen. Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr so recht.

Als Soldat und brav

Immer hatte Hans Castorp kurze Nachrichten von seinem Vetter, erst gute, ubermutige, dann weniger gunstige, endlich solche, die etwas recht Traurigesmatt beschonigten. Die Reihe der Postkarten fing an mit der lustigen Meldung von Joachims Dienstantritt und von der schwarmerischen Zeremonie, bei der er, wie Hans Castorp auf seiner Antwortkarte sich ausdruckte, Armut, Keuschheit und Gehorsam gelobt

hatte. Dann ging es heiter fort: die Etappen einer glatten, begunstigten Laufbahn, geebnet durch leidenschaftliche Liebe zur Sache und durch die Sympathie der Oberen, wurden gru?end und winkend bezeichnet. Da Joachim ein paar Semester studiert hatte, war er des Besuches der Kriegsschule uberhoben, vom Fahnrichsdienst befreit. Neujahr wurde er zum Unteroffizier befordert und schickte eine Photographie, die ihn mit den Tressen zeigte. Das Entzucken an dem Geist der ehrenstraffen, eisern gefugten und dennoch verbissen-humoristisch dem Menschlichen nachgebenden Hierarchie, in die er eingefugt war, leuchtete aus jedem seiner knappen Rapporte. Er gab Anekdoten von dem romantisch-verzwickten Verhalten seines Feldwebels, eines barbei?igen und fanatischen Soldaten, zu ihm, dem fehlbaren jungen Untergebenen, in dem er jedoch den geweihten Vorgesetzten von morgen sah, welcher tatsachlich schon im Offizierskasino verkehrte. Es war drollig und wild. Dann war von der Zulassung zur Offiziersprufung die Rede. Anfang April war Joachim Leutnant.

Augenscheinlich gab es keinen glucklicheren Menschen, keinen, dessen Wesen und Wunsche in dieser besonderen Lebensform reiner aufgegangen waren. Mit einer Art von verschamter Wonne erzahlte er, wie er zum erstenmal in seiner jungen Pracht am Rathaus vorubergegangen und dem Posten, der zur Ehrenbezeigung stillgestanden sei, aus einiger Entfernung abgewinkt habe. Er berichtete von kleinen Verdrie?lichkeiten und Genugtuungen des Dienstes, von glanzend-wohliger Kameradschaft, von der verschmitzten Treue seines Burschen, komischen Zwischenfallen beim Exerzieren und in der Instruktionsstunde, von Besichtigungen und Liebesmahlen. Auch von gesellschaftlichen Dingen, Visiten, Diners, Ballen, war gelegentlich die Rede. Von seiner Gesundheit uberhaupt nicht.

Bis gegen den Sommer nicht. Dann hie? es, er hute das Bett, habe sich leider krank melden mussen: Katarrhfieber, Angelegenheit von ein paar Tagen. Anfang Juni tat er wieder Dienst, aber Mitte des Monats hatte er abermals "schlapp gemacht", klagte bitter uber sein "Pech", und die Angst brach durch, er mochte etwa zum gro?en Manover, Anfang August, auf das er sich von ganzem Herzen freute, nicht auf dem Posten sein. Unsinn, im Juli war er kerngesund, wochenlang, so lange, bis eine Untersuchung am Horizont erschien, die durch die vermaledeiten Schwankungen seiner Temperatur zur Notwendigkeit geworden war, und

von der viel abhangen wurde. Uber das Ergebnis dieser Untersuchung horte Hans Castorp dann lange nichts, und als es geschah, war es nicht Joachim, der ihm schrieb, - sei es, weil er nicht in der Lage war, zu schreiben, oder weil er sich schamte, - sondern seine Mutter, Frau Ziem?en, und sie telegraphierte. Sie zeigte an, die Beurlaubung Joachims auf einige Wochen sei arztlicherseits als unumganglich befunden worden. Hochgebirge indiziert, alsbaldige Abreisegeraten, Belegung zweier Zimmer erbeten. Ruckantwort bezahlt. Gezeichnet: Tante Luise.

Es war Ende Juli, als Hans Castorp in seiner Balkonloge diese Depesche durchflog, dann las und wieder las. Er nickte leise dazu, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Oberkorper, und sagte zwischen den Zahnen: "Szo, szo, szo! Szieh, szieh, szieh! - Joachim kommt wieder!" durchfuhr ihn plotzlich die Freude. Aber er wurde gleich wieder still und dachte: "Hm, hm, schwerwiegende Neuigkeiten. Man konnte sie auch als schone Bescherung bezeichnen. Verdammt, das ist schnell gegangen - schon reif fur die Heimat! Die Mutter fahrt mit -"(er sagte "die Mutter", nicht "Tante Luise"; sein Gefuhl fur Verwandtschaft, Familienbeziehungen hatte sich unvermerkt bis zur Fremdheit abgeschwacht) - "das ist gravierend. Und gerade vor den Manovern, auf die der Gute so brannte! Hm, hm, es liegt eine hubsche Portion Gemeinheit darin, hohnische Gemeinheit, es ist ein gegen-idealistisches Faktum. Der Korper triumphiert, er will es anders als die Seele, und setzt sich durch, zur Blamage der Hochfliegenden, die lehren, er sei der Seele untertan. Es scheint, sie wissen nicht, was sie sagen, denn wenn sie recht hatten, so wurfe das ein zweifelhaftes Licht auf die Seele, in einem Fall wie diesem. Sapienti sat, ich wei?, wie ichs meine. Denn die Frage, die ich aufstelle, ist eben, wie weit es verfehlt ist, sie gegeneinander zu stellen, wie weit sie vielmehr unter einer Decke stecken und eine abgekartete Partie spielen, - das fallt den Hochfliegenden zu ihrem Gluck nicht ein. Guter Joachim, wer wollte dir und deinem Biereifer zu nahe treten! Du meinst es ehrlich - aber was ist Ehrlichkeit, frage ich, wenn Korper und Seele nun mal unter einer Decke stecken? Sollte es moglich sein, da? du gewisse erfrischende Dufte, eine hohe Brust und ein grundloses Gelachter nicht hast vergessen konnen, die am Tische der Stohr deiner warten? ... Joachim kommt wieder!" dachte er neuerdings und zog sich zusammen vor Freude. "Er kommt in schlechtem Zustande, offenbar, aber wir werden wieder zu zweien sein, ich werde nicht mehr so ganz auf eigene Hand hier oben leben. Das ist gut. Es wird nicht alles genau wie fruher sein; sein Zimmer ist ja besetzt: Mistre? Macdonald, da hustet sie

auf ihre klanglose Art und hat naturlich wieder die Photographie ihres kleinen Sohnes neben sich auf dem Tischchen oder auch in der Hand. Aber das ist finales Stadium, und wenn das Zimmer noch nicht wieder vorgemerkt ist, so ... Vorlaufig wird ja ein anderes zu haben sein. 28 ist frei, meines Wissens. Ich will gleich auf die Verwaltung und namentlich zu Behrens. Ist das eine Neuigkeit, - traurig von der einen undfamos von der anderen Seite, aber jedenfalls eine machtige Neuigkeit! Ich mochte nur auf den gdie?enden Kameraden warten, der gleich kommen mu?, da es, wie ich sehe, halb vier ist. Ich mochte ihn fragen, ob er auch in diesem Falle der Meinung bleibt, da? man das Korperliche als sekundar zu betrachten hat ..."

Noch vorm Tee war er im Verwaltungsbureau. Das gedachte Zimmer, am selben Korridor wie seines gelegen, stand zur Verfugung. Auch fur Frau Ziem?en wurde sich Unterkunft finden. Er eilte zu Behrens. Er traf ihn im "Labor", eine Zigarre in der einen Hand, in der anderen ein Reagenzglas mi?farbenen Inhalts.

"Herr Hofrat, wissen Sie was?" begann Hans Castorp ...

"Ja, da? der Arger nicht abrei?t", erwiderte der Pneumotom. "Das ist Rosenheim aus Utrecht", sagte er und wies mit der Zigarre auf das Glas. "Gaffky zehn. Und da kommt Fabrikdirektor Schmitz und zetert und beschwert sich, da? Rosenheim auf der Promenade ausgespuckt hat, - mit Gaffky zehn. Und ich soll ihn ruffeln. Aber wenn ich ihn ruffle, so kriegt er Zustande, denn er ist ma?los irritabel und hat mit Familie drei Zimmer belegt. Ich kann ihn nicht rausgraulen, ich kriege es mit der Generaldirektion zu tun. Da sehen Sie, in was fur Konflikte man jeden Augenblick gerat, und wenn man auch noch so gern still und unbefleckt seines Weges ziehen mochte."

"Dumme Geschichte", sagte Hans Castorp mit der Einsicht des Intimen und Altsassen. "Ich kenne die Herren. Schmitz ist kolossal korrekt und strebsam und Rosenheim reichlich salopp. Vielleicht bestehen aber auch noch andere, als hygienische, Reibungsflachen, ich mochte es glauben. Schmitz und Rosenheim sind beide befreundet mit Dona Perez aus Barcelona, vom Tisch der Kleefeld, das wird es im Grunde wohl sein. Ich wurde vorschlagen, das betreffende Verbot vielleicht allgemein wieder in Erinnerung zu bringen und ubrigens ein Auge zuzudrucken."

"Naturlich drucke ich. Ich kriege ja schon Blepharospasmus vor lauter Augenzudrucken. Was treten Sie hier denn an?"

Und Hans Castorp ruckte heraus mit seiner traurigen und auch wieder

famosen Neuigkeit.

Nicht, da? der Hofrat uberrascht gewesen ware. Er ware es auf keinen Fall gewesen, war es aber besonders nicht, weil Hans Castorp ihn, gefragt oder ungefragt, uber Joachims Ergehen auf dem laufenden gehalten und schon im Mai Bettlagerigkeit signalisiert hatte.

"Aha", machte Behrens. "Na also. Und was habe ich Ihnen gesagt? Was habe ich ihm und Ihnen nicht zehn-, sondern hundertmal wortlich gesagt? Da haben Sie's nun. Dreiviertel Jahr lang hat er seinen Willen und sein Himmelreich gehabt. Aber ein nicht restlos entgiftetes Himmelreich, dabei ist kein Segen, das hat der Ausbrecher dem ollen Behrens nicht glauben wollen. Man soll aber immer dem ollen Behrens glauben, sonst zieht man den kurzerenund kommt zu spat zu Verstand. Da hat er es nun zum Leutnant gebracht, allerdings, nichts zu sagen. Was hat er davon? Gott sieht ins Herze, der sieht nicht auf Rang und Stand, vor dem stehen wir alle in unsrer Blo?e, ob General oder gemeiner Mann ..." Er geriet ins Kohlen, rieb sich mit der riesigen Hand, zwischen deren Fingern er die Zigarre hielt, die Augen und sagte, nun solle Hans Castorp ihm aber fur diesmal nicht langer lastig fallen. Eine Bude fur Ziem?en sei ja wohl fa?bar, und wenn er komme, solle sein Vetter ihn ohne Verzug ins Bett stecken. Ihn, Behrens, betreffend, so trage er keinem was nach, er halte die Arme vaterlich geoffnet und sei bereit, ein Kalb fur den Ausrei?er zu schlachten.

Hans Castorp telegraphierte. Er erzahlte nach rechts und links, da? sein Vetter wiederkomme, und alle, die Joachim kannten, waren betrubt und erfreut, und zwar beides aufrichtig, denn Joachims propperes, ritterliches Wesen hatte die allgemeine Zuneigung gewonnen, und manches unausgesprochene Urteil und Gefuhl ging in der Richtung, da? er der Beste gewesen sei von allen hier oben. Wir haben niemanden personlich im Auge, glauben aber an eine gewisse Genugtuung, die mancher daruber empfand, da? Joachim aus dem Soldatenstande zur horizontalen Lebensweise zuruckkehren mu?te und in seiner Propperkeit nun wieder einer der Unsrigen sein wurde. Frau Stohr, bekanntlich, hatte sich gleich das ihre gedacht; sie fand sich bestatigt in dem ordinaren Zweifelsinn, mit dem sie Joachims Aufbruch ins Flachland begleitet hatte, und verschmahte nicht, sich seiner zu ruhmen. "Faul, faul", machte sie. Sie habe die Sache sogleich als faul erkannt und wolle nur hoffen, da? Ziem?en sie nicht oberfaul gemacht habe mit seinem Eigensinn.("Oberfaul" sagte sie vor lauter unerme?licher Gewohnlichkeit.) Da sei es

denn doch viel besser, man bleibe gleich bei der Stange, wie sie, die auch ihre Lebensinteressen im Flachlande, namlich in Cannstadt, habe, einen Mann und zwei Kinder, sich jedoch zu beherrschen wisse ... Es kam gar keine Ruckau?erung mehr von Joachim oder Frau Ziem?en. Hans Castorp blieb unwissend uber Tag und Stunde ihrer Ankunft; zu einem Empfang am Bahnhof kam es aus diesem Grunde nicht, sondern drei Tage nach Absendung von Hansens Depesche waren sie einfach da, und Leutnant Joachim trat mit erregtem Lachen an seines Vetters Dienstlager.

Es war nach begonnener Abendliegekur. Derselbe Zug hatte sie hergebracht, mit dem Hans Castorp vor Jahren, die weder kurz noch lang, sondern ohne Zeit, in hohem Grade erlebnisreich und dennoch null und nichtig gewesen waren, hier oben eingetroffen war, und auch die Jahreszeit war dieselbe, sogar genau: der allerersten Augusttage einer. Joachim, wie gesagt, trat freudig - ja, fur den Augenblick unzweifelhaft freudig erregtbei Hans Castorp ein oder vielmehr aus dem Zimmer, das er im Geschwindschritt durchmessen, auf den Balkon hinaus und gru?te lachend, rasch atmend, gedampft und abgerissen. Er hatte die weite Reise, durch mehrerer Herren Lander, uber den meerartigen See und dann auf gedrangen Pfaden hoch - hoch herauf wieder zuruckgelegt, und da stand er nun, als sei er nie weggewesen, von seinem aus der Horizontale halb aufgefahrenen Verwandten mit Hallos und Nanus empfangen. Seine Farbe war lebhaft, sei es dank dem Freiluftleben, das er gefuhrt, oder durch Reiseerhitzung. Direkt, ohne sein Zimmer erst zu betreten, war er auf Nr. 34 geeilt, um den Genossen alter Tage, die nun wieder Gegenwart wurden, zu begru?en, wahrend seine Mutter mit ihrer Toilette beschaftigt war. Man wollte zu Abend essen in zehn Minuten, naturlich im Restaurant. Hans Castorp wurde schon noch etwas mitessen konnen oder doch einen Schluck Wein trinken. Und Joachim zog ihn hinuber auf Nr. 28, wo es ging, wie einst am Abend von Hansens Ankunft, nur umgekehrt: Joachim, fiebrig plaudernd, wusch sich am blitzenden Becken die Hande, und Hans Castorp sah ihm zu, - erstaunt ubrigens und gewisserma?en enttauscht, den Vetter in Zivil zu sehen. Man merke ihm von seiner Karriere ja gar nichts an. Er habe ihn sich immer als Offizier, in Uniform vorgestellt, und nun stehe er da in grauem Uni, wie irgend jemand. Joachim lachte und fand ihn naiv. Ach nein, die Uniform habe er hubsch zu Hause gelassen. Mit der Uniform, musse Hans Castorp wissen, habe es was auf sich. Nicht jedes Lokal besuche man in Uniform. "Ach so. Danke gehorsamst", sagte Hans Castorp. Aber

Joachim schien sich keines beleidigenden Sinnes seiner Erklarung bewu?t zu sein, sondern erkundigte sich nach allen Personen und Umstanden im "Berghof" nicht nur ohne jeden Hochmut, sondern mit der ganzen angelegentlichen Bewegtheit des Heimgekehrten. Dann erschien Frau Ziem?en durch die Verbindungstur, begru?te den Neffen in der Form, die manche Leute bei solchen Gelegenheiten wahlen, namlich als sei sie freudig uberrascht, ihn hier zu treffen, ein Ausdruck, der ubrigens durch Abgespanntheit und stillen Kummer, welcher sich offenbar auf Joachim bezog, melancholisch gedampft wurde, - und sie fuhren hinunter.

Luise Ziem?en hatte dieselben schonen, schwarzen und sanften Augen wie Joachim. Ihr ebenfalls schwarzes, mit Wei? aber schon stark vermischtes Haar war durch ein fast unsichtbares Schleiernetz in Form und Sitz befestigt, und das pa?te zu ihrer Wesenshaltung uberhaupt, die besonnen, freundlich gemessen und sanft zusammengenommen war und ihr bei deutlicher Geistesschlichtheit eine angenehme Wurde verlieh. Es war klar, und Hans Castorp wunderte sich auch nicht daruber, da? sie sich auf Joachims Lustigkeit, auf den raschen Gang seiner Atmung und seiner sich ubersturzendenRede, Erscheinungen, die zu seinem Verhalten zu Hause und auf der Reise wahrscheinlich in Widerspruch standen und tatsachlich seiner Lage widersprachen, nicht verstand und gewisserma?en Ansto? daran nahm. Dieser Einzug erschien ihr traurig, und sie glaubte sich dementsprechend halten zu sollen. In die Empfindungen Joachims, turbulente Empfindungen der Heimkehr, die im Augenblick alles Entgegenstehende trunken uberwogen und durch das Wiederatmen der Luft, unserer unvergleichlich leichten, nichtigen und erhitzenden Luft hier oben, wohl noch befeuert wurden, konnte sie sich nicht finden, sie waren ihr undurchsichtig. "Mein armer Junge", dachte sie, und dabei sah sie den armen Jungen sich mit seinem Vetter einer ausgelassenen Frohlichkeit hingeben, hundert Erinnerungen auffrischen, hundert Fragen stellen und sich mit der Antwort lachend in den Stuhl zuruckwerfen. Mehrmals sagte sie: "Aber, Kinder!" Und was sie schlie?lich sagte, sollte erfreut kommen, kam aber mit Befremdung und leisem Tadel: "Joachim, wahrhaftig, so habe ich dich lange nicht gesehen. Es scheint, wir mu?ten hierher fahren, damit du wieder warest wie am Tag deiner Beforderung." Worauf es denn freilich mit Joachims Lustigkeit zu Ende war. Seine Stimmung schlug um, er kam zur Besinnung, schwieg, a? nichts vom Nachtisch, obgleich es ein uberaus leckeres Schokolade-Souffle mit Schlagrahm war, das

erschien,(Hans Castorp hielt sich statt seiner daran, obgleich seit Abschlu? des ubergewaltigen Diners erst eine Stunde vergangen war) und blickte endlich uberhaupt nicht mehr auf, offenbar weil er Tranen in den Augen hatte.

Das war Frau Ziem?ens Meinung nun gewi? nicht gewesen. Eigentlich mehr anstandshalber hatte sie ein wenig gema?igten Ernst herbeifuhren wollen, unwissend, da? gerade das Mittlere und Gema?igte hier ortsfremd und nur die Wahl zwischen Extremen gegeben war. Da sie den Sohn so gebrochen sah, schien sie selbst den Tranen nicht fern und war ihrem Neffen dankbar fur seine Bemuhungen, den Tieftraurigen wieder zu beleben. Ja, was den Personalbestand angehe, sagte er, so werde Joachim manches verandert und erneuert finden, anderes dagegen habe sich wahrend seiner Abwesenheit schon wieder hergestellt und sei wie vordem. Die Gro?tante zum Beispiel mit Begleitung sei langst wieder da. Die Damen sa?en, wie immer, am Tische der Stohr. Marusja lache viel und herzlich.

Joachim schwieg, Frau Ziem?en dagegen fand sich durch diese Worte an eine Begegnung erinnert und an Gru?e, die auszurichten seien, ehe sie es vergesse, - die Begegnung mit einer Dame, nicht unsympathisch, wenn auch alleinstehend und mit etwas gar zu ebenma?igen Augenbrauen, die in Munchen, wo man zwischen zwei Nachtfahrten einen Tag verbracht hatte, im Restaurant an ihren und Joachims Tisch herangetreten sei, um Joachim zu begru?en. Eine ehemalige Mitpatientin, - Joachim moge ihr doch helfen ...

"Frau Chauchat", sagte Joachim still. Sie halte sich zur Zeit in einem Kurort des Allgaus auf und wolle im Herbstnach Spanien gehen. Zum Winter werde sie dann wahrscheinlich wieder hierher kommen. Beste Gru?e von ihr.

Hans Castorp war kein Knabe mehr, er hatte Gewalt uber die Gefa?nerven, die sein Gesicht hatten erblassen oder erroten lassen konnen. Er sagte:

"Ach, die war das? Sieh an, da ist sie also wieder hinter dem Kaukasus hervorgekommen. Und nach Spanien will sie?"

Die Dame hatte einen Ort in den Pyrenaen genannt. "Hubsche oder doch reizvolle Frau. Angenehme Stimme, angenehme Bewegungen. Aber freie Manieren, nachlassig", sagte Frau Ziem?en. "Redet uns einfach an wie alte Freunde, fragt und erzahlt, obgleich Joachim, wie ich hore, eigentlich nie ihre Bekanntschaft gemacht hat. Fremdartig."

"Das ist der Osten und die Krankheit", erwiderte Hans Castorp. Mit Ma?staben der humanistischen Gesittung durfe man da nicht herantreten, das sei verfehlt. Und da denke er nun daruber nach, da? Frau Chauchat also nach Spanien zu gehen beabsichtige. Hm. Spanien, das liege andererseits ebensoweit von der humanistischen Mitte ab, - nicht nach der weichen, sondern nach der harten Seite; es sei nicht Formlosigkeit, sondern Uberform, der Tod als Form, sozusagen, nicht Todesauflosung, sondern Todesstrenge, schwarz, vornehm und blutig, Inquisition, gestarkte Halskrause, Loyola, Eskorial ... Interessant, wie es Frau Chauchat in Spanien gefallen werde. Das Turenwerfen werde ihr dort wohl vergehen, und vielleicht konne eine gewisse Kompensation der beiden au?erhumanistischen Lager zum Menschlichen sich vollziehen. Es konne aber auch etwas recht boshaft Terroristisches zustande kommen, wenn der Osten nach Spanien gehe ...

Nein, er war nicht rot oder bla? geworden, aber der Eindruck, den die unverhofften Nachrichten uber Frau Chauchat auf ihn gemacht, au?erte sich in Reden, auf die denn freilich nur betretenes Schweigen die Antwort sein konnte. Joachim war weniger erschrocken; er kannte des Vetters Scharfkopfigkeit hier oben von fruher her. Aber in Frau Ziem?ens Augen malte sich gro?te Besturzung; sie verhielt sich nicht anders, als habe Hans Castorp grobe Unanstandigkeiten geau?ert, und hob nach einer peinlichen Pause die Tafel mit Worten taktvoller Vertuschung auf. Bevor man sich trennte, teilte Hans Castorp die Order des Hofrats mit, da? Joachim jedenfalls morgen im Bett bleiben solle, bis jener ihn untersucht habe. Das Weitere werde sich finden. Dann lagen die drei Verwandten bald in ihren offenen Zimmern in der Frische der Hochgebirgs-Sommernacht, - ein jeder mit seinen Gedanken, Hans Castorp vornehmlich mit dem an Frau Chauchats binnen Halbjahrsfrist zu erwartende Wiederkehr.

Und so war denn der arme Joachim zu einer ratlich gewordenen kleinen Nachkur wieder in die Heimat eingeruckt. Dies Wort von der kleinen Nachkur war offenbar die im Flachland ausgegebene Parole, und auch hier oben lie? man sie gelten. Selbst Hofrat Behrens nahm die Wendung an, obgleich es allein schon vier Wochen Bettlage waren, die er Joachim vor allemeinmal aufbrummte: die seien notig, um das Grobste zu reparieren, zur neuen Akklimatisation und um seinen Warmehaushalt vorlaufig etwas zu regeln. Sich auf eine Befristung der Nachkur festlegen zu lassen, wu?te er zu vermeiden. Frau Ziem?en, verstandig,

einsichtsvoll, durchaus nicht sanguinisch, brachte, fern von Joachims Lager, den Herbst, Oktober etwa, als Entlassungstermin in Vorschlag, und Behrens stimmte ihr insofern zu, als er erklarte, um diese Zeit werde man jedenfalls weiter sein als gegenwartig. Ubrigens gefiel er ihr ausgezeichnet. Er war ritterlich, sagte "meine gnadigste Frau", indem er sie mit seinen blutunterlaufenen Quellaugen mannentreu anblickte, und sprach so korpsstudentisch redensartlich, da? sie bei aller Betrubnis lachen mu?te. "Ich wei? ihn in besten Handen", sagte sie, und reiste acht Tage nach ihrer Ankunft nach Hamburg zuruck, da von der Notwendigkeit irgendwelcher Pflege nicht ernstlich die Rede sein konnte und Joachim au?erdem ja Verwandtengesellschaft hatte.

"Also, sei froh: im Herbst", sagte Hans Castorp, wenn er auf Nr. 28 an seines Vetters Bette sa?. "Der Alte hat sich doch einigerma?en gebunden; du kannst dich daran halten und damit rechnen. Oktober - das ist so die Zeit. Da gehen manche Leute nach Spanien, und du kehrst dann auch zu deiner bandera zuruck, um dich uber Gebuhr auszuzeichnen ..."

Sein taglich Geschaft war, Joachim zu trosten, namentlich daruber, da? dieser das gro?e Kriegsspiel hier oben versaumen mu?te, das in diesen Augusttagen begann, - denn das verwand er nicht und au?erte geradezu Selbstverachtung der gottverfluchten Schlappheit wegen, der er im letzten Augenblick unterlegen war.

"Rebellio carnis", sagte Hans Castorp. "Was willst du da machen? Da kann der tapferste Offizier nichts machen, und sogar der heilige Antonius wu?te ein Lied davon zu singen. In Gottes Namen, Manover sind jedes Jahr, und dann kennst du doch die hiesige Zeit! Es ist ja gar keine, du bist nicht lange genug fort gewesen, um nicht ganz leicht wieder ins Tempo zu kommen, und eh du die Hand drehst, ist deine kleine Nachkur vorbei."

Immerhin war die Auffrischung des Zeitsinnes, die Joachim durch das Leben im Flachlande erfahren hatte, zu bedeutend, als da? er sich vor den vier Wochen nicht hatte furchten sollen. Doch war man ihm vielfach behilflich, sie zuruckzulegen; die Sympathie, die man allgemein seiner propperen Natur entgegenbrachte, au?erte sich in Besuchen von nahe und ferner: Settembrini kam, war teilnehmend und charmant und redete Joachim, da er ihn immer schon "Leutnant" genannt hatte, nun "Capitano" an; auch Naphta sprach vor, und aus dem Hause selbst lie?en sich nach und nach die alten Bekannten sehen, indem sie eine

dienstfreie Viertelstunde benutzten, um sich an sein Bett zu setzen, das Wort von der kleinen Nachkur zu wiederholen und sich seine Schicksale erzahlen zulassen: die Damen Stohr, Levi, Iltis und Kleefeld, die Herren Ferge, Wehsal und andere mehr. Einige brachten ihm sogar Blumen. Als die vier Wochen um waren, stand er auf, da sein Fieber so weit gedampft war, da? er umhergehen konnte, und setzte sich im Speisesaal zu seinem Vetter, zwischen ihn und die Brauersgattin Frau Magnus, Herrn Magnus gegenuber, an den Eckplatz, den seinerzeit Onkel James und ein paar Tage lang auch Frau Ziem?en eingenommen hatten.

So lebten die jungen Leute denn wieder Seite an Seite wie ehedem; ja, damit das alte Bild noch vollstandiger wieder erstehe, fiel ihm, da Mistre? Macdonald, das Bild ihres Knaben in Handen, den letzten Seufzer getan, auch sein angestammtes Zimmer, das neben Hans Castorps, wieder zu, selbstverstandlich nach grundlicher Entkeimung durch H?CO. Eigentlich und gefuhlsma?ig gesprochen, war es nun so, da? Joachim an Hans Castorps Seite lebte und nicht mehr umgekehrt: dieser war nun der Eingesessene, dessen Daseinsform der andere auf kurze Zeit und besuchsweise teilte. Denn den Oktobertermin bemuhte sich Joachim steif und fest im Auge zu behalten, obgleich gewisse Punkte seines Zentralnervensystems sich nicht zu humanistischer Norm des Verhaltens wollten anhalten lassen und die kompensatorische Warmeausgabe seiner Haut verhinderten.

Auch ihre Besuche bei Settembrini und Naphta sowie die Spaziergange mit diesen beiden feindlich Verbundenen nahmen sie wieder auf, und wenn A. K. Ferge und Ferdinand Wehsal sich beteiligten, was ofters geschah, so waren sie zu sechsen, und jene Widersacher im Geiste lieferten ihre unaufhorlichen Duelle, bei deren Vorfuhrung wir irgendwelche Vollstandigkeit nicht anstreben konnten, ohne uns ebenso ins Desperat-Unendliche zu verlieren, wie sie es taglich taten, vor einem stattlichen Publikum, wenn auch Hans Castorp seine arme Seele als Hauptgegenstand ihres dialektischen Wettstreites betrachten wollte. Von Naphta hatte er erfahren, da? Settembrini Freimaurer sei, - was keinen geringeren Eindruck auf ihn gemacht hatte als des Italieners Eroffnung uber Naphtas jesuitische Herkunft und Versorgtheit. Wiederum war er phantastisch uberrascht gewesen, zu horen, da? es im Ernst noch dergleichen gabe und hatte den Terroristen mit Flei? uber den Ursprung und das Wesen dieser kuriosen Einrichtung ausgeholt, die in einigen Jahren ihr zweihundertjahriges Jubilaum wurde begehen konnen. Wenn

Settembrini uber Naphtas geistiges Wesen hinter seinem Rucken, im Tone pathetischer Warnung und als von etwas Teuflischem sprach, so machte sich Naphta, hinter dem des anderen, uber die Sphare, die dieser vertrat, ohne Anstrengung lustig, indem er zu verstehen gab, da? es sich da um etwas recht Altmodisches und Ruckstandiges handle: um burgerliche Aufklarung und eine Freigeisterei von vorgestern, welche nichts weiter sei, als armseliger Geisterspuk, sich aber der skurrilen Selbsttauschung hingebe, noch immer revolutionaren Lebens voll zu sein. Er sagte: "Was wollen Sie, schon sein Gro?vater war Carbonaro, zu deutschalso Kohler. Von ihm hat er den Kohlerglauben an die Vernunft, die Freiheit, den Menschheitsfortschritt und diese ganze Mottenkiste klassizistisch-bourgeoiser Tugendideologie ... Sehen Sie, was die Welt verwirrt, ist das Mi?verhaltnis, das zwischen der Geschwindigkeit des Geistes und der ungeheueren Unbeholfenheit, Langsamkeit, Beharrungstragheit und -kraft der Materie besteht. Man mu? zugeben, da? dieses Mi?verhaltnis ausreichen wurde, jede Interesselosigkeit des Geistes am Wirklichen zu entschuldigen, denn die Regel ist, da? die Fermente, die die Revolutionen der Wirklichkeit herbeifuhren, ihm langst zum Ekel geworden sind. Tatsachlich ist toter Geist dem lebendigen widerwartiger als irgendwelche Basalte, die wenigstens nicht den Anspruch erheben, Geist und Leben zu sein. Solche Basalte, Reste ehemaliger Wirklichkeiten, die der Geist so weit hinter sich gelassen hat, da? er sich weigert, den Begriff des Wirklichen uberhaupt noch damit zu verbinden, erhalten sich trage fort und bewahren durch ihren plumpen und toten Fortbestand das Abgeschmackte leidigerweise davor, seiner Abgeschmacktheit inne zu werden. Ich spreche allgemein, aber Sie werden die Nutzanwendung auf jenen humanitaren Freisinn zu ziehen wissen, der glaubt, sich gegen Herrschaft und Autoritat noch immer in heroischem Stande zu befinden. Ach, und nun gar die Katastrophen, vermittelst deren er sich sein Leben beweisen mochte, die verspateten und spektakulosen Triumphe, die er vorbereitet und die er eines Tages zu feiern traumt! Beim blo?en Gedanken daran konnte der lebendige Geist sich zu Tode langweilen, wu?te er nicht, da? in Wahrheit doch nur er aus solchen Katastrophen als Sieger und Nutznie?er hervorgehen wird, - er, der Elemente des Alten in sich mit Zukunftigstem zu wahrer Revolution verschmilzt ... Wie geht es Ihrem Vetter, Hans Castorp? Sie wissen, da? ich ihm viel Sympathie entgegenbringe."

"Danke, Herr Naphta. Dem bringt wohl jedermann aufrichtige Sympathie entgegen, ein so braver Junge, wie er ja offensichtlich ist.

Auch Herr Settembrini mag ihn ausgesprochen gern leiden, wenn er auch einen gewissen schwarmerischen Terrorismus, der in Joachims Stande liegt, naturlich mi?billigen mu?. Da hore ich nun, da? er Logenbruder ist. Sehe einer an. Es beruhrt mich nachdenklich, das mu? ich sagen. Es ruckt mir seine Person in eine neue Beleuchtung und verdeutlicht mir manches. Ob er gelegentlich auch seine Fu?e in den rechten Winkel stellt und seinem Handedruck eine besondere Beschaffenheit verleiht? Ich habe nie etwas bemerkt ..."

"Uber solche Kindereien," meinte Naphta, "ist unser guter Drei-Punkte-Bruder wohl hinaus. Ich nehme an, da? das Logenzeremoniell eine recht kummerliche Anpassung an den nuchternen Staatsburgergeist der Zeiten erfahren hat. Man wurde sich des Rituals von ehedem wohl als eines unzivilen Hokuspokus schamen, - nicht mit Unrecht, denn den atheistischen Republikanismus als Mysterium einzukleiden, ware am Ende wirklich ungereimt. Ich wei? nicht, mit welchen Schrecknissen man Herrn Settembrinis Standhaftigkeit auf die Probe gestellt hat, - obman ihn mit verbundenen Augen durch allerlei Gange gefuhrt und ihn in finsteren Gewolben hat warten lassen, bevor der von gespiegeltem Licht erfullte Bundessaal sich ihm auftat. Ob man ihn feierlich katechisiert und angesichts eines Totenkopfes und dreier Lichter seine entblo?te Brust mit Schwertern bedroht hat. Sie mussen ihn selber fragen, aber ich furchte, Sie werden ihn wenig gesprachig finden, denn sollte es auch viel burgerlicher dabei zugegangen sein, auf jeden Fall hat er Verschwiegenheit geloben mussen."

"Geloben? Verschwiegenheit? Also doch?"

"Gewi?. Verschwiegenheit und Gehorsam."

"Auch noch Gehorsam. Horen Sie, Professor, jetzt kommt mir vor, als ob er gar nicht Ursache hatte, sich uber Schwarmerei und Terrorismus im Stande meines Vetters aufzuhalten. Verschwiegenheit und Gehorsam! Nie hatte ich gedacht, da? ein so freisinniger Mann wie Settembrini sich so ausgemacht spanischen Bedingungen und Gelobnissen unterwerfen konnte. Ich spure da geradezu was Militarisch-Jesuitisches in der Freimaurerei ..."

"Sie spuren ganz richtig", erwiderte Naphta. "Ihre Wunschelrute zuckt und klopft auf. Die Idee des Bundes uberhaupt ist untrennbar und schon in der Wurzel verbunden mit der des Unbedingten. Folglich ist sie terroristisch, das hei?t: antiliberal. Sie entlastet das individuelle Gewissen und heiligt im Namen des absoluten Zweckes jedes Mittel,

auch das blutige, auch das Verbrechen. Man hat Anhaltspunkte, da? auch in Maurerlogen ehemals der Bruderbund symbolisch mit Blut besiegelt wurde. Ein Bund ist niemals etwas Beschauliches, sondern immer und seinem Wesen nach etwas in absolutem Geist Organisatorisches. Sie wissen nicht, da? der Grunder des Illuminatenordens, der eine Zeitlang mit der Maurerei beinahe verschmolz, ein ehemaliger Angehoriger der Gesellschaft Jesu war?"

"Nein, das ist mir naturlich neu."

"Adam Weishaupt organisierte seinen humanitaren Geheimbund ganz nach dem Muster des Jesuitenordens durch. Er selbst war Maurer, und die angesehensten Logenmanner der Zeit waren Illuminaten. Ich spreche von der zweiten Halfte des achtzehnten Jahrhunderts, die Settembrini nicht zogern wird, Ihnen als eine Zeit der Verderbnis seiner Gilde zu kennzeichnen. In Wirklichkeit war sie die ihrer Hochblute, wie des ganzen geheimen Bundeswesens uberhaupt, die Zeit, wo die Maurerei wahrhaft hoheres Leben gewann, ein Leben, von dem sie spater durch Leute vom Schlage unseres Menschheitsfreundes wieder gereinigt wurde, der damals unbedingt zu denen gehort hatte, die ihr Jesuitismus und Obskurantismus zum Vorwurf machten."

"Und dafur gab es Grunde?"

"Ja, - wenn Sie wollen. Die triviale Freigeisterei hatte Grunde dafur. Es war die Zeit, wo unsere Vater den Bund mit katholisch-hierarchischem Leben zu erfullen suchten, und wo zu Clermont in Frankreich eine jesuitische Freimaurerloge bluhte. Es war ferner die Zeit, wo das Rosenkreuzertum in die Logen eindrang, - eine sehr merkwurdige Bruderschaft, von der Sie sich merken durfen, da? sie rein rationale politisch-gesellschaftliche Verbesserungs- und Begluckungsziele mit eigentumlichen Beziehungen zum Geheimwissen des Ostens, zu indischer und arabischer Weisheit und magischer Naturerkenntnisverband. Damals vollzog sich die Reform und Berichtigung vieler Freimaurerlogen im Sinne der strikten Observanz, - einem ausgesprochen irrationalen und geheimnisvollen, magisch-alchimistischen Sinn, dem die schottischen Hochgrade des Maurertums ihr Dasein verdanken, - Ordensrittergrade, die man der alten militarischen Rangstufenordnung von Lehrling, Geselle und Meister hinzufugte, Gro?meistergrade, die ins Hieratische fuhrten und von rosenkreuzerischem Geheimwissen erfullt waren. Es handelt sich da um ein Zuruckgreifen auf gewisse geistliche Ritterorden des Mittelalters, die

Templer insbesondere, Sie wissen, die vor dem Patriarchen von Jerusalem das Gelubde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ablegten. Noch heute fuhrt ein Hochgrad der Freimaurerhierarchie den Titel 'Gro?furst von Jerusalem'."

"Mir neu, mir alles ganz neu, Herr Naphta. Ich komme da unserem Settembrini auf Schliche ... 'Gro?furst von Jerusalem' ist nicht schlecht. So sollten Sie ihn bei Gelegenheit scherzweise auch mal nennen. Er seinerseits hat Ihnen neulich den Spitznamen 'Doctor angelicus' gegeben. Das fordert Rache."

"Oh, es gibt noch eine Menge ahnlich bedeutender Titel fur die Hoch- und Templergrade der Strikten Observanz. Wir haben da einen Vollkommenen Meister, einen Ritter vom Osten, einen Gro?en Oberpriester, und der einunddrei?igste Grad hei?t sogar der 'Erhabene Furst des koniglichen Geheimnisses'. Sie bemerken, da? alle diese Namen auf Beziehungen zur morgenlandischen Mystik deuten. Das Wiedererscheinen des Templers selbst bedeutete nichts anderes, als die Aufnahme solcher Beziehungen, tatsachlich den Einbruch irrationalen Garstoffes in eine Ideenwelt vernunftig-nutzlicher Gesellschaftsverbesserung. Dadurch gewann das Maurertum einen neuen Reiz und Glanz, der den Zulauf erklart, dessen es sich damals erfreute. Es zog samtliche Elemente an sich, die der Vernunftelei des Jahrhunderts, seiner humanen Auf- und Abgeklartheit mude waren und nach starkeren Lebenstranken durstig. Der Erfolg des Ordens war derart, da? die Philister klagten, er entfremde die Manner dem hauslichen Gluck und der weiblichen Wurde.

"Nun, horen Sie, Professor, dann mu? man es verstehen, da? Herr Settembrini sich nicht gern an diese Hochblute seines Ordens erinnert.

"Nein, er erinnert sich nicht gern daran, da? es Zeiten gab, wo sein Bund all die Antipathie auf sich versammelte, die Freigeisterei, Atheismus, enzyklopadische Vernunft sonst dem Komplex von Kirche, Katholizismus, Monch, Mittelalter zuwendete. Sie horten, da? man die Maurer des Obskurantismus zieh ..."

"Warum? Ich mochte gern deutlicher horen, wieso."

"Das will ich Ihnen sagen. Die Strikte Observanz war gleichbedeutend mit einer Vertiefung und Erweiterung der Uberlieferungen des Ordens, mit einer Zuruckverlegung seiner historischen Ursprunge in die Geheimniswelt, die sogenannte Finsternis des Mittelalters. Die Hochmeistergrade der Logen waren Eingeweihte der physica mystica,

Trager magischen Naturwissens, in der Hauptsache gro?e Alchimisten ..."

"Jetzt mu? ich mich aus allen Kraften zu besinnen suchen, was es mit der Alchimie im Gro?en-Ganzen noch ungefahr auf sich hatte. Alchimie, das ist also Goldmacherei, Stein der Weisen, Aurum potabile ..."

"Ja, popular gesprochen. Etwas gelehrter gesprochenist sie Lauterung, Stoffverwandlung und Stoffveredlung, Transsubstantiation, und zwar zum Hoheren, Steigerung also, - der lapis philosophorum, das mann-weibliche Produkt aus Sulfur und Merkur, die res bina, die zweigeschlechtige prima materia war nichts weiter, nichts Geringeres als das Prinzip der Steigerung, der Hinauftreibung durch au?ere Einwirkungen, - magische Padagogik, wenn Sie wollen."

Hans Castorp schwieg. Er blickte augenblinzelnd schrag empor.

"Ein Symbol alchimistischer Transmutation," fuhr Naphta fort, "war vor allem die Gruft."

"Das Grab?"

"Ja, die Statte der Verwesung. Sie ist der Inbegriff aller Hermetik, nichts anderes als das Gefa?, die wohlverwahrte Kristallretorte, worin der Stoff seiner letzten Wandlung und Lauterung entgegengezwangt wird."

"'Hermetik' ist gut gesagt, Herr Naphta. 'Hermetisch' - das Wort hat mir immer gefallen. Es ist ein richtiges Zauberwort mit unbestimmt weitlaufigen Assoziationen. Entschuldigen Sie, aber ich mu? immer dabei an unsere Weckglaser denken, die unsere Hamburger Hausdame - Schalleen hei?t sie, ohne Frau und Fraulein, einfach Schalleen - in ihrer Speisekammer reihenweise auf den Bortern stehen hat, - hermetisch verschlossene Glaser mit Fruchten und Fleisch und allem moglichen darin. Sie stehen Jahr und Tag, und wenn man eines aufmacht, nach Bedarf, so ist der Inhalt ganz frisch und unberuhrt, weder Jahr noch Tag hat ihm was anhaben konnen, man kann ihn genie?en, wie er da ist. Das ist nun allerdings nicht Alchimie und Lauterung, es ist blo? Bewahrung, daher der Name Konserve. Aber das Zauberhafte daran ist, da? das Eingeweckte der Zeit entzogen war; es war hermetisch von ihr abgesperrt, die Zeit ging daran voruber, es hatte keine Zeit, sondern stand au?erhalb ihrer auf seinem Bort. Na, soviel von den Weckglasern. Es ist nicht viel dabei herausgekommen. Pardon. Sie wollten mich, glaube ich, noch weiter belehren."

"Nur wenn Sie es wunschen. Der Lehrling mu? wi?begierig und

furchtlos sein, im Stil unseres Gegenstandes zu reden. Die Gruft, das Grab war immer das hauptsachliche Sinnbild der Bundesweihe. Der Lehrling, der zum Wissen Einla? begehrende Grunling, hat unter ihren Schaudern seine Unerschrockenheit zu bewahren, der Ordensbrauch will, da? er probeweise in sie hinabgefuhrt wird, und in ihr verweilen mu?, um dann an unbekannter Bruderhand daraus hervorzugehen. Daher die verworrenen Gange und finsteren Gewolbe, durch die der Novize zu wandern hatte, das schwarze Tuch, womit selbst der Bundessaal der Strikten Observanz ausgeschlagen war, der Kultus des Sarges, der bei dem Einweihungs- und Versammlungszeremoniell eine so wichtige Rolle spielte. Der Weg der Mysterien und der Lauterung war von Gefahren umlagert, er fuhrte durch Todesbangen, durch das Reich der Verwesung, und der Lehrling, der Neophyt, ist die nach den Wundern des Lebens begierige, nach Erweckung zu damonischer Erlebnisfahigkeit verlangende Jugend, gefuhrt von Vermummten, die nur Schatten des Geheimnisses sind."

"Ich danke sehr, Professor Naphta. Vorzuglich. Das ware also die hermetische Padagogik.Es kann nicht schaden, da? mir auch von ihr mal etwas zu Ohren gekommen ist."

"Um so weniger, als es sich da um eine Fuhrung zum Letzten handelt, zum absoluten Bekenntnis des Ubersinnlichen und damit zum Ziele. Die alchimistische Logenobservanz hat viele edle, suchende Geister in spateren Jahrzehnten zu diesem Ziele gefuhrt, - ich mu? es nicht nennen, denn es kann Ihnen nicht entgangen sein, da? die Rangstufenfolge der schottischen Hochgrade nur ein Surrogat ist der Hierarchie, da? die alchimistische Weisheit des Meister-Maurers sich im Mysterium der Wandlung erfullt, und da? die geheime Fuhrung, die die Loge ihren Zoglingen angedeihen lie?, sich ebenso deutlich in den Gnadenmitteln wiederfindet, wie die sinnbildlichen Spielereien des Bundeszeremoniells in der liturgischen und baulichen Symbolik unserer heiligen katholischen Kirche."

"Ach so!"

"Ich bitte, auch das ist noch nicht alles. Ich erlaubte mir schon anzudeuten, da? die Ableitung des Logenwesens aus jenen handwerkerlich ehrsamen Maurergilden nur eine historische Verau?erlichung ist. Die Strikte Observanz wenigstens verlieh ihr weit tiefere menschliche Fundamente. Das Geheimnis der Logen hat mit gewissen Mysterien unserer Kirche die deutliche Beziehung gemeinsam zu

festlichen Verschwiegenheiten und heiligen Ausschweifungen der fruhesten Menschheit ... Ich habe, was die Kirche betrifft, das Nacht- und Liebesmahl im Auge, den sakramentalen Genu? von Leib und Blut, in Dingen der Loge aber -"

"Einen Augenblick. Einen Augenblick fur eine Randbemerkung. Es gibt auch in dem unbedingten Bundesleben, dem mein Vetter angehort, sogenannte Liebesmahle. Er hat mir oft davon geschrieben. Naturlich geht es bis auf ein bi?chen Betrunkenheit sehr anstandig dabei zu, nicht mal so stark wie bei den Korpskneipen ..."

"In Dingen der Loge aber den Gruft- und Sargeskult, auf den ich vorhin Ihre Aufmerksamkeit lenkte. In beiden Fallen handelt es sich um eine Symbolik des Letzten und Au?ersten, um Elemente orgiastischer Urreligiositat, geloste und nachtliche Opferdienste zu Ehren von Sterben und Werden, Tod, Verwandlung und Auferstehung ... Sie erinnern sich, da? die Mysterien der Isis sowohl wie die von Eleusis bei Nacht und in finsteren Hohlen begangen wurden. Nun, der agyptischen Erinnerungen gab und gibt es im Maurerwesen eine Menge, und unter den geheimen Gesellschaften waren solche, die sich eleusinische Bunde nannten. Es gab da Logenfeste, Feste der eleusischen Mysterien und der aphrodisischen Geheimnisse, bei denen denn endlich doch die Frau ins Spiel trat, - Rosenfeste, auf die jene drei blauen Rosen der Maurerschurze anspielten, und die, wie es scheint, ins Bacchantische auszulaufen pflegten ..."

"Nun, nun, was hor' ich, Professor Naphta. Und all das ist Freimaurerei? Und mit alldem soll ich in meiner Vorstellung unseren klargesinnten Herrn Settembrini ..."

"Sie taten ihm schweres Unrecht! Nein, von alldem wei? Settembrini durchaus nichts mehr. Ich sagte Ihnen ja, da? die Loge durch seinesgleichen von allenElementen hoheren Lebens wieder gereinigt worden ist. Sie hat sich humanisiert, modernisiert, du lieber Gott. Sie ist aus solchen Verirrungen zum Nutzen, zur Vernunft und zum Fortschritt, zum Kampf gegen Fursten und Pfaffen, kurzum zu gesellschaftlicher Begluckung zuruckgekehrt; man unterhalt sich dort jetzt wieder uber Natur, Tugend, Ma?igung und Vaterland. Ich nehme an: auch uber das Geschaft. Mit einem Wort, es ist die bourgeoise Misere in Klubgestalt ..."

"Schade. Schade um die Rosenfeste. Ich werde Settembrini fragen, ob er denn gar nichts mehr davon wei?."

"Der ehrliche Ritter vom Winkelma?!" hohnte Naphta. "Sie mussen

bedenken, da? es ihm gar nicht leicht geworden ist, zum Bauplatz des Menschheitstempels zugelassen zu werden, denn er ist ja arm wie eine Kirchenmaus, und dort wird nicht nur hohere Bildung, humanistische Bildung, ich bitte sehr, verlangt, sondern man mu? auch der bemittelten Klasse angehoren, um die nicht geringen Aufnahmegebuhren und Jahresbeitrage erschwingen zu konnen. Bildung und Besitz, - da haben Sie den Bourgeois! Da haben Sie die Grundfesten der liberalen Weltrepublik!"

"Allerdings," lachte Hans Castorp; "da haben wir sie klipp und klar vor Augen."

"Dennoch," setzte Naphta nach einer Pause hinzu, "mochte ich Ihnen raten, diesen Mann und seine Sache nicht allzu leicht zu nehmen, mochte Sie, da wir denn einmal von diesen Verhaltnissen reden, geradezu ersuchen, auf Ihrer Hut zu sein. Das Abgeschmackte ist noch nicht gleichbedeutend mit dem Unschuldigen. Die Beschranktheit braucht nicht harmlos zu sein. Diese Leute haben viel Wasser in ihren Wein getan, der zuzeiten feurig war, aber die Idee des Bundes selbst bleibt stark genug, um viel Verwasserung zu vertragen; sie bewahrt Reste von fruchtbarem Geheimnis, und es ist ebensowenig daran zu zweifeln, da? die Logen ihre Hand im Weltspiel haben, wie da? man in diesem liebenswurdigen Herrn Settembrini mehr zu sehen hat, als eben nur ihn selbst, da? Machte hinter ihm stehen, deren Verwandter und Emissar er ist ..."

"Ein Emissar?"

"Nun ja, ein Proselytenmacher, ein Seelenfanger."

Und was bist du fur ein Emissar? dachte Hans Castorp. Laut sagte er:

"Danke, Professor Naphta. Aufrichtig verbunden fur Wink und Warnung. Wissen Sie was? Ich gehe nun mal eine Etage hoher, soweit da oben noch von Etage die Rede sein kann, und fuhle dem vermummten Bundesbruder ein bi?chen auf den Zahn. Ein Lehrling mu? wi?begierig und furchtlos sein ... Naturlich auch vorsichtig ... Mit Emissaren ist selbstverstandlich Vorsicht geboten."

Er durfte ungescheut auch Settembrini um weitere Belehrung ansprechen, denn dieser hatte Herrn Naphta in Dingen der Diskretion nichts vorzuwerfen und war ubrigens nie sonderlich bedacht gewesen, aus seiner Zugehorigkeit zu jener harmonischen Gesellschaft ein Geheimnis zu machen. Die "Rivista della Massoneria Italiana" lag offen

auf seinem Tisch; Hans Castorp hatte nur eben nicht acht darauf gegeben. Undals er, von Naphta aufgeklart, das Gesprach auf die konigliche Kunst gebracht hatte, so, als sei Settembrinis Verbundenheit mit ihr eine Sache, uber die er sich niemals Zweifel gemacht, da war er nur auf geringe Zuruckhaltung gesto?en. Zwar gab es Punkte, uber die der Literat sich nicht herauslie?, sondern bei deren Beruhrung er mit einer gewissen Ostentation die Lippen verschlo?, offenbar gebunden durch jene terroristischen Gelobnisse, von denen Naphta gesprochen: eine Geheimniskramerei, die au?ere Brauche und seine eigene Stellung innerhalb der merkwurdigen Organisation betraf. Sonst aber nahm er sogar den Mund sehr voll und gab dem Neugierigen ein bedeutendes Bild von der Ausbreitung seiner Liga, die sich in rund zwanzigtausend Logen und hundertfunfzig Gro?logen fast uber die ganze Welt und selbst auf Zivilisationen wie Haiti und die Negerrepublik Liberia erstrecke. Auch wu?te er sich nicht wenig mit allerlei gro?en Namen, deren Trager Maurer gewesen waren oder es heute waren, nannte Voltaire, Lafayette und Napoleon, Franklin und Washington, Mazzini und Garibaldi, von Lebenden sogar den Konig von England und au?erdem eine Menge Manner, in deren Handen die Geschafte der europaischen Staaten lagen, Mitglieder von Regierungen und Parlamenten.

Hans Castorp au?erte Respekt, aber keine Verwunderung. So sei es auch mit den studentischen Korpsverbindungen, meinte er. Die hielten auch zusammen durchs ganze Leben und wu?ten ihre Leute wohl unterzubringen, so da? schwerlich jemand im Amtlich-Hierarchischen es zu etwas Rechtem bringe, der nicht Korpsbruder gewesen sei. Darum sei es vielleicht nicht ganz sinngema? von Herrn Settembrini, da? er die Zugehorigkeit jener Prominenten zur Loge als schmeichelhaft fur diese hinstellen wolle; denn es sei umgekehrt anzunehmen, da? die Besetzung so vieler wichtiger Posten mit Bundesbrudern eben nur die Macht des Bundes beweise, der gewi? mehr, als Herr Settembrini so geradeheraus sagen wolle, seine Hand am Weltspiele habe.

Settembrini lachelte. Er fachelte sich sogar mit dem Heft der "Massoneria", das er in Handen hielt. Man meine ihm wohl eine Falle zu stellen? fragte er. Man gedenke wohl gar, ihn zu unvorsichtigen Aussagen uber das politische Wesen, den wesentlich politischen Geist der Loge zu verleiten? "Unnutze Verschmitztheit, Ingenieur! Wir bekennen uns zur Politik, ruckhaltlos, offen. Wir achten das Odium fur nichts, das in den Augen einiger Toren - sie sitzen bei Ihnen zulande,

Ingenieur, fast nirgends sonst - mit diesem Wort und Titel verbunden ist. Der Menschenfreund kann den Unterschied von Politik und Nichtpolitik uberhaupt nicht anerkennen. Es gibt keine Nichtpolitik. Alles ist Politik."

"Rundweg?"

"Ich wei? wohl, da? es Leute gibt, die auf die ursprunglich unpolitische Natur des Maurergedankens hinzuweisen fur gut finden. Aber diese Leute spielen mit Worten und ziehen Grenzen, die als imaginar und unsinnig zu erkennen es langst an der Zeit ist. Erstens zeigten wenigstens die spanischenLogen von allem Anbeginn eine politische Farbung -"

"Kann ich mir denken."

"Sie konnen sich wenig denken, Ingenieur. Wahnen Sie nicht, sich von Hause aus viel denken zu konnen, sondern suchen Sie aufzunehmen und zu verarbeiten - ich bitte Sie darum in Ihrem eigenen Interesse, wie in dem Ihres Landes und im europaischen Interesse - was ich Ihnen zweitens einzupragen im Begriffe bin. Zweitens namlich war der Maurergedanke niemals unpolitisch, zu keiner Zeit, er konnte es nicht sein, und wenn er es ja zu sein glaubte, so betrog er sich uber sein Wesen. Was sind wir? Bauleute und Handlanger an einem Bau. Der Zweck aller ist einer, das Beste des Ganzen das Grundgesetz der Verbruderung. Welches ist dieses Beste, dieser Bau? Der kunstgerechte gesellschaftliche Bau, die Vollendung der Menschheit, das neue Jerusalem. Was in aller Welt soll da Politik oder Nichtpolitik? Das gesellschaftliche Problem, das Problem der Koexistenz selbst ist Politik, durch und durch Politik, nichts weiter als Politik. Wer sich ihm weiht - und den Menschennamen verdiente nicht, wer sich dieser Weihe entzoge - gehort der Politik, der inneren wie der au?eren, er versteht, da? die Kunst des freien Maurers Regierungskunst ist -"

"Regierungs..."

"Da? die illuminatistische Maurerei den Regentengrad kannte ..."

"Sehr schon, Herr Settembrini. Regierungskunst, Regentengrad, das gefallt mir. Aber lassen Sie mich nun eines horen: Sind Sie Christen, Sie alle miteinander in Ihrer Loge?"

"Perche!"

"Entschuldigen Sie, ich will anders fragen, allgemeiner und einfacher. Glauben Sie an Gott?"

"Ich werde Ihnen antworten. Warum fragen Sie?"

"Ich wollte Sie nicht versuchen vorhin, aber es gibt da eine biblische Geschichte, worin jemand den Herrn mit einer romischen Munze versucht und zur Antwort bekommt, man solle dem Kaiser geben, was des Kaisers, und Gott, was Gottes sei. Mir kommt vor: diese Art zu unterscheiden liefert den Unterschied zwischen Politik und Nichtpolitik. Gibt es Gott, so gibt es auch diesen Unterschied. Glauben die Freimaurer an Gott?"

"Ich verpflichtete mich, Ihnen zu antworten. Sie sprechen von einer Einheit, an deren Herstellung gearbeitet wird, die aber heute zum Leidwesen aller Guten noch nicht existiert. Der Weltbund der Freimaurer existiert nicht. Wird er hergestellt sein - und ich wiederhole, es wird mit aller stillen Emsigkeit an diesem gro?en Werke gearbeitet - so wird ohne Zweifel auch sein religioses Bekenntnis einheitlich sein, und es wird lauten: 'Ecrasez l'infame'."

"Obligatorisch? Das ware nicht tolerant."

"Dem Problem der Toleranz durften Sie kaum gewachsen sein, Ingenieur. Pragen Sie sich immerhin ein, da? Toleranz zum Verbrechen wird, wenn sie dem Bosen gilt."

"Gott ware das Bose?"

"Die Metaphysik ist das Bose. Denn sie ist zu nichts gut, als den Flei? einzuschlafern, den wir dem Bau des Gesellschaftstempels zuwenden sollen. Und so hat denn schon vor einem Menschenalter derGro?-Orient von Frankreich ein Beispiel gegeben, indem er den Namen Gottes aus seinen samtlichen Schriftstucken strich. Wir Italiener sind ihm darin nachgefolgt ..."

"Wie katholisch!"

"Sie meinen -"

"Wie enorm katholisch ich das finde, Gott zu streichen!"

"Sie wollen ausdrucken -"

"Nichts Horenswertes, Herr Settembrini. Achten Sie nicht besonders auf mein Geplapper! Es kam mir nur diesen Moment so vor, als ob Atheismus etwas kolossal Katholisches sei, und als ob man Gott nur streiche, um desto besser katholisch sein zu konnen."

Wenn darauf Herr Settembrini eine Pause eintreten lie?, so war klar, da? es einzig aus padagogischer Besonnenheit geschah. Er antwortete

nach gemessenem Stillschweigen:

"Ingenieur, ich bin weit von dem Wunsche entfernt, Sie in Ihrem Protestantismus beirren und kranken zu wollen. Wir sprachen von Toleranz ... Es ist uberflussig, zu betonen, da? ich dem Protestantismus mehr als Duldung, da? ich ihm als dem historischen Opponenten der Gewissensknebelung tiefste Bewunderung entgegenbringe. Die Erfindung der Buchdruckerkunst und die Reformation sind und bleiben die beiden erhabensten Verdienste, die Mitteleuropa sich um die Menschheit erworben hat. Ohne Frage. Allein nach dem, was Sie soeben au?erten, zweifle ich nicht, da? Sie mich aufs Wort verstehen werden, wenn ich darauf hinweise, da? das nur eine Seite der Sache ist, und da? sie ihre zweite hat. Der Protestantismus birgt Elemente ... Die Personlichkeit Ihres Reformators selbst barg Elemente ... Ich denke an Elemente der Ruheseligkeit und der hypnotischen Versenkung, die nicht europaisch, die dem Lebensgesetz dieses tatigen Erdteils fremd und feindlich sind. Sehen Sie ihn sich doch an, diesen Luther! Betrachten Sie Bildnisse von ihm, jugendliche und spatere! Was ist denn das fur ein Schadel, was sind das fur Backenknochen, was fur ein seltsamer Augensitz! Mein Freund, das ist Asien! Es sollte mich wundern, es sollte mich hochlichst wundern, wenn da nicht Wendisch-Slawisch-Sarmatisches im Spiele gewesen ware, und wenn also nicht die - wer wollte es leugnen - gewaltige Erscheinung dieses Mannes eine verhangnisvolle Uberbelastung einer der beiden in Ihrem Lande so gefahrlich gleichstehenden Schalen zu bedeuten gehabt hatte, - ein furchtbares Gewicht in die ostliche, von welchem die andere, die westliche Schale, noch heute uberwogen gen Himmel flattert ..."

Von dem humanistischen Klapp-Pult am Fensterchen, vor dem er gestanden, war Herr Settembrini an den Rundtisch mit der Wasserflasche getreten, naher zu seinem Schuler hin, der auf dem an die Wand geruckten Ruhebette sa?, ohne Ruckenlehne, den Ellenbogen aufs Knie und das Kinn in die Hand gestutzt.

"Caro!" sagte Herr Settembrini. "Caro amico! Entscheidungen werden zu treffen sein, - Entscheidungen von unuberschatzbarer Tragweite fur das Gluck und die Zukunft Europas, und Ihrem Lande werden sie zufallen, in seiner Seele werden sie sich zu vollziehen haben. Zwischen Ost und West gestellt, wird es wahlen mussen, wird esendgultig und mit Bewu?tsein zwischen den beiden Spharen, die um sein Wesen werben, sich entscheiden mussen. Sie sind jung, Sie werden an dieser

Entscheidung beteiligt sein, sind berufen, sie zu beeinflussen. Darum lassen Sie uns das Schicksal segnen, das Sie in diese entsetzlichen Gegenden verschlagen hat, zugleich aber mir Gelegenheit gibt, mit meinem nicht ungeubten, nicht vollig matten Wort auf Ihre bildsame Jugend einzuwirken und ihr die Verantwortlichkeit fuhlbar zu machen, die sie -, die Ihr Land vor dem Angesicht der Gesittung tragt ..."

Hans Castorp sa?, das Kinn in der Faust. Er blickte zum Mansardenfenster hinaus, und in seinen einfachen blauen Augen war eine gewisse Widerspenstigkeit zu lesen. Er schwieg.

"Sie schweigen", sprach Herr Settembrini bewegt. "Sie und Ihr Land, Sie lassen ein vorbehaltvolles Schweigen walten, dessen Undurchsichtigkeit kein Urteil uber seine Tiefe gestattet. Sie lieben das Wort nicht oder besitzen es nicht oder heiligen es auf eine unfreundliche Weise, - die artikulierte Welt wei? nicht und erfahrt nicht, woran sie mit Ihnen ist. Mein Freund, das ist gefahrlich. Die Sprache ist die Gesittung selbst ... Das Wort, selbst das widersprechendste, ist so verbindend ... Aber die Wortlosigkeit vereinsamt. Man vermutet, Sie werden Ihre Einsamkeit durch Taten zu brechen suchen. Sie werden Vetter Giacomo"(Herr Settembrini pflegte Joachim der Bequemlichkeit halber "Giacomo" zu nennen), "Sie werden Ihren Vetter Giacomo vor Ihr Schweigen treten lassen, 'und zwei mit gewaltigen Streichen erlegt er, die andern entweichen' -"

Da Hans Castorp zu lachen anfing, lachelte auch Herr Settembrini, fur den Augenblick auch von dieser Wirkung seines plastischen Wortes befriedigt.

"Gut, lachen wir!" sagte er. "Zur Heiterkeit werden Sie mich immer bereit finden. 'Das Lachen ist ein Erglanzen der Seele', sagt ein Alter. Auch sind wir abgekommen - auf Dinge, die, wie ich zugebe, mit den Schwierigkeiten zusammenhangen, auf die unsere Vorarbeiten zur Herstellung des maurerischen Weltbundes sto?en, Schwierigkeiten, die namentlich das protestantische Europa entgegenstellt ..." Und Herr Settembrini fuhr fort, mit Warme von dem Gedanken dieses Weltbundes zu sprechen, der von Ungarn aus ins Leben getreten und dessen zu erhoffende Verwirklichung bestimmt sei, der Freimaurerei weltentscheidende Macht zu verleihen. Er zeigte leichthin Briefe vor, die er von auswartigen Bundesgro?en in dieser Sache empfangen, ein eigenhandiges Schreiben des schweizerischen Gro?meisters, Bruder Quartier la Tente vom dreiunddrei?igsten Grade, und erorterte den Plan,

das Kunstidiom Esperanto zur Bundesweltsprache zu erklaren. Sein Eifer erhob ihn zur Sphare der hohen Politik, er richtete sein Auge dahin und dorthin und schatzte die Aussichten ab, die der revolutionar-republikanische Gedanke in seiner eigenen Heimat, in Spanien, in Portugal besitze. Auch mit Personen, die an der Spitze der Gro?loge der letztgenannten Monarchie standen, wollte er briefliche Fuhlung unterhalten. Dort reiften zweifellos die Dinge der Entscheidung entgegen. Hans Castorp moge an ihndenken, wenn in allernachster Zeit da unten die Ereignisse sich ubersturzen wurden. Hans Castorp versprach, das zu tun.

Es will bemerkt sein, da? diese maurerischen Plaudereien, die zwischen dem Zogling und jedem der beiden Mentoren gesondert verliefen, noch in die Zeit vor Joachims Heimkehr zu Denen hier oben gefallen waren. Die Auseinandersetzung, auf die wir nun kommen, ereignete sich schon wahrend seiner Wiederanwesenheit und in seiner Gegenwart, neun Wochen nach seiner Ruckkehr, Anfang Oktober, und Hans Castorp behielt dies Beisammensein in der Herbstsonne vor dem Kurhaus in "Platz", bei erfrischenden Getranken, darum allezeit so genau im Gedachtnis, weil Joachim ihm damals heimliche Sorge gemacht hatte, - Sorge durch Angaben und Erscheinungen, die sonst eben keine Sorge einzuflo?en pflegen, namlich durch Halsschmerzen und Heiserkeit: harmlose Belastigungen also, die aber dem jungen Castorp in einem irgendwie eigentumlichen Licht erschienen, - eben dem Licht, so kann man sagen, das er in der Tiefe von Joachims Augen zu gewahren glaubte, diesen Augen, die immer sanft und gro? gewesen waren, heute aber, genau erst heute, eine gewisse unbestimmbare Vergro?erung und Vertiefung von sinnendem und - man mu? das sonderbare Wort hinzufugen - drohendem Ausdruck nebst jener erwahnten stillen Erleuchtung von innen her erfahren hatten, die ganz falsch gekennzeichnet ware, wenn man sagte, sie hatte Hans Castorp nicht gefallen, - im Gegenteil, sie gefiel ihm sogar sehr gut, nur da? sie ihm dennoch Sorge machte. Und kurz, es ist uber diese Eindrucke gar nicht anders als verworren, ihrem eigenen Charakter gema?, zu reden.

Das Gesprach, die Kontroverse - naturlich eine Kontroverse zwischen Naphta und Settembrini - angehend, so war sie eine Sache fur sich und stand mit jenen Sondererorterungen uber das Logenwesen nur in lockerem Zusammenhang. Au?er den Vettern waren auch Ferge und Wehsal dabei zugegen, und aller Teilnahme war gro?, obgleich nicht alle

dem Gegenstande gewachsen waren, - Herr Ferge zum Beispiel war es ausdrucklich nicht. Aber ein Streit, der gefuhrt wird, als ob es ums Leben ginge, au?erdem aber mit einem Witz und Schliff, als ob es nicht ums Leben, sondern nur um ein elegantes Wettspiel ginge - und so wurden alle Dispute zwischen Settembrini und Naphta gefuhrt -: ein solcher Streit ist selbstverstandlich und an und fur sich unterhaltend anzuhoren, auch fur den, der wenig davon versteht und seine Tragweite nur undeutlich absieht. Sogar ganz Unzugehorige, Umsitzende lauschten dem Wortwechsel mit hohen Augenbrauen, gefesselt von Leidenschaft und Zierlichkeit der Wechselrede.

Es war, wie gesagt, vor dem Kurhause, nachmittags nach dem Tee. Die vier Berghofgaste hatten Settembrini dort getroffen, und von ungefahr hatte Naphta sich zugesellt. Sie sa?en alle um ein kleines metallenes Tischchen herum bei verschiedenen mit Soda verdunnten Getranken, Anis und Wermut. Naphta, der hier seineVespermahlzeit einnahm, hatte sich Wein und Kuchen geben lassen, was offenbar eine Erinnerung an seine Alumnenzeit darstellte; Joachim befeuchtete seine leidende Kehle oft mit Naturlimonade, die er sehr stark und sauer trank, weil das zusammenziehe und ihm Erleichterung schaffe, und Settembrini geno? schlechthin Zuckerwasser, jedoch durch einen Strohhalm und auf so anmutig appetitliche Art, als schlurfe er die kostbarste Erquickung. Er scherzte:

"Was hore ich, Ingenieur? Was kommt mir geruchtweise zu Ohren? Ihre Beatrice kehrt wieder? Ihre Fuhrerin durch alle neun kreisenden Spharen des Paradieses? Nun, ich will hoffen, da? Sie auch dann die leitende Freundeshand Ihres Virgil nicht ganz verschmahen werden! Unser Ekklesiast hier wird Ihnen bestatigen, da? die Welt des medio evo nicht komplett ist, wenn franziskanischer Mystik der Gegenpol thomistischer Erkenntnis fehlt."

Man lachte uber soviel spa?hafte Gelehrsamkeit und sah Hans Castorp an, der ebenfalls lachend "seinem Virgil" das Wermutglas entgegenhob. Es ist aber kaum zu glauben, was alles aus der, wenn auch geschnorkelten, so doch sehr harmlosen Au?erung Herrn Settembrinis sich an unerschopflichem Geisteszwist in der nachsten Stunde ergab. Denn Naphta, freilich gewisserma?en herausgefordert, ging sofort zum Angriff uber und machte sich uber den lateinischen Dichter her, den Settembrini bekannterma?en abgottisch liebte, ja, uber Homer stellte, wahrend Naphta ihm, wie uberhaupt der lateinischen Poesie, schon mehr

als einmal die scharfste Geringschatzung bezeigt hatte - und eben hierzu auch jetzt die Gelegenheit prompt und boshaft ergriff. Es sei eine au?erst gutmutige Zeitbefangenheit des gro?en Dante gewesen, sprach er, diesen mittelma?igen Versifex so feierlich zu nehmen und ihm in seinem Liede eine so hohe Rolle zuzuweisen, wenn auch Herr Lodovico dieser Rolle wohl eine allzu freimaurerische Bedeutung beilege. Was es denn weiter auf sich gehabt habe mit diesem hofischen Laureatus und Speichellecker des julischen Hauses, diesem Weltstadtliteraten und Prunkrhetor ohne einen Funken von Produktivitat, dessen Seele, wenn er eine gehabt habe, jedenfalls aus zweiter Hand gewesen, und der uberhaupt kein Dichter, sondern ein Franzose in augusteischer Allongeperucke gewesen sei!

Herr Settembrini zweifelte nicht, da? der Vorredner Mittel und Wege wissen werde, seine Verachtung der romischen Hochzivilisation mit seinem Amt als Lateinlehrer zu vereinbaren, doch scheine es notig, ihn auf den schwereren Widerspruch hinzuweisen, in den er sich durch solche Urteile mit seinen eigenen Lieblingsjahrhunderten setze, die den Virgilius nicht nur nicht verachtet, sondern seiner Gro?e auf einfaltige Art gerecht geworden seien, indem sie einen weisheitsmachtigen Zauberer aus ihm gemacht hatten.

Recht vergebens, versetzte Naphta, rufe Herr Settembrini die Einfalt jener morgendlichen Zeiten zu seiner Hilfe auf, - die Siegerin, die ihre Schopferkraft noch in der Damonisierung des Uberwundenen bewahrt habe. Ubrigens seien die Lehrer der jungen Kirche nicht mude geworden, vor den Lugen der alten Philosophen und Dichter zu warnen, insonderheit davor, sich mitder uppigen Beredsamkeit des Virgil zu beflecken, und heute, wo wieder ein Zeitalter zu Grabe sinke, abermals ein proletarischer Morgen tage, sei wahrhaftig die Stunde gunstig, ihnen nachzufuhlen! So moge denn, um alles zu beantworten, Herr Lodovico auch uberzeugt sein, da? er, Redner, sein bi?chen burgerliche Beschaftigung, worauf jener anzuspielen die Gute gehabt habe, mit aller gebotenen reservatio mentalis betreibe und sich nicht ohne Ironie in einen klassisch-rhetorischen Erziehungsbetrieb einordne, dessen Lebensdauer ein Sanguiniker allenfalls noch nach Jahrzehnten berechnen moge.

"Ihr habt sie," rief Settembrini, "ihr habt sie studiert, da? ihr schwitztet, diese alten Dichter und Philosophen, habt euch ihr kostbares Erbe anzueignen versucht, wie ihr das Material der antiken Bauwerke fur eure

Bethauser benutztet! Denn ihr fuhltet wohl, da? ihr aus eigener Kraft eurer proletarischen Seele keine neue Kunstform hervorzubringen vermochtet und hofftet, das Altertum mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. So wird es wieder, so wird es immer gehen! Euere ungehobelte Morgendlichkeit wird sich in die Schule begeben mussen bei dem, was zu verachten ihr euch und andere bereden mochtet; denn ohne Bildung bestundet ihr nicht vor dem Angesicht der Menschheit, und es gibt nur eine Bildung: diejenige, die ihr die burgerliche nennt, und die die menschliche ist!" Eine Frage von Jahrzehnten - das Ende des humanistischen Erziehungsprinzips? Nur Hoflichkeit hinderte Herrn Settembrini, in ein ebenso sorgloses wie spottisches Gelachter auszubrechen. Ein Europa, das sein Ewigkeitsgut zu wahren wisse, werde uber proletarische Apokalypsen, die man da und dort zu ertraumen beliebe, in Gemutsruhe zur Tagesordnung klassischer Vernunft ubergehen.

Uber die Tagesordnung nun gerade, versetzte Naphta bei?end, scheine Herr Settembrini nicht ganz wohlunterrichtet. Auf der Tagesordnung eben stehe als Frage, was jener als ausgemacht zu behandeln fur gut finde: namlich, ob die mediterran-klassisch-humanistische Uberlieferung eine Menschheitssache und darum menschlich-ewig - oder ob sie allenfalls nur Geistesform und Zubehor einer Epoche, der burgerlich-liberalen, gewesen sei und mit ihr sterben konne. Dies zu entscheiden, werde Sache der Geschichte sein, und es sei Herrn Settembrini immerhin zu empfehlen, sich nicht allzu sehr in Sicherheit zu wiegen, da? die Entscheidung im Sinn seines lateinischen Konservativismus fallen werde.

Das war eine besondere Unverschamtheit des kleinen Naphta, Herrn Settembrini, den erklarten Diener des Fortschritts, einen Konservativen zu nennen. Alle empfanden es so und mit besonderer Bitterkeit naturlich der Betroffene, der erregt seinen geschwungenen Schnurrbart zwirbelte und im Suchen nach einem Gegenschlage dem Feinde Zeit lie? zu weiteren Ausfallen gegen das klassische Bildungsideal, den rhetorisch-literarischen Geist des europaischen Schul- und Erziehungswesens und seinen grammatisch-formalen Spleen, der nichts als ein Interessenzubehor der burgerlichen Klassenherrschaft, dem Volke aber langst ein Gelachter sei. Ja, man ahne nicht, wie weidlich das Volk sich uber unsere Doktortitel und unser ganzes Bildungsmandarinentum lustig mache und uber die staatliche Volksschule,dies Instrument bourgeoiser Klassendiktatur, gehandhabt in dem Wahn, da? Volksbildung

verwasserte Gelehrtenbildung sei. Diejenige Bildung und Erziehung, die das Volk im Kampf gegen das morsche Burgerreich brauche, wisse es sich langst wo anders zu holen als in den obrigkeitlichen Zwangsanstalten, und nachgerade pfiffen die Spatzen es von den Dachern, da? unser Schultypus uberhaupt, wie er sich aus der Klosterschule des Mittelalters entwickelt habe, einen lacherlichen Zopf und Anachronismus darstelle, da? niemand in der Welt seine eigentliche Bildung mehr der Schule verdanke, und da? ein freier, offener Unterricht durch offentliche Vortrage, Ausstellungen, Kinos und so fort jedem Schulunterricht weit uberlegen sei.

In der Mischung aus Revolution und Dunkelmannertum, die Naphta da seinen Zuhorern kredenzte, antwortete ihm Herr Settembrini, uberwiege der obskurantistische Beisatz in unschmackhafter Weise. Das Gefallen, das seine Sorge um die Aufklarung des Volkes erwecke, leide einige Einbu?e durch die Befurchtung, da? hier vielmehr eine Instinktneigung obwalte, Volk und Welt in analphabetische Finsternis zu hullen.

Naphta lachelte. Analphabetentum! Da glaube man nun ein wahres Entsetzenswort ausgesprochen, das Haupt der Gorgo vorgezeigt zu haben, uberzeugt, da? jedermann pflichtschuldig davor erblassen werde. Er, Naphta, bedauere, seinem Gesprachspartner die Enttauschung bereiten zu mussen, da? die Humanistenfurcht vor dem Begriff des Analphabetentums ihn einfach erheitere. Man musse ein Renaissanceliterat, ein Prezioser, ein Secentist, ein Marinist, ein Hanswurst des estilo culto sein, um den Disziplinen des Lesens und Schreibens eine so ubertriebene erzieherische Vordringlichkeit beizumessen, da? man sich einbilde, Geistesnacht musse walten, wo ihre Kenntnis fehle. Ob Herr Settembrini sich erinnere, da? der gro?te Dichter des Mittelalters, Wolfram von Eschenbach, Analphabet gewesen sei? Damals habe es in Deutschland fur schimpflich gegolten, einen Knaben, der nicht gerade Geistlicher habe werden wollen, zur Schule zu schicken, und diese adlig-volkstumliche Verachtung der literarischen Kunste sei immer das Merkmal vornehmer Wesentlichkeit geblieben, - wahrend der Literat, dieser rechte Sohn des Humanismus und der Burgerlichkeit, allerdings lesen und schreiben konne, was der Adlige, der Krieger und das Volk nicht konnten oder nur schlecht konnten, - aber weiter konne und verstehe er in aller Welt auch gar nichts, sondern sei noch immer ein latinistischer Windbeutel, der die Rede verwalte und den rechtschaffenen Leuten das Leben uberlasse, - weshalb er denn auch

aus der Politik einen Beutel voll Wind mache, namlich voll Rhetorik und schoner Literatur, was in der Parteisprache Radikalismus und Demokratie hei?e - und so fort, und so fort.

Darauf denn nun Herr Settembrini! Allzu kuhn, rief er, kehre der andere seinen Geschmack an der inbrunstigen Barbarei gewisser Epochen hervor, indem er die Liebe zur literarischen Form verhohne, ohne die allerdings keine Menschlichkeit moglich und denkbar sei, allerdings nicht und nimmermehr! Vornehmheit? Nur Menschenfeindschaft konne die Wortlosigkeit, die rohe und stumme Dinglichkeit auf ihrenNamen taufen. Vornehm vielmehr sei einzig ein gewisser edler Luxus, die generosita, die sich darin bekunde, der Form einen menschlichen, vom Inhalt unabhangigen Eigenwert beizulegen, - der Kultus der Rede als einer Kunst um der Kunst willen, dies Erbe der griechisch-romischen Zivilisation, welches die Humanisten, die uomini letterati, der Romania, ihr wenigstens, zuruckgebracht hatten, und das die Quelle jedes weiteren und inhaltlichen Idealismus, auch des politischen, sei. "Jawohl, mein Herr! Was Sie als Trennung von Rede und Leben verunglimpfen mochten, ist nichts als hohere Einheit im Kronrund des Schonen, und mir ist nicht bange, auf welche Seite in einem Streit, dessen Wahlfalle Literatur und Barbarei hei?en, hochherzige Jugend sich immer schlagen wird."

Hans Castorp, dessen Aufmerksamkeit nur halb beim Gesprach gewesen war, da die Person des anwesenden Kriegers und Vertreters vornehmer Wesentlichkeit, oder eigentlich der neuartige Ausdruck seiner Augen ihn beschaftigte, fuhr etwas zusammen, da er sich durch Herrn Settembrinis letzte Worte aufgerufen und angefordert fuhlte, machte dann aber ein Gesicht, wie damals, als Settembrini ihn zur Entscheidung zwischen "Ost und West" feierlich hatte notigen wollen: ein Gesicht also voller Vorbehalt und Widerspenstigkeit, und schwieg. Alles stellten sie auf die Spitze, diese zwei, wie es wohl notig war, wenn man streiten wollte, und haderten erbittert um au?erste Wahlfalle, wahrend ihm doch schien, als ob irgendwo inmitten zwischen den strittigen Unleidlichkeiten, zwischen rednerischem Humanismus und analphabetischer Barbarei das gelegen sein musse, was man als das Menschliche oder Humane personlich ansprechen durfte. Aber er sprach es nicht an, um nicht beide Geister zu argern, und sah, eingehullt in Vorbehalt, wie sie weiter dahin trieben und einander feindlich behilflich waren, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, nachdem

Settembrini mit seinem kleinen Scherz vom Lateiner Virgil den Ansto? gegeben.

Er gab das Wort noch nicht her, er schwang es, er lie? es triumphieren. Er warf sich zum Schutzer auf des literarischen Genius, feierte die Geschichte des Schrifttums von dem Augenblick an, wo zum erstenmal ein Mensch, um seinem Wissen und Fuhlen Denkmalsdauer zu geben, Wortezeichen in einen Stein gegraben hatte. Er sprach von dem agyptischen Gotte Thot, mit dem der dreimalgro?e Hermes des Hellenismus identisch gewesen, und der als Erfinder der Schrift, Schutzherr der Bibliotheken und Anreger aller geistigen Bestrebungen verehrt worden war. Er beugte redend das Knie vor diesem Trismegist, dem humanistischen Hermes, dem Meister der Palastra, dem die Menschheit das Hochgeschenk des literarischen Wortes, der agonalen Rhetorik verdankte, und veranla?te so Hans Castorp zu der Anmerkung: dann sei dieser geburtige Agypter offenbar auch ein Politiker gewesen und habe in gro?erem Stile dieselbe Rolle gespielt wie Herr Brunetto Latini, der speziell den Florentinern Schliff verliehen und sie das Sprechen gelehrt, sowie die Kunst, ihre Republiknach den Regeln der Politik zu lenken, - worauf Naphta erwiderte, Herr Settembrini schwindle ein bi?chen und habe ihm von Thot-Trismegistos ein allzu gelecktes Bild gegeben. Denn das sei vielmehr eine Affen-, Mond- und Seelengottheit gewesen, ein Pavian mit einer Mondsichel auf dem Kopf und unter dem Namen des Hermes vor allem ein Todes- und Totengott: der Seelenzwinger und Seelenfuhrer, der schon der spateren Antike zum Erzzauberer und dem kabbalistischen Mittelalter zum Vater der hermetischen Alchimie geworden sei.

Was, was? In Hansens Gedanken und Vorstellungswerkstatt ging es drunter und druber. Da war der blaubemantelte Tod als humanistischer Rhetor; und wenn man den padagogischen Literaturgott und Menschenfreund naher ins Auge fa?te, so hockte da statt seiner eine Affenfratze mit dem Zeichen der Nacht und der Zauberei an der Stirn ... Er wehrte und winkte ab mit der Hand und legte sie dann uber die Augen. Aber in das Dunkel, worein er sich vor der Verwirrung gerettet, klang Settembrinis Stimme, der fortfuhr, die Literatur zu preisen. Nicht nur die betrachtende, auch die aktive Gro?e, rief er, sei allezeit mit ihr verbunden gewesen; und er nannte Alexander, Casar, Napoleon, nannte den preu?ischen Friedrich und weitere Helden, sogar Lassalle und Moltke. Es focht ihn nicht an, da? Naphta ihn ins Chinesische

heimschicken wollte, wo die skurrilste Vergotterung des Abc herrsche, die je erreicht worden sei, und wo man Generalfeldmarschall werde, wenn man alle vierzigtausend Wortzeichen tuschen konne, was recht nach dem Herzen eines Humanisten sein musse. Eh, Naphta wu?te recht wohl, da? es sich nicht ums Tuschen handelte, sondern um die Literatur als Menschheitsimpuls, um ihren Geist, armer Spotter! welcher der Geist selber war, das Wunder der Verbindung von Analyse und Form. Er war es, der das Verstandnis fur alles Menschliche weckte, die Schwachung und Auflosung dummer Werturteile und Uberzeugungen betrieb, die Sittigung, Veredelung und Besserung des Menschengeschlechtes herbeifuhrte. Indem er die au?erste moralische Verfeinerung und Reizbarkeit schuf, erzog er, fern davon, zu fanatisieren, zugleich zum Zweifel, zur Gerechtigkeit, zur Duldung. Die reinigende, heiligende Wirkung der Literatur, die Zerstorung der Leidenschaften durch die Erkenntnis und das Wort, die Literatur als Weg zum Verstehen, zum Vergeben und zur Liebe, die erlosende Macht der Sprache, der literarische Geist als edelste Erscheinung des Menschengeistes uberhaupt, der Literat als vollkommener Mensch, als Heiliger: - aus dieser strahlenden Tonart ging Herrn Settembrinis apologetischer Lobgesang. Ach, aber auch der Widersacher war nicht auf den Mund gefallen; er wu?te das englische Halleluja durch schlimme, glanzende Einwande zu storen, indem er sich zur Partei der Erhaltung und des Lebens schlug gegen den Geist der Zersetzung, welcher sich hinter jener seraphischen Gleisnerei verberge. Die Wunderverbindung, von welcher Herr Settembrini tremoliert habe, hie? es nun, laufe aufnichts als Trug und Gaukelspiel hinaus, denn die Form, die der literarische Geist mit dem Prinzip der Untersuchung und Trennung zu vereinigen sich ruhme, sei nur eine Schein- und Lugenform, keine echte, gewachsene, naturliche, keine Lebensform. Der sogenannte Verbesserer des Menschen fuhre wohl Reinigung und Heiligung im Munde, in Wahrheit aber sei es die Entmannung und Entblutung des Lebens, worauf er ausgehe; ja, der Geist, die eifernde Theorie sei lebensschanderisch, und wer die Leidenschaften zerstoren wolle, der wolle das Nichts, - das reine Nichts, rein allerdings, da "rein" denn in der Tat das einzige Attribut sei, das allenfalls dem Nichts noch konne beigelegt werden. Darin nun aber eben zeige Herr Settembrini, der Literat, sich recht als das, was er sei, namlich als Mann des Fortschritts, des Liberalismus und der burgerlichen Revolution. Denn der Fortschritt sei reiner Nihilismus und der liberale Burger ganz eigentlich der Mann des Nichts und des Teufels, ja, er

leugne Gott, das konservativ und positiv Absolute, indem er zum Teuflisch-Gegen-Absoluten schwore und sich mit seinem Todespazifismus noch wunder wie fromm dunke. Er sei aber nichts weniger als fromm, sondern ein Hochverbrecher am Leben, vor dessen Inquisition und strenge Fehme er peinlich gezogen zu werden verdiene - et cetera.

So wu?te Naphta zu pointieren, den Lobgesang ins Diabolische zu verkehren und sich selbst als die Inkarnation bewahrender Liebesstrenge hinzustellen, so da? zu unterscheiden, wo Gott und wo der Teufel, wo Tod und wo Leben war, wieder einmal zur reinen Unmoglichkeit wurde. Man wird es uns aufs Wort glauben, da? sein Gegenspieler Manns genug war, ihm die Antwort nicht schuldig zu bleiben, die hervorragend war, und auf die er wieder eine ebenso gute bekam, wonach es noch eine Weile so fortging und das Gesprach in fruher schon angedeutete Erorterungen einmundete. Aber Hans Castorp horte nicht langer zu, da Joachim zwischendurch geau?ert hatte, er glaube bestimmt, Erkaltungsfieber zu haben und wisse nicht recht, wie er sich nun verhalten solle, da Erkaltungen hier doch nicht "recu" seien. Die Duellanten waren daruber hinweggegangen, aber Hans Castorp hatte, wie wir zeigten, ein besorgtes Auge auf seinen Vetter und brach auf mit ihm, mitten in einer Replik, indem er es darauf ankommen lie?, ob von dem restlichen Publikum, bestehend aus Ferge und Wehsal, ein hinlanglicher padagogischer Antrieb zur Fortsetzung des Wettstreits ausgehen werde.

Unterwegs einigte er sich mit Joachim dahin, da? man in Sachen seiner Erkaltung und Halsbeschwerden den Dienstweg einschlagen, das hei?t also, den Bademeister anstellen wolle, die Oberin zu benachrichtigen, worauf denn fur den Leidenden doch wohl etwas geschehen werde. So war es wohlgetan. Noch am Abend, gleich nach dem Diner, klopfte Adriatica bei Joachim, als Hans Castorp gerade bei ihm imZimmer war, und erkundigte sich kreischend nach den Wunschen und Klagen des jungen Offiziers. "Halsschmerzen? Heiserkeit?" wiederholte sie. "Menschenskind, was machen Sie fur Sprunge?" Und sie unternahm den Versuch, ihm durchdringend ins Auge zu blicken, wobei es nicht an Joachim lag, da? ein Ineinander-Ruhen ihrer Blicke mi?lang: der ihre war es, der beiseite schweifte. Da? sie es immer wieder versuchte, wenn es ihr nun doch erfahrungsgema? einmal nicht gegeben war, das Unternehmen durchzufuhren! Mit Hilfe einer Art von metallenem Schuhloffel, den sie aus ihrer Gurteltasche zog, sah sie dem Patienten in den Schlund, wobei Hans Castorp mit der Nachttischlampe leuchten

mu?te. Wahrend sie, auf den Zehenspitzen stehend, um Joachims Zapfchen herumspahte, sagte sie:

"Sagen Sie mal, geehrtes Menschenkind, - haben Sie sich schon mal verschluckt?"

Was war nun darauf zu antworten! Im Augenblick, solange sie spahte, war uberhaupt keine Moglichkeit, Rede zu stehen; aber auch nachdem sie von ihm abgelassen, blieb guter Rat teuer. Naturlich hatte er sich im Leben schon ein und das andere Mal verschluckt, beim Essen und Trinken; doch das war Menschenlos und konnte bei ihrer Frage nicht wohl gemeint sein. Er sagte: Wieso? Er konne sich an das letztemal nicht erinnern.

Na, gut; es sei blo? so ein Einfall von ihr gewesen. Er habe sich also erkaltet, sagte sie zum Erstaunen der Vettern, da sonst das Wort Erkaltung doch hier im Hause verpont war. Zur naheren Untersuchung des Halses sei gegebenenfalls des Hofrats Kehlkopfspiegel vonnoten. Sie lie? Formamint zuruck bei ihrem Weggang, sowie einen Verbandwickel nebst Guttapercha zu feuchten Umschlagen fur die Nacht, und Joachim machte Gebrauch von beidem, meinte auch deutliche Erleichterung zu spuren dank diesen Anwendungen und fuhr also fort damit, zumal seine Heiserkeit sich nicht klaren wollte, ja, in den nachsten Tagen noch starker wurde, obgleich die Halsschmerzen zuweilen fast ganz verschwanden.

Ubrigens war sein Erkaltungsfieber reine Einbildung gewesen. Der objektive Befund war der gewohnliche, - eben der, welcher, zusammen mit den Ergebnissen der hofratlichen Untersuchungen, den ehrliebenden Joachim hier zu einer kleinen Nachkur festhielt, bevor er wieder zur Fahne wurde eilen konnen. Der Oktobertermin war sang- und klanglos vorubergegangen. Niemand verlor ein Wort daruber, weder der Hofrat, noch die Vettern gegeneinander: still und mit niedergeschlagenen Augen gingen sie daruber hinweg. Nach dem, was Behrens bei der Monatsuntersuchung dem seelenkundigen Famulus in die Feder diktierte, und was die photographische Platte zeigte, war allzu klar, da? hochstens von einer ganz wilden Abreise hatte die Rede sein konnen, wahrend es doch diesmal galt, im Dienste hier oben mit eiserner Selbstzucht auszuharren, bis zum Flachlanddienste, zur Eideserfullung dort unten endgultige Wetterfestigkeit gewonnen ware.

Dies war die geltende Parole, uber die einig zu sein man stillschweigend vorgab. Aber die Wahrheit sahso aus, da? einer vom

andern nicht so ganz sicher war, ob er in tiefster Seele an diese Parole glaubte, und wenn man die Augen voreinander niederschlug, so geschah es in diesem Zweifel, und es geschah nicht, ohne da? zuvor die Augen sich getroffen hatten. Das aber kam ofters vor seit jenem Kolloquium uber die Literatur, wahrend dessen Hans Castorp zum erstenmal das neuartige Licht im Hintergrund von Joachims Augen, sowie den eigentumlich "drohenden" Ausdruck darin bemerkt hatte. Namentlich einmal bei Tische kam es vor: als namlich der heisere Joachim sich unversehens ausnehmend heftig verschluckte und kaum wieder zu Atem kommen konnte. Da also, wahrend Joachim hinter seiner Serviette keuchte und Frau Magnus, seine Nachbarin, ihm einer alten Praktik gema? den Rucken klopfte, trafen sich ihre Augen auf eine Art, die Hans Castorp schreckhafter bewegte, als der Unfall selbst, der selbstverstandlich jedem zusto?en konnte, und dann schlo? Joachim die seinen und verlie?, mit der Serviette verhullt, Tisch und Saal, um sich drau?en auszuhusten.

Lachelnd, wenn auch noch etwas bla?, kehrte er nach zehn Minuten zuruck, eine Entschuldigung wegen der verursachten Storung auf den Lippen, nahm wie zuvor an der ubergewaltigen Mahlzeit teil, und nachher verga? man sogar, auch nur mit einer Bemerkung auf den trivialen Zwischenfall zuruckzukommen. Als aber einige Tage spater, diesmal nicht beim Diner, sondern beim uppigen Gabelfruhstuck, sich dasselbe ereignete, ubrigens ohne da? die Augen sich getroffen hatten, wenigstens nicht diejenigen der Vettern, da Hans Castorp, uber seinen Teller gebeugt, scheinbar unachtsam weiter speiste, mu?te man nach aufgehobener Tafel wohl dennoch ein Wort daran wenden, und Joachim schalt auf das verdammte Frauenzimmer, die Mylendonk, die mit ihrer vom Zaun gebrochenen Frage ihm einen Floh ins Ohr gesetzt und ihm etwas eingeredet und angehext habe, der Teufel solle sie holen. Ja, offenbar sei es Suggestion, sagte Hans Castorp, - amusant zu konstatieren bei aller Unannehmlichkeit. Und Joachim, nachdem man die Sache beim Namen genannt, erwehrte sich fortan mit Erfolg der Hexerei, gab acht beim Essen und verschluckte sich nicht haufiger mehr, als nichtbehexte Leute am Ende auch: erst neun oder zehn Tage spater einmal wieder, woruber denn weiter nichts zu sagen war.

Jedoch war er au?er der Reihe und Zeit zu Rhadamanthys bestellt. Die Oberin hatte ihn angezeigt und wohl nicht einmal dumm daran getan; denn da ein Kehlkopfspiegel im Hause war, so schien diese hartnackige

Heiserkeit, die stundenweise in wirkliche Stimmlosigkeit ausartete, und auch dies Halsweh, das wieder hervortrat, sobald Joachim versaumte, seine Kehle durch speicheltreibende Mittel geschmeidig zu halten, ein hinlanglicher Anla?, das klug erdachte Instrument einmal aus dem Schranke zu nehmen, - zu schweigen davon, da?, wenn Joachim sich jetzt mit normaler Seltenheit verschluckte, dies nur dergro?en Vorsicht zu danken war, die er beim Essen aufwandte, und die ihn bei den Mahlzeiten fast regelma?ig in Ruckstand hielt.

Der Hofrat also spiegelte, reflektierte und augte tief und lange in Joachims Hals hinunter, worauf der Patient sich auf Hans Castorps besonderen Wunsch sogleich in dessen Balkonloge einfand, um Bericht zu erstatten. Es sei recht lastig und kitzlich gewesen, teilte er halb flusternd mit, da gerade Hauptliegekur und Schweigegebot waltete, und schlie?lich habe Behrens allerlei von einem Reizungszustand gekohlt und gesagt, es mu?ten jeden Tag Pinselungen vorgenommen werden, gleich morgen wolle er zu atzen anfangen, er musse nur erst das Medikament bereitstellen. Also Reizungszustand und Atzungen. Hans Castorp, den Kopf voller Gedankenverbindungen, die weit liefen und sich auf ganz fernstehende Personen, wie den hinkenden Concierge und jene Dame erstreckten, die sich die ganze Woche ihr Ohr gehalten und dennoch durchaus beruhigt hatte sein konnen, hatte noch Fragen auf den Lippen, brachte sie aber nicht daruber, sondern beschlo?, sie dem Hofrat unter vier Augen vorzulegen und beschrankte sich gegen Joachim auf den Ausdruck seiner Genugtuung, da? das Argernis nun der Kontrolle unterstehe und der Hofrat die Sache in die Hand genommen habe. Der sei ein Hauptkerl und werde schon Remedur schaffen. Worauf Joachim nickte, ohne den anderen anzusehen, sich umwandte und in seine Loge hinuberging.

Was war es mit dem ehrliebenden Joachim? In den letzten Tagen waren seine Augen so unsicher und scheu geworden. Noch neulich war Oberin Mylendonk mit ihrem Durchbohrungsversuch an seinem sanften dunklen Blick gescheitert, allein wenn sie jetzt ihr Heil noch einmal versuchte, war man wahrhaftig nicht mehr sicher, wie die Sache ablaufen wurde. Jedenfalls vermied er solche Begegnungen, und wenn es dennoch dazu kam(denn Hans Castorp sah ihn viel an), so wurde einem auch dabei nicht wohler. Bedruckt blieb Hans Castorp in seinem Abteil zuruck, in treibender Versuchung, den Chef sogleich zur Rede zu stellen. Doch ging das nicht an, da Joachim sein Aufstehen gehort hatte, und so war

Aufschub geboten und Behrens im Laufe des Nachmittags abzufangen.

Das aber gelang nicht. Sonderbar! Es wollte durchaus nicht gelingen, des Hofrats habhaft zu werden, und zwar weder diesen Abend, noch wahrend der ganzen beiden folgenden Tage. Naturlich war Joachim etwas hinderlich, da er nichts merken sollte, aber das reichte nicht hin, zu erklaren, weshalb die Unterredung nicht zu erlangen und Radamanth auf keine Weise dingfest zu machen war. Hans Castorp suchte und fragte nach ihm im ganzen Hause, wurde dahin und dorthin gewiesen, wo er ihn sicher treffen werde, und fand ihn dann eben nicht mehr dort. Bei einer Mahlzeit war Behrens zugegen, sa? aber weit fort, am Schlechten Russentisch und verschwand vor dem Dessert. Ein paarmal glaubteHans Castorp ihn schon am Knopf zu halten, er sah ihn auf Treppen und Gangen im Gesprach mit Krokowski, mit der Oberin, mit einem Patienten stehen und pa?te ihm auf. Aber da er nur eben die Augen abgewandt hatte, war Behrens weg.

Am vierten Tage erst kam er zum Ziel. Von seinem Balkon aus sah er den Verfolgten im Garten dem Gartner Anweisungen geben, schlupfte geschwind aus der Decke und eilte hinunter. Eben ruderte der Hofrat mit rundem Nacken gegen seine Wohnung davon. Hans Castorp trabte und erlaubte sich sogar, zu rufen, fand aber kein Gehor. Endlich, atemlos anlangend, brachte er seinen Mann zum Stehen.

"Was haben Sie hier zu suchen!" herrschte der Hofrat ihn mit quellenden Augen an. "Soll ich Ihnen ein Extra-Exemplar der Hausordnung aushandigen lassen? Meines Wissens ist Liegekur. Ihre Kurve und die Platte geben Ihnen gar kein besonderes Recht, den Freiherrn zu spielen. Man sollte hier irgendwo so eine gottliche Diebsscheuche anbringen lassen, die Leute, die zwischen zwei und vier im Garten Libertinage treiben, mit Aufspie?ung bedroht! Was wollen Sie eigentlich?"

"Herr Hofrat, ich mu? Sie unbedingt einen Augenblick sprechen!"

"Das merke ich, da? Sie sich das schon lange einbilden. Sie stellen mir ja nach, als ob ich ein Frauenzimmer und wunder was fur ein Lustobjekt ware. Was wollen Sie von mir?"

"Es ist nur wegen meines Vetters, Herr Hofrat, entschuldigen Sie! Er wird nun gepinselt ... Ich bin uberzeugt, da? damit die Sache auf gutem Wege ist. Sie ist doch harmlos, - wollte ich mir nur zu fragen erlauben?"

"Sie wollen immer alles harmlos haben, Castorp, so sind Sie. Sie sind

gar nicht abgeneigt, sich auch einmal mit Nichtharmlosigkeiten einzulassen, aber dann behandeln Sie sie, als ob sie harmlos waren, und damit glauben Sie sich vor Gott und Menschen angenehm zu machen. Sie sind eine Art von Feigling und Duckmauser, Mensch, und wenn Ihr Vetter Sie einen Zivilisten nennt, so ist das noch sehr euphemistisch ausgedruckt."

"Kann alles sein, Herr Hofrat. Naturlich, die Schwachen meines Charakters stehen doch au?er Frage. Aber das ist es eben, da? sie im Augenblick wohl au?er Frage stehen, und was ich Sie schon seit drei Tagen bitten wollte, ist nur -"

"Da? ich Ihnen recht angenehm gezuckerten und gepantschten Wein einschenke! Sie wollen mich behelligen und mich langweilen, damit ich Sie in Ihrer verdammten Duckmauserei befestige, und damit Sie in Unschuld schlafen konnen, wahrend andere Leute wachen und sich den Wind um die Nase wehen lassen."

"Aber, Herr Hofrat, Sie sind recht streng mit mir. Ich wollte im Gegenteil -"

"Ja, Strenge, das ist nun gerade gar nicht Ihre Sache. Da ist Ihr Vetter ein anderer Kerl, von anderem Schrot und Korn. Der wei?Bescheid. Der wei? schweigend Bescheid, verstehen Sie mich? Der hangt sich den Leuten nicht an die Rockscho?e, um sich blauen Dunst und Harmlosigkeit vormachen zu lassen. Der wu?te, was er tat und was er daransetzte, und ist ein Mannsbild, das sich auf Haltung versteht und aufs Maulhalten, was eine mannliche Kunst ist, aber leider nicht die Sache von solchen bipedischen Annehmlichkeiten wie Sie. Aber das sage ich Ihnen, Castorp, wenn Sie hier Szenen auffuhren und ein Geschrei erheben und sich Ihren Zivilgefuhlen uberlassen, so setze ich Sie an die Luft. Denn hier wollen Manner unter sich sein, verstehen Sie mich."

Hans Castorp schwieg. Er wurde jetzt auch fleckig, wenn er sich verfarbte. Er war zu kupferrot, um ganz bla? zu werden. Schlie?lich sagte er mit zuckenden Lippen:

"Ich danke sehr, Herr Hofrat. Ich wei? ja nun auch wohl Bescheid, denn ich nehme an, da? Sie nicht so - wie soll ich sagen - so feierlich zu mir sprechen wurden, wenn es nicht ernst ware mit Joachim. Ich bin auch gar nicht fur Szenen und fur Geschrei, da tun Sie mir unrecht. Und wenn es also auf Diskretion ankommt, so stehe ich auch meinen Mann, das glaube ich zusagen zu konnen."

"Sie hangen an Ihrem Vetter, Hans Castorp?" fragte der Hofrat, indem er plotzlich des jungen Mannes Hand ergriff und ihn mit seinen blauen, wei?lich bewimperten, blutunterlaufenen Quellaugen von unten anblickte ...

"Was la?t sich da sagen, Herr Hofrat. Ein so naher Verwandter und so guter Freund und mein Kamerad hier oben." Hans Castorp schluchzte kurz und stellte den einen Fu? auf die Spitze, indem er die Ferse nach au?en wandte.

Der Hofrat beeilte sich, seine Hand loszulassen.

"Na, dann seien Sie nett mit ihm diese sechs, acht Wochen", sagte er. "Uberlassen Sie sich Ihrer angeborenen Harmlosigkeit, das wird ihm das Liebste sein. Ich bin auch noch da, und zwar dazu, die Sache so kavaliersma?ig und komfortabel wie moglich zu gestalten."

"Larynx, nicht wahr?" sagte Hans Castorp, indem er dem Hofrat zunickte.

"Laryngea", bestatigte Behrens. "Schnell fortschreitende Zerstorung. Und mit der Luftrohrenschleimhaut sieht es auch schon bose aus. Kann sein, da? das Kommandogeschrei im Dienst da einen locus minoris resistentiae geschaffen hat. Aber gefa?t sein mussen wir auf solche Diversionen ja immer. Wenig Aussicht, mein Junge; eigentlich wohl gar keine. Selbstverstandlich soll alles versucht werden, was gut und teuer ist."

"Die Mutter ...", sagte Hans Castorp.

"Spater, spater. Eilt ja noch nicht. Sorgen Sie mit Takt und Geschmack dafur, da? sie sukzessive ins Bild kommt. Und nun scheren Sie sich auf Ihren Posten. Er merkt es ja. Und es mu? ihm doch peinlich sein, sich so hinter seinem Rucken besprochen zu wissen."

- Taglich ging Joachim zumPinseln. Es war ein schoner Herbst, in wei?en Flanellhosen zum blauen Rock kam er ofters verspatet von der Behandlung zum Essen, propper und militarisch, gru?te knapp, freundlich und mannlich zusammengenommen, indem er seiner Saumigkeit wegen um Pardon bat, und setzte sich zu seiner Mahlzeit nieder, die man ihm jetzt besonders bereitete, da er bei der gewohnlichen Kost, der Verschluckungsgefahr wegen, nicht mitkam: er erhielt Suppen, Haschees und Brei. Schnell hatten die Tischgenossen die Lage begriffen. Sie erwiderten seinen Gru? mit nachdrucklicher Hoflichkeit und Warme, indem sie ihn "Herr Leutnant" anredeten. In

seiner Abwesenheit befragten sie Hans Castorp, und auch von den anderen Tischen kam man zu ihm und fragte. Frau Stohr kam mit gerungenen Handen und lamentierte ungebildet. Aber Hans Castorp antwortete nur einsilbig, raumte den Ernst des Zwischenfalles ein, leugnete jedoch bis zu einem gewissen Grade, tat es ehrenhalber, aus dem Gefuhle, Joachim nicht vorzeitig preisgeben zu durfen.

Sie gingen zusammen spazieren, legten dreimal taglich den dienstlichen Lustwandel zuruck, auf welchen der Hofrat Joachim nun genauestens eingeschrankt hatte, damit unnotige Krafteausgabe vermieden werde. Links von seinem Vetter ging Hans Castorp, - sie waren fruher so oder auch anders gegangen, wie es gerade kam, aber jetzt hielt sich Hans Castorp vorwiegend links. Sie sprachen nicht viel, redeten die Worte, die der Berghof-Normaltag ihnen auf die Lippen fuhrte, sonst nichts. Uber das Thema, das zwischen ihnen stand, ist nichts zu reden, zumal zwischen Leuten von Sittensprodigkeit, die einander nur au?erstenfalls mit Vornamen nennen. Dennoch hob es sich zuweilen drangend und wallend auf in Hans Castorps Zivilistenbrust, im Begriffe, sich zu ergie?en. Aber es war unmoglich. Was schmerzlich-sturmisch emporgeschwollen war, sank zuruck, und er verstummte.

Joachim ging gebeugten Kopfes neben ihm. Er sah zu Boden, als betrachtete er die Erde. Es war so merkwurdig: er ging hier, propper und ordentlich, er gru?te Vorubergehende auf seine ritterliche Art, hielt auf sein Au?eres und auf bienseance wie immer - und gehorte der Erde. Nun, der gehoren wir alle uber kurz oder lang. Aber so jung und mit so gutem, freudigem Willen zum Dienst bei der Fahne ganz kurzfristig ihr zu gehoren, das ist doch bitter: noch bitterer und unbegreiflicher fur einen wissend nebenhergehenden Hans Castorp, als fur den Erdmann selbst, dessen anstandig verschwiegenes Wissen eigentlich recht akademischer Natur ist, geringen Wirklichkeitscharakter fur ihn besitzt und im Grunde weniger seine Sache ist, als die der anderen. Tatsachlich ist unser Sterben mehr eine Angelegenheit der Weiterlebenden, als unserer selbst; denn ob wir es nun zu zitieren wissen oder nicht, so hat das Wort des witzigen Weisen jedenfalls volle seelische Gultigkeit, da?, solange wir sind, der Tod nicht ist, und da?, wenn der Tod ist, wir nicht sind; da? also zwischenuns und dem Tode gar keine reale Beziehung besteht und er ein Ding ist, das uns uberhaupt nichts und nur allenfalls Welt und Natur etwas angeht, - weshalb denn auch alle Wesen ihm mit gro?er Ruhe, Gleichgultigkeit, Verantwortungslosigkeit und egoistischer

Unschuld, entgegenblicken. Von dieser Unschuld und Verantwortungslosigkeit fand Hans Castorp viel in Joachims Wesen wahrend dieser Wochen und verstand, da? jener zwar wisse, da? es ihm aber darum nicht schwer falle, uber dies Wissen ein anstandiges Schweigen zu beobachten, weil seine inneren Beziehungen dazu nur locker und theoretisch waren oder, soweit sie praktisch in Betracht kamen, durch ein gesundes Schicklichkeitsgefuhl geregelt und bestimmt wurden, das die Erorterung jenes Wissens ebensowenig zulie? wie diejenige so vieler anderer funktioneller Unanstandigkeiten, deren das Leben sich bewu?t und durch die es bedingt ist, die es aber nicht hindern, bienseance zu bewahren.

So gingen sie und schwiegen uber lebensunziemliche Angelegenheiten der Natur. Auch Joachims anfangs so bewegt und zornig gefuhrte Klagen uber das Versaumnis der Manover, des militarischen Flachlanddienstes uberhaupt waren verstummt. Warum aber kehrte statt dessen und trotz aller Unschuld so oft der Ausdruck truber Scheu in seine sanften Augen zuruck, - jene Unsicherheit, die der Oberin, wenn sie es noch einmal hatte darauf ankommen lassen, wahrscheinlich den Sieg gebracht haben wurde? War es, weil er sich uberaugig und hohlwangig wu?te? - Denn so wurde er zusehends in diesen Wochen, viel mehr noch, als er es schon bei seiner Heimkehr vom Flachland gewesen war, und seine braune Gesichtsfarbe ward gelblich-lederner von Tag zu Tag. Als ob eine Umgebung ihm Grund zur Scham und Selbstverachtung gegeben hatte, die mit Herrn Albin auf nichts bedacht war, als darauf, die grenzenlosen Vorteile der Schande zu genie?en. Wovor und vor wem also duckte und verbarg sich sein ehemals so offener Blick? Wie seltsam, die Lebensscham der Kreatur, die sich in ein Versteck schleicht, um zu verenden, - uberzeugt, da? sie in der Natur drau?en keinerlei Achtung und Pietat vor ihrem Leiden und Sterben zu gewartigen hat, uberzeugt hiervon mit Recht, da ja die Schar der schwingenfrohen Vogel den kranken Genossen nicht nur nicht ehrt, sondern ihn in Wut und Verachtung mit Schnabelhieben traktiert. Doch das ist gemeine Natur, und ein hochmenschliches Liebeserbarmen schwoll auf in Hans Castorps Brust, wenn er die dunkle Instinktscham in des armen Joachims Augen sah. Er ging links von ihm, ausdrucklich tat er es; und da Joachim nun auch etwas unsicher zu Fu?e wurde, so stutzte er ihn wohl, wenn es einen kleinen Wiesenhang zu erklettern galt, indem er, die Sittensprodigkeit uberwindend, den Arm um ihn legte, ja, verga? noch nachher eine Weile, seinen Arm wieder von Joachims Schultern

wegzutun, bis dieser ihn halb argerlichabschuttelte und sagte:

"Na, du, was soll das. Es sieht ja betrunken aus, wie wir daherkommen."

Aber dann kam ein Augenblick, wo dem jungen Hans Castorp die Trubung von Joachims Blick noch in einem anderen Lichte erschien, und das war, als Joachim Order erhalten hatte, das Bett zu huten, Anfang November, - der Schnee lag hoch. Damals namlich war es ihm allzu schwer geworden, auch nur die Haschees und Breie sich zuzufuhren, da jeder zweite Bissen ihm in die falsche Kehle geriet. Der Ubergang zu ausschlie?lich flussiger Nahrung war indiziert, und zugleich verordnete Behrens dauernde Bettruhe, der Krafteersparnis wegen. Es war also am Vorabend von Joachims dauernder Bettlagerigkeit, am letzten Abend, da er noch auf den Fu?en war, da? Hans ihn betraf, - ihn im Gesprach mit Marusja betraf, der grundlos viellachenden Marusja mit dem Apfelsinentuchlein und der au?erlich wohlgebildeten Brust. Nach dem Diner war das, wahrend der Abendgeselligkeit, in der Halle. Hans Castorp hatte sich im Musiksalon aufgehalten und kam heraus, um nach Joachim zu sehen: da fand er ihn vor dem Kachelkamin neben Marusjas Stuhl, - es war ein Schaukelstuhl, worin sie sa?, und Joachim hielt ihn mit der Linken an der Ruckenlehne nach hinten geneigt, so da? Marusja aus liegender Stellung mit ihren braunen Kugelaugen in sein Gesicht emporblickte, das er, leise und abgerissen sprechend, uber das ihre beugte, wahrend sie manchmal lachelnd und erregt-geringschatzig mit den Schultern zuckte.

Hans Castorp beeilte sich, zuruckzutreten, nicht ohne wahrgenommen zu haben, da? noch andere Mitglieder der Gasteschaft auf die Szene, wie das zu gehen pflegte, ein belustigtes Auge hatten, - unbemerkt von Joachim, oder doch unbeachtet von ihm. Dieser Anblick: Joachim, im Gesprache rucksichtslos hingegeben an die hochbrustige Marusja, mit der er so lange an ein und demselben Tisch gesessen, ohne ein einziges Wort mit ihr zu wechseln; vor deren Person und Existenz er mit strengem Ausdruck, vernunftig und ehrliebend, die Augen niedergeschlagen hatte, obgleich er fleckig erbla?te, wenn von ihr die Rede war, - erschutterte Hans Castorp mehr, als irgendein Zeichen der Entkraftung, das er in diesen Wochen sonst an seinem armen Vetter wahrgenommen. "Ja, er ist verloren!" dachte er und setzte sich still auf einen Stuhl im Musiksalon, um Joachim Zeit zu lassen fur das, was er sich dort in der Halle an diesem letzten Abend noch gonnte.

Von da an also nahm Joachim dauernd die Horizontale ein, und Hans Castorp schrieb davon an Luise Ziem?en, schrieb ihr in seinem vorzuglichen Liegestuhl, er habe nun seinen fruheren gelegentlichen Mitteilungen hinzuzufugen, da? Joachim bettlagerig geworden sei und da? er zwar nichts gesagt habe, da? ihm aber der Wunsch, seine Mutter bei sich zu haben, von den Augen abzulesensei, und da? Hofrat Behrens diesen unausgesprochenen Wunsch ausdrucklich unterstutze. Auch dies fugte er zart und deutlich hinzu. Und so war es denn kein Wunder, da? Frau Ziem?en die schnellsten Verkehrsmittel in Anspruch nahm, um zu ihrem Sohne zu sto?en: schon drei Tage nach Abgang dieses humanen Alarmbriefes traf sie ein, und Hans Castorp holte sie bei Schneegestober im Schlitten von Station "Dorf" ab, - legte, auf dem Bahnsteige stehend, bevor das Zuglein einfuhr, seine Miene zurecht, da? sie die Mutter nicht gleich zu sehr erschrecke, da? diese aber auch nichts Falsches, Munteres mit dem ersten Blick darin lese.

Wie oft mochten wohl solche Begru?ungen sich hier schon ereignet haben, wie oft dies Aufeinander-Zueilen unter dringlichem und angstvollem Forschen des dem Zuge Entstiegenen in den Augen dessen, der ihn in Empfang nahm! Frau Ziem?en erweckte den Eindruck, als sei sie von Hamburg hierher zu Fu?e gelaufen. Erhitzten Gesichtes zog sie Hans Castorps Hand an ihre Brust und stellte, gewisserma?en scheu um sich blickend, hastige und gleichsam geheime Fragen, denen er auswich, indem er ihr dankte, da? sie so rasch gekommen sei, - das sei famos, und wie machtig werde ihr Joachim sich freuen. Tja, der liege nun leider vorderhand, es sei wegen der flussigen Nahrung, die ja naturlich auf den Kraftezustand nicht ohne Einflu? sei. Aber da gebe es notfalls noch mancherlei Auskunfte, zum Beispiel die kunstliche Ernahrung. Ubrigens werde sie ja selber sehen.

Sie sah; und an ihrer Seite sah Hans Castorp. Bis zu diesem Augenblick waren ihm die Veranderungen, die sich in den letzten Wochen an Joachim vollzogen hatten, gar nicht so bemerklich geworden, - junge Leute haben ja nicht viel Blick fur solche Dinge. Jetzt aber, neben der von au?en kommenden Mutter, betrachtete er ihn gleichsam mit ihren Augen, als hatte er ihn lange nicht gesehen, und erkannte klar und deutlich, was zweifellos auch sie erkannte, was aber ganz gewi? am besten von allen dreien Joachim selber wu?te, namlich, da? er ein Moribundus war. Er hielt Frau Ziem?ens Hand in der seinen, die ebenso gelb und abgezehrt war, wie sein Gesicht, von welchem, eben infolge

der Abmagerung, seine Ohren, dieser leichte Kummer seiner guten Jahre, starker als ehedem und in bedauerlich entstellendem Ma?e abstanden, das aber bis auf diesen Fehler und trotz seiner durch den Stempel des Leidens und durch den Ausdruck von Ernst und Strenge, ja Stolz, den es trug, eher noch mannlich verschont erschien, - obgleich seine Lippen mit dem schwarzen Bartchen daruber jetzt gar zu voll wirkten gegen die schattigen Wangenhohlen. Zwei Falten hatten sich in die gelbliche Haut seiner Stirn zwischen den Augen eingegraben, die, obgleich tief in knochigen Hohlen liegend, schoner undgro?er waren als je, und an denen Hans Castorp sich freuen mochte. Denn alle Storung, Trubung und Unsicherheit war, seit Joachim lag, daraus geschwunden, und nur jenes fruh bemerkte Licht war in ihrer ruhigen, dunklen Tiefe zu sehen - und freilich auch jene "Drohung". Er lachelte nicht, wahrend er die Hand seiner Mutter hielt und ihr flusternd Guten Tag und Willkommen sagte. Auch bei ihrem Eintritt hatte er nicht einen Augenblick gelachelt, und diese Unbeweglichkeit, Unveranderlichkeit seiner Miene sagte alles.

Luise Ziem?en war eine tapfere Frau. Sie loste sich nicht in Jammer auf bei ihres braven Sohnes Anblick. Gefa?t und zusammengenommen im Sinne ihres durch das kaum sichtbare Schleiernetz befestigten Haares, phlegmatisch und energisch, wie man bekanntlich bei ihr zulande war, nahm sie Joachims Wartung in die Hand, durch seinen Anblick gerade gespornt zu mutterlicher Kampflust und erfullt von dem Glauben, da?, wenn es etwas zu retten gabe, nur ihrer Kraft und Wachsamkeit die Rettung gelingen konne. Um ihrer Bequemlichkeit willen geschah es gewi? nicht, sondern nur aus Sinn fur das Stattliche, wenn sie einige Tage spater einwilligte, da? auch eine Pflegeschwester noch zu dem Schwerkranken berufen wurde. Es war Schwester Berta, in Wirklichkeit Alfreda Schildknecht, die mit ihrem schwarzen Handkoffer an Joachims Lager erschien; aber weder bei Tag noch bei Nacht lie? Frau Ziem?ens eifersuchtige Energie ihr viel zu tun, und Schwester Berta hatte eine Menge Zeit, auf dem Korridor zu stehen und, ihr Kneiferband hinter dem Ohre, neugierig auszuspahen.

Die protestantische Diakonissin war eine nuchterne Seele. Allein im Zimmer mit Hans Castorp und mit dem Kranken, der keineswegs schlief, sondern offenen Auges auf dem Rucken lag, war sie imstande, zu sagen:

"Das hatte ich mir auch nicht traumen lassen, da? ich einen von den Herren noch einmal zu Tode pflegen wurde."

Der erschrockene Hans Castorp zeigte ihr mit wilder Miene die Faust,

aber sie begriff kaum, was er wollte, - weit entfernt, und mit Recht, von dem Gedanken, da? es angebracht sein mochte, Joachim zu schonen und viel zu sachlich gesonnen, um in Erwagung zu ziehen, da? irgendjemand, und nun gar der Nachstbeteiligte, sich uber Charakter und Ausgang dieses Falles Tauschungen hingeben konne. "Da", sagte sie, indem sie Kolnisches Wasser auf ein Taschentuch go? und es Joachim unter die Nase hielt, "tun Sie sich noch ein bi?chen gutlich, Herr Leutnant!" Und wirklich hatte es zu jener Zeit wenig Vernunft gehabt, dem guten Joachim ein X fur ein U zu machen, - es sei denn zum Zwecke tonischer Beeinflussung, wie Frau Ziem?en es meinte, wenn sie ihm mit starker, bewegter Stimme von seiner Genesung sprach. Denn zweierlei war deutlich und nicht zu verkennen: da? Joachim erstens mit klarem Bewu?tsein dem Todeentgegenging, und da? er es zweitens in Harmonie und Zufriedenheit mit sich selber tat. Erst in der letzten Woche, Ende November, als Herzschwache sich bemerkbar machte, verga? er sich stundenweise, von hoffnungsseliger Unklarheit uber seinen Zustand umfangen, und sprach von seiner baldigen Ruckkehr zum Regiment und seiner Beteiligung an den gro?en Manovern, die er sich noch im Gange befindlich dachte. Zu demselben Zeitpunkt war es aber auch, da? Hofrat Behrens darauf verzichtete, den Angehorigen Hoffnung zu geben und das Ende nur noch fur eine Frage von Stunden erklarte.

Eine Erscheinung, so melancholisch wie gesetzma?ig, diese verge?lich-glaubige Selbstbetorung auch mannlicher Gemuter zu einer Zeit, wo tatsachlich der Zerstorungsproze? sich seinem letalen Ziele nahert, - gesetzma?ig-unpersonlich und uberlegen aller individuellen Bewu?theit, wie die Schlafverfuhrung, die den Erfrierenden umstrickt, und wie das Im-Kreise-Herumkommen des Verirrten. Hans Castorp, den Kummer und Herzensweh nicht hinderten, das Phanomen mit Sachlichkeit ins Auge zu fassen, knupfte unbeholfene, wenn auch scharfkopfige Betrachtungen daran im Gesprache mit Naphta und Settembrini, als er ihnen uber das Befinden seines Verwandten Bericht erstattete, und zog sich einen Verweis des letzteren zu, indem er meinte, die landlaufige Auffassung, philosophische Glaubigkeit und auf das Gute vertrauende Zuversicht sei ein Ausdruck von Gesundheit, Schwarzseherei und Weltverurteilung, aber ein Krankheitsmerkmal, beruhe offenbar auf Irrtum; denn sonst konne nicht gerade der trostlos finale Zustand einen Optimismus zeitigen, mit dessen schlimmer Rosigkeit verglichen der vorangegangene Trubsinn als eine derb-gesunde Lebensau?erung erscheine. Gottlob konnte er den Teilnehmenden gleichzeitig melden,

da? Rhadamanthys innerhalb der Hoffnungslosigkeit der Hoffnung Raum lie? und einen sanften, trotz Joachims Jugend quallosen Exitus prophezeite.

"Idyllische Herzaffare, meine gnadigste Frau!" sagte er, wahrend er Luise Ziem?ens Hand in seinen beiden schaufelgro?en hielt und sie mit quellenden, tranenden, blutunterlaufenen Blauaugen von unten anblickte. "Mir lieb, mir ungeheuer lieb, da? es kordialen Verlauf nimmt, und da? er das Glottisodem und sonstige Niedertracht nicht abzuwarten braucht; so bleiben ihm viele Schikanen erspart. Das Herz la?t rapide aus, wohl ihm, wohl uns, wir konnen pflichtschuldigst das Unsrige dagegen tun mit unserer Kampferspritze, ohne viel Aussicht, ihm damit Weitlaufigkeiten zu verursachen. Er wird viel schlafen zuletzt und freundlich traumen, glaube ich versprechen zu konnen, und wenn er zuguterletzt nicht gerade schlafen sollte, so wird er doch einen knappen, unmerklichen Ubertritt haben, es wird ihm ziemlich egal sein, verlassen Sie sich darauf. So ist das ubrigens im Grunde immer. Ich kenne den Tod, ich bin ein alter Angestellter von ihm, man uberschatzt ihn, glauben Sie mir! Ich kann Ihnen sagen, es ist fast gar nichts damit. Denn was unter Umstanden an Schindereien vorhergeht, das kann man ja nicht gut zum Tode rechnen, es ist eine springlebendige Angelegenheit und kann zum Leben und zur Genesung fuhren. Aber vomTode wu?te Ihnen keiner, der wiederkame, was Rechtes zu erzahlen, denn man erlebt ihn nicht. Wir kommen aus dem Dunkel und gehen ins Dunkel, dazwischen liegen Erlebnisse, aber Anfang und Ende, Geburt und Tod, werden von uns nicht erlebt, sie haben keinen subjektiven Charakter, sie fallen als Vorgange ganz ins Gebiet des Objektiven, so ist es damit."

Dies war des Hofrats Art und Weise, Trost zu spenden. Wir wollen hoffen, da? sie der verstandigen Frau Ziem?en ein bi?chen wohltat; und seine Zusicherungen trafen denn ja ziemlich weitgehend auch ein. Der schwache Joachim schlief viele Stunden lang in diesen letzten Tagen, traumte auch wohl, was zu traumen ihm angenehm war, Flachlandisch-Militarisches also, nehmen wir an; und wenn er erwachte und man ihn nach seinem Befinden fragte, so antwortete er, wenn auch undeutlich, stets, da? er sich wohl und glucklich fuhle, - obgleich er fast keinen Puls mehr hatte und schlie?lich den Einstich der Injektionsspritze uberhaupt nicht mehr spurte, - sein Korper war unempfindlich, man hatte ihn brennen und zwacken konnen, es ware den guten Joachim bereits nicht mehr angegangen.

Doch hatten sich seit seiner Mutter Eintreffen noch gro?e Veranderungen mit ihm vollzogen. Da ihm das Rasieren beschwerlich geworden war und er es seit acht oder zehn Tagen schon unterlassen hatte, sein Bartwuchs aber sehr kraftig war, so zeigte sein wachsernes Gesicht mit den sanften Augen sich nun von einem schwarzen Vollbart umrahmt, - einem Kriegsbart, wie wohl der Soldat ihn im Felde sich stehen la?t, und der ihn ubrigens schon und mannlich kleidete, wie alle fanden. Ja, Joachim war plotzlich aus einem Jungling zum reifen Manne geworden durch diesen Bart und wohl nicht nur durch ihn. Er lebte rasch, wie ein abschnurrendes Uhrwerk, legte im Hui und Galopp die Altersstufen zuruck, die in der Zeit zu erreichen ihm nicht vergonnt war, und wurde wahrend der letzten vierundzwanzig Stunden zum Greise. Die Herzschwache brachte eine angestrengt wirkende Schwellung seines Gesichtes mit sich, derart, da? Hans Castorp den Eindruck gewann, das Sterben musse zum wenigsten eine gro?e Muhsal sein, wenn auch Joachim dank mancher Ausfalle und Herabminderungen ihrer nicht gewahr zu werden schien; diese Anschwellung aber betraf am starksten die Lippenpartie, und eine Austrocknung oder Enervation des inneren Mundes wirkte ersichtlich damit zusammen, so da? Joachim beim Sprechen mummelte wie ein ganz Alter und ubrigens an dieser Hemmung wirkliches Argernis nahm: ware er ihrer erst ledig, meinte er lallend, so werde alles gut sein, doch sie sei eine verwunschte Belastigung.

Wie er das meinte: es werde "alles gut" sein, wurde nicht so ganz klar; - die Neigung seines Zustandes zum Zweideutigen trat auffallend hervor, er au?erte mehr als einmal Doppelsinniges, schien zu wissen und nichtzu wissen und erklarte einmal, offenbar von Vernichtungsgefuhl durchschauert, mit Kopfschutteln und einer gewissen Zerknirschung: so grundschlecht sei er noch niemals daran gewesen.

Dann wurde sein Wesen ablehnend, streng-unverbindlich, ja unhoflich; er lie? sich keine Fiktionen und Beschonigungen mehr nahe kommen, antwortete nicht darauf, blickte fremd vor sich hin. Namentlich nachdem der junge Pfarrer, den Luise Ziem?en berufen, und der zu Hans Castorps Bedauern keine gestarkte Krause, sondern nur Baffchen getragen hatte, mit ihm gebetet, nahm seine Haltung amtlich-dienstliches Geprage an, au?erte er Wunsche nur in Form kurzer Befehlsworte.

Um 6 Uhr nachmittags begann er ein eigentumliches Tun: er fuhr wiederholt mit der rechten Hand, um deren Gelenk sein goldnes

Kettenarmband lag, in der Gegend der Hufte uber die Bettdecke hin, indem er sie auf dem Ruckwege etwas erhob und dann auf der Decke in schabender, rechender Bewegung wieder zu sich fuhrte, so, als zoge und sammle er etwas ein.

Um 7 Uhr starb er, - Alfreda Schildknecht befand sich auf dem Korridor, nur Mutter und Vetter waren zugegen. Er war im Bette herabgesunken und befahl kurz, man moge ihn hoher stutzen. Wahrend Frau Ziem?en, den Arm um seine Schultern, der Anordnung nachkam, au?erte er mit einer gewissen Hast, er musse sofort ein Gesuch um Verlangerung seines Urlaubes aufsetzen und einreichen, und indem er es sagte, vollzog sich der "knappe Ubertritt", - von Hans Castorp im Lichte des rotumhullten Tischlampchens mit Andacht verfolgt. Sein Auge brach, die unbewu?te Anstrengung seiner Zuge wich, die Muhsalsschwellung der Lippen schwand zusehends dahin, Verschonung zu fruhmannlicher Jugendlichkeit breitete sich uber unseres Joachims verstummtes Antlitz, und so war's geschehen.

Da Luise Ziem?en sich schluchzend abgewandt hatte, war es Hans Castorp, der dem Regungs- und Hauchlosen mit der Spitze des Ringfingers die Lider schlo?, ihm die Hande behutsam auf der Decke zusammenlegte. Dann stand auch er und weinte, lie? uber seine Wangen die Tranen laufen, die den englischen Marineoffizier dort so gebrannt hatten, - dies klare Na?, so reichlich-bitterlich flie?end uberall in der Welt und zu jeder Stunde, da? man das Tal der Erden poetisch nach ihm benannt hat; dies alkalisch-salzige Drusenprodukt, das die Nervenerschutterung durchdringenden Schmerzes, physischen wie seelischen Schmerzes, unserem Korper entpre?t. Er wu?te, es sei auch etwas Muzin und Eiwei? darin.

Der Hofrat kam, von Schwester Berta benachrichtigt. Noch vor einer halben Stunde war er dagewesen und hatte Kampfer gespritzt; nur eben den Augenblick des knappen Ubertrittes hatte er verpa?t. "Tja, der hat es hinter sich", sagte er schlicht, indem er sich mit seinem Horrohr von Joachims stiller Brust aufrichtete. Und er druckte den beiden Anverwandten die Hande, indem er ihnen zunickte. Danach stand er noch eine Weile mit ihnen zusammen am Bett, Joachims unbewegliches, kriegerbartiges Antlitzbetrachtend. "Toller Junge, toller Kerl", sagte er uber die Schulter, indem er mit dem Kopf auf den Ruhenden wies. "Hat es zwingen wollen, wissen Sie, - naturlich war alles Zwang und Gewaltsamkeit mit seinem Dienst da unten, - febril hat er Dienst

gemacht auf Biegen und Brechen. Feld der Ehre, verstehen Sie, - ist uns aufs Feld der Ehre echappiert, der Durchganger. Aber die Ehre, das war der Tod fur ihn, und der Tod - Sie konnens nach Belieben auch umdrehen, - er hat nun jedenfalls 'Habe die Ehre!' gesagt. Toller Bengel das, toller Kerl." Und er ging ab, lang und gebuckt, mit heraustretendem Nacken.

Joachims Uberfuhrung in die Heimat war beschlossene Sache, und Haus Berghof sorgte fur alles, was dazu erforderlich war und sonst schicklich und stattlich schien, - Mutter und Vetter brauchten sich kaum zu regen. Am nachsten Tage, in seinem seidenen Manschettenhemd, Blumen auf der Decke, ruhend in matter Schneehelligkeit, war Joachim noch schoner geworden als unmittelbar nach dem Ubertritt. Jede Spur der Anstrengung war nun aus seinem Gesicht gewichen; erkaltet, hatte es sich zu reinster, schweigender Form befestigt. Kurzes Gekrausel seines dunklen Haares fiel in die unbewegliche, gelbliche Stirn, die aus einem edlen, aber heiklen Stoff zwischen Wachs und Marmor gebildet schien, und in dem ebenfalls etwas gekrausten Bart wolbten die Lippen sich voll und stolz. Ein antiker Helm hatte diesem Haupte wohl angestanden, wie mehrere der Besucher meinten, die sich zum Abschiede einfanden.

Frau Stohr weinte begeistert im Anblick der Form des ehemaligen Joachim. "Ein Held! Ein Held!" rief sie mehrfach und verlangte, da? an seinem Grabe die "Erotika" von Beethoven gespielt werden musse.

"Schweigen Sie doch!" zischte Settembrini sie von der Seite an. Er war nebst Naphta gleichzeitig mit ihr im Zimmer und herzlich bewegt. Mit beiden Handen wies er die Anwesenden auf Joachim hin, indem er sie zur Klage aufforderte. "Un giovanotto tanto simpatico, tanto stimabile!" rief er wiederholt.

Naphta enthielt sich nicht, aus seiner gebundenen Haltung heraus und ohne ihn anzublicken, leise und bissig gegen ihn hin zu au?ern:

"Ich freue mich, zu sehen, da? Sie au?er fur Freiheit und Fortschritt auch noch fur ernste Dinge Sinn haben."

Settembrini steckte das ein. Vielleicht empfand er eine gewisse, durch die Umstande vorubergehend hervorgerufene Uberlegenheit von Naphtas Position uber die seine; vielleicht war es dies augenblickliche Ubergewicht des Gegners, das er durch die Lebhaftigkeit seiner Trauer aufzuwiegen gesucht hatte, und das ihn jetzt schweigen lie?, - auch dann noch, als Leo Naphta, die unbestandigen Vorteile seiner Stellung

ausnutzend, scharf sententios bemerkte:

"Der Irrtum der Literaten besteht in dem Glauben, da? nur der Geist anstandig mache. Es ist eher das Gegenteil wahr. Nur wo kein Geist ist,gibt es Anstandigkeit."

"Na", dachte Hans Castorp, "das ist auch so ein pythischer Spruch! Kneift man die Lippen zusammen, nachdem man ihn hingesetzt, so herrscht Einschuchterung fur den Augenblick ..."

Am Nachmittag kam der Metallsarg. Joachims Umlagerung in diesen stattlichen, mit Ringen und Lowenkopfen geschmuckten Behalter wollte ein Mann allein als seine Sache betrachtet wissen, der mit ihm gekommen war: ein Verwandter des in Anspruch genommenen Bestattungsinstituts, schwarz gekleidet, in einer Art von kurzem Bratenrock und einen Ehering an seiner plebejischen Hand, in deren Fleisch der gelbe Reif sozusagen eingewachsen, ganz davon uberwuchert war. Man war geneigt, zu spuren, da? Leichengeruch seinem Bratenrock entstrome, was aber auf Vorurteil beruhte. Doch lie? der Mann die Spezialisten-Einbildung erkennen, da? all sein Tun gleichsam hinter die Kulissen zu fallen habe und nur pietatvoll-paradema?ige Ergebnisse den Blicken der Hinterbliebenen auszusetzen seien, - was geradezu Hans Castorps Mi?trauen erweckte und keineswegs nach seinem Sinne war. Er befurwortete zwar, da? Frau Ziem?en sich zuruckzoge, lie? sich selbst aber nicht hinauskomplimentieren, sondern blieb und legte mit Hand an: unter den Achseln fa?te er die Figur und half sie hinubertragen vom Bett in den Sarg, auf dessen Leilach und Troddelkissen Joachims Hulle hoch und feierlich gebettet wurde, zwischen Standleuchtern, die Haus Berghof gestellt hatte.

Am wieder nachsten Tage jedoch trat eine Erscheinung auf, die Hans Castorp bestimmte, sich innerlich von der Form zu trennen und zu losen und tatsachlich dem Professionisten, dem ublen Huter der Pietat, das Feld zu uberlassen. Joachim namlich, dessen Ausdruck bisher so ernst und ehrbar gewesen, hatte in seinem Kriegerbarte zu lacheln begonnen, und Hans Castorp verhehlte sich nicht, da? dieses Lacheln die Neigung zur Ausartung in sich trug - es erfullte sein Herz mit Empfindungen der Eile. So war es in Gottes Namen denn gut, da? die Abholung bevorstand, der Sarg geschlossen und verschraubt werden sollte. Hans Castorp beruhrte, eingeborene Sittensprodigkeit beiseite setzend, seines ehemaligen Joachim steinkalte Stirn zum Abschied zart mit den Lippen

und ging trotz allem Mi?trauen gegen den Mann der Kehrseite mit Luise Ziem?en folgsam zum Zimmer hinaus.

Wir lassen den Vorhang fallen, zum vorletzten Mal. Doch wahrend er niederrauscht, wollen wir im Geiste mit dem auf seiner Hohe zuruckgebliebenen Hans Castorp fern-hinab in einen feuchten Kreuzesgarten des Flachlandes spahen und lauschen, woselbst ein Degen aufblitzt und sich senkt, Kommandoworte zucken und drei Gewehrsalven, drei schwarmerische Honneurs hinknallen uber Joachim Ziem?ens wurzeldurchwachsenes Soldatengrab.

Siebentes Kapitel

Strandspaziergang

Kann man die Zeit erzahlen, diese selbst, als solche, an und fur sich? Wahrhaftig, nein, das ware ein narrisches Unterfangen! Eine Erzahlung, die ginge: "Die Zeit verflo?, sie verrann, es stromte die Zeit" und so immer fort, - das konnte gesunden Sinnes wohl niemand eine Erzahlung nennen. Es ware, alswollte man hirnverbrannterweise eine Stunde lang ein und denselben Ton oder Akkord aushalten und das - fur Musik ausgeben. Denn die Erzahlung gleicht der Musik darin, da? sie die Zeit erfullt, sie "anstandig ausfullt", sie "einteilt" und macht, da? "etwas daran" und "etwas los damit" ist - um mit der wehmutigen Pietat, die man Ausspruchen Verstorbener widmet, Gelegenheitsworte des seligen Joachim anzufuhren: langst verklungene Worte, - wir wissen nicht, ob sich der Leser noch ganz im klaren daruber ist, wie lange verklungen. Die Zeit ist das Element der Erzahlung, wie sie das Element des Lebens ist, - unlosbar damit verbunden, wie mit den Korpern im Raum. Sie ist auch das Element der Musik, als welche die Zeit mi?t und gliedert, sie kurzweilig und kostbar auf einmal macht: verwandt hierin, wie gesagt, der Erzahlung, die ebenfalls(und anders als das auf einmal leuchtend gegenwartige und nur als Korper an die Zeit gebundene Werk der bildenden Kunst) nur als ein Nacheinander, nicht anders denn als ein Ablaufendes sich zu geben wei?, und selbst, wenn sie versuchen sollte, in jedem Augenblick ganz da zu sein, der Zeit zu ihrer Erscheinung bedarf.

Das liegt auf der flachen Hand. Da? aber hier ein Unterschied waltet, liegt ebenso offen. Das Zeitelement der Musik ist nur eines: ein

Ausschnitt menschlicher Erdenzeit, in den sie sich ergie?t, um ihn unsagbar zu adeln und zu erhohen. Die Erzahlung dagegen hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Ma?e, da? die imaginare Zeit der Erzahlung fast, ja vollig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann. Ein Musikstuck des Namens "Funf-Minuten-Walzer" dauert funf Minuten, - hierin und in nichts anderem besteht sein Verhaltnis zur Zeit. Eine Erzahlung aber, deren inhaltliche Zeitspanne funf Minuten betruge, konnte ihrerseits, vermoge au?erordentlicher Gewissenhaftigkeit in der Erfullung dieser funf Minuten, das Tausendfache dauern - und dabei sehr kurzweilig sein, obgleich sie im Verhaltnis zu ihrer imaginaren Zeit sehr langweilig ware. Andererseits ist moglich, da? die inhaltliche Zeit der Erzahlung deren eigene Dauer verkurzungsweise ins Ungemessene ubersteigt, - wir sagen "verkurzungsweise", um auf ein illusionares oder, ganz deutlich zu sprechen, ein krankhaftes Element hinzudeuten, das hier offenbar einschlagig ist: sofern namlich dieses Falls die Erzahlung sich eines hermetischen Zaubers und einer zeitlichen Uberperspektive bedient, die an gewisse anormale und deutlich ins Ubersinnliche weisende Falle der wirklichen Erfahrung erinnern. Man besitzt Aufzeichnungen von Opiumrauchern, die bekunden, da? der Betaubte wahrend der kurzen Zeit seiner Entruckung Traume durchlebte, deren zeitlicher Umfang sich auf zehn, auf drei?ig und selbst auf sechzig Jahre belief oder sogar die Grenze aller menschlichen Zeiterfahrungsmoglichkeitzurucklie?, - Traume also, deren imaginarer Zeitraum ihre eigene Dauer um ein Gewaltiges uberstieg, und in denen eine unglaubliche Verkurzung des Zeiterlebnisses herrschte, die Vorstellungen sich mit solcher Geschwindigkeit drangten, als ware, wie ein Haschischesser sich ausdruckt, aus dem Hirn des Berauschten "etwas hinweggenommen gewesen wie die Feder einer verdorbenen Uhr".

Ahnlich also wie diese Lastertraume vermag die Erzahlung mit der Zeit zu Werke zu gehen, ahnlich vermag sie sie zu behandeln. Da sie sie aber "behandeln" kann, so ist klar, da? die Zeit, die das Element der Erzahlung ist, auch zu ihrem Gegenstande werden kann; und wenn es zuviel gesagt ware, man konne "die Zeit erzahlen", so ist doch, von der Zeit erzahlen zu wollen, offenbar kein ganz so absurdes Beginnen, wie es uns anfangs scheinen wollte, - so da? denn also dem Namen des "Zeitromans" ein eigentumlich traumerischer Doppelsinn zukommen

konnte. Tatsachlich haben wir die Frage, ob man die Zeit erzahlen konne, nur aufgeworfen, um zu gestehen, da? wir mit laufender Geschichte wirklich dergleichen vorhaben. Und wenn wir die weitere Frage streiften, ob die um uns Versammelten sich noch ganz im klaren daruber seien, wie lange es gegenwartig her ist, da? der unterdessen verstorbene ehrliebende Joachim jene Bemerkung uber Musik und Zeit ins Gesprach flocht(die ubrigens von einer gewissen alchimistischen Steigerung seines Wesens zeugt, da solche Bemerkungen eigentlich nicht in seiner braven Natur lagen), - so waren wir wenig erzurnt gewesen, zu horen, da? man sich wirklich im Augenblick nicht mehr so recht im klaren daruber sei: wenig erzurnt, ja zufrieden aus dem einfachen Grunde, weil die allgemeine Teilnahme an dem Erleben unseres Helden naturlich in unserem Interesse liegt, und weil dieser, Hans Castorp, in beregtem Punkte durchaus nicht ganz fest war, und zwar schon langst nicht mehr. Das gehort zu seinem Roman, einem Zeitroman, - so - und auch wieder so genommen.

Wie lange Joachim eigentlich hier oben mit ihm gelebt, bis zu seiner wilden Abreise oder im ganzen genommen; wann, kalenderma?ig, diese erste trotzige Abreise stattgefunden, wie lange er weggewesen, wann wieder eingetroffen und wie lange Hans Castorp selber schon hier gewesen, als er wieder eingetroffen und dann aus der Zeit gegangen war; wie lange, um Joachim beiseite zu lassen, Frau Chauchat ungegenwartig gewesen, seit wann, etwa der Jahreszahl nach, sie wieder da war(denn sie war wieder da), und wieviel Erdenzeit Hans Castorp im "Berghof" damals verbracht gehabt hatte, als sie zuruckgekehrt war: bei all diesen Fragen, gesetzt, man hatte sie ihm vorgelegt, was aber niemand tat, auch er selber nicht, denn er scheute sich wohl, sie sich vorzulegen, hatte Hans Castorp mit den Fingerspitzen an seiner Stirn getrommelt und entschieden nicht recht Bescheid gewu?t, - eineErscheinung, nicht weniger beunruhigend als jene vorubergehende Unfahigkeit, die ihn am ersten Abend seines Hierseins befallen hatte, namlich Herrn Settembrini sein eigenes Alter anzugeben, ja, eine Verschlimmerung dieses Unvermogens, denn er wu?te nun allen Ernstes und dauernd nicht mehr, wie alt er sei!

Das mag abenteuerlich klingen, ist aber so weit entfernt, unerhort oder unwahrscheinlich zu sein, da? es vielmehr unter bestimmten Bedingungen jederzeit jedem von uns begegnen kann: nichts wurde uns, solche Bedingungen vorausgesetzt, vor dem Versinken in tiefste

Unwissenheit uber den Zeitverlauf und also uber unser Alter bewahren. Die Erscheinung ist moglich kraft des Fehlens jedes Zeitorgans in unserem Innern, kraft also unserer absoluten Unfahigkeit, den Ablauf der Zeit von uns aus und ohne au?eren Anhalt auch nur mit annahernder Zuverlassigkeit zu bestimmen. Bergleute, verschuttet, abgeschnitten von jeder Beobachtung des Wechsels von Tag und Nacht, veranschlagten bei ihrer glucklichen Errettung die Zeit, die sie im Dunklen, zwischen Hoffnung und Verzweiflung zugebracht hatten, auf drei Tage. Es waren deren zehn gewesen. Man sollte meinen, da? in ihrer hochst beklommenen Lage die Zeit ihnen hatte lang werden mussen. Sie war ihnen auf weniger als ein Drittel ihres objektiven Umfanges zusammengeschrumpft. Es scheint demnach, da? unter verwirrenden Bedingungen die menschliche Hilflosigkeit eher geneigt ist, die Zeit in starker Verkurzung zu erleben, als sie zu uberschatzen.

Niemand bestreitet nun freilich, da? Hans Castorp, wenn er gewollt hatte, ohne wirkliche Schwierigkeit aus dem Ungewissen sich rechnerisch hatte ins Klare setzen konnen, - ebenso, wie das der Leser mit leichter Muhe zu tun vermochte, falls das Verschwommene und Versponnene seinem gesunden Sinn widerstehen sollte. Was Hans Castorp betraf, so war ihm vielleicht nicht gerade besonders wohl darin, allein irgendwelche Anstrengung, sich der Verschwommenheit und Versponnenheit zu entringen und sich klarzumachen, wie alt er hier schon geworden sei, lie? er sich's auch nicht kosten; und die Scheu, die ihn daran hinderte, war eine Scheu seines Gewissens, - obgleich es doch offenbar die schlimmste Gewissenlosigkeit ist, der Zeit nicht zu achten.

Wir wissen nicht, ob man es ihm zugute halten soll, da? die Umstande seinem Mangel an gutem Willen - wenn man nicht geradezu von seinem bosen Willen reden will - so sehr zustatten kamen. Als Frau Chauchat wiedergekehrt war(anders, als Hans Castorp es sich hatte traumen lassen - aber davon an seinem Orte), hatte wieder einmal Adventszeit geherrscht und der kurzeste Tag, Wintersanfang also, astronomisch gesprochen, in naher Aussicht gestanden. In Wirklichkeit aber, von theoretischer Anordnung abgesehen, in Hinsicht auf Schnee und Frost, hatte man damals Gott wei? wie lange schon wieder Winter gehabt, ja, dieser war allezeit nur ganz vorubergehend unterbrochen gewesen, von brennenden Sommertagen mit einer Himmelsblaue von so ubertriebener Tiefe, da? sie ins Schwarzliche spielte, -von Sommertagen also, wie sie ubrigens auch in den Winter fielen, wenn man den Schnee beiseite lie?,

der ubrigens auch in jedem Sommermonat fiel. Wie oft hatte Hans Castorp mit dem seligen Joachim uber diese gro?e Konfusion geschwatzt, welche die Jahreszeiten vermengte, sie durcheinander warf, das Jahr seiner Gliederung beraubte und es dadurch auf eine langweilige Weise kurzweilig oder auf eine kurzweilige Weise langweilig machte, so da? von Zeit, einer fruhen und mit Ekel getanen Au?erung Joachims zufolge, uberhaupt nicht die Rede sein konnte. Was eigentlich vermengt und vermischt wurde bei dieser gro?en Konfusion, das waren die Gefuhlsbegriffe oder die Bewu?tseinslagen des "Noch" und des "Schon wieder", - eins der verwirrendsten, vertracktesten und verhextesten Erlebnisse uberhaupt, und ein Erlebnis dabei, das zu kosten Hans Castorp gleich an seinem ersten Tage hier oben eine unmoralische Neigung verspurt hatte: namlich bei den funf ubergewaltigen Mahlzeiten im lustig schablonierten Speisesaal, wo denn ein erster Schwindel dieser Art, vergleichsweise unschuldig noch, ihn angewandelt hatte.

Seitdem hatte dieser Sinnen- und Geistestrug weit gro?eren Ma?stab angenommen. Die Zeit, sei ihr subjektives Erlebnis auch abgeschwacht oder aufgehoben, hat sachliche Wirklichkeit, sofern sie tatig ist, sofern sie "zeitigt". Es ist eine Frage fur Berufsdenker - und nur aus jugendlicher Anma?ung hatte also Hans Castorp sich einmal damit eingelassen -, ob die hermetische Konserve auf ihrem Wandbort au?er der Zeit ist. Aber wir wissen, da? auch am Siebenschlafer die Zeit ihr Werk tut. Ein Arzt beglaubigt den Fall eines zwolfjahrigen Madchens, das eines Tages in Schlaf verfiel und dreizehn Jahre darin verharrte, - wobei sie aber kein zwolfjahriges Madchen blieb, sondern unterdessen zum reifen Weibe erbluhte. Wie konnte es anders sein. Der Tote ist tot und hat das Zeitliche gesegnet; er hat viel Zeit, das hei?t: er hat gar keine, - personlich genommen. Das hindert nicht, da? ihm noch Nagel und Haare wachsen, und da? alles in allem - aber wir wollen die burschikose Redensart nicht wiederholen, die Joachim einmal in diesem Zusammenhange gebraucht, und an der Hans Castorp damals flachlandischen Ansto? genommen hatte. Auch ihm wuchsen Haare und Nagel, sie wuchsen schnell, wie es schien, er sa? so oft in den wei?en Mantel gehullt auf seinem Operationsstuhl beim Coiffeur in der Hauptstra?e vom Dorf und lie? sich das Haar schneiden, weil an den Ohren sich wieder Fransen gebildet hatten, - er sa? eigentlich immer dort, oder vielmehr, wenn er sa? und mit dem schmeichelnd-gewandten Angestellten plauderte, der sein Werk an ihm tat, nachdem die Zeit das ihre getan; oder wenn er an seiner Balkontur stand und sich mit

Scherchen und Feile, seinem schonen Samtnecessaire entnommen, die Nagel kurzte, - flog plotzlich mit einer Art von Schrecken, dem neugieriges Ergotzenbeigemischt war, jener Schwindel ihn an: ein Schwindel in des Wortes schwankender Doppelbedeutung von Taumel und Betrug, das wirbelige Nicht-mehr-unterscheiden von "Noch" und "Wieder", deren Vermischung und Verwischung das zeitlose Immer und Ewig ergibt.

Wir haben oft versichert, da? wir ihn nicht besser, aber auch nicht schlechter zu machen wunschen, als er war, und so wollen wir nicht verschweigen, da? er sein tadelnswertes Gefallen an solchen mystischen Anfechtungen, die er wohl gar bewu?t und geflissentlich hervorrief, oft doch auch durch gegenteilige Bemuhungen zu suhnen suchte. Er konnte sitzen, seine Uhr in der Hand - seine flache, glattgoldene Taschenuhr, deren Deckel mit dem gravierten Monogramm er hatte springen lassen, - und niederblicken auf ihre mit schwarzen und roten arabischen Ziffern doppelt rundum besetzte Porzellankreisflache, auf der die beiden zierlich-prachtvoll verschnorkelten Goldzeiger auseinander wiesen und der dunne Sekundenzeiger den geschaftig pickenden Gang um seine besondere kleine Sphare tat. Hans Castorp hielt ihn im Auge, um einige Minuten zu hemmen und zu dehnen, die Zeit am Schwanze zu halten. Das Weiserchen trippelte seines Weges, ohne der Ziffern zu achten, die es erreichte, beruhrte, uberschritt, zurucklie?, weit zurucklie?, wieder anging und wieder erreichte. Es war fuhllos gegen Ziele, Abschnitte, Markierungen. Es hatte auf 60 einen Augenblick anhalten oder wenigstens sonst ein winziges Zeichen geben sollen, da? hier etwas vollendet sei. Doch an der Art, wie es sie rasch, nicht anders als jedes andere unbezifferte Strichelchen, uberschritt, erkannte man, da? ihm die ganze Bezifferung und Gliederung seines Weges nur unterlegt war, und da? es eben nur ging, ging ... So barg denn Hans Castorp sein Glashuttenerzeugnis wieder in der Westentasche und uberlie? die Zeit sich selbst.

Wie sollen wir flachlandischer Ehrbarkeit die Veranderungen fa?lich machen, die in dem inneren Haushalt des jungen Abenteurers sich vollzogen? Es wuchs der Ma?stab der schwindligen Identitaten. War es bei einiger Nachgiebigkeit nicht leicht, ein Jetzt gegen eines von gestern, von vor- und vorvorgestern abzusetzen, das ihm geglichen hatte wie ein Ei dem andern, so war ein Jetzt auch schon geneigt und fahig, seine Gegenwart mit einer solchen zu verwechseln, die vor einem Monat,

einem Jahre obgewaltet hatte, und mit ihr zum Immer zu verschwimmen. Sofern jedoch die sittlichen Bewu?tseinsfalle des Noch und Wieder und Kunftig gesondert blieben, schlich eine Versuchung sich ein, Beziehungsnamen, mit denen das "Heute" sich Vergangenheit und Zukunft bestimmend vom Leibe halt, das "Gestern", das "Morgen", nach ihrem Sinne zu erweitern und sie auf gro?ere Verhaltnisse anzuwenden. Unschwer waren Wesen denkbar, vielleicht auf kleineren Planeten, die eine Miniaturzeit bewirtschafteten und fur deren "kurzes" Leben das flinke Getrippel unseres Sekundenzeigers die zahe Wegsparsamkeit des Stundenmessers hatte. Aber auch solche sind vorzustellen, mit deren Raum sich eine Zeit von gewaltigem Gange verbande,so da? die Abstandsbegriffe des "Eben noch" und "Uber ein Kleines", des "Gestern" und "Morgen" in ihrem Erlebnis ungeheuer erweiterte Bedeutung gewannen. Das ware, sagen wir, nicht nur moglich, es ware, im Geiste eines duldsamen Relativismus beurteilt und nach dem Satze "Landlich, sittlich", auch als legitim, gesund und achtbar anzusprechen. Was aber soll man von einem Erdensohne denken, des Alters obendrein, fur den ein Tag, ein Wochenrund, ein Monat, ein Semester noch solche wichtige Rolle spielen sollten, im Leben so viele Veranderungen und Fortschritte mit sich bringen, - der eines Tages die lasterliche Gewohnheit annimmt oder doch zuweilen der Lust nachgibt, statt "Vor einem Jahre": "Gestern" und "Morgen" fur "Ubers Jahr" zu sagen? Hier ist unzweifelhaft das Urteil "Verirrung und Verwirrung" und damit hochste Besorgnis am Platze.

Es gibt auf Erden eine Lebenslage, gibt landschaftliche Umstande (wenn man von "Landschaft" sprechen darf in dem uns vorschwebenden Falle), unter denen eine solche Verwirrung und Verwischung der zeitlich-raumlichen Distanzen bis zur schwindligen Einerleiheit gewisserma?en von Natur und Rechtes wegen statthat, so da? denn ein Untertauchen in ihrem Zauber fur Ferienstunden allenfalls als statthaft gelten moge. Wir meinen den Spaziergang am Meeresstrande, - ein Sichbefinden, dessen Hans Castorp nie ohne gro?te Zuneigung gedachte, - wie wir ja wissen, da? er sich durch das Leben im Schnee an heimatliche Dunengefilde gern und dankbar erinnern lie?. Wir vertrauen, da? auch Erfahrung und Erinnerung des Lesers uns nicht im Stiche lassen werde, wenn wir auf diese wundersame Verlorenheit Bezug nehmen. Du gehst und gehst ... du wirst von solchem Gange niemals zu rechter Zeit nach Hause zuruckkehren, denn du bist der Zeit und sie ist dir abhanden gekommen. O Meer, wir sitzen erzahlend fern von dir, wir wenden dir unsere Gedanken, unsre Liebe zu, ausdrucklich und laut anrufungsweise sollst

du in unserer Erzahlung gegenwartig sein, wie du es im stillen immer warst und bist und sein wirst ... Sausende Ode, bla? hellgrau uberspannt, voll herber Feuchte, von der ein Salzgeschmack auf unseren Lippen haftet. Wir gehen, gehen auf leicht federndem, mit Tang und kleinen Muscheln bestreutem Grunde, die Ohren eingehullt vom Wind, von diesem gro?en, weiten und milden Winde, der frei und ungehemmt und ohne Tucke den Raum durchfahrt und eine sanfte Betaubung in unserem Kopfe erzeugt, - wir wandern, wandern und sehen die Schaumzungen der vorgetriebenen und wieder ruckwarts wallenden See nach unseren Fu?en lecken. Die Brandung siedet, hell-dumpf aufprallend rauscht Welle auf Welle seidig auf den flachen Strand, - so dort wie hier und an den Banken drau?en, und dieses wirre und allgemeine, sanft brausende Getose sperrt unser Ohr fur jede Stimme der Welt. Tiefes Genugen, wissentlich Vergessen ... Schlie?en wir doch die Augen,geborgen von Ewigkeit! Nein, sieh, dort in der schaumig graugrunen Weite, die sich in ungeheueren Verkurzungen zum Horizont verliert, dort steht ein Segel. Dort? Was ist das fur ein Dort? Wie weit? Wie nah? Das wei?t du nicht. Auf schwindelige Weise entzieht es sich deinem Urteil. Um zu sagen, wie weit dies Schiff vom Ufer entfernt ist, mu?test du wissen, wie gro? es an sich selber als Korper ist. Klein und nahe oder gro? und fern? In Unwissenheit bricht sich dein Blick, denn aus dir selber sagt kein Organ und Sinn dir uber den Raum Bescheid ... Wir gehen, gehen, - wie lange schon? Wie weit? Das steht dahin. Nichts andert sich bei unserem Schritt, dort ist wie hier, vorhin wie jetzt und dann; in ungemessener Monotonie des Raumes ertrinkt die Zeit, Bewegung von Punkt zu Punkt ist keine Bewegung mehr, wenn Einerleiheit regiert, und wo Bewegung nicht mehr Bewegung ist, ist keine Zeit.

Die Lehrer des Mittelalters wollten wissen, die Zeit sei eine Illusion, ihr Ablauf in Ursachlichkeit und Folge nur das Ergebnis einer Vorrichtung unsrer Sinne und das wahre Sein der Dinge ein stehendes Jetzt. War er am Meere spaziert, der Doktor, der diesen Gedanken zuerst empfing, - die schwache Bitternis der Ewigkeit auf seinen Lippen? Wir wiederholen jedenfalls, da? es Ferienlizenzen sind, von denen wir da sprechen, Phantasien der Lebensmu?e, von denen der sittliche Geist so rasch gesattigt ist, wie ein rustiger Mann vom Ruhen im warmen Sand. An den menschlichen Erkenntnismitteln und -formen Kritik zu uben, ihre reine Gultigkeit fraglich zu machen, ware absurd, ehrlos, widersacherisch, wenn je ein anderer Sinn damit verbunden ware, als derjenige, der Vernunft Grenzen anzuweisen, die sie nicht uberschreitet, ohne sich der

Vernachlassigung ihrer eigentlichen Aufgaben schuldig zu machen. Wir konnen einem Manne wie Herrn Settembrini nur dankbar sein, wenn er dem jungen Menschen, dessen Schicksal uns beschaftigt, und den er bei Gelegenheit sehr fein als ein "Sorgenkind des Lebens" angesprochen hatte, die Metaphysik mit padagogischer Entschiedenheit als "Das Bose" kennzeichnete. Und wir ehren das Andenken eines uns lieben Verstorbenen am besten, indem wir aussprechen, da? Sinn, Zweck und Ziel des kritischen Prinzips nur eines sein kann und darf: der Pflichtgedanke, der Lebensbefehl. Ja, indem gesetzgeberische Weisheit die Grenzen der Vernunft kritisch absteckte, hat sie an ebendiesen Grenzen die Fahne des Lebens aufgepflanzt und es als die soldatische Schuldigkeit des Menschen proklamiert, unter ihr Dienst zu tun. Soll man es dem jungen Hans Castorp aufs Entschuldigungskonto setzen und annehmen, es habe ihn in seiner lasterlichen Zeitwirtschaft, seinem schlimmen Getandel mit der Ewigkeit bestarkt, da?, was ein melancholischer Schwadroneur seines militarischen Vetters "Biereifer" genannt, letalen Ausgang genommen hatte?

Mynheer Peeperkorn

Mynheer Peeperkorn, ein alterer Hollander,war eine Zeitlang Gast des Hauses "Berghof", das mit so gro?em Recht das Beiwort "international" in seinem Schilde fuhrte. Peeperkorns leicht farbige Nationalitat - denn er war ein Kolonial-Hollander, ein Mann von Java, ein Kaffeepflanzer - wurde uns kaum vermogen, seine, Pieter Peeperkorns(so hie? er, so bezeichnete er sich selbst; "jetzt labt Pieter Peeperkorn sich mit einem Schnaps", pflegte er zu sagen) - wurde uns, sagen wir, noch nicht bestimmen, seine Person zu elfter Stunde in unsere Geschichte einzufuhren; denn du gro?er Gott, in was fur Tinten und Abschattungen spielte nicht die Gesellschaft des bewahrten Instituts, das Hofrat Doktor Behrens in vielzungiger Redensartlichkeit arztlich leitete! Nicht genug, da? neuerdings hier sogar eine agyptische Prinzessin anwesend war, dieselbe, die dem Hofrat einst das bemerkenswerte Kaffeegeschirr und die Sphinxzigaretten geschenkt hatte, eine sensationelle Person mit nikotingelben beringten Fingern und kurzgeschnittenem Haar, die, von den Hauptmahlzeiten abgesehen, bei denen sie Pariser Toiletten trug, in Herrensakko und gebugelten Hosen umherging, ubrigens von der Mannerwelt nichts wissen wollte, sondern ihre zugleich trage und heftige Huld ausschlie?lich einer rumanischen Judin zuwandte, die schlecht und

recht Frau Landauer hie?, wahrend doch Staatsanwalt Paravant um Ihrer Hoheit willen die Mathematik vernachlassigte und vor Verliebtheit geradezu den Narren spielte: nicht genug also mit ihr personlich, so befand sich unter ihrem kleinen Gefolge auch noch ein verschnittener Mohr, ein kranker, schwacher Mensch, der aber trotz seiner von Karoline Stohr gern gehechelten Grundverfassung am Leben mehr zu hangen schien als irgend jemand, und sich untrostlich zeigte uber das Bild, das die Platte von seinem Inneren aufwies, nachdem man seine Schwarze durchleuchtet hatte ...

Verglichen mit solchen Erscheinungen also konnte Mynheer Peeperkorn fast farblos wirken. Und wenn dieser Abschnitt unserer Erzahlung, wie ein fruherer, die Uberschrift "Noch jemand" tragen konnte, so braucht deshalb niemand zu besorgen, da? hier abermals ein Veranstalter geistiger und padagogischer Konfusion auf den Plan tritt. Nein, Mynheer Peeperkorn war keineswegs der Mann, logische Verwirrung in die Welt zu tragen. Er war ein vollig anderer Mann, wie wir sehen werden. Da? gleichwohl schwere Verwirrung von seiner Person auf unseren Helden ausging, begreift sich aus folgendem.

Mynheer Peeperkorn traf mit demselben Abendzuge in Station "Dorf" ein, wie Madame Chauchat, und fuhr mit ihr in demselben Schlitten nach Haus Berghof, woselbst er mit ihr zusammen im Restaurant das Abendessen einnahm. Es war eine mehr als gleichzeitige, es war eine gemeinsame Ankunft, und diese Gemeinsamkeit, die ihre Fortsetzung zum Beispiel in der Anordnung fand, da? Mynheer seinen Tischplatz neben der Wiedergekehrten, am Guten Russentisch angewiesen erhielt, gegenuber dem Doktorplatz, dort, wo ehemals der Lehrer Popow seine wilden und zweideutigen Auffuhrungen veranstaltet hatte, - diese Zusammengehorigkeit war es, die den guten Hans Castorp verstorte, da dergleichen seiner Voraussichtentgangen war. Der Hofrat hatte ihm Tag und Stunde von Clawdias Ruckkehr auf seine Art angezeigt. "Na, Castorp, alter Junge," hatte er gesagt, "treues Ausharren wird belohnt. Ubermorgen abend schleicht das Katzchen sich wieder herein, ich hab's telegraphisch." Aber davon, da? Frau Chauchat nicht allein komme, hatte er nichts verlauten lassen, vielleicht weil auch er nichts davon gewu?t hatte, da? sie und Peeperkorn zusammen kamen und zusammengehorten, - wenigstens gab er Uberraschung vor, als Hans Castorp ihn am Tage nach der gemeinsamen Ankunft gewisserma?en zur Rede stellte.

"Kann ich Ihnen auch nicht sagen, wo sie den aufgegabelt hat", erklarte er. "Eine Reisebekanntschaft offenbar, von den Pyrenaen her, nehme ich an. Tja, den mussen Sie nun erst mal in Kauf nehmen, Sie enttauschter Seladon, hilft Ihnen alles nichts. Dicke Freundschaft, verstehen Sie. Wie es scheint, haben sie sogar gemeinsame Reisekasse. Der Mann ist schwer reich, nach allem, was ich hore. Kaffeekonig in Ruhestand, mussen Sie wissen, malaiischer Kammerdiener, opulente Umstande. Ubrigens kommt er bestimmt nicht zum Spa?, denn au?er einer gehorigen alkoholischen Verschleimung scheint malignes Tropenfieber vorzuliegen, Wechselfieber, verstehen Sie, verschleppt, hartnackig. Sie werden Geduld mit ihm haben mussen."

"Bitte sehr, bitte sehr", sagte Hans Castorp von oben herab. "Und du?" dachte er. "Wie ist dir zumute? Ganz unbeteiligt bist du doch auch nicht, von fruher her, wenn mich nicht dieses und jenes tauscht, blaubackiger Witwer mit deiner anschaulichen Olmalerei. Legst allerlei Schadenfreude in deine Worte, wie mir scheint, und dabei sind wir doch Leidensgenossen, gewisserma?en in Hinsicht auf Peeperkorn." - "Kurioser Mann, entschieden originelle Erscheinung", sagte er mit entwerfender Gebarde. "Robust und sparlich, das ist der Eindruck, den man von ihm gewinnt, den ich wenigstens heute beim Fruhstuck von ihm gewonnen habe. Robust und auch wieder sparlich, mit diesen Eigenschaftswortern mu? man ihn meiner Meinung nach kennzeichnen, obgleich sie gewohnlich nicht fur vereinbar gelten. Er ist wohl gro? und breit und steht gern spreizbeinig da, die Hande in seinen senkrechten Hosentaschen vergraben - sie sind senkrecht angebracht bei ihm, wie ich bemerken mu?te, nicht seitlich, wie bei Ihnen und mir und sonst wohl in den hoheren Gesellschaftsklassen -, und wenn er so dasteht und nach hollandischer Weise am Gaumen redet, dann hat er unleugbar was recht Robustes. Aber sein Kinnbart ist schutter, - lang, aber schutter, da? man die Haare zahlen zu konnen glaubt, und seine Augen sind auch nur klein und bla?, ohne Farbe geradezu, ich kann mir nicht helfen, und es nutzt nichts, da? er sie immer aufzurei?en sucht, wovon er die ausgepragten Stirnfalten hat, die erst an den Schlafen aufwarts und dann horizontal uber seine Stirn laufen, - seine hohe, rote Stirn, wissen Sie, um die daswei?e Haar zwar lang, aber sparlich steht, - die Augen bleiben doch klein und bla?, trotz allem Aufrei?en. Und seine Schlu?weste verleiht ihm was Geistliches, trotzdem der Gehrock karriert ist. Das ist mein Eindruck von heute morgen."

"Ich sehe, Sie haben ihn aufs Korn genommen", antwortete Behrens, "und sich den Mann gut angesehen in seiner Eigenart, was ich vernunftig finde, denn Sie werden sich mit seinem Vorhandensein arrangieren mussen."

"Ja, das werden wir wohl", sagte Hans Castorp. - Es ist ihm uberlassen geblieben, von der Figur des neuen, unerwarteten Gastes ein ungefahres Bild zu zeichnen, und er hat seine Sache nicht schlecht gemacht, - wir hatten sie auch nicht wesentlich besser machen konnen. Allerdings war sein Beobachtungsposten der gunstigste gewesen: wir wissen ja, da? er wahrend Clawdias Abwesenheit dem Guten Russentisch nachbarlich nahegeruckt war, und da der seine mit jenem parallel stand - nur da? der andere etwas weiter gegen die Verandatur sich vorschob - und Hans Castorp sowohl wie Peeperkorn die nach dem Saalinnern gelegenen Schmalseiten einnahmen, so sa?en sie sozusagen nebeneinander, Hans Castorp etwas hinter dem Hollander, was eine unauffallige Exploration erleichterte, - wahrend er Frau Chauchat im Dreiviertelsprofil schrag vor sich hatte. Erganzend ware seiner begabten Skizze etwa hinzuzufugen, da? Peeperkorns Oberlippe rasiert, seine Nase gro? und fleischig und sein Mund ebenfalls gro? und von unregelma?iger Lippenbildung, gleichsam zerrissen war. Ferner waren seine Hande zwar ziemlich breit, aber mit langen, spitz zulaufenden Nageln versehen, und er bediente sich ihrer beim Sprechen - bei seinem fast unaufhorlichen, wenn auch fur Hans Castorp dem Inhalte nach nicht recht greifbaren Sprechen - zu auserlesenen, die Aufmerksamkeit spannenden Gebarden, den delikat nuancierenden, gepflegten, genauen und reinlichen Kulturgebarden eines Dirigenten, den Zeigefinger mit dem Daumen zum Kreise gekrummt oder die flache Hand - breit, aber nagelspitz - behutend, abdampfend, Achtsamkeit fordernd ausgebreitet, - um dann die lachelnde Achtsamkeit, die er hervorgerufen, durch die Ungreifbarkeit seiner so stark vorbereiteten Au?erung zu enttauschen, - oder vielmehr nicht eigentlich zu enttauschen, sondern in ein erfreutes Staunen zu verwandeln; denn die Starke, Zartheit und Bedeutsamkeit der Vorbereitung ersetzte in hohem Grade noch nachtraglich, was ausblieb, und wirkte befriedigend, unterhaltend, ja bereichernd durch sich selbst. Zuweilen erfolgte die Au?erung uberhaupt nicht. Er legte zart seine Hand auf den Unterarm seines Nachbarn zur Linken, eines jungen bulgarischen Gelehrten, oder auf den Madame Chauchats zu seiner Rechten, hob dann diese Hand schrag aufwarts, Schweigen und Spannung gebietend fur das, was zu sagen er im Begriffe war, und blickte mit hochgezogenen

Brauen, so da? die rechtwinklig von seiner Stirn zu den au?eren Augenwinkeln laufenden Falten sich maskenhaft vertieften, neben dem so Gefesselten auf das Tischtuch nieder, indes seine gro?en, zerrissenen Lippen, geoffnet, imBegriffe schienen, hochst Wichtiges zu entlassen. Nach einer Weile jedoch atmete er aus, verzichtete, winkte gleichsam "Ruhrt euch" und wandte sich unverrichteterdinge seinem Kaffee wieder zu, den er sich extra stark, in einer eigenen Maschine, hatte servieren lassen.

Nachdem er ihn getrunken, verfuhr er, wie folgt. Er dammte mit der Hand die Unterhaltung zuruck, schuf Stille, wie der Dirigent, der das Durcheinander der stimmenden Instrumente zum Schweigen bringt und sein Orchester, kulturell gebietend, zum Beginn der Auffuhrung sammelt, - denn da sein gro?es, vom wei?en Haar umflammtes Haupt mit den blassen Augen, den machtigen Stirnfalten, dem langen Kinnbart und dem blo?liegenden wehen Munde daruber unstreitig bedeutend wirkte, so fugte alles sich seiner Gebarde. Alle verstummten, sahen ihn lachelnd an, warteten, und da und dort nickte einer ihm zur Ermunterung lachelnd zu. Er sagte mit ziemlich leiser Stimme:

"Meine Herrschaften. - Gut. Alles gut. Er-ledigt. Wollen Sie jedoch ins Auge fassen und nicht - keinen Augenblick - au?er acht lassen, da? - Doch uber diesen Punkt nichts weiter. Was auszusprechen mir obliegt, ist weniger jenes, als vor allem und einzig dies, da? wir verpflichtet sind, - da? der unverbruchliche - ich wiederhole und lege alle Betonung auf diesen Ausdruck - der unverbruchliche Anspruch an uns gestellt ist - - Nein! Nein, meine Herrschaften, nicht so! Nicht so, da? ich etwa - Wie weit gefehlt ware es, zu denken, da? ich - - Er-ledigt, meine Herrschaften! Vollkommen erledigt. Ich wei? uns einig in alldem, und so denn: zur Sache!"

Er hatte nichts gesagt; aber sein Haupt erschien so unzweifelhaft bedeutend, sein Mienen- und Gestenspiel war derma?en entschieden, eindringlich, ausdrucksvoll gewesen, da? alle und auch der lauschende Hans Castorp hochst Wichtiges vernommen zu haben meinten oder, sofern ihnen das Ausbleiben sachlicher und zu Ende gefuhrter Mitteilung bewu?t geworden war, dergleichen doch nicht vermi?ten. Wir fragen uns, wie einem Tauben zumute gewesen ware. Vielleicht hatte er sich gegramt, weil er den Fehlschlu? vom Ausdruck aufs Ausgedruckte gemacht und sich eingebildet hatte, durch sein Gebrechen geistig zu kurz zu kommen. Solche Leute neigen zu Mi?trauen und Bitterkeit. Ein

junger Chinese dagegen, am anderen Tischende, der des Deutschen noch wenig machtig war und nicht verstanden, aber gehort und gesehen hatte, bekundete seine erfreute Befriedigung durch den Ruf: "Very well!" - und applaudierte sogar.

Und Mynheer Peeperkorn kam "zur Sache". Er richtete sich auf, dehnte die breite Brust, knopfte den karrierten Gehrock uber der geschlossenen Weste zu, und sein wei?es Haupt war koniglich. Er winkte eine Saaltochter heran - es war die Zwergin -, und obgleich sehr beschaftigt, folgte sie sofort seinem bedeutenden Zeichen und stellte sich, Milch- und Kaffeekanne in Handen, neben seinen Stuhl. Auch sie konnte nicht umhin, ihmmit ihrem gro?en, altlichen Gesicht lachelnd und ermunternd zuzunicken, in Achtsamkeit gebannt von seinem blassen Blick unter den machtigen Stirnfalten, von seiner erhobenen Hand, deren Zeigefinger sich mit dem Daumen zum Kreise vereinigte, wahrend die drei ubrigen Finger aufwarts standen, von den Lanzenspitzen der Nagel uberragt.

"Mein Kind", sagte er, "- gut. Alles ganz gut soweit. Sie sind klein, - was macht mir das? Im Gegenteil! Ich werte es positiv, ich danke Gott dafur, da? Sie sind, wie Sie sind, und durch Ihre charaktervolle Kleinheit - Nun gut denn! Auch was ich von Ihnen wunsche, ist klein, klein und charaktervoll. Vor allem, wie hei?en Sie?"

Sie stotterte lachelnd und sagte dann, da? ihr Name Emerentia sei.

"Vortrefflich!" rief Peeperkorn, indem er sich gegen die Stuhllehne zuruckwarf und den Arm gegen die Zwergin ausstreckte. Er rief es mit einer Betonung, als wollte er sagen: Aber was wollen Sie denn? Alles steht wundervoll! - "Mein Kind," fuhr er aufs ernsteste und fast mit Strenge fort, "- das ubertrifft alle meine Erwartungen. Emerentia - Sie sprechen es mit Bescheidenheit aus, aber der Name - und in Verbindung mit Ihrer Person - kurzum, das eroffnet die schonsten Moglichkeiten. Er ist wohl wert, da? man ihm nachhangt und alles Gefuhl seiner Brust daransetzt, um - in der Koseform - Sie verstehen mich wohl, mein Kind: in der Koseform - moge es Rentia hei?en, aber auch Emchen ware erwarmend, - fur den Augenblick halte ich es ohne Schwanken mit Emchen. Emchen also, mein Kind, merke auf: Ein wenig Brot, meine Liebe. Halt! Steh! Da? ja kein Mi?verstandnis sich einschleiche! Ich sehe es deinem verhaltnisma?ig gro?en Gesichte an, da? diese Gefahr - Brot, Renzchen, aber nicht gebackenes Brot, - wir haben hier davon die Fulle, in allerlei Gestalt. Sondern gebranntes, mein Engel. Gottesbrot, klares Brot, kleine Koseform, und zwar der Labung wegen. Ich bin ungewi?, ob

Ihnen der Sinn dieses Wortes - ich wurde vorschlagen, 'Herzstarkung' dafur einzusetzen, liefe hier nicht die neue Gefahr mit unter, es im Sinne gebrauchlicher Leichtfertigkeit - Er-ledigt, Rentia. Erledigt und ausgeschlossen. Vielmehr im Sinn unserer Pflicht und heiligen Verbindlichkeit - Zum Beispiel also der mir obliegenden Ehrenschuld, mich deiner charakteristischen Kleinheit so recht starken Herzens - Einen Genever, Geliebte! - Zu erfreuen, wollte ich sagen. Schiedamer, Emerenzchen. Eile und bringe mir einen!"

"Einen Genever, echt", wiederholte die Zwergin, drehte sich einmal um sich selbst, in dem Wunsch, ihrer Kannen ledig zu werden, und stellte sie dann auf Hans Castorps Tisch, neben sein Besteck, offenbar, weil sie Herrn Peeperkorn nicht damit behelligen mochte. Sie eilte, und ihr Auftraggeber erhielt sofort das Gewunschte. Das Glaschen war so voll geschenkt, da? das "Brot" anallen Seiten daran herunterlief und den Teller benetzte. Er nahm es mit Daumen und Mittelfinger und hob es gegen das Licht. "Sohin", erklarte er, "labt Pieter Peeperkorn sich mit einem Schnaps." Und er schluckte das Korndestillat, nachdem er es kurz gekaut. "Jetzt", sagte er, "sehe ich Sie alle mit erquickten Augen an." Und er nahm Frau Chauchats Hand vom Tischtuch, fuhrte sie an die Lippen und legte sie dann zuruck, worauf er die seine noch einige Zeit darauf ruhen lie?.

Ein eigentumlicher, personlich gewichtiger, wenn auch undeutlicher Mann. Die Berghof-Gesellschaft nahm regen Anteil an ihm. Er habe sich kurzlich von den Kolonialgeschaften zuruckgezogen, hie? es, und das Seine ins Trockene gebracht. Man sprach von seinem prachtigen Hause im Haag und seiner Villa in Scheveningen. Frau Stohr nannte ihn einen "Geld-Magneten"(Magnat! Die Furchterliche!) und konnte dabei auf eine Perlenreihe hinweisen, die Madame Chauchat seit ihrer Heimkehr zum Abendkleide trug, und die nach Karolinens Meinung wohl kaum als Zeugnis transkaukasischer Gattengalanterie verstanden werden durfte, sondern der "gemeinsamen Reisekasse" entstammte. Sie zwinkerte dabei, wies seitlich mit dem Kopf auf Hans Castorp und zog in parodistischer Betrubnis den Mund herunter, indem sie, unverfeinert durch Krankheit und Leiden, seine Mi?lage zu rucksichtsloser Verhohnung ausnutzte. Er bewahrte Haltung. Er verbesserte ihren Bildungsschnitzer sogar nicht ohne Witz. Sie habe sich versprochen, sagte er. Geldmagnat. Aber Magnet sei auch nicht schlecht, denn offenbar habe Peeperkorn viel Anziehendes. Auch der Lehrerin Engelhart,

als sie ihn matt errotend, scheel lachelnd und ohne ihn anzusehen befragte, wie der neue Gast ihm behage, antwortete er mit gut bewahrtem Gleichmut. Mynheer Peeperkorn sei eine "verwischte Personlichkeit", sagte er, - eine Personlichkeit, aber verwischt. Die Genauigkeit dieser Kennzeichnung bewies Objektivitat und damit Gemutsruhe; sie warf die Lehrerin aus ihrer Position. Und was nun gar Ferdinand Wehsal und seinen verzerrten Hinweis auf die unerwarteten Umstande betraf, unter denen Frau Chauchat zuruckgekehrt war, so bewies hier Hans Castorp, da? es Blicke gibt, die an praziser Eindeutigkeit um kein Haar dem artikuliertesten Worte nachstehen. "Erbarmlicher!" besagte der Blick, mit dem er den Mannheimer ma?, besagte es unter Ausschlu? jeder auch nur aufs leichteste fehlgehenden Auslegung, und Wehsal anerkannte denn auch diesen Blick und steckte ihn ein, ja er nickte sogar dazu, indem er seine zerstorten Zahne zeigte, nahm aber doch von nun an Abstand davon, auf Spaziergangen mit Naphta, Settembrini und Ferge Hans Castorps Paletot zu tragen.

In Gottes Namen, er konnte ihn selber tragen, er trug ihn sogar lieber selbst, und nur aus Freundlichkeit hatte er ihn dem Elenden dann und wann uberlassen. Das aber verkennt wohl niemand in unserer Runde, da? Hans Castorp hart betroffen war durch jene vollig unvorhergesehenen Umstande, die alle Vorbereitungen zuschanden machten, die er furdas Wiedersehen mit dem Gegenstand seiner Faschingsabenteuer innerlich getroffen hatte. Besser gesagt: sie machten sie uberflussig, und darin lag das Beschamende.

Seine Vorsatze waren die zartesten, besonnensten gewesen, weit entfernt von tappischem Ungestum. Kein Gedanke daran, da? er Clawdia etwa vom Bahnhof hatte abholen wollen, - und ein Gluck nur, da? er diesen Gedanken nicht hatte aufkommen lassen! Uberhaupt aber war ganz ungewi? gewesen, ob eine Frau, der die Krankheit so gro?e Freiheit verlieh, die phantastischen Ereignisse einer fernen maskierten und fremdsprachigen Traumnacht auch nur werde wahrhaben wollen, oder ob sie wunschen werde, unmittelbar daran erinnert zu sein. Nein, keine Zudringlichkeit, kein plumper Anspruch! Selbst zugegeben, da? sein Verhaltnis zu der schragaugigen Kranken die Grenzen abendlandischer Vernunft und Gesittung dem Wesen nach hinter sich lie?, - in der Form war vollkommenste Zivilisation und fur den Augenblick sogar der Schein der Gedachtnislosigkeit zu wahren. Ein Kavaliersgru? von Tisch zu Tisch - furs erste nichts weiter! Ein hofisches Hinzutreten bei spaterer

Gelegenheit, unter leichter Erkundigung nach dem Ergehen der Reisenden seit neulich ... Das eigentliche Wiedersehen mochte sich zu seiner Stunde als Lohn beherrschter Ritterlichkeit daraus ergeben.

All dieser Zartsinn, wie gesagt, erschien nun hinfallig dadurch, da? ihm die Freiwilligkeit und damit alle Verdienstlichkeit genommen war. Die Gegenwart Mynheer Peeperkorns schaltete die Moglichkeit einer Taktik, die nicht in au?erster Zuruckhaltung bestanden hatte, allzu grundlich aus. Hans Castorp hatte am Abend der Ankunft von seiner Loge aus den Schlitten, auf dessen Bock neben dem Kutscher der malaiische Kammerdiener sa?, ein gelbes Mannchen mit einem Pelzkragen auf dem Uberzieher und in steifem Hut, im Schritt die Wegschleife heraufkommen sehen, und zuseiten Clawdias im Fond hatte, Hut in der Stirn, der Fremde gesessen. Diese Nacht hatte Hans Castorp wenig geschlafen. Am Morgen hatte es keine Schwierigkeiten bereitet, den Namen des verwirrenden Mitkommlings zu erfahren, mit der Nachricht als Dreingabe, da? beide im ersten Stockwerk nachbarliche Vorzugsraumlichkeiten bezogen hatten. Dann war das erste Fruhstuck gekommen, bei dem er, zeitig an seinem Platze und bla? genug, auf das Zufallen der Glastur gewartet hatte. Es war ausgeblieben. Clawdias Eintritt hatte sich lautlos vollzogen, denn hinter ihr hatte Mynheer Peeperkorn die Glastur geschlossen, - gro?, breit und hochgestirnt, wei? umlodert das machtige Haupt, war er den Spuren der Reisegefahrtin gefolgt, die sich mit vertrautem Katzentritt, vorgeschobenen Kopfes, ihrem Tisch genahert hatte. Ja, sie war es, unverandert. Programmwidrig und selbstvergessen umfa?te Hans Castorp sie mit seinem ubernachtigen Blick. Es war ihr rotlichblondes, nicht weiter kunstreich frisiertes, sondern in einfacher Flechte um den Kopf gelegtes Haar, es waren ihre "Steppenwolfslichter", ihre Nackenrundung, ihre Lippen, die voller erschienen, als sie waren, vermoge jener Betonung der Wangenknochen, die eine anmutige Hohlung der Wangen selbst bewirkte ... Clawdia! dachteer erschauernd, - und er fa?te den Unerwarteten ins Auge, nicht ohne ein spottisch-trotziges Kopfaufwerfen gegen die maskenhafte Gro?artigkeit seiner Erscheinung, nicht ohne die Aufforderung an sein Herz, sich lustig zu machen uber die Gro?machtigkeit eines gegenwartigen Besitzrechtes, das durch gewisse Vergangenheiten in ein recht schiefes Licht gesetzt wurde: gewisse Vergangenheiten in der Tat, nicht dunkel unsichere, auf dem Gebiet der dilettantischen Olmalerei gelegen, wie sie ihn selbst wohl zu beunruhigen vermocht hatten ... Auch ihre Art, vor dem Platznehmen gegen den Saal hin lachelnd Front zu machen, sich

gleichsam der Gesellschaft zu prasentieren, hatte Frau Chauchat bewahrt, und Peeperkorn leistete ihr Gefolgschaft darin, indem er schrag hinter ihr stehend die kleine Zeremonie sich vollziehen lie?, um sich danach an seinem Tischende zu Clawdias Seite niederzulassen.

Es war nichts gewesen mit dem Kavaliersgru? von Tisch zu Tisch. Clawdias Augen waren bei der "Vorstellung" uber Hans Castorps Person wie uber seinen ganzen Ort in fernere Gegenden des Saales hinweggeschweift; bei der folgenden Zusammenkunft im Speisesaal war es nicht anders gewesen; und je mehr Mahlzeiten vergingen, ohne da? die Blicke sich anders begegnet waren, als in einem blinden und gleichgultigen Hinstreifen von Frau Chauchats Seite, wenn sie sich wahrend des Essens einmal umwandte, desto unpassender wurde es, den Kavaliersgru? noch anzubringen. Wahrend der kurzen Abendgeselligkeit hielten die Reisegefahrten sich in dem kleinen Salon: Auf dem Sofa sa?en sie nebeneinander, im Kreise ihrer Tischgenossen, und Peeperkorn, dessen gro?artiges Angesicht hochgerotet gegen die Wei?e seines flammenden Haars und seines Kinnbartes abstach, trank die Flasche Rotwein zu Ende, die er sich zum Diner hatte geben lassen. Zu jeder Hauptmahlzeit trank er eine, auch anderthalb oder zwei, zu schweigen von dem "Brote", mit dem er schon beim ersten Fruhstuck begann. Offenbar war der konigliche Mann der Labung in ungewohnlichem Grade bedurftig. Auch in Gestalt von extrastarkem Kaffee fuhrte er sie sich mehrmals am Tage zu: nicht nur in der Fruhe, sondern auch mittags trank er ihn aus gro?er Tasse, - nicht nach der Mahlzeit, sondern wahrend ihrer und neben dem Wein. Beides, horte Hans Castorp ihn sagen, sei gut gegen das Fieber, - von aller labenden Wirkung ganz abgesehen, sehr gut gegen sein intermittierendes Tropenfieber, das ihn schon am zweiten Tage fur mehrere Stunden an Zimmer und Bett fesselte. Quartanfieber nannte der Hofrat es, da es den Hollander ungefahr viertagig anwandelte: erst als ein Klappern, dann als ein Gluhen und dann als ein Schwitzen. Auch eine geschwollene Milz sollte er davon haben.

Vingt et un

So verging eine Zeit, - es waren Wochen, wohl drei bis vier, von uns aus geschatzt, da wir uns auf Hans Castorps Urteil und messenden Sinn unmoglich verlassen konnen. Sie glitten dahin, ohne neueVeranderung zu zeitigen, sie zeitigten auf seiten unseres Helden gewohnheitsma?igen

Trotz gegen unvorgesehene Umstande, die ihm eine verdienstlose Zuruckhaltung auferlegten; gegen jenen Umstand, der sich selbst Pieter Peeperkorn nannte, wenn er einen Schnaps zu sich nahm; an das storende Vorhandensein dieses koniglichen, gewichtigen und undeutlichen Mannes, - storend in der Tat auf viel derbere Weise, als etwa Herr Settembrini "hier gestort" hatte, in alten Tagen. Trotzig-mi?launige Falten gruben sich senkrecht zwischen Hans Castorps Brauen ein, und unter diesen Falten betrachtete er funfmal am Tage die Heimgekehrte, froh immerhin, sie betrachten zu konnen und voller Geringschatzung fur eine gro?machtige Gegenwart, die nicht ahnte, ein wie schiefes Licht die Vergangenheit auf sie warf.

Eines Abends nun aber, wie das wohl ohne besonderen Anla? einmal geschehen mochte, hatte die Abendgeselligkeit in Halle und Zimmern sich reger als alltaglich gestaltet. Es hatte Musik gegeben, Zigeunerweisen, von einem ungarischen Studenten auf der Geige keck exekutiert, worauf Hofrat Behrens, der ebenfalls mit Doktor Krokowski auf eine Viertelstunde erschienen war, irgend jemanden genotigt hatte, in der tieferen Lage des Pianinos die Melodie des "Pilgerchors" zu spielen, wahrend er selbst, daneben stehend, den Diskant des Instrumentes auf hupfende Art mit einer Burste bearbeitete und so die begleitenden Violinfiguren parodierte. Das gab zu lachen. Unter gro?em Applaus, mit wohlwollendem Kopfschutteln, das dem eigenen Ubermut galt, verlie? der Hofrat danach die Konversationsraume. Die Geselligkeit aber spann sich hin, noch wurde fortmusiziert, ohne da? gesammelte Aufmerksamkeit dafur gefordert worden ware, man sa? bei Domino und Bridge mit Getranken, unterhielt sich mit den Scherzinstrumenten, und plauderte da und dort. Auch die Gesellschaft des Guten Russentisches hatte sich unter die Gruppen der Halle und des Klavierzimmers gemischt. Man sah Mynheer Peeperkorn an verschiedenen Stellen, - man konnte nicht umhin, ihn zu sehen, sein majestatisches Haupt uberragte jede Umgebung, schlug sie durch konigliche Wucht und Bedeutung, und wenn diejenigen, die ihn umstanden, ursprunglich nur durch das Gerucht seines Reichtums mochten angezogen worden sein, so war es doch sehr bald seine Personlichkeit selbst und allein, an der sie hingen: lachelnd standen sie und nickten ihm zu, ermunternd und selbstvergessen; gebannt durch sein fahles Auge unter den machtigen Stirnfalten, in Spannung gehalten durch die Eindringlichkeit seiner langnageligen Kulturgebarden und ohne uber die unverstandliche Abgerissenheit, Undeutlichkeit und tatsachliche Unbrauchbarkeit dessen, was ihnen

folgte, sich des leisesten Enttauschungsgefuhles bewu?t zu werden.

Sehen wir uns unter diesen Verhaltnissen nach Hans Castorp um, so finden wir ihn im Schreib- und Lesezimmer, jenem Gesellschaftsraum, wo ihm einst(dies Einst ist vage; Erzahler, Held und Leser sind nicht mehr ganz im klaren uber seinen Vergangenheitsgrad) gewichtige Eroffnungen uber die Organisation des Menschheitsfortschritts zuteil geworden. Es war stiller hier; nur ein paar Personen teilten mit ihm den Aufenthalt. Jemand schriebunter einer elektrischen Hangelampe an einem der Doppelpulte. Eine Dame mit zwei Zwickern auf der Nase blatterte an der Bibliothek sitzend in einem illustrierten Bande. Hans Castorp sa? in der Nahe des offenen Durchganges zum Klavierzimmer, den Rucken der Portiere zugewandt, mit einer Zeitung auf dem Stuhl, der dort eben gestanden hatte, einem pluschbezogenen Renaissancestuhl, wenn man ihn sehen will, mit hoher, gerader Ruckenlehne und ohne Armlehnen. Der junge Mann hielt seine Zeitung zwar so, wie man sie halt, um zu lesen, las aber nicht, sondern lauschte mit schragem Kopf auf das abgerissene und mit Gesprach durchsetzte Musizieren nebenan, wahrend die Finsternis seiner Brauen darauf hindeutete, da? auch dies nur mit halbem Ohre geschah, und da? seine Gedanken unmusikalische Wege gingen, dornige Wege der Enttauschung durch Umstande, die einen jungen Mann, der gro?e Wartezeit auf sich genommen, am Ende dieser Wartezeit schmahlich zum Narren hielten, - bittere Wege des Trotzes, auf denen es bestimmt nicht mehr weit war bis zu dem Entschlu? und seiner Ausfuhrung, die Zeitung auf diesen zufalligen und unbequemen Stuhl zu legen, durch jene Tur, durch die nach der Halle, hinauszugehen und die frostbei?ende Einsamkeit der Balkonloge, zu zweien mit Maria Mancini, gegen diese verpfuschte Geselligkeit einzutauschen.

"Und Ihr Vetter, Monsieur?" fragte hinter ihm, uber seinem Kopf, eine Stimme. Es war eine bezaubernde Stimme fur sein Ohr, das nun einmal geschaffen war, ihre herbsu?e Verschleierung als extreme Annehmlichkeit zu empfinden - den Begriff des Angenehmen eben auf einen extremen Gipfel getrieben -, es war die Stimme, die vor Zeiten gesagt hatte: "Gern. Aber mach ihn nicht entzwei", eine bezwingende, eine Schicksalsstimme, und wenn ihm recht war, so hatte sie nach Joachim gefragt.

Er lie? seine Zeitung langsam sinken und schob das Gesicht etwas hoher, so da? sein Kopf weiter oben, nur mit dem Haarwirbel an der

steilen Stuhllehne lag. Er schlo? sogar die Augen ein wenig, tat sie aber gleich wieder auf, um sie schrag aufwarts, in der Richtung, die seinem Blick durch die Haltung seines Kopfes gewiesen war, irgendwohin ins Leere zu richten. Der Gute, man hatte sagen mogen, sein Ausdruck habe fast etwas Seherisches und Somnambules. Er wunschte, sie mochte noch einmal fragen, doch das geschah nicht. So war er nicht einmal sicher, ob sie noch hinter ihm stande, als er nach geraumer Zeit, mit sonderbarer Verspatung und halber Stimme zur Antwort gab:

"Er ist tot. Er hat Dienst gemacht in der Ebene und ist gestorben."

Er selbst bemerkte, da? "tot" das erste betonte Wort war, das wieder zwischen ihnen fiel. Er bemerkte zugleich, da? sie aus Mangel an Vertrautheit mit seiner Sprache zu leichte Ausdrucke des Mitgefuhls wahlte, als sie hinter und uber ihm sagte:"O weh. Das ist schade. Ganz tot und begraben? Seit wann?"

"Seit einiger Zeit. Seine Mutter nahm ihn mit sich hinunter. Es war ihm ein Kriegsbart gewachsen. Es sind drei Ehrensalven uber seinem Grabe abgegeben worden."

"Die hatte er verdient. Er war sehr brav. Viel braver als andere Leute, gewisse andere."

"Ja, er war brav. Radamanth sprach immer von seinem Biereifer. Aber sein Korper wollte es anders. Rebellio carnis, hei?t es bei den Jesuiten. Er war immer korperlich gesinnt, auf ehrenhafte Weise. Aber sein Korper hatte Unehrenhaftes eindringen lassen und schlug seinem Biereifer ein Schnippchen. Es ist ubrigens moralischer, sich zu verlieren und selbst zu verderben, als sich zu bewahren."

"Ich sehe wohl, man ist immer noch ein philosophischer Taugenichts. Radamanth? Wer ist das?"

"Behrens. Settembrini nennt ihn so."

"Ah, Settembrini, ich wei?. Das war jener Italiener da ... Ich liebte ihn nicht. Er war nicht menschlich gesinnt."(Die Stimme sprach das Wort "mahnschlich" aus, mit einer gewissen tragen und schwarmerischen Dehnung.) "Er war hochmutig."(Auf der zweiten Silbe betont.) "Er ist nicht mehr da? Ich bin dumm. Ich wei? nicht, was das ist: Radamanth."

"Etwas Humanistisches. Settembrini ist verzogen. Wir haben weitlaufig philosophiert in diesen Zeiten, er und Naphta und ich."

"Wer ist Naphta?"

"Sein Widersacher."

"Wenn er sein Widersacher ist, mochte ich seine Bekanntschaft machen. - Aber habe ich nicht gesagt, da? Ihr Vetter sterben wurde, wenn er versuchte, in der Ebene Soldat zu sein?"

"Ja, du hast es gewu?t."

"Was fallt Ihnen ein!"

Langeres Stillschweigen. Er widerrief nichts. Er wartete, den Wirbel gegen die steile Lehne gedruckt, mit Seherblick auf das Wiederlautwerden der Stimme, ungewi? aufs neue, ob sie noch hinter ihm sei, befurchtend, das abgerissene Musizieren nebenan mochte das Gerausch sich entfernender Schritte verschlungen haben. Endlich jedoch kam es wieder:

"Und Monsieur ist nicht einmal zum Begrabnis des Vetters gefahren?"

Er antwortete:

"Nein, ich habe ihm hier Adieu gesagt, bevor man ihn einschlo?, da er anfing, zu lacheln. Du glaubst nicht, wie kalt seine Stirne war."

"Schon wieder! Was fur eine Redeweise zu einer Dame, die man kaum kennt!"

"Soll ich humanistisch reden statt menschlich?"(Unwillkurlich dehnte auch er das Wort auf schlafrige Weise, ungefahr wie jemand, der sich reckt und gahnt.)

"Quelle blague! - Sie waren immer hier?"

"Ja. Ich habe gewartet."

"Worauf?"

"Auf dich."

Ein Lachen zu seinen Haupten, hervorgesto?en zugleich mit dem Worte "Narr!" "Auf mich! Man wird dich nicht fortgelassen haben."

"Doch, Behrens hatte mich einmal fortgelassen, im Jahzorn. Aber es ware nur wilde Abreise gewesen. Denn au?er den alten Narben von fruher her, aus meiner Schulzeit, du wei?t, ist da die frische Stelle, die Behrens gefunden hat, und die mir das Fieber macht."

"Immer noch Fieber?"

"Ja, immer etwas. Fast immer. Es wechselt. Aber es ist kein Wechselfieber."

"Des allusions?"

Er schwieg. Ermachte finstere Brauen uber seinem Seherblick. Nach

einer Weile fragte er:

"Und wo warst du?"

Eine Hand schlug auf die Stuhllehne.

"Mais c'est un sauvage! - Wo ich war? Uberall. In Moskau"(die Stimme sagte "Muoskau", - es war eine ahnlich trage Dehnung wie die von "mahnschlich"), "in Baku, in deutschen Badern, in Spanien."

"O, in Spanien. Wie war es?"

"Soso. Man reist schlecht. Die Leute sind halbe Mohren. Kastilien ist sehr durr und starr. Der Kreml ist schoner als das Schlo? oder Kloster dort am Fu? des Gebirges ..."

"Der Eskorial."

"Ja, Philipps Schlo?. Ein unmahnschliches Schlo?. Mir hat viel besser gefallen der Volkstanz in Katalunien, die Sardana, zum Dudelsack. Ich habe selbst mitgetanzt. Alle fassen sich an und tanzen Ringelreihn. Der ganze Platz ist voll. C'est charmant. Es ist mahnschlich. Ich habe mir eine kleine blaue Mutze gekauft, wie dort alle Manner und Knaben des Volks sie tragen, fast schon ein Fes, die Boina. Ich trage sie in der Liegekur und sonst. Monsieur wird urteilen, ob sie mir gut steht."

"Welcher Monsieur?"

"Der hier im Stuhl."

"Ich dachte: Mynheer Peeperkorn."

"Der hat schon geurteilt. Er sagt, sie stande mir reizend."

"Hat er das gesagt? Zu Ende gesagt? Den Satz zu Ende gesprochen, da? man ihn verstehen konnte?"

"Ah, es scheint, man ist mi?gelaunt. Man mochte boshaft sein, bei?end. Man versucht, sich lustig zu machen uber Leute, die viel gro?er und besser und mahnschlicher sind als man selber mitsamt seinem ... avec son ami bavard de la Mediterranee, son maitre grand parleur ... Aber ich werde nicht erlauben, da? man meine Freunde -"

"Hast du mein Innenportrat noch?" unterbrach er die Stimme in schwermutigem Tonfall.

Sie lachte. "Ich mu?te einmal danach suchen."

"Ich trage das deine hier. Au?erdem habe ich eine kleine Staffelei auf meiner Kommode, wo es bei Nacht und -"

Er kam nicht zu Ende. Vor ihm stand Peeperkorn. Er hatte sich nach

seiner Reisebegleiterin umgesehen; durch die Portiere war er hereingekommen und stand vor dem Stuhle dessen, mit dem er sie hinterrucks plaudern sah, - stand da wie ein Turm, und zwar dicht vor Hans Castorps Fu?en, so da? dieser, durch seinen Somnambulismus nicht an der Einsicht gehindert, da? es nun aufzustehen und hoflich zu sein gelte, Muhe hatte, zwischen den beiden von seinem Stuhle emporzukommen, - er mu?te sich seitlich davon herunterschieben, so da? denn also die handelnden Personen in einem Dreieck standen, den Stuhl in ihrer Mitte.

Frau Chauchat genugte einer Forderung des gesitteten Abendlandes, indem sie "die Herren" einander vorstellte. Ein Bekannter von fruher her, sagte sie in Bezug auf Hans Castorp, - aus Tagen ihres vorigen Aufenthalts. Herrn Peeperkorns Existenz bedurfte keiner Erlauterung. Sie nannte seinen Namen, und der Hollander, den blassen Blick unter demidolhaften Arabeskenwerk seiner aufmerksam vertieften Stirn- und Schlafenfalten auf den jungen Mann gerichtet, reichte ihm die Hand, deren breiter Rucken sommersprossig war, - eine Kapitanshand, dachte Hans Castorp, wenn man die Nagellanzen beiseite lie?. Zum erstenmal stand er unter der unmittelbaren Einwirkung von Peeperkorns wuchtiger Personlichkeit("Personlichkeit" - man hatte das Wort bestandig im Sinne angesichts seiner; man wu?te auf einmal, was das war, eine Personlichkeit, wenn man ihn sah, ja mehr noch, man war uberzeugt, da? eine Personlichkeit uberhaupt nicht anders aussehen konne als er), und seine schwanken Junglingsjahre fuhlten sich erdruckt von dem Gewicht dieser breitschultrigen, rotgesichtigen, wei?umlohten Sechzig, mit dem weh zerrissenen Munde und Kinnbart, der lang und schmal auf die geistlich geschlossene Weste niederhing. Ubrigens war Peeperkorn die Artigkeit selbst.

"Mein Herr," sagte er, "- durchaus. Nein, erlauben Sie mir, - durchaus! Ich mache heute abend Ihre Bekanntschaft, - die Bekanntschaft eines vertrauenerweckenden jungen Mannes, - ich tue es mit Bewu?tsein, mein Herr, ich bin mit ganzer Kraft bei der Sache. Sie gefallen mir, mein Herr; ich - bitte sehr! Erledigt. Sie sagen mir zu."

Da gab es keine Widerrede. Seine Kulturgebarden waren allzu peremtorisch, Hans Castorp gefiel ihm. Und Peeperkorn zog Folgerungen daraus, die er andeutungsweise verlautbarte, und die durch den Mund seiner Reisebegleiterin eine hilfreich-sinngema?e Erganzung fanden.

"Mein Kind," sagte er, "- alles gut. Wie ware es aber - ich bitte mich

wohl zu verstehen. Das Leben ist kurz, unser Vermogen, seinen Anforderungen gerecht zu werden, es ist nun einmal - Das sind Tatsachen, mein Kind. Gesetze. Un-er-bittlichkeiten. Kurzum, mein Kind, kurzum und gut. -" Er verharrte in ausdrucksvoll anheimstellender Geste, die Verantwortung ablehnend fur den Fall, da? hier trotz seines Hinweises ein entscheidender Fehler begangen werden sollte.

Offenbar war Frau Chauchat geubt, die Richtung seiner Wunsche aufs halbe Wort zu unterscheiden. Sie sagte:

"Warum nicht. Man konnte noch etwas beieinander bleiben, vielleicht ein Spielchen machen und eine Flasche Wein trinken. Was stehen Sie?" wandte sie sich an Hans Castorp. "Regen Sie sich! Wir werden nicht zu dreien bleiben, wir mussen Gesellschaft haben. Wer ist noch im Salon? Engagieren Sie, wen Sie finden! Holen Sie einige Freunde von den Balkons. Wir werden Doktor Ting-Fu von unserem Tische auffordern."

Peeperkorn rieb sich die Hande.

"Absolut", sagte er. "Perfekt. Vorzuglich. Eilen Sie, junger Freund! Gehorchen Sie! Wir werden einen Kreis bilden. Wir werden spielen und essen und trinken. Wir werden fuhlen, da? wir - Absolut, junger Mann!"

Hans Castorp fuhr mit dem Lift in den zweiten Stock. Er klopfte bei A. K. Ferge an, der seinerseits Ferdinand Wehsal und Herrn Albin aus ihren Stuhlen in der unteren Liegehalle holte. Man hatte Staatsanwalt Paravant und das Ehepaar Magnus noch in der Halle, FrauStohr und die Kleefeld noch im Salon gefunden. Hier wurde unter dem Mittelluster ein geraumiger Spieltisch aufgeschlagen, den man mit Stuhlen und kleinen Anrichtetischen umgab. Mynheer begru?te jeden Gast, der sich zugesellte, blassen und hoflichen Blickes, unter aufmerksam emporgezogenen Stirnarabesken. Zu zwolf Personen lie? man sich nieder, Hans Castorp zwischen dem majestatischen Gastgeber und Clawdia Chauchat; Karten und Spielmarken wurden aufgelegt, denn man hatte sich auf einige Gange Vingt et un geeinigt, und Peeperkorn bestellte in seiner bedeutsamen Art bei der herbeigerufenen Zwergin Wein, einen wei?en Chablis vom Jahre 06, drei Flaschen furs erste, und Su?igkeiten dazu, was eben an gedorrtem Sudobst und Konfiserie wurde aufzutreiben sein. Das Handereiben, mit dem er die guten Dinge begru?te, die aufgetragen wurden, war voll von Behagen, und auch in Worten, die auf bedeutende Art abrissen, suchte er seine Empfindungen mitzuteilen, mit vollem Gelingen in der Tat, soweit eine allgemeine Personlichkeitswirkung in Frage kam. Er legte beide Hande auf die

Unterarme seiner Nachbarn, hob den lanzenspitzen Zeigefinger und forderte mit umfassendem Erfolge die hochste Aufmerksamkeit fur die herrliche Goldfarbe des Weins in den Romern, fur den Zucker, den die Malagatrauben schwitzten, fur eine gewisse Art kleiner Salz- und Mohnbrezeln, die er gottlich nannte, indem er jeden Widerspruch, der sich gegen ein so starkes Wort etwa hatte regen wollen, durch eine peremtorische Kulturgebarde im Keime erstickte. Er war es, der als erster die Bank ubernahm; doch trat er sie bald an Herrn Albin ab, da, wenn man ihn recht verstand, das Amt ihn am freien Genusse der Umstande hinderte.

Ersichtlich war das Hazard ihm Nebensache. Man spielte um nichts, seiner Meinung nach, hatte funfzig Rappen als kleinsten Einsatz ausgerufen nach seinem Vorschlage, doch war das sehr viel fur die Mehrzahl der Beteiligten; Staatsanwalt Paravant sowohl wie Frau Stohr wurden abwechselnd rot und bla?, und namentlich diese wand sich in furchtbaren Kampfen, wenn sie vor der Frage stand, ob sie bei achtzehn noch kaufen sollte. Sie kreischte laut, wenn Herr Albin ihr mit kalter Routine eine Karte zuwarf, deren Hohe ihr Wagnis uber und uber zuschanden machte, und Peeperkorn lachte herzlich daruber.

"Kreischen Sie, kreischen Sie, Madame!" sagte er. "Es klingt schrill und lebensvoll und kommt aus tiefster - Trinken Sie, laben Sie Ihr Herz zu neuen -" Und er schenkte ihr ein, schenkte auch seinen Nachbarn und sich selber ein, bestellte drei neue Flaschen und stie? mit Wehsal und der innerlich verodeten Frau Magnus an, da diese beiden ihm der Belebung am bedurftigsten schienen. Rasch farbten die Gesichter sich hoch und hoher von dem in Wahrheit wundervollen Wein, mit Ausnahme desjenigen Doktor Ting-Fus, das unveranderlich gelb blieb, mit jettschwarzen Rattenschlitzen darin, und der mit verstecktem Kichernsehr hohe Einsatze machte, und zwar mit unverschamtem Gluck. Andere wollten nicht zuruckstehen. Staatsanwalt Paravant forderte schwimmenden Blickes das Schicksal heraus, indem er zehn Franken auf eine nur ma?ig hoffnungsvolle Anfangskarte setzte, uberkaufte sich erblassend und gewann das Geld, da Herr Albin in trugerischem Vertrauen auf ein As, das er erhalten, alle Einsatze hatte dublieren lassen, verdoppelt zuruck. Das waren Erschutterungen, die sich nicht auf die Person dessen beschrankten, der sie sich bereitete. Der Kreis nahm teil daran, und selbst Herr Albin, der an kalter Umsicht mit den Croupiers des Kasinos von Monte Carlo wetteiferte, wo er Stammgast zu sein

erklarte, war seiner Erregung nur unzulanglich Herr. Auch Hans Castorp spielte hoch; ebenso die Kleefeld und Frau Chauchat. Man ging zu den "Touren" uber, spielte "Eisenbahn", "Meine Tante, deine Tante" und das gefahrliche "Difference". Jubel und Verzweiflungsausbruche, Entladungen der Wut und hysterische Lachanfalle, hervorgerufen durch den Reiz, den das bubische Gluck auf die Nerven ausubte, ereigneten sich, und sie waren echt und ernst, - nicht anders hatten sie lauten konnen in den Wechselfallen des Lebens selbst.

Dennoch war es nicht nur und nicht einmal hauptsachlich das Spiel und der Wein, die die seelische Hochspannung des Kreises, diese Erhitzung der Mienen, diese Erweiterung der glanzenden Augen oder das zeitigten, was man die Angestrengtheit der kleinen Gesellschaft, ihr In-Atem-gehalten-sein, ihre fast schmerzhafte Konzentration auf den Augenblick hatte nennen konnen. Vielmehr war all dies auf die Einwirkung einer Herrschernatur unter den Anwesenden, auf die der "Personlichkeit" unter ihnen, auf diejenige Mynheer Peeperkorns zuruckzufuhren, der die Fuhrung in seiner gebardenreichen Hand hielt und alle durch das Schauspiel seiner gro?en Miene, seinen blassen Blick unter dem monumentalen Faltenwerk seiner Stirne, durch sein Wort und die Eindringlichkeit seiner Pantomimik in den Bann der Stunde zwang. Was sagte er? Hochst Undeutliches, und desto Undeutlicheres, je mehr er trank. Aber man hing an seinen Lippen, starrte lachelnd und mit emporgerissenen Brauen nickend auf das Rund, das sein Zeigefinger mit seinem Daumen bildete, und neben welchem die anderen Finger lanzenspitz aufragten, wahrend es in seinem koniglichen Antlitz sprechend arbeitete, und lie? sich ohne Widerstand zu einem Gefuhlsdienst anhalten, der weit das Ma? von hingebender Leidenschaft uberstieg, das diese Leute sich sonst zuzumuten gewohnt waren. Er ging uber die Krafte einzelner, dieser Dienst. Frau Magnus wenigstens ward unpa?lich. Sie drohte in Ohnmacht hinzuschwinden, weigerte sich aber zahe, ihr Zimmer aufzusuchen, sondern begnugte sich mit ihrer Lagerung auf der Chaiselongue, woselbst man ihre Stirn mit einer nassen Serviette versah, und von wo sie nach einiger Erholung in den Kreis zuruckkehrte.

Peeperkorn wollte ihr Versagen auf mangelhafte Nahrungszufuhr zuruckfuhren. In bedeutend abrei?enden Worten, mit erhobenem Zeigefinger, lie? er sich in diesem Sinne aus. Man musse essen, ordentlichessen, um den Anforderungen gerecht werden zu konnen, so

gab er zu verstehen, und bestellte Starkung fur die Runde, eine Kollation, Fleisch, Aufschnitt, Zunge, Gansebrust, Braten, Wurst und Schinken, - Platten voll fetter Leckerbissen, die, mit Butterkugeln, Radieschen und Petersilie garniert, prangenden Blumenbeeten glichen. Aber obgleich sie, eines vorangegangenen Abendessens ungeachtet, uber dessen Gediegenheit kein Wort verloren zu werden braucht, frohen Zuspruch fanden, erklarte Mynheer Peeperkorn sie nach wenigen Bissen fur "Firlefanz" - und zwar mit einem Zorn, der die beangstigende Unberechenbarkeit seiner Herrschernatur bekundete. Ja, er wurde kollerig, als jemand den Imbi? in Schutz zu nehmen wagte; sein machtiges Haupt schwoll an, und er schlug mit der Faust auf den Tisch, indem er das alles fur verdammten Quark erklarte, - worauf man denn betreten verstummte, da er am Ende als Spender und Wirt das Recht hatte, seine Gaben zu beurteilen.

Ubrigens stand der Zorn, so unbegreiflich er anmuten mochte, ihm vortrefflich zu Gesichte, wie namentlich Hans Castorp sich bekennen mu?te. Er entstellte ihn keineswegs, verkleinerte ihn nicht, wirkte in seiner Unbegreiflichkeit, die mit den genossenen Weinmengen in Beziehung zu setzen niemand in seinem Herzen sich unterstand, so gro? und koniglich, da? alle sich duckten und jedermann sich hutete, von den Fleischwaren noch einen Bissen zu nehmen. Frau Chauchat war es, die ihren Reisegefahrten beschwichtigte. Sie streichelte seine breite, nach dem Schlag auf dem Tisch ruhende Kapitanshand und meinte schmeichelnd, man konnte ja etwas anderes bestellen, ein warmes Gericht, wenn er wolle, und wenn der Kuchenchef noch dafur zu gewinnen sein werde. "Mein Kind," sagte er, "- gut." Und muhelos, in voller Wurde fand er den Ubergang von schwerem Koller zu einem gema?igten Zustande, indem er Clawdias Hand ku?te. Er wollte Omeletten fur sich und die Seinen, - fur jedermann eine gute Krauter-Omelette, damit man den Anforderungen gerecht werden konne. Und er schickte mit der Bestellung einen Hundertfrankenschein in die Kuche, um das Personal zum Unterbrechen des Feierabends zu bestimmen.

Auch stellte sein Behagen sich vollig wieder her, als die dampfende Speise auf mehreren Platten erschien, kanariengelb und grun gesprenkelt, einen weichlich warmen Duft von Eiern und Butter im Zimmer verbreitend. Man griff zu, gemeinsam mit Peeperkorn und im Genu? uberwacht von ihm, der mit abgerissenen Worten und zwingenden Kulturgebarden jedermann zu aufmerksamster, ja

inbrunstiger Wurdigung der Gottesgabe anhielt. Er lie? hollandischen Genever dazu schenken, eine volle Runde, und zwang alle, das klare Na?, dem ein gesunder Duft nach Getreide mit einem zarten Einschlag von Wacholder entstromte, mit gespannter Andacht zu sich zu nehmen.

Hans Castorp rauchte. Auch Frau Chauchat sprach den Mundstuckzigaretten zu, die sie in einer russischen, mit einer dahinsausenden Troika geschmuckten Lackdose zu ihrer Bequemlichkeit vor sich auf den Tisch gelegthatte, und Peeperkorn tadelte es nicht, da? seine Nachbarn sich diesem Vergnugen uberlie?en, rauchte aber selbst nicht, tat es niemals. Verstand man ihn recht, so war seinem Urteile nach der Tabakkonsum bereits den uberfeinerten Genussen zuzuzahlen, deren Pflege einen Raub an der Majestat der schlichten Lebensgaben bedeute, jener Gaben und Anspruche, denen gerecht zu werden unserer Gefuhlskraft doch kaum gelinge. "Junger Mann," sagte er zu Hans Castorp, indem er ihn mit seinem blassen Blick und seiner Kulturgebarde bannte, - "junger Mann, - das Einfache! Das Heilige! Gut, Sie verstehen mich. Eine Flasche Wein, ein dampfendes Eiergericht, ein lauterer Korn, - erfullen und genie?en wir das erst einmal, erschopfen wir es, tun wir ihm wahrhaft Genuge, bevor wir - Absolut, mein Herr. Erledigt. Ich habe Personen gekannt, Manner und Frauen, Kokainesser, Haschischraucher, Morphinisten - Gut, lieber Freund! Perfekt! Mogen sie doch! Wir sollen nicht rechten und richten. Aber dem, was vorangehen sollte, dem Einfachen, dem Gro?en, dem Gottesursprunglichen waren diese Leute durchaus alles - Erledigt, mein Freund. Verurteilt. Verworfen. Sie waren ihm alles schuldig geblieben! Wie Sie auch hei?en mogen, junger Mann, - Gut, ich habe es schon gewu?t, ich habe es wieder vergessen, - nicht im Kokain, nicht im Opium, nicht im Laster als solchem beruht die Lasterhaftigkeit. Die Sunde, die nicht vergeben werden kann, sie beruht -"

Er hielt inne. Gro? und breit, seinem Nachbar zugewandt, verharrte er in machtig ausdrucksvollem Schweigen, das zu verstehen zwang, den Zeigefinger erhoben, mit unregelma?ig zerrissenem Munde unter der nackten und roten, von der Rasur etwas wunden Oberlippe, angestrengt emporgezogen das lineare Faltenwerk seiner kahlen, wei? umflammten Stirn, erweitert die kleinen, blassen Augen, in denen Hans Castorp etwas wie Entsetzen flackern sah vor dem Verbrechen, der gro?en Versundigung, dem unverzeihlichen Versagen, auf das er angespielt hatte, und das in seiner Schrecklichkeit zu ergrunden er mit der ganzen

bannenden Kraft einer undeutlichen Herrschernatur schweigend befahl ... Entsetzen, dachte Hans Castorp, von sachlicher Art, aber auch etwas wie personliches Entsetzen, ihn selbst, den koniglichen Mann, betreffend, - Angst also, aber nicht geringe und kleine Angst, sondern etwas wie panischer Schrecken flackerte dort, so schien es, einen Augenblick auf, und Hans Castorp war von zu ehrerbietiger Anlage, als da? nicht, aller Grunde ungeachtet, die zu feindseliger Einstellung seinerseits gegen Frau Chauchats majestatischen Reisebegleiter vorhanden waren, diese Beobachtung ihn hatte erschuttern mussen.

Er senkte die Augen und nickte, um seinem erhabenen Nachbarn die Genugtuung des Verstandnisses zu bereiten.

"Das ist wohl wahr", sagte er. "Es mag Sunde sein - und ein Zeichen von Unzulanglichkeit - den Raffinements zu fronen, ohne den einfachen und naturlichen Gaben des Lebens, die so gro? und heilig sind, gerecht geworden zu sein. Dies ist IhreMeinung, wenn ich Sie recht verstehe, Mynheer Peeperkorn, und obgleich es mir selbst noch nicht eingefallen ist, kann ich Ihnen aus eigener Uberzeugung zustimmen, da Sie darauf hinweisen. Es mag ubrigens selten genug vorkommen, da? diesen gesunden und einfachen Lebensgaben so recht volle Gerechtigkeit widerfahrt. Bestimmt sind die meisten Leute zu schlaff und unaufmerksam und gewissenlos und innerlich ausgeleiert, um sie ihnen widerfahren zu lassen, so wird es wohl sein."

Der Gewaltige war hoch befriedigt. "Junger Mann," sagte er, "- perfekt. Wollen Sie mir erlauben - kein Wort weiter. Ich bitte Sie, mit mir zu trinken, das Glas bis zum Grunde zu leeren, und zwar Arm um Arm. Dies soll noch nicht hei?en, da? ich Ihnen das bruderliche Du anbiete, - ich war eben im Begriff, es zu tun, besinne mich aber, da? es ein klein wenig zu ubersturzt ware. Ich werde es Ihnen hochstwahrscheinlich in sehr absehbarer Zeit - Verlassen Sie sich darauf! Wenn Sie aber wunschen und darauf bestehen, da? wir sofort -"

Hans Castorp befurwortete andeutend den von Peeperkorn selbst angeregten Aufschub.

"Gut, mein Junge. Gut, Kamerad. Unzulanglichkeit - gut. Gut und schaudervoll. Gewissenlos, - sehr gut. Gaben - nicht gut. Anforderungen! Heilige, weibliche Anforderungen des Lebens an Ehre und Manneskraft -"

Hans Castorp mu?te plotzlich erkennen, da? Peeperkorn schwer betrunken war. Doch wirkte auch seine Betrunkenheit nicht gering und beschamend, nicht als Entwurdigungszustand, sondern verband sich mit

der Majestat seiner Natur zu einer gro?artigen und ehrfurchtgebietenden Erscheinung. Auch Bacchus selbst, dachte Hans Castorp, stutzte sich betrunken auf seine enthusiastischen Begleiter, ohne darum an Gottheit einzubu?en, und im hochsten Grade kam es darauf an, wer betrunken war, eine Personlichkeit oder ein Leineweber. Er hutete sich innerlichst, im Respekt vor dem erdruckenden Reisebegleiter im geringsten nachzulassen, dessen Kulturgebarden schlaff geworden waren und dessen Zunge lallte.

"Duzbruder -" sagte Peeperkorn, den machtigen Korper in freier und stolzer Trunkenheit zuruckgeworfen, den Arm auf der Tischplatte ausgestreckt und mit der schlaff geballten Faust leicht aufschlagend, "- in Aussicht genommen, - in nahe Aussicht, wenn auch Besonnenheit zunachst noch - gut. Erledigt. Das Leben - junger Mann - es ist ein Weib, ein hingespreitet Weib, mit dicht beieinander quellenden Brusten und gro?er, weicher Bauchflache zwischen den ausladenden Huften, mit schmalen Armen und schwellenden Schenkeln und halbgeschlossenen Augen, das in herrlicher, hohnischer Herausforderung unsere hochste Instandigkeit beansprucht, alle Spannkraft unserer Manneslust, die vor ihm besteht oder zuschanden wird, - zuschanden, junger Mann, begreifen Sie, was das hie?e? Die Niederlage des Gefuhls vor dem Leben, das ist die Unzulanglichkeit, fur die es keine Gnade, kein Mitleid und keine Wurde gibt, sondern die erbarmungslos und hohnlachend verworfen ist, - er-ledigt, junger Mann, und ausgespien ... Schmach und Entehrung sind gelinde Wortefur diesen Ruin und Bankerott, fur diese grauenhafte Blamage. Sie ist das Ende, die hollische Verzweiflung, der Weltuntergang ..."

Der Hollander hatte beim Sprechen den machtigen Korper mehr und mehr zuruckgeworfen, wahrend zugleich sein konigliches Haupt sich zur Brust neigte, als wollte er einschlafen. Bei dem letzten Worte aber lie? er die schlaffe Faust ausholend zu schwerem Schlage auf den Tisch fallen, so da? der schmachtige Hans Castorp, nervos von Spiel und Wein und von der Eigentumlichkeit aller Umstande, zusammenfuhr und ehrfurchtig erschrocken auf den Gewaltigen blickte. "Weltuntergang" - wie das Wort ihm zu Gesichte stand! Hans Castorp erinnerte sich nicht, es jemals aussprechen gehort zu haben, au?er etwa in der Religionsstunde, und das war kein Zufall, dachte er, denn wem unter allen Menschen, die er kannte, ware ein solches Donnerwort wohl zugekommen, wer hatte das Format dafur - um die Frage richtig zu stellen? Der kleine Naphta hatte

sich seiner wohl einmal bedienen konnen; doch ware das Usurpation und scharfes Geschwatz gewesen, wahrend in Peeperkorns Munde das Donnerwort seine ganze schmetternde und posaunenumdrohnte Wucht, kurz, biblische Gro?e gewann. "Mein Gott - eine Personlichkeit!" empfand er zum hundertstenmal. "Ich bin an eine Personlichkeit geraten, und sie ist Clawdias Reisebegleiter!" Ziemlich benebelt auch seinerseits, drehte er sein Weinglas auf dem Tisch um sich selbst, die andere Hand in der Hosentasche und ein Auge zugekniffen vor dem Rauch der Zigarette, die er im Mundwinkel hielt. Hatte er nicht schweigen sollen, nachdem von berufener Seite Donnerworte gesprochen worden? Was sollte da noch seine sprode Stimme? Aber an Diskussion gewohnt durch seine demokratischen Erzieher - beide von Natur demokratisch, obgleich der eine sich straubte, es zu sein -, lie? er sich zu einem seiner treuherzigen Kommentare verleiten. Er sagte:

"Ihre Bemerkungen, Mynheer Peeperkorn"(was war das fur ein Ausdruck: Bemerkungen! Macht man "Bemerkungen" uber den Weltuntergang?), "fuhren meine Gedanken noch einmal auf das zuruck, was vorhin uber das Laster ausgemacht wurde, namlich da? es in einer Beleidigung der einfachen und, wie Sie sagen, heiligen, oder, wie ich sagen mochte, klassischen Lebensgaben besteht, der Lebensgaben von Format, sozusagen, zugunsten der spaten und ausgepichten, der Raffinements, denen man 'front', wie einer von uns beiden sich ausdruckte, wahrend man sich den gro?en 'weiht' und ihnen 'huldigt'. Aber hier scheint mir nun eben auch die Entschuldigung - verzeihen Sie, ich bin eine zur Entschuldigung geneigte Natur, - obgleich Entschuldigung wohl kein Format hat, wie ich deutlich fuhle - die Entschuldigung also fur das Laster zu liegen, und zwar gerade insofern es auf 'Unzulanglichkeit', wie wir es nannten, beruht. Sie haben uber die Schrecken der Unzulanglichkeit Dinge solchen Formates gesagt, da? Sie mich aufrichtig betroffen sehen davon. Aber ich meine, derLasterhafte zeigt sich durchaus nicht unempfindlich fur diese Schrecken, sondern im Gegenteil la?t er ihnen alle Gerechtigkeit widerfahren, indem das Versagen seines Gefuhls vor den klassischen Lebensgaben ihn zum Laster treibt, worin also keine Beleidigung des Lebens liegt oder zu liegen braucht, da es ebensogut als Huldigung davor aufgefa?t werden kann, und zwar insofern die Raffinements ja Rausch- und Erhebungsmittel darstellen, stimulantia, wie man sagt, Stutzen und Steigerungen der Gefuhlskrafte, weshalb denn also doch das Leben ihr Zweck und Sinn ist, die Liebe zum Gefuhl, das Trachten der

Unzulanglichkeit nach Gefuhl ... Ich meine ..."

Was redete er da? War es nicht der demokratischen Unverschamtheit genug, "einer von uns beiden" zu sagen, wo es sich um eine Personlichkeit und um ihn handelte? Zog er den Mut zu dieser Frechheit aus Vergangenheiten, die gewisse gegenwartige Besitzrechte in ein schiefes Licht setzten? Stach ihn der Haber, da? er sich obendrein in eine ebenfalls durchaus unverschamte Analyse des "Lasters" verstricken mu?te? Nun mochte er sehen, wie er sich aus der Sache zog; denn es war klar, da? er Furchterliches heraufbeschworen.

Mynheer Peeperkorn war wahrend der Rede seines Gastes in seiner zuruckgeworfenen Haltung mit auf die Brust gesenktem Kopfe verharrt, so da? man hatte zweifeln konnen, ob Hans Castorps Worte in sein Bewu?tsein drangen. Jetzt aber, allmahlich, wahrend der junge Mann sich verwirrte, begann er, sich von der Lehne aufzurichten, hoher und hoher, zu voller Gro?e, wahrend zugleich sein majestatisches Haupt rot anschwoll, seine Stirnarabesken sich hoben und spannten und seine kleinen Augen sich zu blasser Drohung erweiterten. Was bereitete sich vor? Ein Koller, gegen den der vorangegangene nur leichte Verstimmung bedeutet hatte, schien im Anzuge. Mynheers Unterlippe stemmte sich in machtigem Grimm gegen die obere, so da? die Mundwinkel sich senkten und das Kinn vorgetrieben wurde, und langsam hob sich sein rechter Arm von der Tischplatte in Haupteshohe und daruber hinaus, die Faust geballt, gro?artig ausholend zum Vernichtungsschlage gegen den demokratischen Schwatzer, der, in Schrecken gejagt und doch auch abenteuerlich erfreut durch das Bild ausdrucksvoll koniglichen Zornmutes, das sich vor ihm entfaltete, Muhe hatte, Furcht und Fluchtneigung zu verbergen. Er sagte eilig zuvorkommend:

"Naturlich habe ich mich mangelhaft ausgedruckt. Das Ganze ist eine Frage des Formats, nichts weiter. Man kann nicht Laster nennen, was Format hat. Das Laster hat niemals Format. Die Raffinements haben keines. Aber dem menschlichen Trachten nach Gefuhl ist ja von Urzeiten her ein Hilfsmittel, ein Rausch- und Begeisterungsmittel an die Hand gegeben, das selbst zu den klassischen Lebensgaben gehort und den Charakter des Einfachen und Heiligen, also nicht des Lasterhaften tragt, ein Hilfsmittel von Format, wenn ich so sagen darf, der Wein also, ein gottliches Geschenk an die Menschen, wie schon die altenhumanistischen Volker behaupteten, die philanthropische Erfindung eines Gottes, mit der sogar die Zivilisation zusammenhangt, erlauben

Sie mir den Hinweis. Denn wir horen ja, da? dank der Kunst, den Wein zu pflanzen und zu keltern, die Menschen aus dem Stande der Roheit traten und Gesittung erlangten, und noch heute gelten die Volker, bei denen Wein wachst, fur gesitteter, oder halten sich dafur, als die weinlosen, die Kimerer, was sicher bemerkenswert ist. Denn es will sagen, da? Gesittung gar nicht Sache des Verstandes und wohlartikulierter Nuchternheit ist, sondern vielmehr mit der Begeisterung zu tun hat, dem Rausch und dem gelabten Gefuhl, - ist das nicht, wenn ich so frei sein darf, Ihnen die Frage vorzulegen, auch Ihre Meinung in dieser Angelegenheit?"

Ein Schlingel, dieser Hans Castorp. Oder, wie Herr Settembrini es mit schriftstellerischer Feinheit ausgedruckt hatte, ein "Schalk". Unvorsichtig und selbst frech im Verkehr mit Personlichkeiten - und geschickt dann auch wieder, wenn es galt, sich aus der Patsche zu ziehen. Da hatte er erstens, in brenzligster Lage und aus dem Stegreif, eine Ehrenrettung des Trunkes mit vielem Anstand vollzogen, hatte ferner, ganz nebenbei, die Rede auf "Gesittung" gebracht, von welcher in Mynheer Peeperkorns ur-furchterlicher Haltung allerdings wenig zu spuren war, und endlich diese Haltung gelockert und unpassend gemacht, indem er dem gro?artig darin Befangenen eine Frage vorgelegt hatte, die man mit erhobener Faust unmoglich beantworten konnte. Der Hollander lie? denn auch nach in seiner vorsundflutlichen Grimmgebarde; langsam senkte sein Arm sich nieder zum Tisch, sein Haupt schwoll ab, "dein Gluck!" stand in seiner nur noch bedingungsweise und nachtraglich drohenden Miene zu lesen, das Gewitter verzog sich, und uberdies mischte nun Frau Chauchat sich ein, indem sie ihren Reisebegleiter auf den eingerissenen Verfall der Geselligkeit hinwies.

"Lieber Freund, Sie vernachlassigen Ihre Gaste", sagte sie auf franzosisch. "Sie widmen sich allzu ausschlie?lich diesem Herrn, mit dem Sie zweifellos wichtige Dinge auszumachen haben. Aber unterdessen hat das Spiel fast aufgehort, und ich furchte, man langweilt sich. Wollen wir den Abend beschlie?en?"

Peeperkorn wandte sich sogleich der Tafelrunde zu. Es war richtig: Demoralisation, Lethargie, Stumpfsinn hatten um sich gegriffen; die Gaste trieben Allotria wie eine unbeaufsichtigte Schulklasse. Mehrere waren am Einschlafen. Peeperkorn ergriff sofort die schleifenden Zugel. "Meine Herrschaften!" rief er mit erhobenem Zeigefinger, - und dieser lanzenspitze Finger war wie ein winkender Degen oder wie eine Fahne,

sein Ruf aber gleich dem "Mir nach, wer keine Memme ist!" des Fuhrers, der eine beginnende Deroute zum Stehen bringt. Auch war der Einsatz seiner Personlichkeit sofort von weckender und sammelnder Wirkung. Man raffte sich auf, straffte die schlaff gewordenen Mienen und nickte lachelnd in des machtigen Wirtes blasse Augen unter der idolhaften Lineatur seiner Stirn. Er bannte alle undhielt sie aufs neue zum Dienste an, indem er die Spitze des Zeigefingers zu der des Daumens senkte und die anderen langgenagelt daneben aufragen lie?. Er breitete die Kapitanshand behutend und zuruckdammend aus und von seinen weh zerrissenen Lippen kamen Worte, deren abspringende Undeutlichkeit dank ihrem Personlichkeitsruckhalt zwingendste Macht uber die Gemuter ubte.

"Meine Herrschaften - gut. Das Fleisch, meine Herrschaften, es ist nun einmal - Erledigt. Nein - erlauben Sie mir - 'schwach', so steht es in der Schrift. 'Schwach', das hei?t geneigt, sich den Anforderungen - Aber ich appelliere an Ihre - Kurzum und gut, meine Herrschaften, ich ap-pel-liere. Sie werden mir sagen: der Schlaf. Gut, meine Herrschaften, perfekt, vortrefflich. Ich liebe und ehre den Schlaf. Ich veneriere seine tiefe, su?e, labende Wollust. Der Schlaf zahlt zu den - wie sagten Sie, junger Mann? - zu den klassischen Lebensgaben vom ersten, vom allerersten - ich bitte sehr - vom obersten, meine Herrschaften. Wollen Sie jedoch bemerken und sich erinnern: Gethsemane! 'Und nahm zu sich Petrum und die zween Sohne Zebedei. Und sprach zu ihnen: Bleibet hie und wachet mit mir'. Sie erinnern sich? 'Und kam zu ihnen und fand sie schlafend und sprach zu Petro: Konnet Ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?' Intensiv, meine Herrschaften. Durchdringend. Herzbewegend. 'Und kam und fand sie aber schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. Und sprach zu ihnen: Ach, wollt Ihr nun schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist hie -' Meine Herrschaften: Durchbohrend, herzversehrend."

Tatsachlich waren alle in tiefster Seele ergriffen und beschamt. Er hatte die Hande vor der Brust uber dem schmalen Kinnbart gefaltet und das Haupt schrag geneigt. Sein blasser Blick hatte sich gebrochen bei dem, was an einsamem Todesschmerz von seinen zerrissenen Lippen gekommen. Frau Stohr schluchzte. Frau Magnus stie? einen hohen Seufzer aus. Staatsanwalt Paravant sah sich veranla?t, vertretungsweise, gleichsam als Abgeordneter der Gesellschaft, einige Worte mit gesenkter Stimme an den verehrten Gastgeber zu richten, um ihn der allgemeinen Gefolgschaft zu versichern. Hier musse ein Irrtum vorliegen. Man sei

frisch und munter, flott, fidel und bei der Sache mit Herz und Sinn. Es sei ein so schoner, festlicher, schlechthin au?erordentlicher Abend, - alle verstanden und empfanden das, und niemand denke vorlaufig daran, von dem Lebensgute des Schlafs Gebrauch zu machen. Mynheer Peeperkorn konne sich auf seine Gaste verlassen, auf jeden einzelnen von ihnen.

"Perfekt! Vorzuglich!" rief Peeperkorn und richtete sich auf. Seine Hande losten sich, gingen auseinander und aufwarts, ausgebreitet, aufrecht, die Innenflachen nach au?en, wie zu heidnischem Gebet. Seine gro?artige Physiognomie, eben noch von gotischem Schmerz beseelt, erbluhte uppig und heiter; sogar ein sybaritisches Grubchen zeigte sich auf einmal in seiner Wange. "Die Stunde ist hie-" Und er lie? sich die Karte geben, setzte einen Hornklemmer auf, dessen Bugel ihm hoch an der Stirn emporragte, und bestellte Champagner, drei Flaschen Mumm & Co., Cordon rouge, tres sec; dazu petits fours, kostliche, kegelformige kleine Schlemmerbissen, mit farbigem Zuckergu? uberkleidet, von zartestem Biskuitcharakter, im Innern benetzt von Schokolade- und Pistaziencreme, und auf Papierdeckchen mit reichem Spitzenrande angeboten. Frau Stohr leckte sich alle Finger bei ihrem Genu?. Herr Albin loste mit lassiger Routine den ersten Pfropfen aus seiner Haft von Draht, lie? den pilzformigen Kork mit dem Knall einer Kinderpistole dem geschmuckten Hals entschlupfen und zur Decke fahren, worauf er die Flasche nach elegantem Herkommen zum Einschenken in eine Serviette hullte. Der edle Schaum befeuchtete das Linnen der Anrichtetischchen. Man lie? die Flachkelche klingen und leerte das erste Glas auf einen Zug, elektrisierte sich den Magen mit dem eiskalten, duftigen Geprickel. Die Augen glitzerten. Das Spiel hatte aufgehort, ohne da? man sich bemu?igt gesehen hatte, Karten und Geld vom Tische zu raumen. Die Gesellschaft uberlie? sich einem seligen Nichtstun, indem sie ein zusammenhangloses Geschwatz tauschte, dessen Elemente bei jedem einzelnen aus erhohtem Gefuhle stammten und in irgendeinem Urzustande das Schonste versprochen hatten, aus denen aber auf dem Wege zur Mitteilung ein fragmentarisch-lippenlahmer, teils indiskreter, teils unverstandlicher Gallimathias wurde, geeignet, die zornige Scham jedes nuchtern Hinzukommenden zu erregen, doch von den Beteiligten ohne Beschwer ertragen, da alle sich in dem gleichen verantwortungslosen Zustand wiegten. Frau Magnus selbst hatte rote Ohren bekommen und gestand, sie fuhle, wie Leben sie durchrinne, was aber Herrn Magnus nicht lieb zu sein schien. Hermine Kleefeld lehnte mit

dem Rucken an der Schulter Herrn Albins, indem sie ihm ihren Kelch zum Einschenken vorhielt. Peeperkorn, das Bacchanal mit lanzenspitzen Kulturgebarden leitend, sorgte fur Zufuhr und Nachschub. Er lie? Kaffee kommen nach dem Champagner, Mocca double, der wiederum von "Brot" begleitet war und von su?en Scharfheiten, Apricots Brandy, Chartreuse, Creme de Vanille und Maraschino fur die Damen. Spater gab es noch saure Fischfilets und Bier dazu, endlich Tee, und zwar sowohl chinesischen wie Kamillentee fur solche, die es nicht vorzogen, beim Sekt oder Likor zu bleiben oder zu einem ernsthaften Wein zuruckzukehren, wie Mynheer selbst, der sich nach Mitternacht zusammen mit Frau Chauchat und Hans Castorp zu einem Schweizer Roten von naiv-spritziger Art durchgelautert hatte, von dem er mit wirklichem Durst einen Glasbecher nach dem anderen hinunterschuttete.

Noch um ein Uhr dauerte die Festsitzung an, zusammengehalten teils durch bleierne Rauscheslahmung, teils durch das eigentumliche Vergnugen, sich die Nacht um die Ohren zu schlagen, teils durch die Personlichkeitswirkung Peeperkorns und durch das abschreckende Beispiel Petri und der Seinen, an deren Fleischesschwache niemand teilhaben wollte. Allgemein gesprochen, schien der weibliche Teil weniger gefahrdet in dieserHinsicht. Denn wahrend die Manner, rot oder fahl, die Beine von sich streckten und die Backen aufbliesen, indem sie nur noch mechanisch dann und wann dem Becher zusprachen, von rechter Dienstfreudigkeit nicht mehr beseelt, hielten die Frauen sich tatiger. Hermine Kleefeld, die nackten Ellbogen auf die Tischplatte gestemmt, die Wangen in den Handen, wies lachend dem kichernden Ting-Fu den Schmelz ihrer Vorderzahne, indes Frau Stohr, mit angezogenem Kinn uber die vorgebogene Schulter kokettierend, den Staatsanwalt ans Leben zu fesseln suchte. Mit Frau Magnus war es dahin gekommen, da? sie auf Herrn Albins Scho? Platz genommen hatte und ihn an beiden Ohrlappchen zog, was aber Herr Magnus eher als Erleichterung zu empfinden schien. Anton Karlowitsch Ferge ward aufgefordert, die Geschichte seines Pleura-Choks zum besten zu geben, kam aber wegen Zungenschlages nicht zustande damit und erklarte ehrlich seinen Bankerott, der als Anla? zum Trinken einstimmig ausgerufen wurde. Wehsal weinte vorubergehend bitterlich, aus irgendwelchen Elendstiefen, in welche seinen Mitmenschen Einblick zu eroffnen auch seine Zunge nicht mehr imstande war, wurde aber mit Kaffee und Kognak seelisch wieder auf die Beine gebracht und erregte

ubrigens durch das Gewimmer seiner Brust, durch sein runzelig bebendes Kinn, das von Tranen troff, das bedeutendste Interesse Peeperkorns, der mit erhobenem Zeigefinger und hochgezogenen Arabesken die allgemeine Aufmerksamkeit fur Wehsals Zustand in Anspruch nahm.

"Das ist -", sagte er. "Das ist nun doch - Nein, erlauben Sie mir: Heilig! Trockne ihm das Kinn, mein Kind, nimm meine Serviette! Oder besser noch, nein, unterla? es! Er selber verzichtet darauf. Meine Herrschaften, - heilig! Heilig in jederlei Sinn, im christlichen wie im heidnischen! Ein Urphanomen! Ein Phanomen vom ersten - vom obersten - Nein, nein, das ist - -"

Auf dieses "Das ist", "Das ist nun doch" waren uberhaupt die leitend-erlauternden Au?erungen gestimmt, mit denen er unter genauen, wenn auch nachgerade etwas burlesk gewordenen Kulturgebarden seine Veranstaltung begleitete. Er hatte eine Art, den Ring, den sein gekrummter Zeigefinger mit dem Daumen bildete, uber das Ohr emporzuhalten und das Haupt schief-scherzhaft davon abzuwenden, die Gefuhle erweckte, wie etwa der bejahrte Priester eines fremden Kults sie erregen wurde, der mit gerafften Gewandern und wunderlicher Grazie vor dem Opferaltar tanzte. Dann wieder, breit hingelagert in seiner Gro?artigkeit, den Arm um die benachbarte Stuhllehne geschlungen, zwang er alle zu ihrer Besturzung, sich mit ihm in die lebendige und durchdringende Vorstellung des Morgens zu vertiefen, eines frostigen, dunklen Wintermorgens, wenn der gelbliche Schein unserer Nachttischlampe sich durch die Fensterscheibe hinausspiegelt zwischen kahles Geast, das drau?en in eisige, krahenschreiharte Nebelfruhe starrt ... Andeutungsweise wu?te er diese nuchterne Alltagsanschauung so stark zu machen, da? alle erschauerten, besonders da er auch noch des eiskalten Wassers gedachte, das man sich etwa in solcher Fruheaus einem gro?en Schwamme uber den Nacken drucke, und das er heilig nannte. Das war nur eine Abschweifung, eine beispielhafte Unterweisung in Dingen der Lebensaufmerksamkeit, ein phantastisches Impromptu, das er fallen lie?, um seine dienstliche Eindringlichkeit und Gefuhlsgegenwart alsbald der festlich gelosten Nachtstunde wieder zuzuwenden. Er zeigte sich verliebt in all und jede erreichbare Weiblichkeit, wahllos und ohne Ansehen der Person. Er machte der Zwergin Antrage solcher Art, da? das kruppelhafte Wesen sein ubergro?es, altliches Gesicht in grinsende Falten legte, sagte der Stohr

Artigkeiten eines Kalibers, da? die ordinare Frau ihre Schulter noch arger vorbog und die Ziererei bis zur volligen Verrucktheit trieb, erbat sich von der Kleefeld einen Ku? auf seinen gro?en, zerrissenen Mund und scharmierte selbst mit der trostlosen Frau Magnus - dies alles unbeschadet seiner zartlichen Ergebenheit gegen seine Reisebegleiterin, deren Hand er oft mit galanter Andacht an die Lippen fuhrte. "Der Wein -" sagte er - "Die Frauen - - Das ist - Das ist nun doch - Erlauben Sie mir - Weltuntergang - - Gethsemane - -"

Gegen zwei Uhr flog die Nachricht auf, "der Alte" - Hofrat Behrens also - nahere sich in Gewaltmarschen den Konversationsraumen. Panik wutete in demselben Augenblick unter der entnervten Gasteschaft. Stuhle und Eiskubel sturzten. Man floh durch das Bibliothekszimmer. Peeperkorn, von koniglichem Koller ergriffen bei der jahen Auflosung seines Lebensfestes, schlug wohl mit der Faust auf und sandte den Fortstiebenden etwas von "furchtsamen Sklaven" nach, lie? sich aber dann durch Hans Castorp und Frau Chauchat bis zu einem gewissen Grade mit dem Gedanken versohnen, da? dies Gastmahl, das an sechs Stunden gedauert hatte, ohnehin einmal sein Ende habe nehmen mussen, schenkte auch der Mahnung an das heilige Labsal des Schlafes sein Ohr und willigte ein, sich zu Bette geleiten zu lassen.

"Stutze mich, mein Kind! Stutze mich andererseits, junger Mann!" sagte er zu Frau Chauchat und Hans Castorp. So waren sie seinem schweren Korper beim Aufkommen vom Stuhle behilflich, boten ihm ihre Arme dar, und eingehangt in beide trat er breitbeinig, das machtige Haupt auf eine seiner hochgezogenen Schultern geneigt und bald den einen, bald den anderen seiner Fuhrer durch die Schwankungen seines Schrittes zur Seite drangend, den Weg zur Ruhe an. Im Grunde war es wohl ein koniglicher Luxus, den er sich leistete, indem er sich dieser Art lotsen und stutzen lie?. Wahrscheinlich hatte er, wenn es ihm darauf angekommen ware, auch allein gehen konnen, - er verschmahte jedoch diese Anstrengung, die ja nur den kleinen und untergeordneten Sinn hatte haben konnen, seinen Rausch schamhaft zu verbergen, wahrend er sich desselben offenbar nicht nur durchaus nicht schamte, sondern sich im Gegenteil gro? und uppig darin gefiel und sicheinen koniglichen Spa? daraus machte, seine dienenden Fuhrer schwankend nach rechts und links zu sto?en. Er selbst au?erte unterwegs:

"Kinder, - Unsinn, - man ist naturlich gar nicht - Wenn diesen Augenblick - Ihr solltet sehen - Lacherlich -"

"Lacherlich!" bestatigte Hans Castorp. "Aber ohne jeden Zweifel! Man gibt der klassischen Lebensgabe das ihre, indem man sich freimutig schwanken la?t zu ihren Ehren. Dagegen im Ernst ... Ich habe doch auch mein Teil, aber trotz aller sogenannten Betrunkenheit bin ich mir klar bewu?t, da? ich die besondere Ehre habe, eine ausgesprochene Personlichkeit zu Bett zu bringen, so wenig vermag der Rausch sogar uber mich, der ich doch in Hinsicht auf Format uberhaupt gar nicht erst in Vergleich komme -"

"Na, du, Schwatzerchen", sagte Peeperkorn und stie? ihn wankend gegen das Treppengelander, indem er Frau Chauchat mit sich zog.

Ersichtlich war das Gerucht vom Nahen des Hofrats ein leerer Schreckschu? gewesen. Vielleicht hatte die mude Zwergin ihn abgegeben, um die Geselligkeit zu sprengen. Unter diesen Umstanden blieb Peeperkorn stehen und wollte umkehren, um weiter zu trinken; aber von beiden Seiten wurde ihm in besserem Sinne zugeredet, und so lie? er sich wieder in Bewegung setzen.

Der malaiische Kammerdiener, dies Mannchen in wei?er Krawatte und mit schwarzseidenen Schuhen an den Fu?en, erwartete seinen Gebieter auf dem Korridor, vor der Tur des Appartements, und nahm ihn mit einer Verneigung in Empfang, zu der er eine Hand auf die Brust legte.

"Ku?t euch!" gebot Peeperkorn. "Kusse diese reizende Frau zum Schlu? auf die Stirn, junger Mann!" sagte er zu Hans Castorp. "Sie wird nichts dagegen haben und es erwidern. Tut es auf mein Wohl und mit meiner Erlaubnis!" sagte er; aber Hans Castorp weigerte sich dessen.

"Nein, Eure Majestat!" sagte er. "Entschuldigen Sie, das geht nicht."

Peeperkorn, an den Kammerdiener gelehnt, zog seine Arabesken hoch und verlangte zu wissen, warum das nicht gehe.

"Weil ich mit Ihrer Reisebegleiterin keine Stirnkusse tauschen kann", sagte Hans Castorp. "Ich wunsche recht wohl zu ruhen! Nein, das ware, von allen Seiten gesehen, der reine Unsinn."

Und da auch Frau Chauchat schon auf ihre Zimmertur zuging, so lie? Peeperkorn den Widerspenstigen ziehen, indem er ihm freilich noch eine Weile uber die eigene Schulter und die des Malaien mit angezogenem Faltenwerk nachblickte, erstaunt uber eine Unbotma?igkeit, auf die seine Herrschernatur nicht zu sto?en gewohnt sein mochte.

Mynheer Peeperkorn(Des Weiteren)

Mynheer Peeperkorn blieb in Haus Berghof wahrend dieses ganzen Winters - soviel davon noch ubrig war - und bis ins Fruhjahr hinein, so da? es zuletzt noch zu einem recht denkwurdigen gemeinsamen Ausflug(auch Settembrini und Naphta waren dabei) ins Fluelatal und zum dortigen Wasserfall kam ... Zuletzt noch? Und danach blieb er also nichtlanger? - Nein, langer nicht. - Er reiste ab? - Ja und nein. - Ja und nein? Bitte, keine Geheimniskramerei! Man wird sich zu fassen wissen. Auch Leutnant Ziem?en ist gestorben, von so vielen minder ehrenhaften Tanzern des Todes ganz abgesehen. Der undeutliche Peeperkorn wurde also vom malignen Tropenfieber dahingerafft? - Nein, das wurde er nicht, aber wozu die Ungeduld? Da? nicht alles auf einmal da ist, bleibt als Bedingung des Lebens und der Erzahlung zu achten, und man wird sich doch wohl gegen die gottgegebenen Formen menschlicher Erkenntnis nicht auflehnen wollen! Geben wir der Zeit wenigstens soviel Ehre, wie das Wesen unserer Geschichte uns noch erlaubt! Viel ist es ohnehin nicht mehr damit, es geht nachgerade holterdiepolter! oder, wenn das zu larmend gesagt ist, es geht husch, husch! Ein Weiserchen mi?t unsere Zeit, das trippelt, als ob es Sekunden ma?e, wahrend es jedesmal, Gott wei?, was, zu bedeuten hat, wenn es kaltblutig und ohne Aufenthalt durch seinen Hohepunkt geht. Schon Jahre, soviel ist sicher, sind wir hier oben, uns schwindelt, das ist ein Lastertraum ohne Opium und Haschisch, der Sittenrichter wird uns verurteilen, - und doch stellen wir der schlimmen Umnebelung absichtlich viel Verstandeshelligkeit und logische Scharfe entgegen! Nicht zufallig, das moge anerkannt werden, haben wir uns Kopfe wie die Herren Naphta und Settembrini zum Umgang erwahlt, statt uns etwa gar mit lauter undeutlichen Peeperkorns zu umgeben, - und das fuhrt nun freilich zu einem Vergleich, der in mancher Hinsicht und namentlich im Punkte des Formats zugunsten dieser spaten Erscheinung ausschlagen mu?, wie er es denn auch in Hans Castorps Gedanken tat, wenn er in seiner Loge lag und sich gestand, da? die beiden uberartikulierten Erzieher, die seine arme Seele in die Mitte genommen, neben Pieter Peeperkorn geradezu verzwergten, so da? er geneigt war, sie zu nennen, wie jener in koniglich trunkener Neckerei ihn selbst genannt hatte, namlich "Schwatzerchen", und es sehr gut und glucklich hie?, da? die hermetische Padagogik ihn auch mit einer ausgemachten Personlichkeit noch in Beruhrung brachte.

Da? diese Personlichkeit als Clawdia Chauchats Reisebegleiter und also als gewaltige Storung auf den Plan trat, war ein Punkt fur sich, durch den sich Hans Castorp in seinen Wertungen nicht beirren lie?. Er lie? sich,

wiederholen wir, nicht beirren in seiner aufrichtig achtungsvollen, wenn auch zuweilen etwas kecken Teilnahme fur einen Mann von Format, - nur weil dieser gemeinsame Reisekasse fuhrte mit der Frau, von der Hans Castorp sich in der Faschingsnacht einen Bleistift geliehen. Das lag nicht in seiner Art, - wobei wir durchaus damit rechnen, da? mancher oder manche in unserem Zirkel Ansto? nehmen wird an solcher "Temperamentlosigkeit" und es lieber sehen wurde, wenn er Peeperkorn geha?t undgemieden und innerlich von ihm nur als von einem alten Esel und kaudernden Trunkenbold gesprochen hatte, statt ihn zu besuchen, wenn er vom Wechselfieber gepackt war, an seinem Bette zu sitzen, mit ihm zu plaudern - ein Wort, das naturlich nur auf seine Beitrage zu den Gesprachen pa?t, nicht auf die des gro?artigen Peeperkorn - und mit der Neugier eines Bildungsreisenden das Wesen der Personlichkeit auf sich wirken zu lassen. Das aber tat er, und wir erzahlen es, gleichgultig gegen die Gefahr, da? jemand sich dadurch an Ferdinand Wehsal erinnert finden konnte, der Hans Castorps Paletot getragen hatte. Diese Erinnerung hat nichts zu sagen. Unser Held war kein Wehsal. Elendstiefen waren nicht seine Sache. Er war nur eben kein "Held", das hei?t: er lie? sein Verhaltnis zum Mannlichen nicht durch die Frau bestimmen. Unserem Grundsatz getreu, ihn weder besser noch schlechter zu machen, als er war, stellen wir fest, da? er es einfach ablehnte - nicht bewu?t und ausdrucklich, sondern ganz naiverweise es ablehnte, sich durch romanhafte Einflusse um die Gerechtigkeit gegen das eigene Geschlecht bringen zu lassen - und um den Sinn fur forderliche Bildungserlebnisse in dieser Sphare. Das mag den Frauen mi?fallen - wir glauben zu wissen, da? Frau Chauchat unwillkurlich Argernis daran nahm; eine oder die andere spitze Bemerkung, die sie sich entschlupfen lie?, und die wir noch einrucken werden, lie? darauf schlie?en -, aber vielleicht war es diese Eigenschaft, die ihn zu einem so tauglichen Streitobjekt der Padagogik machte.

Pieter Peeperkorn lag viel krank, - da? er es gleich am Tage nach jenem ersten Karten- und Sektabend tat, konnte nicht wundernehmen. Fast alle Teilnehmer an der ausgedehnten und angespannten Geselligkeit waren ubel daran, Hans Castorp nicht ausgenommen, der starke Kopfschmerzen hatte, sich aber durch diese Last nicht abhalten lie?, dem Gastgeber von gestern einen Krankenbesuch zu machen: Durch den Malaien, den er auf dem Korridor des ersten Stockwerks traf, lie? er das Anerbieten an Peeperkorn ergehen und wurde willkommen gehei?en.

Er betrat das zweibettige Schlafzimmer des Hollanders durch einen Salon, der es von demjenigen Frau Chauchats trennte, und fand es vor dem Durchschnittstypus der Berghofgastzimmer ausgezeichnet durch Geraumigkeit und Eleganz der Ausstattung. Es gab da seidene Fauteuils und Tische mit geschweiften Beinen; ein weicher Teppich bedeckte den Boden, und auch die Betten waren nicht vom Schlage gewohnlicher hygienischer Totenbetten, sie waren sogar prachtvoll: aus poliertem Kirschholz mit Messingbeschlagen und hatten einen kleinen gemeinsamen Himmel - ohne Gardinengehange -, es war eben nur ein kleiner, schirmend vereinigender Baldachin.

Peeperkorn lag in der einen der beiden Bettstatten, Bucher, Briefe und Zeitungen auf der rotseidenen Steppdecke, und las durch seinen hochragenden Hornzwicker den "Telegraaf". Kaffeegeschirr stand auf einem Stuhle neben ihm undeine halbgeleerte Rotweinflasche - es war der naiv Spritzige von gestern Abend - neben Medizinglasern auf dem Nachttischchen. Der Hollander trug zu Hans Castorps bescheidenem Befremden kein wei?es Hemd, sondern ein wollenes mit langen Armeln, das an den Handgelenken geknopft und ohne Halskragen war, rund ausgeschnitten vielmehr, den breiten Schultern und der machtigen Brust des alten Mannes glatt anliegend: Die menschliche Gro?artigkeit seines Hauptes auf dem Kissen ward noch gehoben, dem Burgerlichen entruckt durch diese Tracht, die seiner Erscheinung ein teils volkstumlich-arbeiterma?iges, teils verewigt-bustenartiges Geprage verlieh.

"Durchaus, junger Mann", sagte er, indem er den Hornzwicker am hohen Bugel ergriff und ihn abhob. "Ich bitte sehr, - keineswegs. Im Gegenteil." Und Hans Castorp setzte sich zu ihm und verbarg seine teilnehmende Verwunderung - wenn nicht gar wirkliche Bewunderung das Gefuhl war, zu dem seine Gerechtigkeit ihn notigte - hinter freundlich aufgewecktem Geschwatz, dem Peeperkorn mit gro?artigen Abgerissenheiten und eindringlichstem Gestenspiel sekundierte. Er sah nicht gut aus, gelb, recht leidend und mitgenommen. Gegen Morgen hatte er einen starken Fieberanfall gehabt, dessen Mattigkeitsfolgen sich nun mit den Nachwehen des Rausches verbanden.

"Wir haben es gestern arg -", sagte er. "Nein, erlauben Sie, - schlimm und arg! Sie sind noch - gut, da hat es nichts weiter - Allein in meinen Jahren und bei meiner gefahrdeten - Mein Kind", wandte er sich mit zarter, aber entschiedener Strenge an die eben vom Salon her eintretende Frau Chauchat, "- alles gut, aber ich wiederhole Ihnen, da?

besser hatte achtgegeben, da? man mich hatte hindern mussen -." Fast etwas wie aufziehender Konigskoller war in seinen Mienen und seiner Stimme bei diesen Worten. Aber man brauchte sich ja nur vorzustellen, was fur ein Wetter erst ausgebrochen ware, wenn man ihn ernstlich im Trinken hatte storen wollen, um die ganze Unbilligkeit und Unvernunft seines Vorwurfs zu ermessen. Dergleichen gehort wohl zur Gro?e. Seine Reisebegleiterin ging denn auch druber hin, indem sie Hans Castorp, der sich erhoben hatte, begru?te, - ubrigens ohne ihm die Hand zu reichen, sondern nur mit Lacheln und Winken und der Aufforderung, "doch nur ja" Platz zu behalten, sich "doch nur ja nicht" in seinem tete a tete mit Mynheer Peeperkorn storen zu lassen ... Sie machte sich dies und jenes im Zimmer zu schaffen, wies den Kammerdiener an, das Kaffeegeschirr fortzuraumen, verschwand auf eine Weile und kehrte auf leisen Sohlen wieder, um im Stehen sich ein wenig an dem Gesprach zu beteiligen, oder - wenn wir Hans Castorps unbestimmten Eindruck wiedergeben sollen - um es ein wenig zu uberwachen. Naturlich! Sie konnte in Verbindung mit einer Personlichkeit gro?en Formats wieder nach Haus Berghof zuruckkehren; aber wenn derjenige, der hier so lange auf sie gewartet hatte, dannder Personlichkeit die schuldige Reverenz erwies, von Mann zu Mann, so legte sie Unruhe und selbst Spitzigkeit an den Tag, mit ihrem "doch nur ja" und "nur ja nicht". Hans Castorp lachelte daruber, indem er sich uber seine Knie beugte, um das Lacheln zu verbergen, und ergluhte gleichzeitig innerlich vor Freude.

Er bekam ein Glas Wein eingeschenkt von Peeperkorn, aus der Flasche vom Nachttisch. Unter Umstanden, wie den heutigen, meinte der Hollander, sei es das beste, da wieder anzuschlie?en, wo man nachts zuvor aufgehort habe, und dieser Spritzige tue ja dieselben Dienste wie Sodawasser. Er stie? mit Hans Castorp an, und dieser sah trinkend zu, wie die sommersprossig-nagelspitze Kapitanshand dort druben, von dem Knopfbunde des wollenen Hemdes am Gelenke umspannt, das Glas emporfuhrte, wie die breiten, zerrissenen Lippen seinen Rand erfa?ten und der Wein durch die auf- und niedersteigende Arbeiter- oder Bustengurgel trieb. Sie sprachen dann noch uber das Medikament auf dem Nachttisch, diesen braunen Saft, von dem Peeperkorn auf Frau Chauchats Mahnung und aus ihrer Hand einen Loffel voll einnahm, - es war ein Antipyretikum, Chinin im wesentlichen; Peeperkorn gab seinem Gast ein wenig davon zu probieren, um ihn den charaktervollen, bitter-wurzigen Geschmack des Praparats erfahren zu lassen, und au?erte dann mehreres zum Lobe des Chinins, das segensreich nicht nur durch

seine keimzerstorende Wirkung und seinen heilsamen Einflu? auf das Warmezentrum sei, sondern auch als Tonikum gewurdigt werden musse: es vermindere den Eiwei?umsatz, fordere den Ernahrungszustand, kurz, sei ein echter Labetrank, ein herrliches Starkungs-, Erweckungs- und Belebungsmittel, - ein Rauschmittel ubrigens ebenfalls; man konne sich leicht einen kleinen Spitz oder Zopf daran trinken, sagte er, indem er wie gestern mit Fingern und Kopf gro?artig scherzte und wieder dem tanzenden Heidenpriester dabei glich.

Ja, ein herrlicher Korper, die Fieberrinde! - es waren ubrigens noch keine dreihundert Jahre, da? die Pharmakologie unseres Erdteils Kunde davon gewonnen, und noch kein Jahrhundert, da? die Chemie das Alkaloid, worauf seine Tugenden eigentlich beruhten, das Chinin also, entdeckt hatte - entdeckt und bis zu einem gewissen Grade analysiert; denn da? sie aus seiner Konstitution bis jetzt so recht klug geworden ware oder imstande sei, es kunstlich herzustellen, konnte die Chemie nicht behaupten. Unsere Arzneimittelkunde tat uberall gut, sich ihres Wissens nicht lasterlich zu uberheben, denn wie mit dem Chinin erging es ihr mit so manchem: Sie wu?te dies und das von der Dynamik, den Wirkungen der Stoffe, allein die Frage, worauf denn diese Wirkungen genau genommen zuruckzufuhren seien, setzte sie oft genug in Verlegenheit. Der junge Mann mochte sich doch in der Giftkunde umsehen, - uber die elementaren Eigenschaften, die die Wirkungen der sogenannten Giftstoffe bedingten, wurde niemand ihm Auskunft geben. Da waren zum Exempel die Schlangengifte, -uber welche nicht mehr bekannt war, als da? diese tierischen Stoffe einfach in die Reihe der Eiwei?verbindungen gehorten, aus verschiedenen Eiwei?korpern bestunden, die aber nur in dieser bestimmten - namlich durchaus unbestimmten - Zusammensetzung ihre fulminanten Wirkungen taten: in den Blutkreislauf gebracht, Effekte zeitigten, uber die man sich nur verwundern konnte, da man Eiwei? auf Gift nicht zu reimen gewohnt war. Aber mit der Welt der Stoffe, sagte Peeperkorn, indem er neben seinem bla?augig vom Kissen aufgerichteten Haupt mit den Stirnarabesken den Exaktheitsring und die Lanzen seiner Finger emporhielt, - mit den Stoffen stehe es so, da? alle Leben und Tod auf einmal bargen: alle seien Ptisanen und Gifte zugleich, Heilmittelkunde und Toxikologie seien ein und dasselbe, an Giften genese man, und was fur des Lebens Trager gelte, tote unter Umstanden mit einem einzigen Krampfschlage in Sekundenfrist.

Er sprach sehr eindringlich und ungewohnlich zusammenhangend von den Ptisanen und Giften, und Hans Castorp horte ihm mit schragem Kopfe nickend zu, beschaftigt weniger mit dem Inhalt seiner Reden, der ihm am Herzen zu liegen schien, als mit dem stillen Erkunden seiner Personlichkeitswirkung, die letzten Endes ebenso unerklarlich war wie die Wirkung der Schlangengifte. Dynamik, sagte Peeperkorn, sei alles in der Welt der Stoffe, - das Weitere sei vollig bedingt. Auch das Chinin sei ein Heilgift, kraftvoll in erster Linie. Vier Gramm davon machten taub, schwindelig, kurzatmig, brachten Sehstorungen hervor wie Atropin, berauschten wie Alkohol, und die Arbeiter in Chininfabriken hatten entzundete Augen und geschwollene Lippen, litten an Hautausschlagen. Und er fing an, von der Cinchona, dem Chinabaum, zu erzahlen, von den Urwaldern der Kordilleren, wo er in dreitausend Meter Hohe seine Heimat habe, und von wo seine Rinde als "Jesuitenpulver" so spat nach Spanien gekommen sei, - den Eingeborenen Sudamerikas in ihren Kraften seit langem bekannt; er schilderte die gewaltigen Cinchonaplantagen der niederlandischen Regierung auf Java, von wo alljahrlich viele Millionen Pfund der rotlich zimtahnlichen Rindenrohren nach Amsterdam und London verschifft wurden ... Die Rinden uberhaupt, das Rindengewebe der Holzgewachse, von der Epidermis bis zum Cambium, - sie hatten es in sich, sagte Peeperkorn, fast immer besa?en sie au?erordentliche dynamische Tugenden, im Guten wie im Bosen, - die Drogenkunde der farbigen Volker sei der unsrigen da weit uberlegen. Auf einigen Inseln ostlich von Neuguinea bereiteten sich die jungen Leute einen Liebeszauber, indem sie die Rinde eines bestimmten Baumes, der wahrscheinlich ein Giftbaum sei, wie der Antiaris toxicaria von Java, der gleich dem Manzanillabaum durch seine Ausdunstung die Luft rings um sich her vergiften und Mensch und Tier zu Tode betauben solle, - indem sie also die Rinde dieses Baumes zu Pulver zerrieben, das Pulver mit Kokosnu?schnitzeln vermischten, die Mischung in ein Blatt rolltenund brieten. Sie spritzten dann den Saft des Gemengsels der Sproden, der es gelte, im Schlaf ins Gesicht, und sie entbrenne fur den, der gespritzt habe. Zuweilen sei es die Wurzelrinde, die es in sich habe, wie diejenige einer Schlingpflanze des Malaiischen Archipels, Strychnos Tieute genannt, aus der die Eingeborenen unter Beigabe von Schlangengift das Upas-Radscha bereiteten, eine Droge, die, in die Blutbahn gebracht, z. B. durch Pfeilschu?, aufs allerschnellste den Tod herbeifuhre, ohne da? jemand dem jungen Hans Castorp wurde zu sagen wissen, wie das eigentlich geschahe. Nur so viel sei deutlich, da? das Upas in

dynamischer Beziehung dem Strychnin nahe stehe ... Und Peeperkorn, im Bette nun vollends aufgerichtet und dann und wann mit leicht zitternder Kapitanshand das Weinglas zu seinen zerrissenen Lippen fuhrend, um gro?e, durstige Zuge zu nehmen, erzahlte vom Krahenaugenbaum der Koromandelkuste, aus dessen orangegelben Beeren, den "Krahenaugen", das allerdynamischste Alkaloid, Strychnin gehei?en, gewonnen werde, - erzahlte mit flusternd herabgesetzter Stimme und hochgezogener Stirnlineatur von dem aschgrauen Geast, dem auffallend glanzenden Blatterwerk und den gelbgrunen Bluten dieses Baumes, so da? dem jungen Hans Castorp ein zugleich tristes und hysterisch-buntfarbiges Bild von einem Baume vor Augen stand und ihm alles in allem etwas unheimlich zumute wurde.

Auch mischte denn jetzt Frau Chauchat sich ein, indem sie sagte, es sei nicht gut, die Unterhaltung ermude Peeperkorn, er konne aufs neue Fieber davon haben, und wie ungern immer sie die Entrevue unterbreche, so musse sie Hans Castorp nun doch bitten, es fur diesmal genug sein zu lassen. Das tat er naturlich, aber noch oft, nach einem Quartananfall, sa? er in den nachsten Monaten an des koniglichen Mannes Bett, wahrend Frau Chauchat, das Gesprach leicht uberwachend oder sich auch mit einigen Worten daran beteiligend, hin und wider ging; und auch in Peeperkorns fieberfreien Tagen verbrachte er manche Stunde mit ihm und seiner perlengeschmuckten Reisebegleiterin. Denn wenn der Hollander nicht bettlagerig war, versaumte er selten, nach dem Diner eine kleine, wechselnd zusammengesetzte Auswahl der Berghof-Gasteschaft zu Spiel und Wein und allerhand weiteren Labungen um sich zu versammeln, sei es im Konversationszimmer, wie das erstemal, oder im Restaurant, wobei denn Hans Castorp gewohnheitsma?ig seinen Platz zwischen der lassigen Frau und dem gro?artigen Manne hatte; und selbst im Freien bewegte man sich miteinander, machte Spaziergange zusammen, an denen etwa die Herren Ferge und Wehsal sich beteiligten und bald auch Settembrini und Naphta, die Widersacher im Geiste, denen zu begegnen man nicht hatte verfehlen konnen, und die mit Peeperkorn, wie zugleich denn endlich auch mit Clawdia Chauchat bekannt zu machen, Hans Castorp sich geradezu glucklich schatzte, - vollstandig unbekummert darum, ob diese Bekanntschaft und Verbindung den Disputanten willkommen war oder nicht und in dem stillenVertrauen darauf, da? sie eines padagogischen Objektes bedurften und lieber einen unwillkommenen Anhang in Kauf nehmen, als darauf verzichten wurden, ihre Gegensatze vor ihm

auszutragen.

Er tauschte sich denn auch nicht darin, da? die Mitglieder seines buntscheckigen Freundeskreises sich wenigstens daran gewohnen wurden, da? sie sich nicht aneinander gewohnten: Spannungen, Fremdheiten, sogar stille Feindseligkeit gab es selbstverstandlich genug zwischen ihnen, und wir wundern uns selbst, wie es unserem unbedeutenden Helden gelingen mochte, sie um sich zusammenzuhalten, - wir erklaren es uns mit einer gewissen verschmitzten Lebensfreundlichkeit seines Wesens, die ihn alles "horenswert" finden lie?, und die man Verbindlichkeit selbst in dem Sinne nennen konnte, da? sie nicht nur ihm die ungleichartigsten Personen und Personlichkeiten, sondern bis zu einem gewissen Grade sogar diese untereinander verband.

Wunderlich hin und her laufende Beziehungen! Es reizt uns, ihre verschlungenen Faden einen Augenblick allgemein sichtbar zu machen, so, wie Hans Castorp selbst sie auf diesen Spaziergangen verschmitzten und lebensfreundlichen Auges betrachtete. Da war der elende Wehsal, der Frau Chauchats schwelend begehrte und Peeperkorn und Hans Castorp niedrig verehrte, den einen um der herrschenden Gegenwart, den anderen um der Vergangenheit willen. Da war Clawdia Chauchat ihrerseits, die anmutig weich schreitende Kranke und Reisende, die Horige Peeperkorns, und zwar gewi? aus Uberzeugung, gleichwohl aber immer etwas beunruhigt und innerlich spitzig, den Ritter einer fernen Faschingsnacht auf so gutem Fu?e mit ihrem Gebieter zu sehen. Erinnerte diese Irritation nicht in etwas an diejenige, die ihr Verhaltnis zu Herrn Settembrini bestimmte? Zu diesem Schonredner und Humanisten, den sie nicht leiden konnte und den sie hochmutig und unmenschlich nannte? Zu des jungen Hans Castorp erzieherischem Freunde, den sie gar zu gern daruber zur Rede gestellt hatte, was fur Worte es gewesen seien, die er in seinem mediterranen Idiom, wovon sie so wenig eine Silbe verstand wie er von dem ihren, nur mit weniger sicherer Geringschatzung, dem konvenablen jungen Deutschen nachgesandt hatte, diesem hubschen kleinen Bourgeois von guter Familie und mit einer feuchten Stelle, als er damals im Begriffe gewesen war, sich ihr zu nahern? Hans Castorp, verliebt, wie man zu sagen pflegt "uber beide Ohren", doch nicht im vergnugten Sinn dieser Redensart, sondern so, wie man liebt, wenn der Fall verboten und unvernunftig liegt und sich keine friedlichen kleinen Lieder des Flachlandes darauf singen lassen, - arg

verliebt also und damit abhangig, unterworfen, leidend und dienend, war doch der Mann, in der Sklaverei sich hinlangliche Verschmitztheit zu bewahren, um ganz gut zu wissen, welchen Wert seine Ergebenheit fur die schleichende Kranke mit den bezaubernden Tatarenschlitzen etwa haben und behalten mochte: einen Wert, auf den sie, wie er bei sich in aller leidenden Unterworfenheit hinzufugte, aufmerksam gemacht werden konnte durch das Verhalten Herrn Settembrinis zu ihr,das ihren Argwohn nur zu offen bestatigte, namlich so ablehnend war, wie humanistische Hoflichkeit es nur irgend gestattete. Das Schlimme, oder, in Hans Castorps Augen, eher Vorteilhafte war, da? sie in ihren Beziehungen zu Leo Naphta, auf die sie doch Hoffnungen gesetzt, die rechte Entschadigung auch nicht fand. Zwar stie? sie hier nicht auf jene grundsatzliche Verneinung, die Herr Lodovico ihrem Wesen entgegensetzte, und die Gesprachsbedingungen lagen gunstiger: sie unterhielten sich zuweilen gesondert, Clawdia und der scharfe Kleine, uber Bucher, uber Probleme der politischen Philosophie, in deren radikaler Behandlung sie ubereinstimmten; und Hans Castorp nahm treuherzig teil daran. Aber eine gewisse aristokratische Einschrankung des Entgegenkommens, das der Emporkommling, vorsichtig wie alle Emporkommlinge, ihr bezeigte, mochte ihr doch bemerklich werden; sein spanischer Terrorismus stimmte im Grunde mit ihrer turenwerfend vagierenden "Mahnschlichkeit" wenig uberein; und hinzu kam als Letztes und Feinstes eine leichte, schwer greifbare Gehassigkeit, die sie mit weiblichem Spursinn von seiten beider Widersacher, Settembrinis und Naphtas, sich mu?te entgegenwehen fuhlen(so gut, wie ihr Faschingsritter selber sie wehen fuhlte), und die ihren Grund in den Beziehungen beider zu ihm, Hans Castorp, hatte: die Mi?stimmung des Erziehers gegen die Frau als storendes und ablenkendes Element, diese stille und ursprungliche Gegnerschaft, die sie vereinigte, weil ihre padagogisch verdichtete Zwietracht sich darin aufhob.

Spielte nicht etwas von dieser Feindseligkeit auch in das Verhalten der beiden Dialektiker zu Pieter Peeperkorn hinein? Hans Castorp glaubte es zu bemerken, vielleicht weil er es boshafterweise erwartet hatte und im ganzen nicht wenig begierig gewesen war, den koniglichen Stammler mit seinen beiden "Regierungsraten", wie er sie bei sich manchmal witzweise nannte, zusammenzubringen und den Effekt zu studieren. Mynheer wirkte im Freien nicht ganz so gro?artig wie in geschlossenem Raum. Der weiche Filzhut, den er tief in die Stirn geruckt trug, und der sein wei?es Flammenhaar, seine machtige Stirnlineatur bedeckte,

verkleinerte seine Zuge, lie? sie gleichsam zusammenschrumpfen und setzte selbst seine gerotete Nase in ihrer Majestat herab. Auch war sein Gehen weniger gut als sein Stehen: Er hatte die Gewohnheit, bei jedem seiner kurzen Schritte den ganzen schweren Korper und sogar auch den Kopf etwas seitwarts fallen zu lassen nach der Seite des Fu?es, den er eben vorwarts setzte, was eher gutmutig-greisenhaft als koniglich anmutete; ging auch meist nicht zu voller Gro?e aufgerichtet, wie er stand, sondern etwas zusammengesunken. Aber auch so noch uberragte er Herrn Lodovico sowohl wie nun gar den kleinen Naphta um Haupteslange, - und das war es nicht allein, weshalb seine Gegenwart so sehr, vollkommen so sehr, wie Hans Castorp es einbildungsweise vorweggenommen, auf die Existenz der beiden Politiker druckte.

Das war ein Druck, eine Herabminderung und Beeintrachtigung durch den Vergleich, - fuhlbar dem durchtriebenen Beobachter, fuhlbar aber ohne Zweifelauch den Beteiligten, sowohl den schmachtig Uberartikulierten wie dem gro?artig Stammelnden. Peeperkorn behandelte Naphta und Settembrini uberaus hoflich und aufmerksam, mit einem Respekt, den Hans Castorp ironisch genannt haben wurde, wenn ihn nicht volle Einsicht in die Unvereinbarkeit dieses Begriffes mit dem des gro?en Formats daran gehindert hatte. Konige kennen keine Ironie, - nicht einmal im Sinn eines geraden und klassischen Mittels der Redekunst, geschweige in einem verwickelteren Sinn. Und so war es denn eher eine zugleich feine und gro?artige Spotterei zu nennen, was, unter leicht ubertriebenem Ernst verborgen oder offen zutage liegend, des Hollanders Benehmen gegen Hansens Freunde kennzeichnete. "Ja - ja - ja -!" konnte er wohl sagen, indem er mit dem Finger nach ihrer Seite drohte, den Kopf mit scherzhaft lachelnden zerrissenen Lippen abgewandt. "Das ist - Das sind -. Meine Herrschaften, ich lenke Ihre Aufmerksamkeit - - Cerebrum, cerebral, verstehen Sie! Nein - nein, perfekt, au?erordentlich, das ist, da zeigt sich denn doch - -." Sie rachten sich, indem sie Blicke tauschten, die nach der Begegnung verzweifelt himmelwarts wanderten, und in die sie auch Hans Castorp hineinzuziehen trachteten, was er aber ablehnte.

Es kam vor, da? Herr Settembrini den Schuler direkt zur Rede stellte und so seine padagogische Unruhe bekundete.

"Aber, in Gottes Namen, Ingenieur, das ist ja ein dummer alter Mann! Was finden Sie an ihm? Kann er Sie fordern? Mir steht der Verstand still! Alles ware klar - ohne eben lobenswert zu sein -, wenn Sie ihn in den

Kauf nahmen, wenn Sie in seiner Gesellschaft nur die seiner gegenwartigen Geliebten suchten. Aber es ist unmoglich, nicht zu sehen, da? Sie sich beinahe mehr um ihn kummern, als um sie. Ich beschwore Sie, kommen Sie meinem Verstandnis zu Hilfe ..."

Hans Castorp lachte. "Durchaus!" sagte er. "Perfekt! Es ist nun einmal - Erlauben Sie mir - Gut!" Und er suchte auch Peeperkorns Kulturgebarden zu kopieren. "Ja, ja", lachte er weiter, "Sie finden das dumm, Herr Settembrini, und jedenfalls ist es undeutlich, was in Ihren Augen wohl schlimmer ist, als dumm. Ach, Dummheit. Es gibt so viele verschiedene Arten von Dummheit, und die Gescheitheit ist nicht die beste davon ... Hallo! Da habe ich was gepragt, glaube ich, ein Wort, ein mot. Wie gefallt es Ihnen?"

"Sehr gut. Ich sehe erwartungsvoll Ihrer ersten Aphorismensammlung entgegen. Vielleicht ist es noch Zeit, Sie zu bitten, da? Sie darin gewissen Betrachtungen Rechnung tragen, die wir gelegentlich uber das menschenfeindliche Wesen des Paradoxons angestellt haben."

"Soll geschehen, Herr Settembrini. Soll absolut geschehen. Nein, Sie sehen mich gar nicht auf der Jagd nach Paradoxen mit meinem mot. Es war mir nur darum zu tun, auf die gro?en Schwierigkeiten hinzuweisen,die die Bestimmung von 'Dummheit' und 'Gescheitheit' ... bereitet. Also: bereitet, nicht wahr? Das ist so schwer auseinander zu halten, das geht so sehr ineinander uber ... Ich wei? wohl, Sie hassen das mystische guazzabuglio und sind fur den Wert, das Urteil, das Werturteil, und da gebe ich Ihnen ganz recht. Aber das mit der 'Dummheit' und der 'Gescheitheit', das ist zuweilen ein komplettes Mysterium, und es mu? doch erlaubt sein, sich um Mysterien zu kummern, vorausgesetzt, da? das ehrliche Bestreben vorhanden ist, ihnen nach Moglichkeit auf den Grund zu kommen. Ich frage Sie folgendes. Ich frage Sie: Konnen Sie leugnen, da? er uns alle in die Tasche steckt? Ich drucke es derb aus, und doch konnen Sie es, soviel ich sehe, nicht leugnen. Er steckt uns in die Tasche, und irgendwoher kommt ihm das Recht zu, sich uber uns lustig zu machen. Woher? Wieso? Inwiefern? Naturlich nicht vermoge seiner Gescheitheit. Ich gebe zu, da? von Gescheitheit kaum die Rede sein kann. Er ist ja vielmehr ein Mann der Undeutlichkeit und des Gefuhls, das Gefuhl ist geradezu seine Puschel, - verzeihen Sie den umgangssprachlichen Ausdruck! Ich sage also: Nicht vor Gescheitheit steckt er uns in die Tasche, das hei?t nicht aus geistigen Grunden, - Sie wurden sich das verbitten, und wirklich, es scheidet aus. Aber doch auch

nicht aus korperlichen! Doch nicht seiner Kapitansschultern wegen, in Hinsicht auf rohe Brachialgewalt und weil er jeden von uns mit der Faust niederstrecken konnte, - er denkt gar nicht daran, da? er das konnte, und wenn er mal daran denkt, so genugen ein paar zivilisierte Worte, um ihn zu beschwichtigen ... Also auch nicht aus korperlichen. Und doch spielt ganz ohne Zweifel das Korperliche eine Rolle dabei, - nicht im brachialen Sinne, sondern in einem andern, im mystischen, - sobald das Korperliche eine Rolle spielt, wird die Sache mystisch -; und das Korperliche geht ins Geistige uber, und umgekehrt, und sind nicht zu unterscheiden, und Dummheit und Gescheitheit sind nicht zu unterscheiden, aber die Wirkung ist da, das Dynamische, und wir werden in die Tasche gesteckt. Und dafur ist uns nur ein Wort an die Hand gegeben, und das hei?t 'Personlichkeit'. Man braucht es wohl auch vernunftigerweise, so, wie wir alle Personlichkeiten sind, - moralische und juristische und was noch fur Personlichkeiten. Aber nicht so ist es hier gemeint. Sondern als ein Mysterium, das uber Dummheit und Gescheitheit hinausliegt, und um das man sich doch mu? kummern durfen, - teils um ihm nach Moglichkeit auf den Grund zu kommen und teils, soweit das nicht moglich ist, um sich daran zu erbauen. Und wenn Sie fur Werte sind, so ist diePersonlichkeit am Ende doch auch ein positiver Wert, sollte ich denken, - positiver als Dummheit und Gescheitheit, im hochsten Grade positiv, absolut positiv, wie das Leben, kurzum: ein Lebenswert und ganz danach angetan, sich angelegentlich darum zu kummern. Das meinte ich Ihnen erwidern zu sollen auf das, was Sie von Dummheit sagten."

Neuerdings verwirrte und verhaspelte Hans Castorp sich nicht mehr bei solchen Expektorationen und blieb nicht stecken. Er sprach seinen Part zu Ende, lie? die Stimme sinken, machte Punktum und ging seines Weges wie ein Mann, obgleich er noch immer rot dabei wurde und eigentlich etwas Furcht hatte vor dem kritischen Schweigen, das seinem Verstummen folgen wurde, damit er Zeit habe, sich zu schamen. Herr Settembrini lie? es walten, dieses Schweigen, und sagte dann:

"Sie leugnen, sich auf der Jagd nach Paradoxen zu befinden. Unterdessen wissen Sie genau, da? ich Sie ebenso ungern auf der Jagd nach Mysterien sehe. Indem Sie aus der Personlichkeit ein Geheimnis machen, laufen Sie Gefahr, der Gotzenanbetung zu verfallen. Sie venerieren eine Maske. Sie sehen Mystik, wo es sich um Mystifikation handelt, um eine jener betrugerischen Hohlformen, mit denen der

Damon des Korperlich-Physiognomischen uns manchmal zu foppen liebt. Sie haben nie in Schauspielerkreisen verkehrt? Sie kennen nicht diese Mimenkopfe, in denen sich die Zuge Julius Casars, Goethes und Beethovens vereinigen, und deren gluckliche Besitzer, sobald sie den Mund auftun, sich als die erbarmlichsten Tropfe unter der Sonne erweisen?"

"Gut, ein Naturspiel", sagte Hans Castorp. "Aber doch nicht nur ein Naturspiel, nicht nur Fopperei. Denn da diese Leute Schauspieler sind, mussen sie ja Talent haben, und das Talent ist selbst uber Dummheit und Gescheitheit hinaus, es ist selbst ein Lebenswert. Mynheer Peeperkorn hat auch Talent, sagen Sie, was Sie wollen, und damit steckt er uns in die Tasche. Setzen Sie in eine Ecke eines Zimmers Herrn Naphta und lassen Sie ihn einen Vortrag uber Gregor den Gro?en und den Gottesstaat halten, hochst horenswert, - und in der andern Ecke steht Peeperkorn mit seinem sonderbaren Mund und seinen hochgezogenen Stirnfalten und sagt nichts als 'Durchaus! Erlauben Sie mir - Erledigt!' - Sie werden sehen, die Leute werden sich um Peeperkorn versammeln, alle um ihn, und Naphta wird ganz allein dasitzen mit seiner Gescheitheit und seinem Gottesstaat, obgleich er sich derma?en deutlich ausdruckt, da? es einem durch Mark und Pfennig geht, wie Behrens zu sagen pflegt ..."

"Schamen Sie sich der Erfolgsanbetung!" mahnte ihn Herr Settembrini. "Mundus vult decipi. Ich verlange nicht, da? man sich um Herrn Naphta schart. Er ist ein arger Quertreiber. Aber ich bin geneigt, auf seine Seite zu treten angesichts der imaginaren Szene, die Sie mit tadelnswertem Beifall ausmalen. Verachten Sie nur das Distinkte, Praziseund Logische, das human zusammenhangende Wort! Verachten Sie es zu Ehren irgendeines Hokuspokus von Andeutung und Gefuhlsscharlatanerie, - und der Teufel hat Sie schon unbedingt ..."

"Aber ich versichere Sie, er kann oft ganz zusammenhangend sprechen, wenn er warm wird", sagte Hans Castorp. "Er hat mir gelegentlich von dynamischen Drogen und asiatischen Giftbaumen erzahlt, so interessant, da? es fast unheimlich war - das Interessante ist immer etwas unheimlich - und interessant war es wieder nicht so sehr an und fur sich, als eigentlich nur im Zusammenhang mit seiner Personlichkeitswirkung: die machte es zugleich unheimlich und interessant ..."

"Naturlich, Ihre Schwache fur das Asiatische ist bekannt. In der Tat, mit solchen Wundern kann ich nicht aufwarten", erwiderte Herr Settembrini

mit soviel Bitterkeit, da? Hans Castorp eilig erklarte, die Vorzuge seiner Unterhaltung und Belehrung lagen selbstverstandlich nach einer ganz anderen Seite hin, und es komme niemandem in den Sinn, Vergleiche anzustellen, durch die beiden Teilen Unrecht geschehen wurde. Doch der Italiener uberhorte und verschmahte die Hoflichkeit. Er fuhr fort:

"Auf jeden Fall mussen Sie erlauben, da? man Ihre Sachlichkeit und Gemutsruhe bewundert, Ingenieur. Sie streift ein wenig das Groteske, das werden Sie einraumen. Wie schlie?lich alles steht und liegt ... Dieser Olgotze hat Ihnen Ihre Beatrice weggenommen, - ich nenne die Dinge bei ihrem Namen. Und Sie? Es ist beispiellos."

"Temperamentsunterschiede, Herr Settembrini. Unterschiede in Hinsicht auf Hitze und Ritterlichkeit des Geblutes. Naturlich, Sie als Mann des Sudens, Sie wurden wohl Gift und Dolch zu Rate ziehen oder jedenfalls die Sache gesellschaftlich-leidenschaftlich gestalten, kurz hahnenma?ig. Das ware gewi? sehr mannlich, gesellschaftlich-mannlich und galant. Mit mir aber ist es was anderes. Ich bin gar nicht mannlich auf die Art, da? ich im Manne nur das nebenbuhlende Mitmannchen erblicke, - ich bin es vielleicht uberhaupt nicht, aber bestimmt nicht auf diese Art, die ich unwillkurlich 'gesellschaftlich' nenne, ich wei? nicht, warum. Ich frage mich in meiner tranigen Brust, ob ich ihm denn was vorzuwerfen habe. Hat er mir wissentlich etwas angetan? Aber Beleidigungen mussen mit Absicht geschehen, sonst sind sie keine. Und was das 'antun' betrifft, da mu?te ich mich schon an sie halten, und dazu habe ich auch wieder kein Recht, - uberhaupt nicht und in Hinsicht auf Peeperkorn noch ganz besonders nicht. Denn er ist erstens eine Personlichkeit, was schon allein etwas fur Frauen ist, und zweitens ist er kein Zivilist, wie ich, sondern eine Art von Militar, wie mein armer Vetter, das hei?t: er hat einen point d'honneur, eine Ehrenpuschel, und das ist das Gefuhl, das Leben ... Ich schwatze da Unsinn, aber ich will lieber ein bi?chen faseln und dabei etwas Schwieriges halbwegs ausdrucken, als immer nur tadellose Hergebrachtheiten von mir geben, - dasist doch vielleicht auch so etwas wie ein militarischer Zug in meinem Charakterbilde, wenn ich so sagen darf ..."

"Sagen Sie immerhin so", nickte Herr Settembrini. "Unbedingt ware das ein Zug, den man loben durfte. Der Mut der Erkenntnis und des Ausdrucks, das ist die Literatur, es ist die Humanitat ..."

So kamen sie leidlich voneinander bei solcher Gelegenheit; Herr Settembrini gab dem Gesprach versohnlichen Abschlu?, wozu er auch

gute Grunde hatte. Seine Position dabei war keineswegs so unverletzlich, da? es ratsam fur ihn gewesen ware, die Strenge sehr weit zu treiben; ein Gesprach, das von Eifersucht handelte, war etwas schlupfriger Boden fur ihn; an einem bestimmten Punkte hatte er eigentlich antworten mussen, da?, in Anbetracht seiner padagogischen Ader, sein Verhaltnis zum Mannlichen auch nicht durchaus gesellschaftlich-hahnenma?iger Art sei, weshalb der gro?machtige Peeperkorn seine Kreise ebenso store, wie Naphta und Frau Chauchat es taten; und zum Schlu? durfte er nicht hoffen, seinem Schuler eine Personlichkeitswirkung und naturliche Uberlegenheit auszureden, der er selbst sich so wenig, wie sein Partner in zerebralen Angelegenheiten, zu entziehen vermochte.

Am besten erging es ihnen, wenn geistige Lufte wehen, wenn sie disputieren - die Aufmerksamkeit der Spazierenden an eine ihrer zugleich eleganten und leidenschaftlichen, ihrer akademischen und dabei in einem Tonfall, als handele es sich um brennendste Tages- und Lebensfragen, gefuhrten Debatten fesseln konnten, deren Kosten sie fast allein bestritten, und fur deren Dauer das anwesende "Format" gewisserma?en neutralisiert war, da es sie nur mit stirnfaltigem Erstaunen und undeutlich-spottischen Abgerissenheiten begleiten konnte. Allein selbst unter diesen Umstanden ubte es seinen Druck, beschattete das Gesprach, so da? es an Glanz zu verlieren schien, entweste es auf irgendeine Weise, setzte ihm, allen fuhlbar, wenn auch seinerseits sicherlich unbewu?t, oder Gott wei? in welchem Grade bewu?t, etwas entgegen, was keiner der beiden Sachen zugute kam und wodurch der Zwist in seiner entscheidenden Wichtigkeit verbla?te, ja ihm - wir nehmen Anstand, es zu sagen - der Stempel des Mu?igen aufgedruckt wurde. Oder, anders versucht: die witzige Fehde auf Leben und Tod nahm heimlich, auf unterirdische und unbestimmte Weise, bestandig Bezug auf das ihr zur Seite wandelnde Format und entnervte sich an diesem Magnetismus. Anders war dieser geheimnisvolle und fur die Disputanten sehr argerliche Vorgang nicht zu kennzeichnen. Man kann nur sagen, da? es, wenn kein Pieter Peeperkorn gewesen ware, zur Parteinahme weit strenger verpflichtet hatte, wie beispielsweise Leo Naphta das erz- und grundrevolutionare Wesen der Kirche gegen die Lehrmeinung Herrn Settembrinis verteidigte, welcher in dieser geschichtlichen Macht einzig die Schutzherrin finsterer Beharrung und Erhaltung erblicken und alle zur Umwalzung und Erneuerung bereite Lebens- und Zukunftsfreundlichkeit an die entgegengesetzten, einer

ruhmreichen Epoche der Wiedergeburt antiker Bildung entstammenden Prinzipien der Aufhellung, der Wissenschaft und des Fortschritts gebundenwissen wollte und auf diesem Bekenntnis mit schonstem Wurf des Wortes und der Gebarde bestand. Da machte denn Naphta, kalt und scharf, sich anheischig, zu zeigen - und zeigte es auch fast bis zu blendender Unwidersprechlichkeit -, da? die Kirche als Verkorperung der religios-asketischen Idee, im Innersten weit entfernt, Parteigangerin und Stutze dessen zu sein, was bestehen wolle, der weltlichen Bildung also, der staatlichen Rechtsordnungen, - vielmehr von jeher den radikalsten, den Umsturz mit Stumpf und Stiel auf ihre Fahne geschrieben habe; da? schlechthin alles, was sich bewahrenswert dunke und von den Matten, den Feigen, den Konservativen, den Burgern zu bewahren versucht werde: Staat und Familie, weltliche Kunst und Wissenschaft - sich immer nur in bewu?tem oder unbewu?tem Widerspruch zur religiosen Idee gehalten habe, zur Kirche, deren eingeborene Tendenz und unverbruchliches Ziel die Auflosung aller bestehenden weltlichen Ordnungen und die Neugestaltung der Gesellschaft nach dem Vorbilde des idealen, des kommunistischen Gottesstaates sei.

Das Wort hatte danach Herr Settembrini, und beim Himmel! er wu?te etwas damit anzufangen. Eine solche Verwechslung des luziferischen Revolutionsgedankens mit der Generalrevolte aller schlechten Instinkte, sagte er, sei beklagenswert. Die Neuerungsliebe der Kirche habe durch die Jahrhunderte darin bestanden, den lebenzeugenden Gedanken zu inquirieren, zu erdrosseln, im Rauch ihrer Scheiterhaufen zu ersticken, und heute lasse sie sich durch ihre Emissare fur umwalzungsfroh erklaren, mit der Begrundung, ihr Ziel sei es, Freiheit, Bildung und Demokratie durch Pobeldiktatur und Barbarei zu ersetzen. Eh, in der Tat, eine schauerliche Art widerspruchsvoller Konsequenz, konsequenten Widerspruches ...

An dergleichen Widerspruch und Folgerichtigkeit, entgegnete Naphta, lasse sein Gegner es nicht fehlen. Demokrat seiner eigenen Schatzung nach, au?ere er sich wenig volks- und gleichheitsfreundlich, lege vielmehr eine strafliche aristokratische Hochnasigkeit zutage, indem er das zu stellvertretender Diktatur berufene Weltproletariat als Pobel bezeichne. Aber als Demokrat, in Wahrheit, verhalte er sich offenbar zur Kirche, die allerdings, man musse es auf stolze Art einraumen, die vornehmste Macht der Menschheitsgeschichte darstelle, - vornehm im

letzten und hochsten Verstande, in dem des Geistes. Denn der asketische Geist, - wenn es erlaubt sei, in Pleonasmen zu reden - der Geist der Weltverneinung und Weltvernichtung sei die Vornehmheit selbst, das aristokratische Prinzip in Reinkultur; er konne niemals volkstumlich sein, und zu allen Zeiten sei die Kirche im Grunde unpopular gewesen. Ein wenig literarische Bemuhung um die Kultur des Mittelalters werde Herrn Settembrini dieser Tatsache ansichtig machen, - der derben Abneigung, die das Volk - und zwar das Volk im weitesten Sinne - dem kirchlichen Wesen entgegengebracht habe, gewisser Monchsgestalten zum Beispiel, die, Erfindungen volkstumlicher Dichterphantasie, dem asketischen Gedanken auf bereits recht lutherische Weise Wein, Weib und Gesang entgegengestellt hatten. Alle Instinkte weltlichen Heldentums, aller Kriegergeist, dazu die hofische Dichtung habe sich in mehr oder minder offenerGegenstellung zur religiosen Idee und damit zur Hierarchie befunden. Denn das alles sei "Welt" und Pobeltum gewesen im Vergleich mit dem durch die Kirche dargestellten Adel des Geistes.

Herr Settembrini dankte fur die Gedachtnisstarkung. Die Figur des Monches Ilsan aus dem "Rosengarten" behalte viel Erquickliches gegenuber dem hier gepriesenen Grabesaristokratismus, und wenn er, Redner, kein Freund des deutschen Reformators sei, auf den eine Anspielung geschehen, so finde man ihn doch gluhend bereit, alles, was an demokratischem Individualismus seiner Lehre zugrunde liege, gegen jederlei geistlich-feudale Herrschaftsgeluste uber die Personlichkeit in Schutz zu nehmen.

"Ei!" rief Naphta nun auf einmal. Man wolle der Kirche wohl gar einen Mangel an Demokratismus, an Sinn fur den Wert der menschlichen Personlichkeit unterstellen? Und die humane Vorurteilslosigkeit des kanonischen Rechtes, welches, wahrend das romische die Rechtsfahigkeit vom Besitz des Burgerrechtes abhangig gemacht, das germanische sie an Volkszugehorigkeit und personliche Freiheit gebunden habe, einzig kirchliche Gemeinschaft und Rechtglaubigkeit verlangt, sich aller staatlichen und gesellschaftlichen Rucksichten entschlagen und die Testier- und Sukzessionsfahigkeit von Sklaven, Kriegsgefangenen, Unfreien behauptet habe?!

Diese Behauptung, bemerkte Settembrini bissig, sei wohl nicht ohne Seitenblick auf die "kanonische Portion" aufrecht erhalten worden, die bei jedem Testament habe abfallen mussen. Im ubrigen sprach er von

"Pfaffendemagogie", nannte es die Leutseligkeit unbedingter Machtbegier, die Unterwelt in Bewegung zu setzen, wenn die Gotter begreiflicherweise nichts von einem wissen wollten, und meinte, es sei der Kirche offenbar auf die Quantitat der Seelen mehr angekommen, als auf ihre Qualitat, was auf tiefe geistige Unvornehmheit schlie?en lasse.

Unvornehm gesonnen - die Kirche? Herr Settembrini wurde auf den unerbittlichen Aristokratismus aufmerksam gemacht, welcher der Idee von der Erblichkeit der Schande zugrunde gelegen habe: der Ubertragung schwerer Schuld auf die - demokratisch gesprochen - doch unschuldigen Nachkommen; die lebenslange Makelhaftigkeit und Rechtlosigkeit naturlicher Kinder zum Beispiel. Aber er bat, davon stille zu sein, - erstens, weil sein humanes Gefuhl sich dagegen empore, und zweitens, weil er die Winkelzuge satt habe und in den Kunstgriffen der gegnerischen Apologetik den durchaus infamen und teuflischen Kultus des Nichts wiedererkenne, der Geist genannt sein wolle, und der die eingestandene Unpopularitat des asketischen Prinzips als etwas so Legitimes, so Heiliges empfinden lasse.

Hier kam nun Naphta denn doch um die Erlaubnis ein, hell herauslachen zu durfen. Man spreche vom Nihilismus der Kirche! Vom Nihilismus des am meisten realistischen Herrschaftssystems der Weltgeschichte! Nie habe Herrn Settembrini also ein Hauch beruhrt von der humanen Ironie, mit der sie der Welt, dem Fleische bestandig Zugestandnisse gewahre, in kluger Nachgiebigkeit die letzten Folgerungen des Prinzips verhulle und den Geist als regelnden Einflu? walten lasse, ohne der Natur allzu streng zu begegnen? Auch von dem priesterlich feinen Begriff der Indulgenz habe er folglich nie gehort, unter den sogar ein Sakrament, namlich dasder Ehe, falle, welches gar kein positives Gut, gleich den anderen Sakramenten, sondern nur ein Schutz gegen die Sunde sei, verliehen einzig zur Einschrankung der sinnlichen Begierde und der Unma?igkeit, so da? das asketische Prinzip, das Keuschheitsideal sich darin behaupte, ohne da? dem Fleische mit unpolitischer Scharfe entgegengetreten werde?

Wie konnte Herr Settembrini da umhin, sich zu verwahren gegen einen so abscheulichen Begriff des "Politischen", gegen die Gebarde dunkelhafter Nachsicht und Klugheit, die der Geist - das, was sich hier Geist nenne - sich anma?e gegen sein vermeintlich schuldhaftes und "politisch" zu behandelndes Gegenteil, welches in Wahrheit seiner giftigen Indulgenz durchaus nicht bedurfe; gegen die verfluchte

Zweiheitlichkeit einer Weltdeutung, die das Universum verteufele, namlich sowohl das Leben, als auch zugleich sein erdunkeltes Gegenteil, den Geist: denn wenn jenes bose sei, musse auch dieser, als reine Verneinung, es sein! Und er brach eine Lanze fur die Unschuld der Wollust, - wobei Hans Castorp an sein Humanistenstubchen im Dache mit dem Stehpult, den Strohstuhlen und der Wasserflasche denken mu?te, - wahrend Naphta, behauptend, nie konne Wollust ohne Schuld sein, und die Natur habe angesichts des Geistigen gefalligst ein schlechtes Gewissen zu haben, die kirchliche Politik und Indulgenz des Geistes als "Liebe" bestimmte, um den Nihilismus des asketischen Prinzips zu widerlegen, - wobei Hans Castorp fand, da? das Wort "Liebe" dem scharfen, mageren kleinen Naphta recht sonderbar zu Gesichte stehe ...

So ging das weiter, wir kennen das Spiel, Hans Castorp kannte es. Wir haben mit ihm einen Augenblick hingehort, um zu beobachten, wie, beispielsweise, ein solcher peripatetischer Waffengang sich im Schatten der nebenherwandelnden Personlichkeit ausnahm, und auf welche Weise etwa diese Gegenwart ihn insgeheim um den Nerv brachte: namlich so, da? ein heimlicher Zwang zur Bezugnahme auf sie den hin und her springenden Funken totete und eine Erinnerung an jenes Gefuhl matter Leblosigkeit sich aufdrangte, das uns uberkommt, wenn eine elektrische Leitung sich als kontaktlos erweist. Gut! so war es. Da war kein Knistern zwischen den Widerspruchen mehr, kein Sprung des Blitzes, kein Strom, - die Gegenwart, neutralisiert durch den Geist, wie dieser meinen wollte, neutralisierte vielmehr den Geist; Hans Castorp ward es mit Staunen und Neugier gewahr.

Revolution und Erhaltung, - man blickte auf Peeperkorn, man sah ihn daherstapfen, nicht besonders gro?artig zu Fu?, mit seinem seitwarts nickenden Tritt und den Hut in der Stirn; sah seine breiten, unregelma?ig zerrissenen Lippen und horte ihn sagen, indem er scherzhaft mit dem Kopf auf die Disputanten deutete: "Ja - ja - ja! Cerebrum, cerebral, verstehen Sie! Das ist - Da zeigt sich denn doch -": und siehe, der Steckkontakt war mausetot! Sie versuchten es zum andern, griffen zu starkeren Beschworungen, kamen auf das "aristokratische Problem", auf Popularitatund Vornehmheit. Kein Funke. Magnetisch nahm das Gesprach personlichen Bezug; Hans Castorp sah Clawdias Reisebegleiter unter der rotseidenen Steppdecke im Bette liegen, im kragenlosen Trikothemd, halb alter Arbeitsmann, halb Konigsbuste, - und mit mattem Zucken erstarb der Nerv des Streites. Starkere Spannungen! Verneinung hie und

Kult des Nichts - hie ewiges Ja und liebende Neigung des Geistes zum Leben! Wo blieben Nerv, Blitz und Strom, wenn man auf Mynheer blickte, - was unvermeidlich und kraft geheimer Anziehung geschah? Kurzum, sie blieben aus, und das war, mit Hansens Wort, nicht weniger noch mehr als ein Mysterium. Fur seine Aphorismensammlung mochte er sich notieren, da? man ein Mysterium mit allereinfachsten Worten ausspricht - oder es unausgesprochen la?t. Um dieses allenfalls auszusprechen, durfte man einzig sagen, aber dies geradezu, da? Pieter Peeperkorn mit seiner hochfaltigen Konigsmaske und seinem bitter zerrissenen Munde jeweils beides war, da? beides auf ihn zu passen und in ihm sich aufzuheben schien, wenn man ihn ansah: dies und jenes, das eine und das andre. Ja, dieser dumme alte Mann, dies herrscherliche Zero! Er lahmte den Nerv der Widerspruche nicht durch Verwirrung und Quertreiberei, wie Naphta; er war nicht zweideutig, wie dieser, er war es auf ganz entgegengesetzte, auf positive Art, - dies torkelnde Mysterium, das offenkundig nicht uber Dummheit und Gescheitheit allein, das uber soviel andre Oppositionen noch hinaus war, die Settembrini und Naphta beschworen, um zu erzieherischem Behufe Hochspannung zu erzeugen. Die Personlichkeit, so schien es, war nicht erzieherisch, - und dennoch, welche Chance war sie fur einen Bildungsreisenden! Wie seltsam, diese Zweideutigkeit von einem Konig zu betrachten, als die Streiter auf Ehe und Sunde kamen, auf das Sakrament der Nachsicht, auf Schuld und Unschuld der Wollust! Er neigte das Haupt zur Schulter und Brust, die wehen Lippen taten sich voneinander, schlaff-klagend klaffte der Mund, die Nustern spannten und verbreiterten sich wie in Schmerzen, die Falten der Stirne stiegen und weiteten die Augen zu blassem Leidensblick, - ein Bild der Bitternis. Und siehe, im selben Nu erbluhte die Martermiene zur Uppigkeit! Die schrage Neigung des Hauptes deutete sich um in Schalkheit, die Lippen, noch offen, lachelten unsittsam, das sybaritische Grubchen, bekannt von fruheren Gelegenheiten, erschien in einer Wange, - der tanzende Heidenpriester war da, und wahrend er mit dem Kopfe scherzhaft in jene cerebrale Richtung deutete, horte man ihn sagen: "Ei, ja, ja ja - perfekt. Das ist - Das sind - Da zeigt sich nun - Das Sakrament der Wollust, verstehen Sie - -"

Dennoch, wie wir sagten, am besten waren Hans Castorps herabgesetzte Freunde und Lehrer immer noch daran, wenn sie zanken konnten. Sie waren in ihrem Elemente alsdann, wahrend das Format es nicht war, und immerhin mochteman verschieden urteilen uber die Rolle,

die er dabei spielte. Ganz zweifellos dagegen gestaltete die Lage sich zu ihrem Nachteil, wenn es nicht langer um Witz und Wort und Spiritus, sondern um Sachen, um Irden-Praktisches, kurz, um Fragen und Dinge ging, in denen Herrschernaturen sich eigentlich bewahren: dann wars um sie geschehen, sie traten in den Schatten, wurden unscheinbar, und Peeperkorn ergriff das Zepter, bestimmte, entschied, beorderte, bestellte und befahl ... Was wunder, da? er nach diesem Zustand trachtete und aus der Logomachie in ihn hinuberstrebte? Er litt, solange sie herrschte, oder doch, wenn sie lange herrschte; doch nicht aus Eitelkeit litt er unter ihr, - Hans Castorp war dessen versichert. Die Eitelkeit hat kein Format, und Gro?e ist nicht eitel. Nein, Peeperkorns Verlangen nach Dinglichkeit entsprang aus anderen Grunden: aus "Angst", ganz grob und plump gesagt, aus jenem Pflichteifer und Ehrenraptus, dessen Hans Castorp gegen Herrn Settembrini versuchsweise erwahnt und den er als einen gewisserma?en militarischen Zug hatte ansprechen wollen.

"Meine Herren -", sagte der Hollander, indem er die Kapitanshand mit den Nagellanzen beschworend und gebietend erhob. "- Gut, meine Herren, perfekt, vortrefflich! Die Askese - die Indulgenz - die Sinnenlust - Ich mochte das - Durchaus! Hochst wichtig! Hochst strittig! Allein erlauben Sie mir - Ich furchte, wir machen uns eines schweren - Wir entziehen uns, meine Herrschaften, wir entziehen uns in unverantwortlicher Weise den heiligsten -" Er atmete tief. "Diese Luft, meine Herrschaften, die charaktervolle Fohnluft dieses Tages, mit ihrem zart entnervenden, ahnungs- und erinnerungsvollen Einschlag von Fruhlingsaroma, - wir sollten sie nicht einatmen, um sie in Form von - Ich bitte dringend: wir sollten das nicht. Das ist eine Beleidigung. Nur ihr selbst sollten wir unsere volle und ganze - oh, unsere hochste und geistesgegenwartigste - Erledigt, meine Herrschaften! Und nur als reine Lobpreisung ihrer Eigenschaften sollten wir sie wieder aus unserer Brust - - Ich unterbreche mich, meine Herrschaften! Ich unterbreche mich zu Ehren dieses -" Er war stehengeblieben, zuruckgebeugt, mit dem Hut die Augen beschattend, und alle folgten seinem Beispiel. "Ich lenke", sagte er, "Ihre Aufmerksamkeit in die Hohe, in gro?e Hohe, auf jenen schwarzen, kreisenden Punkt dort oben, unter dem au?erordentlich blauen, ins Schwarzliche spielenden - Das ist ein Raubvogel, ein gro?er Raubvogel. Das ist, wenn mich nicht alles - Meine Herren und Sie, mein Kind, das ist ein Adler. Auf ihn lenke ich mit aller Entschiedenheit - Sehen Sie! Das ist kein Bussard und kein Geier, - waren Sie so ubersichtig, wie ich es mit zunehmenden - Ja, mein Kind, gewi?, mit zunehmenden. Mein

Haar ist bleich, gewi?. So wurden Sie so deutlich, wie ich, an der stumpfen Rundung der Schwingen- Ein Adler, meine Herrschaften. Ein Steinadler. Er kreist gerade uber uns im Blauen, schwebt ohne Flugelschlag in gro?artiger Hohe zu unseren - und spaht gewi? aus seinen machtigen, weitsichtigen Augen unter den vortretenden Brauenknochen - Der Adler, meine Herrschaften, Jupiters Vogel, der Konig seines Geschlechtes, der Leu der Lufte! Er hat Federhosen und einen Schnabel von Eisen, nur vorne plotzlich eisern gekrummt, und Fange von ungeheurer Kraft, einwarts geschlagene Krallen, die vorderen von der langen ruckwartigen eisern umgriffen. Sehen Sie, so!" Und er versuchte, mit seiner langgenagelten Kapitanshand die Adlerklaue darzustellen. "Gevatter, was kreist und spahst du!" wendete er sich wieder nach oben. "Sto? nieder! Schlag ihm mit dem Eisenschnabel auf den Kopf und in die Augen, rei? ihm den Bauch auf, dem Wesen, das dir Gott - - Perfekt! Erledigt! Deine Fange mussen in Eingeweide verstrickt sein und dein Schnabel triefen von Blut -"

Er war begeistert, und um die Teilnahme der Spazierganger fur Naphtas und Settembrinis Antinomien war es getan. Auch wirkte die Erscheinung des Adlers noch wortlos nach in den Beschlussen und Unternehmungen, die unter Mynheers Leitung darauf folgten: Es gab Einkehr, es gab ein Essen und Trinken, ganz au?er der Zeit, jedoch mit einem Appetit, der durch das stille Gedenken an den Adler befeuert ward; ein Schmausen und Zechen, wie Mynheer es so oft auch au?erhalb des Berghofs ins Werk setzte, wo es sich eben traf, in "Platz" und "Dorf", in einem Wirtshaus zu Glaris oder Klosters, wohin man ausflugsweise mit dem Zuglein gefahren war: Klassische Gaben geno? man unter seiner Herrscherleitung: Rahmkaffee mit landlich Gebackenem oder saftigen Kase auf duftiger Alpenbutter, die auch zu hei?en, gerosteten Kastanien wundervoll mundete, dazu Veltliner Roten, soviel das Herz begehrte; und Peeperkorn begleitete das Stegreifmahl mit gro?en Abgerissenheiten oder forderte Anton Karlowitsch Ferge zu reden auf, diesen gutmutigen Dulder, dem alles Hohere vollig fremd war, der aber sehr dinghaft von der Fabrikation russischer Gummischuhe zu erzahlen wu?te: Mit Schwefel und andren Stoffen versetze man die Gummimasse, und die fertigen, lackierten Schuhe wurden in einer Hitze von uber hundert Grad "vulkanisiert". Auch vom Polarkreis sprach er, denn selbst bis dorthin hatten seine Dienstreisen ihn mehrfach gefuhrt: von der Mitternachtssonne und vom ewigen Winter am Nordkap. Da sei, sagte er aus seiner knotigen Kehle und unter seinem uberhangenden Schnurrbart

hervor, der Dampfer ganz winzig erschienen gegen den ungeheuren Felsen und die stahlgraue Flache des Meeres. Und gelbe Lichtflachen hatten sich am Himmel ausgebreitet, das sei das Nordlicht gewesen. Und alles sei ihm, Anton Karlowitsch, gespenstisch vorgekommen, die ganze Szenerie und er sich selber mit.

Soweit Herr Ferge, der einzige in der kleinen Gesellschaft, der au?er allen hin und wieder laufenden Beziehungen stand.Was aber diese betraf, so gibt es zwei kurze Unterredungen aufzuzeichnen, zwei wunderliche Konversationen unter vier Augen, gefuhrt zu jener Zeit von unserem unheldischen Helden mit Clawdia Chauchat und ihrem Reisebegleiter: mit jedem einzeln, die eine in der Halle, um eine Abendstunde, wahrend die "Storung" droben im Fieber lag, die andre eines Nachmittags an Mynheers Lager ...

Es herrschte Halbdunkel in der Halle an jenem Abend. Die regelma?ige Geselligkeit war matt und fluchtig gewesen, und fruh hatte die Gasteschaft sich zum Spatliegedienst in die Balkonlogen verzogen, soweit sie nicht auf kurwidrigen Wegen wandelte, in die Welt hinab, zu Tanz und Spiel. Nur eine Lampe brannte irgendwo an der Decke des ausgestorbenen Raumes, und auch die ansto?enden Gesellschaftsraume waren kaum erhellt. Doch wu?te Hans Castorp, da? Frau Chauchat, die das Diner ohne ihren Gebieter eingenommen hatte, noch nicht ins erste Stockwerk zuruckgekehrt war, sondern allein im Schreib- und Lesezimmer verweilte, und darum hatte auch er gezogert, hinaufzugehen. Er sa? in dem hinteren, durch eine flache Stufe erhohten und durch ein paar wei?e Bogen mit holzbekleideten Pfeilern vom Hauptraum abgegliederten Teil der Halle, sa? am Kachelkamin, in solchem Schaukelstuhl wie der, worin Marusja sich damals gewiegt, als Joachim sein allereinziges Gesprach mit ihr gepflogen, und rauchte eine Zigarette, wie es um diese Stunde hier allenfalls statthaft war.

Sie kam, er horte ihre Schritte, ihr Kleid hinter sich, sie war neben ihm, fachelte mit einem Brief, den sie an einer Ecke hielt, in der Luft hin und her und sagte mit ihrer Pribislavstimme:

"Der Concierge ist fort. Geben Sie schon ein timbre poste!"

Sie trug leichte dunkle Seide diesen Abend, ein Kleid mit rundem Halsausschnitt und lockeren Armeln, die unten als geknopfte Manschetten knapp um die Handgelenke lagen. Er sah das mit Vorliebe. Sie hatte sich mit der Perlenreihe geschmuckt, die bleich in der Dammerung schimmerte. Er blickte hinauf in ihr Kirgisengesicht. Er

wiederholte:

"Timbre? Ich habe keins."

"Wie, keins? Tant pis pour vous. Nicht in Bereitschaft, einer Dame gefallig zu sein?" Sie warf die Lippen auf und zuckte die Achseln. "Das enttauscht mich. Prazis und zuverlassig solltet Ihr doch sein. Ich habe mir eingebildet, Sie hatten in einem Fache Ihres Portefeuilles kleine zusammengelegte Bogen von allen Sorten, nach der Wertstaffel geordnet."

"Nein, wozu?" sagte er. "Ich schreibe nie Briefe. An wen wohl? Hochst selten mal eine Karte, die gleich frankiert ist. An wen sollte ich wohl Briefe schreiben? Ich habe niemanden. Ich habe gar keine Fuhlung mehr mit dem Flachland, die ist mir abhanden gekommen. Wir haben ein Lied in unserem Volksliederbuch, worin es hei?t: 'Ich bin der Welt abhanden gekommen'. So steht es mit mir."

"Nun, dann geben Sie schon wenigstens eine Papyros, verlorener Mensch!"sagte sie, indem sie sich ihm gegenuber neben den Kamin auf die mit einem leinenen Kissen belegte Bank setzte, ein Bein uber das andere legte und die Hand ausstreckte. "Es scheint, damit sind Sie versehen." Und sie nahm nachlassig und ohne zu danken aus seiner silbernen Dose die Zigarette, die er ihr entgegenschob, und bediente sich an dem Taschenfeuerzeug, das er vor ihrem vorgebeugten Gesichte spielen lie?. In diesem tragen "Geben Sie schon!", diesem Nehmen ohne Dank lag Uppigkeit der verwohnten Frau, uberdies aber der Sinn menschlicher, oder besser gesagt: "mahnschlicher" Gemeinsamkeit und Besitzgenossenschaft, einer wilden und weichen Selbstverstandlichkeit des Gebens und Nehmens. Er kritisierte es bei sich in verliebtem Sinn. Dann sagte er:

"Ja, damit immer. Damit bin ich allerdings immer versehen. Das mu? man haben. Wie kame man ohne das wohl aus? Nicht wahr, man nennt das eine Leidenschaft, wenn einer so fragt. Ich bin, offen gestanden, gar kein leidenschaftlicher Mensch, aber ich habe Leidenschaften, phlegmatische Leidenschaften."

"Es beruhigt mich au?erordentlich", sagte sie, den eingeatmeten Rauch heraussprechend, "zu horen, da? Sie kein leidenschaftlicher Mensch sind. Ubrigens, wie denn auch wohl? Sie mu?ten aus der Art geschlagen sein. Leidenschaft, das ist: um des Lebens willen leben. Aber es ist bekannt, da? ihr um des Erlebnisses willen lebt. Leidenschaft, das ist Selbstvergessenheit. Aber euch ist es um Selbstbereicherung zu tun.

C'est ca. Sie haben keine Ahnung, da? das abscheulicher Egoismus ist, und da? ihr damit eines Tages als Feinde der Menschheit dastehen werdet?"

"Hallo, hallo! Gleich Feinde der Menschheit? - Was sagst du da, Clawdia, so allgemein? Was hast du Bestimmtes und Personliches im Sinn, da? du sagst, uns sei es nicht um das Leben, sondern um Bereicherung zu tun? Ihr Frauen moralisiert doch nicht so ins Blaue hinein. Ach, die Moral, wei?t du. Die ist ein Streitfall fur Naphta und Settembrini. Die fallt ins Gebiet der gro?en Konfusion. Ob einer um seiner selbst willen lebt oder um des Lebens willen, das wei? er doch selber nicht, und niemand kann es genau und sicher wissen. Ich meine, die Grenze ist flie?end. Da gibt es egoistische Hingabe und hingebenden Egoismus ... Ich glaube, es ist im ganzen, wie es in der Liebe ist. Naturlich ist es wohl unmoralisch, da? ich nicht recht darauf achten kann, was du mir sagst uber Moral, sondern in erster Linie froh bin, da? wir zusammensitzen, wie nur einmal bisher und keinmal noch, seit du zuruck bist. Und da? ich dir sagen kann, wie beispiellos gut dich diese engen Manschetten um deine Handgelenke kleiden und diese dunne Seide weit um deine Arme herum, - um deine Arme, die ich kenne ..."

"Ich gehe."

"Geh, bitte, nicht! Ich werdedie Umstande berucksichtigen und die Personlichkeiten."

"Worauf man denn doch wenigstens wird rechnen durfen bei einem Menschen ohne Leidenschaft."

"Ja, siehst du! Du spottest und schiltst mich aus, wenn ich ... Und du willst gehen, wenn ich ..."

"Man ist gebeten, weniger luckenhaft zu sprechen, wenn man verstanden zu werden wunscht."

"Und ich soll also gar nicht, auch kein bi?chen teilhaben an deiner Ubung im Erraten von Luckenhaftigkeiten? Das ist ungerecht, - wurde ich sagen, wenn ich nicht einsahe, da? es hier nicht um Gerechtigkeit geht ..."

"Ah, nein. Gerechtigkeit ist eine phlegmatische Leidenschaft. Im Gegensatz zur Eifersucht, mit der phlegmatische Leute sich unbedingt lacherlich machen wurden."

"Siehst du? Lacherlich. Gonne mir also mein Phlegma! Ich wiederhole: Wie kame ich ohne das wohl aus? Wie hatte ich ohne das zum Beispiel

das Warten aushalten sollen?"

"Bitte?"

"Das Warten auf dich."

"Voyons, mon ami. Ich will mich weiter nicht aufhalten uber die Form, in der Sie mit narrischer Hartnackigkeit zu mir reden. Sie werden dessen schon mude werden, und schlie?lich bin ich nicht zimperlich, keine entrustete Burgersfrau ..."

"Nein, denn du bist krank. Die Krankheit gibt dir Freiheit. Sie macht dich - halt, jetzt fallt mir ein Wort ein, das ich noch nie gebraucht habe! Sie macht dich genial!"

"Wir wollen uber Genie ein andermal reden. Nicht das wollte ich sagen. Ich verlange eines. Sie werden nicht fingieren, da? ich mit Ihrem Warten - wenn Sie gewartet haben - irgend etwas zu schaffen hatte, da? ich Sie dazu ermutigt, es Ihnen auch nur erlaubt hatte. Sie werden mir sofort ausdrucklich bestatigen, da? das Gegenteil der Fall ist ..."

"Gern, Clawdia, gewi?. Du hast mich zum Warten nicht aufgefordert, ich habe aus freien Stucken gewartet. Ich verstehe vollkommen, da? du Gewicht darauf legst ..."

"Sogar Ihre Zugestandnisse haben etwas Impertinentes. Uberhaupt sind Sie ein impertinenter Mensch, Gott wei?, wieso. Nicht nur im Verkehr mit mir, sondern auch sonst. Selbst Ihre Bewunderung, Ihre Unterordnung hat etwas Impertinentes. Glauben Sie nicht, da? ich das nicht sehe! Ich sollte uberhaupt nicht mit Ihnen sprechen deswegen und auch darum nicht, weil Sie von Warten zu reden wagen. Es ist unverantwortlich, da? Sie noch hier sind. Langst sollten Sie wieder bei Ihrer Arbeit sein, sur le chantier, oder wo es war ..."

"Jetzt sprichst du ungenial und ganz konventionell, Clawdia. Das ist ja nur eine Redensart. Wie Settembrini kannst du es nicht meinen und wie denn sonst. Es ist nur so hingesagt, ich kann es nicht ernst nehmen. Ich werde nicht wilde Abreise halten, wie mein armer Vetter, der, wie du vorhersagtest, gestorben ist, als er versuchte, im Flachlande Dienst zu tun, und der es wohl selber wu?te, da? er sterben werde, aber lieber sterbenwollte, als hier weiter Kurdienst machen. Gut, dafur war er Soldat. Aber ich bin keiner, ich bin Zivilist, fur mich ware es Fahnenflucht, zu tun, wie er, und partout, trotz Radamanths Verbot, im Flachlande so ganz direkt dem Nutzen und dem Fortschritt dienen zu wollen. Das ware die gro?te Undankbarkeit und Untreue gegen die

Krankheit und das Genie und gegen meine Liebe zu dir, wovon ich alte Narben und neue Wunden trage, und gegen deine Arme, die ich kenne, - wenn ich auch zugebe, da? es nur im Traume war, in einem genialen Traum, da? ich sie kennen lernte, so da? dir selbstverstandlich keinerlei Konsequenzen und Verpflichtungen und Einschrankungen deiner Freiheit daraus erwachsen ..."

Sie lachte, die Zigarette im Munde, da? ihre tatarischen Augen sich zusammenzogen, und lie?, gegen die Boiserie zuruckgelehnt, die Hande neben sich auf die Bank gestutzt und ein Bein uber das andre geschlagen, den Fu? im schwarzen Lackschuh wippen.

"Quelle generosite! Oh la, la, vraiment, genau so habe ich mir einen homme de genie schon immer vorgestellt, mein armer Kleiner!"

"La? das gut sein, Clawdia. Ich bin naturlich von Hause aus kein homme de genie, so wenig wie ich ein Mann von Format bin, du lieber Gott, nein. Aber dann bin ich durch Zufall - nenne es Zufall - so hoch heraufgetrieben worden in diese genialen Gegenden ... Mit einem Worte, du wei?t wohl nicht, da? es etwas wie die alchimistisch-hermetische Padagogik gibt, Transsubstantiation, und zwar zum Hoheren, Steigerung also, wenn du mich recht verstehen willst. Aber naturlich, ein Stoff, der dazu taugen soll, durch au?ere Einwirkungen zum Hoheren hinaufgetrieben und -gezwangt zu werden, der mu? es wohl im voraus ein bi?chen in sich haben. Und was ich in mir hatte, das war, ich wei? es genau, da? ich von langer Hand her mit der Krankheit und dem Tode auf vertrautem Fu?e stand und mir schon als Knabe unvernunftigerweise einen Bleistift von dir lieh, wie hier in der Faschingsnacht. Aber die unvernunftige Liebe ist genial, denn der Tod, wei?t du, ist das geniale Prinzip, die res bina, der lapis philosophorum, und er ist auch das padagogische Prinzip, denn die Liebe zu ihm fuhrt zur Liebe des Lebens und des Menschen. So ist es, in meiner Balkonloge ist es mir aufgegangen, und ich bin entzuckt, da? ich es dir sagen kann. Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewohnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er fuhrt uber den Tod, und das ist der geniale Weg!"

"Du bist ein narrischer Philosoph", sagte sie. "Ich will nicht behaupten, da? ich alles verstehe in deinen krausen deutschen Gedanken, aber es klingt mahnschlich, was du sagst, unddu bist zweifellos ein guter Junge. Ubrigens hast du dich tatsachlich en philosophe benommen, man mu? es dir lassen ..."

"Zu sehr en philosophe fur deinen Geschmack, Clawdia, nicht?"

"La? die Impertinenzen! Das wird langweilig. Da? du gewartet hast, war dumm und unerlaubt. Aber du bist mir nicht bose, weil du umsonst gewartet hast?"

"Nun, es war etwas hart, Clawdia, auch fur einen Menschen von phlegmatischen Leidenschaften, - hart fur mich und hart von dir, da? du mit ihm zusammen kamst, denn naturlich wu?test du durch Behrens, da? ich hier war und auf dich wartete. Aber ich sagte dir ja, da? ich sie nur als eine Traumnacht auffasse, die unsrige, und da? ich dir deine Freiheit zugestehe. Schlie?lich habe ich ja nicht umsonst gewartet, denn du bist wieder da, wir sitzen beieinander wie damals, ich hore die wunderbare Scharfe deiner Stimme, von langer Hand vertraut meinem Ohr, und unter dieser weiten Seide sind deine Arme, die ich kenne, - wenn freilich oben auch dein Reisebegleiter im Fieber liegt, der gro?e Peeperkorn, der dir diese Perlen geschenkt hat ..."

"Und mit dem Sie um Ihrer Bereicherung willen so gute Freundschaft halten."

"Nimms mir nicht ubel, Clawdia! Auch Settembrini hat mich deswegen gescholten, aber das ist doch nur ein gesellschaftliches Vorurteil. Der Mann ist ein Gewinn, - in Gottes Namen, er ist ja eine Personlichkeit! Da? er in Jahren ist, - nun ja. Ich wurde es trotzdem ganz begreifen, wenn du als Frau ihn ungeheuer liebtest. Du liebst ihn also sehr?"

"Dein Philosophentum in Ehren, deutsches Hanschen", sagte sie, indem sie ihm uber das Haar strich, "aber ich wurde es nicht fur mahnschlich halten, dir von meiner Liebe zu ihm zu sprechen!"

"Ach, Clawdia, warum nicht. Ich glaube, die Menschlichkeit fangt an, wo ungeniale Leute glauben, da? sie aufhort. La? uns doch ruhig von ihm reden! Du liebst ihn leidenschaftlich?"

Sie beugte sich vor, um die ausgerauchte Zigarette seitlich in den Kamin zu werfen und sa? dann mit verschrankten Armen.

"Er liebt mich", sagte sie, "und seine Liebe macht mich stolz und dankbar und ihm ergeben. Du wirst das verstehen, oder du bist der Freundschaft nicht wurdig, die er dir widmet ... Sein Gefuhl zwang mich, ihm zu folgen und ihm zu dienen. Wie denn wohl sonst? Urteile selbst! Ist es denn mahnschenmoglich, sich uber sein Gefuhl hinwegzusetzen?"

"Unmoglich!" bestatigte Hans Castorp. "Nein, das war selbstverstandlich ganz ausgeschlossen. Wie sollte eine Frau es wohl

fertigbringen, sich uber sein Gefuhl hinwegzusetzen, uber seine Angst um das Gefuhl, ihn sozusagen in Gethsemane im Stich zu lassen ..."

"Du bist nicht dumm", sagte sie, und ihre Schragaugen blickten starr versonnen. "Du hast Verstand. Angst um das Gefuhl..."

"Es ist nicht viel Verstand notig, um zu sehen, da? du ihm folgen mu?test, obgleich - oder vielmehr weil - seine Liebe viel Beangstigendes haben mu?."

"C'est exact ... Beangstigend. Man hat viel Sorge mit ihm, du wei?t, viele Schwierigkeiten ..." Sie hatte seine Hand genommen und spielte unbewu?t mit ihren Gelenken, blickte aber plotzlich mit zusammengezogenen Brauen auf und fragte:

"Halt! Ist es nicht gemein, da? wir uber ihn sprechen, wie wir da tun?"

"Gewi? nicht, Clawdia. Nein, weit entfernt. Es ist gewi? nicht mehr als menschlich! Du liebst das Wort, du dehnst es so schwarmerisch, ich habe es immer mit Interesse aus deinem Munde gehort. Mein Vetter Joachim mochte es nicht, aus soldatischen Grunden. Er meinte, es bedeute allgemeine Schlappheit und Schlottrigkeit, und so genommen, als uferloses guazzabuglio von Duldsamkeit, habe ich auch meine Bedenken dagegen, das gebe ich zu. Aber wenn es den Sinn von Freiheit und Genialitat und Gute hat, dann ist es eben doch eine gro?e Sache damit, und wir konnen es ruhig anfuhren zugunsten unseres Gesprachs uber Peeperkorn und die Sorgen und Schwierigkeiten, die er dir macht. Sie resultieren naturlich aus seiner Ehrenpuschel, aus seiner Angst vor dem Versagen des Gefuhls, die ihn die klassischen Hilfs- und Labungsmittel so lieben la?t, - wir konnen in aller Ehrfurcht davon sprechen, denn es hat alles Format bei ihm, gro?artiges Konigsformat, und wir erniedrigen weder ihn noch uns, wenn wir es menschlich zur Sprache bringen."

"Es handelt sich nicht um uns", sagte sie und hatte die Arme wieder verschrankt. "Man ware keine Frau, wenn man nicht um eines Mannes willen, eines Mannes von Format, wie du sagst, fur den man ein Gegenstand des Gefuhls und der Angst um das Gefuhl ist, auch Erniedrigungen in den Kauf nehmen wollte."

"Unbedingt, Clawdia. Sehr wohl gesprochen. Auch die Erniedrigung hat dann Format, und die Frau kann von der Hohe ihrer Erniedrigung herab zu denen, die kein Konigsformat haben, so geringschatzig sprechen, wie du vorhin zu mir in betreff der timbres poste, in dem Ton, worin du

sagtest: 'Prazis und zuverlassig solltet ihr doch wenigstens sein!'"

"Du bist empfindlich? La? das. Wir wollen die Empfindlichkeit zum Teufel schicken, - bist du einverstanden? Auch ich bin zuweilen empfindlich gewesen, ich will es zugeben, da wir heute abend so beieinander sitzen. Ich habe mich geargert an deinem Phlegma, und da? du dich auf so guten Fu? mit ihm stelltest um deines egoistischen Erlebnisses willen. Dennoch hat es mich gefreut, und ich war dir dankbar, da? du ihm Ehrfurcht erwiesest ... Es war viel Loyalitat in deinem Betragen, und wenn auch etwas Impertinenz mit unterlief, so mu?te ich sie dir am Ende zugute halten."

"Das war sehr gutigvon dir."

Sie sah ihn an. "Es scheint, du bist unverbesserlich. Ich werde dir sagen: Du bist ein verschlagener Junge. Ich wei? nicht, ob du Geist hast; aber unbedingt besitzest du Verschlagenheit. Gut ubrigens, es la?t sich damit leben. Es la?t sich Freundschaft damit halten. Wollen wir Freundschaft halten, ein Bundnis schlie?en fur ihn, wie man sonst gegen jemanden ein Bundnis schlie?t! Gibst du mir darauf die Hand? Mir ist oft bange ... Ich furchte mich manchmal vor dem Alleinsein mit ihm, dem innerlichen Alleinsein, tu sais ... Er ist beangstigend ... Ich furchte zuweilen, es mochte nicht gut ausgehen mit ihm ... Es graut mir zuweilen ... Ich wu?te gern einen guten Menschen an meiner Seite ... Enfin, wenn du es horen willst, ich bin vielleicht deshalb mit ihm hierhergekommen ..."

Sie sa?en Knie an Knie, er in dem vorwarts gewiegten Stuhl, sie auf der Bank. Sie hatte seine Hand gedruckt bei ihren letzten vor seinem Gesicht gesprochenen Worten. Er sagte:

"Zu mir? O, das ist schon. O, Clawdia, das ist ganz au?erordentlich. Du bist mit ihm zu mir gekommen? Und du willst sagen, mein Warten sei dumm und unerlaubt und ganz umsonst gewesen? Das ware im hochsten Grade linkisch, wenn ich das Anerbieten deiner Freundschaft nicht zu schatzen wu?te, der Freundschaft mit dir fur ihn ..."

Da ku?te sie ihn auf den Mund. Es war so ein russischer Ku?, von der Art derer, die in diesem weiten, seelenvollen Lande getauscht werden an hohen christlichen Festen, im Sinne der Liebesbesiegelung. Da aber ein notorisch "verschlagener" junger Mann und eine ebenfalls noch junge, reizend schleichende Frau ihn tauschten, so fuhlen wir uns, wahrend wir davon erzahlen, unwillkurlich von ferne an Doktor Krokowskis kunstreiche, wenn auch nicht einwandfreie Art erinnert, von der Liebe in

einem leise schwankenden Sinn zu sprechen, so da? niemand recht sicher gewesen war, ob es Frommes oder Leidenschaftlich-Fleischliches damit auf sich hatte. Machen wir es wie er, oder machten Hans Castorp und Clawdia Chauchat es so bei ihrem russischen Ku?? Aber was wurde man sagen, wenn wir uns schlechthin weigerten, dieser Frage auf den Grund zu gehen? Unserer Meinung nach ist es zwar analytisch, aber - um Hans Castorps Redewendung zu wiederholen - "im hochsten Grade linkisch" und geradezu lebensunfreundlich, in Dingen der Liebe zwischen Frommem und Leidenschaftlichem "reinlich" zu unterscheiden. Was hei?t da reinlich! Was schwankender Sinn und Zweideutigkeit! Wir machen uns unverhohlen lustig daruber. Ist es nicht gro? und gut, da? die Sprache nur ein Wort hat fur alles, vom Frommsten bis zum Fleischlich-Begierigsten, was man darunter verstehen kann? Das ist vollkommene Eindeutigkeit in der Zweideutigkeit, denn Liebe kann nicht unkorperlich sein in der au?erstenFrommigkeit und nicht unfromm in der au?ersten Fleischlichkeit, sie ist immer sie selbst, als verschlagene Lebensfreundlichkeit wie als hochste Passion, sie ist die Sympathie mit dem Organischen, das ruhrend wollustige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten, - Charitas ist gewi? noch in der bewunderungsvollsten oder wutendsten Leidenschaft. Schwankender Sinn? Aber man lasse in Gottes Namen den Sinn der Liebe doch schwanken! Da? er schwankt, ist Leben und Menschlichkeit, und es wurde einen durchaus trostlosen Mangel an Verschlagenheit bedeuten, sich um sein Schwanken Sorge zu machen.

Wahrend also die Lippen Hans Castorps und Frau Chauchats sich im russischen Kusse finden, verdunkeln wir unser kleines Theater zum Szenenwechsel. Denn nun handelt es sich um die zweite der beiden Unterredungen, deren Mitteilung wir zusicherten, und nach Wiederherstellung der Beleuchtung, der truben Beleuchtung eines zur Neige gehenden Fruhlingstages, zur Zeit der Schneeschmelze, erblicken wir unseren Helden in schon gewohnter Lebenslage am Bette des gro?en Peeperkorn, in ehrerbietig-freundschaftlichem Gesprach mit ihm. Nach dem 4-Uhr-Tee im Speisesaal, zu dem Frau Chauchat, wie schon zu den drei vorhergehenden Mahlzeiten, allein erschienen war, um unmittelbar danach einen shopping-Gang nach "Platz" hinunter anzutreten, hatte Hans Castorp sich zu einer seiner ublichen Krankenvisiten bei dem Hollander melden lassen, teils, um ihm Aufmerksamkeit zu bezeigen und ihn ein wenig zu unterhalten, teils, um sich seinerseits an seiner Personlichkeitswirkung zu erbauen, - kurzum, aus lebensvoll schwankenden Motiven. Peeperkorn legte den "Telegraaf" beiseite, warf

den Hornzwicker darauf, nachdem er ihn sich am Bugel von der Nase gehoben, und reichte dem Besucher die Kapitanshand, wahrend seine breiten, zerrissenen Lippen sich mit wundem Ausdruck undeutlich regten. Rotwein und Kaffee waren ihm wie gewohnlich zur Hand: das Kaffeegeschirr stand auf dem Stuhle am Bett, braun benetzt vom Gebrauch, - Mynheer hatte seinen Nachmittagstrank genommen, stark und hei?, mit Zucker und Rahm, wie gewohnlich, und er schwitzte davon. Sein wei? umflammtes Konigsgesicht war gerotet, und kleine Tropfen standen ihm auf Stirn und Oberlippe.

"Ich schwitze etwas", sagte er. "Willkommen, junger Mann. Im Gegenteil. Nehmen Sie Platz! Das ist ein Zeichen von Schwache, wenn einem nach Einnahme eines warmen Getrankes sogleich - Wollen Sie mir - Ganz recht. Das Taschentuch. Ich danke sehr." Ubrigens verlor sich die Rote bald und machte der gelblichen Blasse Platz, die nach einem malignen Anfall des gro?artigen Mannes Gesicht zu bedecken pflegte. Das Quartanfieber war stark gewesen diesen Vormittag, in allen drei Stadien, dem kalten, dem gluhenden und dem feuchten, und Peeperkorns kleine, blasse Augen blickten matt unter der idolhaften Stirnlineatur. Er sagte:

"Es ist - durchaus, junger Mann. Ich mochte durchaus das Wort 'anerkennenswert' - Absolut. Es ist sehr freundlich von Ihnen, einen kranken alten Mann -"

"Zu besuchen?" fragte Hans Castorp ... "Nicht doch, Mynheer Peeperkorn. Ich bin es,der sehr dankbar zu sein hat, da? ich ein bi?chen hier sitzen darf, ich habe ja unvergleichlich viel mehr davon, als Sie, ich komme aus rein egoistischen Grunden. Und was ist denn das fur eine irrefuhrende Bezeichnung fur Ihre Person, - 'ein kranker alter Mann'. Kein Mensch wurde darauf kommen, da? Sie das sein sollen. Es gibt ja ein vollig falsches Bild."

"Gut, gut", erwiderte Mynheer und schlo? fur einige Sekunden die Augen, das majestatische Haupt mit erhobenem Kinn ins Kissen zuruckgelehnt, die langgenagelten Finger auf der breiten Konigsbrust gefaltet, die sich unter dem Trikothemd abzeichnete. "Es ist gut, junger Mann, oder vielmehr, Sie meinen es gut, ich bin uberzeugt davon. Es war angenehm gestern nachmittag - jawohl, noch gestern nachmittag - an jenem gastlichen Ort - ich habe seinen Namen vergessen -, wo wir die vortreffliche Salamiwurst mit Ruhreiern und diesen gesunden Landwein -"

"Gro?artig war es!" bestatigte Hans Castorp. "Wir haben es uns alle ganz unerlaubt schmecken lassen, - der Kuchenchef hier vom Berghof ware mit Recht beleidigt gewesen, wenn er's gesehen hatte, - kurzum, wir waren ohne Ausnahme intensiv bei der Sache! Das war Salami von echtem Schrot und Korn, Herr Settembrini war ganz geruhrt davon, er a? sie sozusagen mit feuchten Augen. Er ist ja ein Patriot, wie Sie wissen werden, ein demokratischer Patriot. Er hat seine Burgerpike am Altar der Menschheit geweiht, damit die Salami in Zukunft an der Brennergrenze verzollt werde."

"Das ist unwesentlich", erklarte Peeperkorn. "Er ist ein ritterlicher und heiter gesprachiger Mann, ein Kavalier, obgleich es ihm offenbar nicht vergonnt ist, haufig seine Kleidung zu wechseln."

"Uberhaupt nicht!" sagte Hans Castorp. "Uberhaupt nicht vergonnt! Ich kenne ihn nun schon lange Zeit und bin sehr befreundet mit ihm, das hei?t, er hat sich meiner aufs dankenswerteste angenommen, weil er namlich fand, ich ware ein 'Sorgenkind des Lebens' - das ist so eine Redewendung zwischen uns, der Ausdruck ist nicht ohne weiteres verstandlich - und sich die Muhe gibt, berichtigend auf mich einzuwirken. Aber nie habe ich ihn anders gesehen, weder im Sommer noch im Winter, als in den gewurfelten Hosen und dem faserigen Doppelreiher, er tragt die alten Sachen ubrigens mit hervorragendem Anstand, durchaus kavalierma?ig, da stimme ich Ihnen entschieden zu. Es ist ein Triumph uber die Armlichkeit, wie er sie tragt, und mir ist diese Armlichkeit sogar lieber als die Eleganz des kleinen Naphta, bei der einem nie recht geheuer ist, sie ist sozusagen des Teufels, und die Mittel dazu bezieht er hintenherum, - ich habe einigen Einblick in die Verhaltnisse."

"Ein ritterlicher und heiterer Mann," wiederholte Peeperkorn, ohne auf die Bemerkung uber Naphta einzugehen, "wenn auch - erlauben Sie mir diese Einschrankung -wenn auch nicht ohne Vorurteile. Madame, meine Reisebegleiterin, schatzt ihn nicht sonderlich, wie Sie vielleicht bemerkt haben werden; sie au?ert sich ohne Sympathie uber ihn, zweifellos weil sie derartige Vorurteile aus seinem Verhalten gegen sie - Kein Wort, junger Mann. Ich bin weit entfernt, Herrn Settembrini und Ihren freundschaftlichen Empfindungen fur ihn - Erledigt! Ich denke nicht daran, zu behaupten, da? er es je im Punkte jener Artigkeit, die ein Kavalier einer Dame - Perfekt, lieber Freund, durchaus einwandfrei! Allein es ist da doch eine Grenze, eine Zuruckhaltung, eine gewisse Re-ku-sa-tion, die Madames Stimmung gegen ihn menschlich in hohem Grade -"

"Begreiflich macht. Verstandlich macht. In hohem Grade rechtfertigt. Verzeihen Sie, Mynheer Peeperkorn, da? ich eigenmachtig Ihren Satz beende. Ich kann es riskieren in dem Bewu?tsein volligen Einverstandnisses mit Ihnen. Besonders wenn man in Anschlag bringt, wie sehr die Frauen - Sie mogen lacheln, da? ich in meinem zarten Alter so allgemein von den Frauen spreche - wie sehr sie in ihrem Verhalten zum Manne abhangig sind von dem Verhalten des Mannes zu ihnen, - so gibt es da nichts zu verwundern. Die Frauen, so mochte ich mich ausdrucken, sind reaktive Geschopfe, ohne selbstandige Initiative, lassig im Sinne von passiv ... Lassen Sie mich das, bitte, wenn auch muhsam, etwas weiter auszufuhren versuchen. Die Frau, soweit ich feststellen konnte, betrachtet sich in Liebesangelegenheiten primar durchaus als Objekt, sie la?t es an sich herankommen, sie wahlt nicht frei, sie wird zum wahlenden Subjekt der Liebe erst auf Grund der Wahl des Mannes, und auch dann noch, erlauben Sie mir, das hinzuzufugen, ist ihre Wahlfreiheit - vorausgesetzt nur eben, da? es sich nicht um eine gar zu betrubte Seele von Mann handelt, aber selbst das kann nicht als strenge Bedingung gelten - ist also ihre Wahlfreiheit sehr beeintrachtigt und bestochen durch die Tatsache, da? sie gewahlt wurde. Lieber Gott, es werden Abgeschmacktheiten sein, was ich da au?ere, aber wenn man jung ist, so ist einem naturlich alles neu, neu und erstaunlich. Sie fragen eine Frau: 'Liebst du ihn denn?' 'Er liebt mich so sehr!' antwortet sie Ihnen mit Augenaufschlag oder auch -niederschlag. Nun stellen Sie sich eine solche Antwort im Munde von unsereinem vor - verzeihen Sie die Zusammenziehung! Vielleicht gibt es Manner, die so antworten mu?ten, aber sie sind doch ausgesprochen ridikul, Pantoffelhelden der Liebe, um mich epigrammatisch auszudrucken. Ich mochte wissen, von welcher Selbsteinschatzung diese weibliche Antwort eigentlich zeugt. Findet die Frau, da? sie dem Manne grenzenlose Ergebenheit schuldet, der ein so niederes Wesen wie sie mit seiner Liebeswahl begnadet, oder erblickt sie in der Liebe des Mannes zu ihrer Person ein untrugliches Zeichen seiner Vorzuglichkeit. Das habe ich mich instillen Stunden schon beilaufig hier und da einmal gefragt."

"Urdinge, klassische Tatsachen, Sie ruhren, junger Mann, mit Ihrem gewandten kleinen Wort an heilige Gegebenheiten", erwiderte Peeperkorn. "Den Mann berauscht seine Begierde, das Weib verlangt und gewartigt, von seiner Begierde berauscht zu werden. Daher unsere Verpflichtung zum Gefuhl. Daher die entsetzliche Schande der Gefuhllosigkeit, der Ohnmacht, das Weib zur Begierde zu wecken.

Trinken Sie ein Glas Rotwein mit mir? Ich trinke. Mich durstet. Die Feuchtigkeitsabgabe dieses Tages war erheblich."

"Ich danke recht sehr, Mynheer Peeperkorn. Es ist zwar nicht meine Stunde, aber einen Schluck auf Ihr Wohl zu trinken bin ich immer bereit."

"So nehmen Sie das Weinglas. Es ist nur eins zur Stelle. Ich greife aushilfsweise zum Wasserbecher. Ich denke, man tritt diesem kleinen Sauser nicht zu nahe, indem man ihn aus schlichtem Gefa?e -" Er schenkte ein, unter Beihilfe seines Gastes, mit leicht zitternder Kapitanshand, und go? durstig den Rotwein aus dem fu?losen Glase durch seine Bustengurgel, genau, als ob es klares Wasser ware.

"Das labt", sagte er. "Sie trinken nicht mehr? Dann erlauben Sie, da? ich mir noch einmal -" Er verschuttete etwas Wein beim abermaligen Einschenken. Das Einschlaglaken seiner Decke war dunkelrot befleckt. "Ich wiederhole", sagte er mit erhobener Fingerlanze, wahrend in seiner anderen Hand das Weinglas zitterte, "ich wiederhole: daher unsere Verpflichtung, unsere religiose Verpflichtung zum Gefuhl. Unser Gefuhl, verstehen Sie, ist die Manneskraft, die das Leben weckt. Das Leben schlummert. Es will geweckt sein zur trunkenen Hochzeit mit dem gottlichen Gefuhl. Denn das Gefuhl, junger Mann, ist gottlich. Der Mensch ist gottlich, sofern er fuhlt. Er ist das Gefuhl Gottes. Gott schuf ihn, um durch ihn zu fuhlen. Der Mensch ist nichts als das Organ, durch das Gott seine Hochzeit mit dem erweckten und berauschten Leben vollzieht. Versagt er im Gefuhl, so bricht Gottesschande herein, es ist die Niederlage von Gottes Manneskraft, eine kosmische Katastrophe, ein unausdenkbares Entsetzen -" Er trank.

"Erlauben Sie, da? ich Ihnen das Glas abnehme, Mynheer Peeperkorn", sagte Hans Castorp. "Ich folge Ihrem Gedankengang zu meiner gro?ten Belehrung. Sie entwickeln da eine theologische Theorie, mit der Sie dem Menschen eine hochst ehrenvolle, wenn auch vielleicht etwas einseitige religiose Funktion zuschreiben. Es liegt, wenn ich mir das zu bemerken erlauben darf, eine gewisse Rigorositat in Ihrer Anschauungsweise, die ihr Beklemmendes hat, - verzeihen Sie! Alle religiose Strenge ist naturlich beklemmend fur Leute bescheideneren Formates. Ich denke nicht daran, Sie korrigieren zu wollen, sondern ich mochte nur einlenkend auf Ihre Au?erung uber gewisse 'Vorurteile' zuruckkommen, die nach Ihrer Beobachtung Herr Settembrini Madame, Ihrer Reisebegleiterin, entgegenbringt. Ich kenne Herrn Settembrini lange, sehr lange, seit Jahr und Tag, seit Jahren und Tagen. Und ich kann Sie

versichern, da?seine Vorurteile, soweit sie uberhaupt bestehen, auf keinen Fall kleinlichen und spie?burgerlichen Charakters sind, - lacherlich, so etwas zu denken. Es kann sich da einzig und allein um Vorurteile von gro?erem Stil und also unpersonlicher Art handeln, um allgemein padagogische Prinzipien, bei deren Geltendmachung Herr Settembrini offen gestanden mich in meiner Eigenschaft als 'Sorgenkind des Lebens' - Aber das fuhrt zu weit. Es ist eine uberaus weitlaufige Angelegenheit, die ich unmoglich in zwei Worten -"

"Und Sie lieben Madame?" fragte Mynheer plotzlich und wandte dem Besucher sein Konigsantlitz mit dem weh zerrissenen Munde und den kleinen blassen Augen unter dem Stirnarabeskenwerk zu ... Hans Castorp erschrak. Er stammelte:

"Ob ich ... Das hei?t ... Ich verehre Frau Chauchat selbstverstandlich schon in ihrer Eigenschaft als -"

"Ich bitte!" sprach Peeperkorn, indem er mit zuruckdammender Kulturgebarde die Hand ausstreckte. "Lassen Sie mich," fuhr er fort, nachdem er auf diese Weise Platz geschaffen fur das, was er zu sagen hatte, "lassen Sie mich wiederholen, da? ich weit von dem Vorwurf entfernt bin, dieser italienische Herr habe sich je eines wirklichen Versto?es gegen die Gebote der Ritterlichkeit - Ich erhebe gegen niemanden diesen Vorwurf, gegen niemanden. Allein mir fallt auf - Im gegenwartigen Augenblick etwa erfreue ich mich - Gut, junger Mann. Durchaus gut und schon. Ich erfreue mich, daran ist kein Zweifel; es gereicht mir zur wirklichen Annehmlichkeit. Gleichwohl sage ich mir - Ich sage mir kurz und gut: Ihre Bekanntschaft mit Madame ist alter, als die unsrige. Sie haben schon ihren vorigen Aufenthalt an diesem Orte mit ihr geteilt. Au?erdem ist sie eine Frau von reizvollsten Eigenschaften, und ich bin nur ein kranker alter Mann. Wie kommt es - Sie ist, da ich unpa?lich bin, heute nachmittag, um Einkaufe zu machen, allein und ohne Begleitung hinab in den Kurort - Kein Ungluck! Bei weitem nicht! Nur ware es zweifellos - Soll ich es dem Einflu? der - wie sagten Sie - der padagogischen Prinzipien Signor Settembrinis zuschreiben, da? Sie dem ritterlichen Antriebe - Ich bitte, mich aufs Wort zu verstehen ..."

"Aufs Wort, Mynheer Peeperkorn. O nein. Aber ganz und gar nicht. Ich handle absolut selbstandig. Im Gegenteil hat mich Herr Settembrini sogar gelegentlich - - Ich sehe da zu meinem Bedauern Weinflecke auf Ihrem Laken, Mynheer Peeperkorn. Sollte man nicht - Wir pflegten Salz darauf zu schutten, solange sie frisch waren -"

"Das ist unwesentlich", sprach Peeperkorn, indem er seinen Gast im Auge behielt.

Hans Castorp verfarbte sich.

"Die Dinge", sagte er mit falschem Lacheln, "liegen hier doch etwas anders als gewohnlich. Der Ortsgeist, mochte ich es ausdrucken, ist nicht der konventionelle. Das Vorrecht hat der Kranke, ob Mann oder Frau. Die Vorschriften der Ritterlichkeittreten dagegen zuruck. Sie sind vorubergehend unpa?lich, Mynheer Peeperkorn, - eine akute Unpa?lichkeit, eine Unpa?lichkeit von Aktualitat. Ihre Reisebegleiterin ist vergleichsweise gesund. Da glaube ich ganz im Sinne von Madame zu handeln, wenn ich sie in ihrer Abwesenheit ein bi?chen bei Ihnen vertrete - soweit hier von Vertretung die Rede sein kann, ha, ha: - statt umgekehrt Sie bei ihr zu vertreten und ihr meine Begleitung in den Ort hinunter anzubieten. Wie kame ich auch wohl dazu, Ihrer Reisebegleiterin meine Ritterdienste aufzudrangen? Dazu habe ich gar keinen Rechtstitel und kein Mandat. Ich darf sagen, da? ich viel Sinn fur positive Rechtsverhaltnisse habe. Kurzum, meine Situation, finde ich, ist korrekt, sie entspricht der allgemeinen Sachlage, sie entspricht namentlich meinen aufrichtigen Empfindungen fur Ihre Person, Mynheer Peeperkorn, und somit glaube ich auf Ihre Frage - denn Sie richteten wohl eine Frage an mich - eine befriedigende Antwort erteilt zu haben."

"Eine sehr angenehme", erwiderte Peeperkorn. "Ich lausche mit unwillkurlichem Vergnugen auf Ihr behendes kleines Wort, junger Mann. Es springt uber Stock und Stein und rundet die Dinge zur Annehmlichkeit. Allein befriedigend, - nein. Ihre Antwort befriedigt mich nicht ganz, - verzeihen Sie, wenn ich Ihnen damit eine Enttauschung bereite. 'Rigoros', lieber Freund, Sie brauchten dies Wort vorhin in Hinsicht auf gewisse von mir geau?erte Anschauungen. Aber auch in Ihren Au?erungen liegt eine gewisse Rigorositat, eine Strenge und Gezwungenheit, die mir mit Ihrer Natur nicht ubereinzustimmen scheint, obgleich sie mir aus Ihrem Verhalten in gewisser Beziehung bekannt ist. Ich erkenne sie wieder. Es ist die namliche Gezwungenheit, die Sie bei unseren gemeinsamen Unternehmungen, unseren Spaziergangen gegen Madame - gegen sonst niemanden - an den Tag legen, und fur die Sie mir eine Erklarung - das ist eine Schuld, eine Schuldigkeit, junger Mann. Ich irre mich nicht. Die Beobachtung hat sich mir zu oft bestatigt, und es ist unwahrscheinlich, da? sie sich nicht auch anderen aufgedrangt haben sollte, mit dem Unterschiede, da? diese anderen sich moglicherweise, ja

wahrscheinlich im Besitz der Erklarung des Phanomens befinden."

Mynheer sprach in ungewohnlich prazisem und geschlossenem Stil heute nachmittag, trotz seiner Erschopfung durch den malignen Anfall. Es fehlte fast jede Abgerissenheit. Im Bette halb sitzend, die machtigen Schultern, das gro?artige Haupt gegen den Besucher gewandt, hielt er den einen Arm uber der Bettdecke ausgestreckt, und seine sommersprossige Kapitanshand, aufrecht stehend am Ende des Wollarmels, bildete den von den Fingerlanzen uberragten Exaktheitsring, wahrend sein Mund die Worte so scharf und genau, ja plastisch bildete, wie Herr Settembrini es nur hatte wunschen konnen, mit gerolltem Kehl-r in Wortern wie "wahrscheinlich" und "aufgedrangt".

"Sie lacheln," fuhr er fort, "Sie drehen blinzelnd den Kopf hin und her, Sie scheinen sich eines ergebnislosen Nachdenkens zu beflei?igen. Gleichwohlist gar kein Zweifel, da? Sie wissen, was ich meine, und um was es sich handelt. Ich behaupte nicht, da? Sie nicht zuweilen das Wort an Madame richteten oder ihr die Antwort schuldig blieben, wenn die Unterhaltung das Umgekehrte mit sich bringt. Aber ich wiederhole, es geschieht mit einer bestimmten Gezwungenheit, genauer: einem Ausweichen, einem Vermeiden, und zwar, wenn man naher zusieht, dem Vermeiden einer Form. Man hat, soweit Sie in Frage kommen, den Eindruck, als handelte es sich um eine Wette, als hatten Sie ein Vielliebchen mit Madame gegessen und durften sich laut Abmachung nicht der Anredeform gegen sie bedienen. Sie vermeiden es folgerecht und ohne Ausnahme, sie anzureden. Sie sagen nicht 'Sie' zu ihr."

"Aber Mynheer Peeperkorn ... Was denn fur ein Vielliebchen ..."

"Ich darf Sie auf den Umstand hinweisen, dessen Sie selbst nicht unkund sein werden, da? Sie soeben bla? geworden sind bis in die Lippen hinein."

Hans Castorp blickte nicht auf. Gebeugt und angelegentlich beschaftigte er sich mit den roten Flecken auf dem Laken. "Dahin mu?te es kommen!" dachte er. "Darauf wollte es hinaus. Ich habe, glaube ich, selber das meine getan, damit es darauf hinausliefe. Ich habe es in gewissem Grade darauf angelegt, wie mir in diesem Augenblick bewu?t wird. Bin ich wahrhaftig so bla? geworden? Es kann wohl sein, denn nun geht es auf Biegen und Brechen. Man wei? nicht, was geschieht. Kann ich noch lugen? Es ginge wohl, doch will ichs gar nicht. Ich bleibe vorderhand bei diesen Blutflecken, Rotweinflecken hier im Laken."

Auch uber ihm schwieg man. Die Stille dauerte wohl zwei oder drei

Minuten lang, - sie gab zu bemerken, welche Ausdehnung diese winzigen Einheiten unter solchen Umstanden gewinnen konnen.

Pieter Peeperkorn war es, der das Gesprach wieder eroffnete.

"Es war an jenem Abend, der mir den Vorzug Ihrer Bekanntschaft gebracht hatte", begann er in singendem Ton und lie? am Schlusse die Stimme sinken, als sei das der erste Satz einer langeren Erzahlung. "Wir hatten ein kleines Fest gefeiert, Speise und Trank genossen, und in gehobener Stimmung, in menschlich geloster und kuhner Verfassung suchten wir zu vorgeruckter Stunde Arm in Arm unser Nachtlager auf. Da geschah es, hier vor meiner Tur, beim Abschiede, da? mir die Eingebung kam, die Aufforderung an Sie zu richten, Sie mochten mit den Lippen die Stirn der Frau beruhren, die Sie mir als einen guten Freund von fruherem Aufenthalte her vorgestellt hatte, und es ihr anheimzugeben, diese feierlich-heitere Handlung zum Zeichen der erhohten Stunde vor meinen Augen zu erwidern. Sie verwarfen rundweg meine Anregung, verwarfen sie mit der Begrundung, Sie empfanden es als unsinnig, mit meiner Reisebegleiterin Stirnkusse zu tauschen. Sie werden nicht bestreiten,da? das eine Erlauterung war, die selbst der Erklarung bedurft hatte, einer Erklarung, die Sie mir bis zur Stunde schuldig geblieben sind. Sind Sie gewillt, diese Schuld jetzt abzutragen?"

"So, das hat er also auch gemerkt", dachte Hans Castorp und wandte sich noch naher den Weinflecken zu, indem er mit der gekrummten Spitze des Mittelfingers an einem davon kratzte. "Im Grunde wollte ich wohl damals, da? er es merkte und es sich merkte, sonst hatte ichs nicht gesagt. Aber was nun? Mir schlagt das Herz nicht wenig. Wird es einen Konigskoller vom ersten Range geben? Vielleicht tate ich gut, mich nach seiner Faust umzusehen, die moglicherweise schon uber mir schwebt? Eine hoch-eigentumliche und au?erst brenzlige Lage, in der ich mich da befinde!"

Plotzlich fuhlte er sein Handgelenk, das rechte, von der Hand Peeperkorns umfa?t.

"Jetzt fa?t er mich am Handgelenk!" dachte er. "Na, lacherlich, was sitze ich da wie ein begossener Pudel! Habe ich mich schuldhaft vergangen gegen ihn? Keine Spur. Zuerst hat der Mann in Daghestan sich zu beklagen. Und dann dieser und jener. Und dann ich. Und er hat sich meines Wissens uberhaupt noch nicht zu beklagen. Was schlagt mir also das Herz? Es ist hohe Zeit, da? ich mich aufrichte und ihm frank, wenn auch ehrerbietig in das gro?machtige Antlitz blicke!"

So tat er. Das gro?machtige Antlitz war gelb, die Augen blickten bla? unter angezogener Stirnlineatur, der Ausdruck der zerrissenen Lippen war bitter. Sie lasen einer in des anderen Augen, der gro?e alte und der unbedeutende junge Mann, indem der eine fortfuhr, den anderen am Handgelenk zu halten. Endlich sprach Peeperkorn leise:

"Sie waren Clawdias Geliebter bei ihrem vorigen Aufenthalt."

Hans Castorp lie? noch einmal den Kopf sinken, richtete ihn aber gleich wieder auf und sagte nach einem tiefen Atemzug:

"Mynheer Peeperkorn! Es widersteht mir im hochsten Grade, Sie zu belugen, und ich suche nach einer Moglichkeit, das zu vermeiden. Es ist nicht leicht. Ich prahle, wenn ich Ihre Feststellung bestatige, und ich luge, wenn ich sie leugne. Das ist so zu verstehen. Ich habe lange Zeit, sehr lange Zeit mit Clawdia - verzeihen Sie - mit Ihrer gegenwartigen Reisebegleiterin zusammen in diesem Hause gelebt, ohne sie gesellschaftlich zu kennen. Das Gesellschaftliche schied aus in unseren Beziehungen oder in meinen Beziehungen zu ihr, von denen ich sagen will, da? ihr Ursprung im Dunklen liegt. Ich habe Clawdia in meinen Gedanken nie anders als Du genannt und auch in Wirklichkeit nie anders. Denn der Abend, an dem ich gewisse padagogische Fesseln, von denen schon kurz die Rede war, abstreifte und mich ihr naherte - unter einem Vorwand, der mir von fruher her nahe lag -, war ein maskierter Abend,ein Faschingsabend, ein unverantwortlicher Abend, ein Abend des Du, in dessen Verlauf das Du auf traumhafte und unverantwortliche Weise vollen Sinn gewann. Er war aber zugleich der Vorabend von Clawdias Abreise."

"Vollen Sinn", wiederholte Peeperkorn. "Sie haben das sehr artig -" Er lie? Hans Castorp los und begann, sich mit den Flachen seiner langnageligen Kapitanshande beide Gesichtshalften zu massieren, Augenhohlen, Wangen und Kinn. Dann faltete er die Hande auf dem weinbesudelten Laken und legte den Kopf auf die Seite, die linke Seite, gegen den Gast hin, so da? es einem Abwenden des Gesichtes gleichkam.

"Ich habe Ihnen so richtig wie moglich geantwortet, Mynheer Peeperkorn," sagte Hans Castorp, "und mich gewissenhaft bemuht, weder zuviel noch zuwenig zu sagen. Es kam mir vor allem darauf an, Sie bemerken zu lassen, da? es gewisserma?en freisteht, jenen Abend des vollen Du und des Abschieds mitzahlen zu lassen oder nicht, - da? er ein aus aller Ordnung und beinahe aus dem Kalender fallender Abend

war, ein hors d'?uvre, sozusagen, ein Extraabend, ein Schaltabend, der neunundzwanzigste Februar, - und da? es also nur eine halbe Luge gewesen ware, wenn ich Ihre Feststellung geleugnet hatte."

Peeperkorn antwortete nicht.

"Ich habe es vorgezogen," fing Hans Castorp nach einer Pause wieder an, "Ihnen die Wahrheit zu sagen auf die Gefahr hin, dadurch Ihres Wohlwollens verlustig zu gehen, was, ganz offen gestanden, ein empfindlicher Verlust fur mich ware, ich kann wohl sagen: ein Schlag, ein wirklicher Schlag, den man wohl in Vergleich stellen konnte mit dem Schlag, den es fur mich bedeutete, als Frau Chauchat nicht allein, sondern als Ihre Reisebegleiterin hier wieder eintraf. Ich habe es auf diese Gefahr ankommen lassen, weil es langst mein Wunsch gewesen ist, da? Klarheit zwischen uns - zwischen Ihnen, dem ich so au?erordentlich verehrungsvolle Empfindungen entgegenbringe, und mir herrschen moge, - das schien mir schoner und menschlicher - Sie wissen, wie Clawdia das Wort ausspricht mit ihrer zauberhaft belegten Stimme, so reizend gedehnt -, als Verschwiegenheit und Verstellung, und insofern ist mir ein Stein vom Herzen gefallen, als Sie vorhin Ihre Feststellung machten."

Keine Antwort.

"Noch eins, Mynheer Peeperkorn", fuhr Hans Castorp fort. "Noch eins lie? mich wunschen, Ihnen reinen Wein einschenken zu durfen, namlich die personliche Erfahrung, wie irritierend die Unsicherheit, das Angewiesensein auf halbe Vermutungen in dieser Richtung wirken kann. Sie wissen nun, wer es war, mit dem Clawdia, bevor das gegenwartige positive Rechtsverhaltnis sich herstellte, das nicht zu respektieren naturlich ausgemachter Wahnsinn ware, einen - einen neunundzwanzigsten Februar erlebt, verbracht, begangen - also begangen hat. Ich habe fur mein Teil diese Klarheit nie gewinnen konnen, obgleich ich mir klar daruber war, da? jeder, der in die Lage kommt, daruber nachzudenken, mit solchen Vorgangen, ich meineeigentlich Vorgangern, rechnen mu?, und obgleich ich ferner wu?te, da? Hofrat Behrens, der, wie Sie vielleicht wissen, in Ol dilettiert, im Laufe vieler Sitzungen ein hervorragendes Portrat von ihr angefertigt hatte, von einer Anschaulichkeit in der Wiedergabe der Haut, die unter uns gesagt zu starkem Stutzen Anla? gibt. Das hat mir viel Qual und Kopfzerbrechen verursacht und tut es noch heute."

"Sie lieben sie noch?" fragte Peeperkorn, ohne seine Stellung zu

verandern, das hei?t: mit abgewandtem Gesicht ... Das gro?e Zimmer sank mehr und mehr in Dammerung.

"Entschuldigen Sie, Mynheer Peeperkorn," antwortete Hans Castorp, "aber meine Empfindungen fur Sie, Empfindungen gro?ter Hochachtung und Bewunderung, wurden es mir nicht als schicklich erscheinen lassen, Ihnen von meinen Empfindungen fur Ihre Reisebegleiterin zu sprechen."

"Und teilt sie", fragte Peeperkorn mit stiller Stimme, "diese Empfindungen auch heute noch?"

"Ich sage nicht," versetzte Hans Castorp, "ich sage nicht, da? sie sie jemals geteilt hat. Das ist wenig glaubwurdig. Wir haben diesen Gegenstand vorhin theoretisch beruhrt, als wir von der reaktiven Natur der Frauen sprachen. An mir ist naturlich nicht viel zu lieben. Was habe denn ich fur ein Format, - urteilen Sie selbst! Wenn es da zu einem - einem neunundzwanzigsten Februar kommen konnte, so ist das einzig und allein der weiblichen Bestechlichkeit durch die primare Wahl des Mannes zuzuschreiben, - wozu ich bemerken mochte, da? ich mir renommistisch und geschmacklos vorkomme, indem ich mich einen 'Mann' nenne, aber Clawdia ist jedenfalls eine Frau."

"Sie folgte dem Gefuhl", murmelte Peeperkorn mit zerrissenen Lippen.

"Wie sie es in Ihrem Falle weit gehorsamer tat", sagte Hans Castorp, "und wie sie es aller Wahrscheinlichkeit nach schon manches liebe Mal getan hat, - daruber mu? jeder sich klar sein, der in die Lage kommt -"

"Halt!" sprach Peeperkorn, immer noch abgewandt, aber mit einer Gebarde der flachen Hand gegen seinen Unterredner. "Sollte es nicht gemein sein, da? wir so uber sie sprechen?"

"Doch nicht, Mynheer Peeperkorn. Nein, da glaube ich Sie vollig beruhigen zu konnen. Es ist ja von menschlichen Dingen die Rede, - das Wort "menschlich" im Sinne der Freiheit und der Genialitat genommen, - verzeihen Sie den moglicherweise etwas geschraubten Ausdruck, aber der Bedarfsfall brachte mich kurzlich dazu, ihn mir anzueignen."

"Gut, fahren Sie fort!" befahl Peeperkorn leise.

Auch Hans Castorp sprach leise, auf der Kante seines Stuhles am Bette sitzend, gegen den koniglichen alten Mann geneigt, die Hande zwischen den Knien.

"Denn sie ist ja eine geniale Existenz," sagte er, "und der Mann hinter dem Kaukasus - Sie wissen doch wohl, da? sie einen Mann hinter dem Kaukasus hat - bewilligt ihr ihre Freiheit und Genialitat, sei es aus

Stumpfheit, sei es aus Intelligenz, ich kenne den Burschen nicht. Jedenfalls tut er wohldaran, sie ihr zu bewilligen, denn es ist die Krankheit, die sie ihr verleiht, das geniale Prinzip der Krankheit, dem sie untersteht, und jeder, der in die Lage kommt, wird gut tun, seinem Beispiel zu folgen und sich nicht zu beklagen, weder ruckwarts noch vorwarts ..."

"Sie beklagen sich nicht?" fragte Peeperkorn und wandte ihm das Antlitz zu ... Es schien fahl in der Dammerung; die Augen blickten bleich und matt unter der idolhaften Stirnlineatur, der gro?e, zerrissene Mund stand halb geoffnet wie bei einer tragischen Maske.

"Ich dachte nicht," antwortete Hans Castorp bescheiden, "da? es sich um mich handle. Meine Worte bezwecken, da? Sie sich nicht beklagen, Mynheer Peeperkorn, und mir nicht um fruherer Vorkommnisse willen Ihr Wohlwollen entziehen. Darauf kommt es mir an in dieser Stunde."

"Dessen ungeachtet", sagte Peeperkorn, "mu? es ein gro?er Schmerz gewesen sein, den ich Ihnen unwissentlich zugefugt habe."

"Wenn das eine Frage ist", versetzte Hans Castorp, "und wenn ich sie bejahe, so soll das vor allen Dingen nicht hei?en, da? ich den enormen Vorzug Ihrer Bekanntschaft nicht zu schatzen wu?te, denn dieser Vorzug ist ja mit der Enttauschung, von der Sie sprechen, untrennbar verbunden."

"Ich danke, junger Mann, ich danke. Ich schatze die Artigkeit Ihres kleinen Wortes. Allein von unserer Bekanntschaft abgesehen -"

"Es ist schwer, davon abzusehen," sagte Hans Castorp, "und es empfiehlt sich fur mich auch gar nicht, davon abzusehen, um Ihre Frage in aller Anspruchslosigkeit zu bejahen. Denn da? es eine Personlichkeit Ihres Formates war, in deren Begleitung Clawdia zuruckkehrte, konnte das Ungemach, das fur mich darin lag, da? sie uberhaupt in Begleitung eines anderen Mannes zuruckkehrte, naturlich nur verstarken und verwickelter gestalten. Es hat mir bedeutend zu schaffen gemacht und tut es heute noch, das leugne ich nicht, und ich habe mich absichtlich nach Kraften an die positive Seite der Sache gehalten, das hei?t: an meine aufrichtigen Verehrungsgefuhle fur Sie, Mynheer Peeperkorn, worin ubrigens nebenbei eine kleine Bosheit gegen Ihre Reisebegleiterin lag; denn die Frauen sehen es gar nicht besonders gern, wenn ihre Liebhaber zusammenhalten."

"In der Tat -", sagte Peeperkorn und verbarg ein Lacheln, indem er mit

der hohlen Hand uber Mund und Kinn strich, als bestunde Gefahr, da? Frau Chauchat ihn lacheln sahe. Auch Hans Castorp lachelte diskret, und dann nickten sie beide im Einverstandnis vor sich hin.

"Diese kleine Rache", fuhr Hans Castorp fort, "war mir am Ende zu gonnen, denn so weit ich in Frage komme, habe ich wirklich einigen Grund, mich zu beklagen, - nicht uber Clawdia und nicht uber Sie, Mynheer Peeperkorn, aber mich allgemein zu beklagen, meines Lebens und Schicksals wegen, und da ich die Ehre Ihres Vertrauens genie?e und dies eine so durch unddurch eigentumliche Dammerstunde ist, so will ich mich wenigstens andeutungsweise daruber zu au?ern versuchen."

"Ich bitte darum", sagte Peeperkorn hoflich, worauf Hans Castorp fortfuhr:

"Ich bin seit langer Zeit hier oben, Mynheer Peeperkorn, seit Jahren und Tagen, - genau wei? ich es nicht, wie lange, aber es sind Lebensjahre, darum sprach ich von 'Leben', und auch auf das 'Schicksal' werde ich im rechten Augenblick noch zuruckkommen. Mein Vetter, den ich etwas zu besuchen dachte, ein Militar, der es redlich und brav im Sinne hatte, aber das half ihm nichts, ist mir hier weggestorben, und ich bin immer noch da. Ich war nicht Militar, ich hatte einen Zivilberuf, wie Sie vielleicht gehort haben, einen handfesten und vernunftigen Beruf, der angeblich sogar in volkerverbindender Richtung wirkt, aber ich war ihm nie sonderlich verbunden, das gebe ich zu, und zwar aus Grunden, von denen ich nur sagen will, da? sie im Dunklen liegen: Sie liegen da zusammen mit den Ursprungen meiner Empfindungen fur Ihre Reisebegleiterin - ich nenne sie ausdrucklich so, um zu bekunden, da? es mir nicht einfallt, an der positiven Rechtslage rutteln zu wollen - meiner Empfindungen fur Clawdia Chauchat und meines Duzverhaltnisses zu ihr, das ich nie verleugnet habe, seit ihre Augen mir zuerst begegneten und es mir antaten, - es mir in unvernunftigem Sinne antaten, verstehen Sie. Ihr zuliebe und Herrn Settembrini zum Trotz habe ich mich dem Prinzip der Unvernunft, dem genialen Prinzip der Krankheit unterstellt, dem ich freilich wohl von langer Hand und jeher schon unterstand, und bin hier oben geblieben, - ich wei? nicht mehr genau, wie lange, ich habe alles vergessen und mit allem gebrochen, mit meinen Verwandten und meinem flachlandischen Beruf und allen meinen Aussichten. Und als Clawdia abreiste, habe ich auf sie gewartet, immer hier oben gewartet, so da? ich nun dem Flachland vollig abhanden gekommen und in seinen Augen so gut wie tot bin. Das hatte ich im Sinn, als ich von 'Schicksal'

sprach und mir anzudeuten erlaubte, da? es mir allenfalls zustande, mich uber die gegenwartige Rechtslage zu beklagen. Ich habe einmal eine Geschichte gelesen, - nein, ich habe sie im Theater gesehen, wie ein gutmutiger Junge - er war ubrigens Militar, wie mein Vetter, - es mit einer reizenden Zigeunerin zu tun bekommt, - sie war reizend, mit einer Blume hinter dem Ohr, ein wildes, fatales Frauenzimmer, und sie tat es ihm derma?en an, da? er vollstandig entgleiste, ihr alles opferte, fahnenfluchtig wurde, mit ihr zu den Schmugglern ging und sich in jeder Richtung entehrte. Als er soweit war, hatte sie genug von ihm und kam mit einem Matador daher, einer zwingenden Personlichkeit mit prachtvollem Bariton. Es endete damit,da? der kleine Soldat, kreidewei? im Gesicht und in offenem Hemd, sie vor dem Zirkus mit seinem Messer erstach, worauf sie es ubrigens geradezu angelegt hatte. Es ist eine ziemlich beziehungslose Geschichte, auf die ich da komme. Aber schlie?lich, warum fallt sie mir ein?"

Mynheer Peeperkorn hatte bei Nennung des "Messers" seine Sitzlage im Bette etwas verandert, war kurz beiseite geruckt, indem er rasch das Gesicht seinem Gaste zugewandt und ihm forschend ins Auge geblickt hatte. Jetzt richtete er sich besser auf, stutzte sich auf den Ellbogen und sprach:

"Junger Mann, ich habe gehort, und ich bin nun im Bilde. Erlauben Sie mir auf Grund Ihrer Mitteilungen eine loyale Erklarung! Ware mein Haar nicht bleich und ware ich nicht mit malignem Fieber geschlagen, so sahen Sie mich bereit, Ihnen von Mann zu Mann, die Waffe in der Hand, Genugtuung zu geben fur die Unbill, die ich Ihnen unwissentlich angetan, und zugleich fur diejenige, die meine Reisebegleiterin Ihnen zugefugt, und fur die ich ebenfalls aufzukommen habe. Perfekt, mein Herr, - Sie sahen mich bereit. Wie aber die Dinge liegen, so erlauben Sie mir, einen anderen Vorschlag dafur einzusetzen. Es ist der folgende. Ich erinnere mich eines gehobenen Augenblicks, gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft, - ich erinnere mich daran, obgleich ich damals dem Weine stark zugesprochen hatte -, eines Augenblicks also, da ich, angenehm beruhrt von Ihrem Naturell, im Begriffe stand, Ihnen das bruderliche Du anzubieten, mich aber dann der Einsicht nicht entzog, da? es ein etwas ubereilter Schritt gewesen ware. Gut, ich beziehe mich heute auf diesen Augenblick, ich komme auf ihn zuruck, ich erklare den damals beschlossenen Aufschub fur abgelaufen. Junger Mann, wir sind Bruder, ich erklare uns dafur. Sie sprachen von einem Du vollen Sinnes, -

auch das unsrige wird vollen Sinn haben, den Sinn der Bruderlichkeit im Gefuhl. Die Genugtuung, die Ihnen mit der Waffe zu geben, Alter und Unpa?lichkeit mich hindern, ich biete sie Ihnen in dieser Form, ich biete sie Ihnen in Form eines Bruderbundes, wie man ihn sonst wohl gegen Dritte, gegen die Welt, gegen jemanden schlie?t, und den wir im Gefuhl fur jemanden schlie?en wollen. Nehmen Sie Ihr Weinglas, junger Mann, wahrend ich wieder zu meinem Wasserglas greife, durch das diesem Sauserchen weiter kein Unrecht geschieht -"

Und mit leicht zitternder Kapitanshand fullte er die Glaser, wobei Hans Castorp ihm in ehrerbietiger Besturzung behilflich war.

"Nehmen Sie!" wiederholte Peeperkorn. "Kreuzen Sie den Arm mit mir! Und trinken Sie auf diese Weise! Trinken Sie aus! - Perfekt, junger Mann. Erledigt. Hier meine Hand. Bist du zufrieden?"

"Das ist naturlich gar kein Ausdruck, Mynheer Peeperkorn", sagte Hans Castorp, dem es etwas schwer gefallen war, das volle Glasin einem Zuge auszutrinken, und trocknete seine Knie mit dem Taschentuch, da Wein darauf hinabgeflossen war. "Ich bin hoch begluckt, will ich lieber sagen, und kann es noch gar nicht fassen, wie mir das so auf einmal zuteil geworden, - es ist mir, offen gestanden, wie im Traum. Das ist eine gewaltige Ehre fur mich, - ich wei? nicht, wie ich sie verdient haben soll, hochstens auf passive Weise, auf andere gewi? nicht, und man darf sich nicht wundern, wenn es mich anfangs abenteuerlich anmutet, die neue Anrede uber die Lippen zu bringen, wenn ich daruber stolpere, - zumal in Clawdias Gegenwart, die vielleicht nach Frauenart nicht ganz einverstanden sein wird mit diesem Arrangement ..."

"La? das meine Sache sein", erwiderte Peeperkorn, "und das andere Sache der Ubung und Gewohnheit! Und nun geh, junger Mann! Verlasse mich, mein Sohn! Es ist dunkel, der Abend ist vollig hereingebrochen, unsere Geliebte kann jeden Augenblick zuruckkehren, und eine Begegnung zwischen euch ware eben jetzt vielleicht nicht das Schicklichste."

"Lebe wohl, Mynheer Peeperkorn!" sagte Hans Castorp und stand auf. "Sie sehen, ich uberwinde meine berechtigte Scheu und ube mich schon in der tollkuhnen Anrede. Richtig, es ist ja finster geworden! Ich konnte mir vorstellen, da? plotzlich Herr Settembrini hereinkame und das Licht andrehte, damit Vernunft und Gesellschaftlichkeit Platz griffen, - er hat nun einmal die Schwache. Auf morgen! Ich gehe derma?en vergnugt und stolz von hier fort, wie ich es mir nicht im entferntesten hatte traumen

lassen. Recht gute Besserung! Es kommen nun mindestens drei fieberfreie Tage fur dich, an denen Sie allen Anforderungen gewachsen sein werden. Das freut mich, als ob ich Du ware. Gute Nacht!"

Mynheer Peeperkorn(Schlu?)

Ein Wasserfall ist immer ein anziehendes Ausflugsziel, und kaum wissen wir es zu rechtfertigen, da? Hans Castorp, der fur fallendes Wasser sogar eine besondere Herzensneigung hegte, die malerische Kaskade im Walde des Fluelatals noch niemals besucht hatte. Fur die Zeit seines Zusammenlebens mit Joachim mochte er entschuldigt sein durch die strenge Dienstlichkeit seines Vetters, der nicht zum Vergnugen hier gewesen war, und dessen sachlich-zweckhafter Sinn ihren Gesichtskreis auf die nachste Umgebung von Haus "Berghof" eingeschrankt hatte. Und nach seinem Ausscheiden - nun, auch danach hatte Hans Castorps Verhaltnis zur hiesigen Landschaft, wenn man von seinen Skiunternehmungen absehen will, den Charakter einer konservativen Einformigkeit bewahrt, deren Kontrast zu der Spannweite seiner inneren Erfahrungen und "Regierungs"-obliegenheiten sogar nicht ohne einen gewissen bewu?ten Reiz fur den jungen Mann gewesen war. Immerhin war seine Zustimmung lebhaft, als in seiner engeren Umgebung, diesem kleinen Freundeskreise von sieben Personen(ihn selber eingerechnet), der Plan einer Wagenfahrt nach jener empfohlenen Ortlichkeit erwogen wurde.

Es war Mai geworden, der Wonnemond einfaltigen kleinen Liedern des Flachlandes zufolge, - recht frischund wenig einschmeichelnd von Luftbeschaffenheit hier oben, aber die Schneeschmelze konnte fur abgeschlossen gelten. Zwar hatte es in den letzten Tagen mehrfach gro?flockig geschneit, doch das blieb nicht liegen, es lie? nur etwas Nasse zuruck; die lagernden Massen des Winters waren versickert, verraucht, bis auf vereinzelte Reste dahingeschwunden; die grune Gangbarkeit der Welt bedeutete ein Anerbieten an jede Unternehmungslust.

Ohnehin hatte der gesellige Verkehr der Gruppe wahrend der letzten Wochen gelitten unter dem Ubelbefinden ihres Oberhauptes, des gro?artigen Pieter Peeperkorn, dessen maligne Tropenmitgift weder den Einwirkungen des au?erordentlichen Klimas, noch den Antidoten eines so hervorragenden Mediziners, wie des Hofrat Behrens, hatte weichen wollen. Er war viel bettlagerig gewesen, nicht nur an Tagen, da das

Quartanfieber in seine schlimmen Rechte trat. Milz und Leber machten ihm zu schaffen, wie der Hofrat die dem Patienten Nahestehenden abseits bedeutete; auch sein Magen sollte sich nicht in klassischer Verfassung befinden, und Behrens unterlie? nicht, auf die auch bei einer so machtigen Natur unter diesen Umstanden nicht ganz von der Hand zu weisende Gefahr chronischer Entkraftung hinzudeuten.

Einem abendlichen Essen und Trinken nur hatte Mynheer in diesen Wochen vorgesessen, und auch die gemeinsamen Spaziergange waren bis auf einen nicht sehr ausgedehnten unterblieben. Ubrigens empfand Hans Castorp, unter uns gesagt, diese Lockerung der Cliquengemeinschaft in gewisser Hinsicht als Erleichterung, denn das mit Frau Chauchats Reisebegleiter getrunkene Schmollis schuf ihm Beschwerden; es brachte in seine offentliche Konversation mit Peeperkorn dieselbe "Gezwungenheit", dasselbe "Ausweichen" und gleichsam auf einer Vielliebchenwette beruhende "Vermeiden", das diesem an seinem Verkehr mit Clawdia aufgefallen war: mit wunderlichen Behelfen umschrieb er die Anredeform, soweit sie sich nicht verschlucken lie?, - aus demselben oder dem umgekehrten Dilemma, das sein Gesprach mit Clawdia in Gegenwart anderer, auch in alleiniger Gegenwart ihres Meisters, beherrschte, und das sich dank der von diesem empfangenen Genugtuung zur formalen Doppelklemme vervollstandigt hatte.

Nun war denn also der Plan eines Ausflugs zum Wasserfall an der Tagesordnung, - Peeperkorn selbst hatte das Ziel bestimmt, und er fuhlte sich rustig zu dem Unternehmen. Es war der dritte Tag nach einem Quartananfall; Mynheer lie? wissen, da? er ihn zu nutzen wunsche. Zwar war er zu den ersten Mahlzeiten des Tages nicht im Speisesaal erschienen, sondern hatte sie, wie in letzter Zeit sehr haufig, zusammen mit Madame Chauchat in seinem Salon eingenommen; aber schon beim ersten Fruhstuck hatte Hans Castorp durch den hinkenden Concierge Order empfangen, sich eine Stunde nach dem Mittagessen zu einer Spazierfahrt bereitzuhalten, ferner, diesen Befehl an die Herren Ferge und Wehsal weiterzugeben, auch Settembrini und Naphta zu benachrichtigen, da? man bei ihnen vorfahren werde, und endlich fur die Bestellung zweier Landauer auf drei Uhr Sorge zu tragen.

Um diese Stunde traf man sich vor dem Portal von Haus"Berghof": Hans Castorp, Ferge und Wehsal erwarteten dort die Herrschaften aus den Furstenzimmern, indem sie sich damit unterhielten, die Pferde zu

tatscheln, die ihnen mit schwarzen, feuchten, plumpen Lippen Zuckerstucke von der flachen Hand nahmen. Die Reisegenossen erschienen mit nur leichter Verspatung auf der Freitreppe. Peeperkorn, dessen Konigshaupt schmaler geworden schien, luftete, dort oben in langem, etwas abgetragenem Ulster an der Seite Clawdias stehend, seinen weichen, runden Hut, und seine Lippen bildeten unhorbar ein allgemeines Begru?ungswort. Dann wechselte er einen Handedruck mit jedem der drei Herren, die dem Paar bis zum Fu?e der Stufen entgegenkamen.

"Junger Mann," sagte er dabei zu Hans Castorp, indem er ihm die linke Hand auf die Schulter legte, "... wie geht es, mein Sohn?"

"Verbindlichsten Dank! Und andererseits?" erwiderte der Gefragte ...

Die Sonne schien, es war ein schoner, blanker Tag, aber man hatte doch gut getan, Ubergangspaletots anzulegen: im Fahren wurde man es zweifellos kuhl haben. Auch Madame Chauchat trug einen warmen Gurtmantel aus faserigem, gro? kariertem Stoff und sogar ein wenig Pelz um die Schultern. Den Rand ihres Filzhutes hatte sie mit einem unter dem Kinn gebundenen olivenfarbenen Schleier seitlich niedergebogen, was ihr so reizend stand, da? es die Mehrzahl der Anwesenden geradezu schmerzte, - nur Ferge nicht, den einzigen, der nicht verliebt in sie war; und diese seine Unbefangenheit hatte zur Folge, da? ihm bei der vorlaufigen Verteilung der Platze, bis die Externen zur Gesellschaft sto?en wurden, der Rucksitz gegenuber Mynheer und Madame im ersten Landauer zufiel, wahrend Hans Castorp, nicht ohne ein spottisches Lacheln Clawdias aufgefangen zu haben, mit Ferdinand Wehsal das zweite Gefahrt bestieg. Die schmachtige Person des malaiischen Kammerdieners nahm teil an dem Ausflug. Mit einem geraumigen Korbe, unter dessen Deckel die Halse zweier Weinflaschen hervorragten, und den er unter dem Rucksitz des vorderen Landauers verwahrte, war er hinter seiner Herrschaft erschienen, und in dem Augenblick, als er zur Seite des Kutschers die Arme gekreuzt hatte, erhielten die Pferde ihr Zeichen, und mit angezogenen Bremsen setzten die Wagen sich die Wegschleife hinab in Bewegung.

Auch Wehsal hatte Frau Chauchats Lacheln bemerkt, und die verdorbenen Zahne zeigend, au?erte er sich daruber gegen seinen Fahrtgenossen.

"Haben Sie gesehen," fragte er, "wie sie sich uber Sie lustig machte, weil Sie allein mit mir fahren mussen? Ja, ja, wer den Schaden hat,

braucht fur den Spott nicht zu sorgen. Argert und ekelt es Sie sehr, so neben mir zu sitzen?"

"Nehmen Sie sich zusammen, Wehsal, und reden Sie nicht so niedertrachtig!" verwies ihn Hans Castorp. "Frauen lacheln bei jeder Gelegenheit, nur um des Lachelns willen; es ist nutzlos, sich jedesmal Gedanken daruber zu machen. Was krummen Sie sich immer so? Sie haben, wie wir alle, Ihre Vorzuge undNachteile. Zum Beispiel spielen Sie sehr hubsch aus dem 'Sommernachtstraum', das kann nicht jeder. Sie sollten es nachstens mal wieder tun."

"Ja, da reden Sie mir nun so von oben herab zu", erwiderte der elende Mensch, "und wissen gar nicht, wieviel Unverschamtheit in Ihrem Trost liegt, und da? Sie mich dadurch nur noch tiefer erniedrigen. Sie haben gut reden und trosten vom hohen Ro? herunter, denn wenn Sie derzeit auch ziemlich lacherlich dastehen, so sind Sie doch einmal daran gewesen und waren im siebenten Himmel, allmachtiger Gott, und haben ihre Arme um Ihren Nacken gefuhlt und all das, allmachtiger Gott, es brennt mir im Schlunde und in der Herzgrube, wenn ich dran denke, - und sehen im Vollbewu?tsein dessen, was Ihnen zuteil geworden, auf meine bettelhaften Qualen hinab ..."

"Schon ist es nicht, wie Sie sich ausdrucken, Wehsal. Es ist sogar hochgradig absto?end, das brauche ich Ihnen nicht zu verhehlen, da Sie mir Unverschamtheit vorwerfen, und absto?end soll es auch wohl sein, Sie legen es geradezu darauf an, sich widrig zu machen und krummen sich unausgesetzt. Sind Sie denn wirklich so ungeheuer verliebt in sie?"

"Furchterlich!" antwortete Wehsal kopfschuttelnd. "Das ist nicht zu sagen, was ich auszustehen habe von meinem Durst und meiner Begierde nach ihr, ich wollte, ich konnte sagen, es wird mein Tod sein, aber man kann damit weder leben noch sterben. Wahrend sie weg war, fing es an, etwas besser zu gehen, sie kam mir allmahlich aus dem Sinn. Aber seitdem sie wieder da ist und ich sie taglich vor Augen habe, ist es zuweilen derart, da? ich mich in den Arm bei?e und in die Luft greife und mir nicht zu helfen wei?. So etwas sollte es gar nicht geben, aber man kann es nicht wegwunschen, - wen es hat, der kann es nicht wegwunschen, man mu?te sein Leben wegwunschen, womit es sich amalgamiert hat, und das kann man eben nicht, - was hatte man davon, zu sterben? Nachher, - mit Vergnugen. In ihren Armen, - herzlich gern. Aber vorher, das ist Unsinn, denn das Leben, das ist das Verlangen, und das Verlangen das Leben, und kann nicht gegen sich selber sein, das ist

die gottverfluchte Zwickmuhle. Und wenn ich sage 'gottverflucht', so sage ich es auch nur redensartlich und so, als ob ich ein anderer ware, ich selber kann es nicht meinen. Es gibt so manche Torturen, Castorp, und wer auf einer Tortur ist, der will davon los, will einfach und unbedingt davon los, das ist sein Ziel. Aber von der Tortur der Fleischesbegierde kann man einzig und allein loswollen auf dem Wege und unter der Bedingung, da? sie gestillt wird, - sonstnicht, sonst um keinen Preis! Das ist die Einrichtung, und wen es nicht hat, der halt sich nicht weiter dabei auf, aber wen es hat, der lernt unsern Herrn Jesum Christum kennen, dem gehen die Augen uber. Gott im Himmel, was fur eine Einrichtung und Angelegenheit ist es doch, da? das Fleisch so nach dem Fleische begehrt, nur, weil es nicht das eigene ist, sondern einer fremden Seele gehort, - wie sonderbar und, recht besehen, wie anspruchslos auch wieder in seiner verschamten Freundlichkeit! Man konnte sagen: Wenn es weiter nichts will, in Gottes Namen, es sei ihm gewahrt! Was will ich denn, Castorp? Will ich sie morden? Will ich ihr Blut vergie?en? Ich will sie ja nur liebkosen! Castorp, lieber Castorp, entschuldigen Sie, da? ich winsele, aber sie konnte mir in Gottes Namen zu Willen sein! Es ist doch auch was Hoheres dabei, Castorp, ich bin doch kein Vieh, in meiner Art bin ich doch auch ein Mensch! Die Fleischesbegierde gehet dahin und dorthin, sie ist nicht gebunden und nicht fixiert, und darum so hei?en wir sie viehisch. So sie aber fixiert ist auf eine Menschenperson mit einem Angesicht, alsdann so redet unser Mund von der Liebe. Mich verlangt doch nicht blo? nach ihrem Korperrumpf und nach der Fleischpuppe ihres Leibes, sondern wenn in ihrem Angesicht auch nur ein kleines Etwas anders gestaltet ware, siehe, so verlangte mich's moglicherweise nach ihrem ganzen Leibe gar nicht, und daher so zeiget sich's, da? ich ihre Seele liebe, und da? ich sie mit der Seele liebe. Denn die Liebe zum Angesicht ist Seelenliebe ..."

"Wie ist Ihnen denn, Wehsal? Sie sind ja ganz au?er sich und schlagen hier Gott wei? was fur Tone an ..."

"Aber das ist es ja eben, das ist ja auch eben wieder das Ungluck," fuhr der Arme fort, "da? sie eine Seele hat, da? sie ein Mensch ist aus Leib und Seele! Denn ihre Seele will nichts von der meinen wissen und also ihr Leib nichts von meinem, o Jammer und gro?e Not, und um dessentwillen ist mein Verlangen zur Schande verdammt, und mein Leib mu? sich winden ewiglich! Warum will sie mit Leib und Seele nichts wissen von mir, Castorp, und warum ist mein Verlangen ihr ein Greuel?!

Bin ich denn kein Mann? Ist ein widerwartiger Mann kein Mann? Ich bin es sogar im hochsten Grade, ich schwore Ihnen, ich wurde alles Dagewesene uberbieten, wenn sie mir das Wonnereich ihrer Arme eroffnete, die so schon sind, weil sie zu ihrem Seelenangesicht gehoren! Ich wurde ihr alle Wollust der Welt antun, Castorp, wenn es sich nur um die Leiber handelte und nichtauch um die Angesichte, wenn ihre verfluchte Seele nicht ware, die nichts von mir wissen will, und ohne die mich aber auch wieder nach ihrem Leibe gar nicht verlangen tate, - das ist des Teufels beschissene Zwickmuhle, in der ich mich winde ewiglich!"

"Wehsal, pst! leise doch! Der Kutscher versteht Sie ja! Er bewegt zwar absichtlich den Kopf nicht, aber ich sehe es doch seinem Rucken an, da? er zuhort."

"Er versteht und hort zu, da haben Sie's, Castorp! Da haben Sie wieder die Einrichtung und Angelegenheit in ihrer Eigenart und ihrem Charakter! Wenn ich von Palingenesie sprache oder von ... Hydrostatik, so wurde er's nicht verstehen und hatte nicht eine Ahnung und horte nicht zu und interessierte sich gar nicht. Denn das ist nicht popular. Aber die hochste und letzte und schauerlich heimlichste Angelegenheit, die Angelegenheit vom Fleische und von der Seele, siehe, die ist zugleich die popularste Angelegenheit, und jeder versteht sie und kann sich lustig machen uber den, den es hat, und dem es den Tag zur Lustfolter macht und die Nacht zur Schandholle! Castorp, lieber Castorp, lassen Sie mich etwas winseln, denn was habe ich fur Nachte! Jede Nacht traume ich von ihr, ach, was traume ich nicht alles von ihr, es brennt mir im Schlunde und in der Magengegend, wenn ich dran denke! Und immer endet es damit, da? sie mir Ohrfeigen gibt, mich ins Gesicht schlagt und manchmal auch anspeit, - mit vor Ekel verzerrtem Seelenangesicht speit sie mich an, und dann wache ich auf, mit Schwei? und Schmach und Lust bedeckt ..."

"So, Wehsal, nun wollen wir mal still sein und uns vornehmen, den Mund zu halten, bis wir zum Gewurzkramer kommen und jemand sich zu uns setzt. Das ist mein Vorschlag und meine Anordnung. Ich will Sie nicht kranken und gebe zu, da? Sie in gro?en Schwulitaten sind, aber wir hatten zu Haus eine Geschichte von einer Person, die damit bestraft wurde, da? ihr beim Sprechen Schlangen und Kroten aus dem Munde kamen, mit jedem Wort eine Schlange oder Krote. Es stand nicht im Buch, wie sie sich dem gegenuber verhielt, aber ich habe immer angenommen, da? sie sich wohl aufs Mundhalten verlegt haben wird."

"Es ist aber ein Menschenbedurfnis," sagte Wehsal klaglich, "ein Menschenbedurfnis, lieber Castorp, zu reden und sich das Herz zu erleichtern, wenn man in solchen Schwulitaten sitzt wie ich."

"Es ist sogar ein Menschenrecht, Wehsal, wenn Sie wollen. Aber es gibt Rechte, meiner Meinung nach, von denen man unter Umstanden vernunftigerweise keinen Gebrauch macht."

Also waren sie still nach Hans Castorps Anordnung, und ubrigens hatten die Wagen das weinlaubbewachsene Hauschen des Gewurzkramers rasch erreicht, wo man denn nicht einenAugenblick zu warten hatte: Naphta und Settembrini waren schon auf der Stra?e, dieser in seiner schadhaften Pelzjacke, jener dagegen in einem wei?lichgelben Fruhjahrsuberzieher, der uberall gesteppt war und geckenhaft anmutete. Man winkte, man tauschte Gru?e, wahrend die Wagen wendeten, und die Herren stiegen ein: Naphta nahm als vierter im vorderen Landauer an Ferges Seite Platz, und Settembrini, in glanzender Laune, von klaren Scherzen sprudelnd, gesellte sich zu Hans Castorp und Wehsal, wobei dieser ihm seinen Sitz im Fond des Wagens uberlie?, - welchen Herr Settembrini denn in der Haltung des Korsofahrers, mit erlesener Lassigkeit, einzunehmen wu?te.

Er pries den Genu? des Fahrens, dies Bewegtwerden des Korpers in behaglichem Ruhestande und bei wechselnder Szenerie; zeigte sich vaterlich-verbindlich gegen Hans Castorp und tatschelte sogar dem armen Wehsal die Wange, indem er ihn aufforderte, des eigenen unsympathischen Ich in der Bewunderung der lichten Welt zu vergessen, auf die er mit seiner Rechten im schabigen Lederhandschuh ausholend deutete.

Sie hatten beste Fahrt. Die Pferde, muntere Blessen alle vier, gedrungen, glatt und satt, schlugen in festem Takt die gute Stra?e, die noch nicht staubte. Felsentrummer, in deren Fugen Gras und Blumen sprossen, traten zuweilen an ihren Rand, Telegraphenstangen flohen zuruck, Bergwalder stiegen auf, anmutige Kurven, die man anstrebte und zurucklegte, unterhielten die Wegesneugier, und immer dammerte teilweis noch verschneites Gebirge in sonniger Fernsicht. Das gewohnte Talgebiet war verlassen, die Verruckung der alltaglichen Szene erfrischte das Gemut. Bald hielt man am Waldesrand: Von hier aus wollte man zu Fu? den Ausflug fortsetzen und das Ziel gewinnen, - ein Ziel, mit dem man schon des langeren, ohne es anfangs gewahr geworden zu sein, in schwachem, aber sich stetig verstarkendem sinnlichen Kontakte stand.

Ein fernes Gerausch wurde allen bewu?t, sobald die Fahrt eingestellt war, ein leises, zuweilen der Wahrnehmung noch wieder entkommendes Zischen, Schuttern und Brausen, das zu unterscheiden man einander aufforderte, und auf das man gefesselten Fu?es horchte.

"Jetzt", sagte Settembrini, der ofters hier gewesen war, "la?t es sich schuchtern an. Aber an Ort und Stelle ist es brutal um diese Jahreszeit, - machen Sie sich gefa?t, wir werden unser eigen Wort nicht verstehen."

So gingen sie denn waldeinwarts, auf einem Wege mit feuchter Nadelstreu, voran Pieter Peeperkorn, auf den Arm seiner Begleiterin gestutzt, den schwarzen weichen Hut in der Stirn, mit seitwarts nickendem Tritt; mitten hinter ihnen Hans Castorp, ohne Hut, wie alle ubrigen Herren, die Hande in den Taschen, mit schragem Kopfe und leisem Pfeifen um sich blickend; dann Naphta und Settembrini, dann Ferge mit Wehsal, zum Schlu? der Malaie allein, den Vesperkorb am Arm. Sie sprachen uber den Wald.

Der Wald war nicht wie andere, er bot einen malerisch eigentumlichen, ja exotischen, doch unheimlichen Anblick. Er strotzte voneiner Sorte moosiger Flechten, war damit behangen, beladen, ganz und gar darin eingewickelt, in langen, mi?farbenen Barten baumelte das verfilzte Gewirk der Schmarotzerpflanze von seinen umsponnenen, gepolsterten Zweigen: man sah fast keine Nadeln, man sah lauter Moosgehange, - eine schwere, bizarre Entstellung, ein verzauberter und krankhafter Anblick. Dem Walde ging es nicht gut, er krankte an dieser geilen Flechte, sie drohte ihn zu ersticken, das war die allgemeine Meinung, wahrend der kleine Zug auf dem Nadelwege vorwarts schritt, im Ohr das Gerausch des Zieles, dem man sich naherte, dies Rumpeln und Zischen, das allmahlich zum Getose wurde und Settembrinis Vorhersage wahr zu machen versprach.

Eine Wegbiegung gab den Blick auf die uberbruckte Wald- und Felsenschlucht frei, in der der Wasserfall niederging; und indem man seiner ansichtig wurde, kam auch die Gehorswirkung auf ihren Gipfel, - es war ein Hollenspektakel. Die Wassermassen sturzten senkrecht nur in einer einzigen Kaskade, deren Hohe aber wohl sieben oder acht Meter betrug, und deren Breite ebenfalls betrachtlich war, und schossen dann wei? uber Felsen weiter. Sie sturzten mit unsinnigem Larm, in welchem sich alle moglichen Gerauscharten und Lauthohen zu mischen schienen, Donnern und Zischen, Gebrull, Gejohle, Tusch, Krach, Geprassel, Gedrohn und Glockengelaut, - wahrhaftig wollten einem die Sinne davon

vergehen. Die Besucher waren dicht herangetreten auf schlupfrigem Felsengrunde und betrachteten, feucht angeatmet und angespruht, in Wasserdunst eingehullt, die Ohren uberfullt und dicht verpolstert vom Larm, dazu Blicke tauschend und mit verschuchtertem Lacheln die Kopfe schuttelnd, das Schauspiel, diese Dauerkatastrophe aus Schaum und Geschmetter, deren irres und uberma?iges Brausen sie betaubte, ihnen Furcht erregte und Gehorstauschungen verursachte. Man glaubte hinter sich, uber sich, von allen Seiten drohende und warnende Rufe zu horen, Posaunen und rohe Mannerstimmen.

Geschart hinter Mynheer Peeperkorn - Frau Chauchat unter den andern funf Herren - blickten sie mit ihm in den Schwall. Sie sahen nicht sein Gesicht, sahen ihn aber das wei?e Flammenhaupt entblo?en und die Brust in der Frische dehnen. Sie verstandigten sich untereinander durch Blicke und Zeichen, denn wahrscheinlich waren Worte, selbst unmittelbar ins Ohr geschrien, vom Donner des Sturzes ubertaubt worden. Ihre Lippen formten Worte des Erstaunens und der Bewunderung, die lautlos blieben. Hans Castorp, Settembrini und Ferge verabredeten sich durch Kopfwinke, die Hohe der Schlucht zu ersteigen, in deren Grunde sie sich befanden, den oberen Steg zu gewinnen und die Wasser von dort zu betrachten. Es war nicht unbequem: Eine steile Zeile von schmalen, ins Gestein gehauenen Stufen fuhrte gleichsam in ein hoheres Stockwerk des Waldes empor; sie erkletterten sie hintereinander, betraten die Brucke und winkten von ihrer Mitte aus, uber der Rundung des Falles schwebend, auf das Gelander gelehnt, den unteren Freunden. Dann gingen sie vollends hinuber, stiegen muhselig aban der anderen Seite und kamen jenseits des Wildwassers, uber das auch hier unten eine Brucke ging, den Zuruckgebliebenen wieder zu Gesichte.

Die Zeichengebung betraf nun die Einnahme der Vespererfrischungen. Sie ging von mehreren Seiten dahin, man solle sich zu diesem Behuf aus der Larmzone ein wenig verziehen, um mit entlastetem Gehor und nicht taub und stumm die Freimahlzeit zu genie?en. Aber man mu?te erkennen, da? Peeperkorns Willensmeinung dagegen stand. Er schuttelte das Haupt, stie? wiederholt den Zeigefinger gegen den Grund, und seine zerrissenen Lippen, mit Anstrengung sich auseinanderziehend, bildeten ein "Hier!" Was war da zu tun? In solchen Regiefragen war er Herr und Befehlshaber. Die Wucht seiner Personlichkeit hatte den Ausschlag gegeben, selbst wenn er nicht, wie immer, Veranstalter und Meister des

Unternehmens gewesen ware. Dieses Format ist tyrannisch und autokratisch von je und wird es bleiben. Mynheer wollte angesichts des Falles, im Donner vespern, das war sein gro?machtiger Eigensinn, und wer nicht leer ausgehen wollte, mu?te hier bleiben. Die Mehrzahl war unzufrieden. Herr Settembrini, der die Moglichkeit menschlichen Austausches, eines demokratisch-distinkten Geplauders oder auch Disputes abgeschnitten sah, warf mit jener Gebarde der Verzweiflung und der Resignation die Hand uber den Kopf. Der Malaie beeilte sich, die Anordnung seines Gebieters zu vollziehen. Es waren zwei Klappsessel da, die er fur Mynheer und Madame an der Felsenwand aufschlug. Dann breitete er zu ihren Fu?en auf einem Tuche den Inhalt des Korbes aus: Kaffeegeschirr und Glaser, Thermosflaschen, Geback und Wein. Man drangte sich zur Verteilung. Dann sa? man auf Gerollsteinen, auf dem Gelander des Steges, die Tasse mit hei?em Kaffee in Handen, den Teller mit Kuchen auf den Knien, und vesperte schweigend im Getose.

Peeperkorn, mit hochgeschlagenem Mantelkragen, den Hut neben sich am Boden, trank Portwein aus einem silbernen Becher mit Monogramm, den er mehrmals leerte. Und plotzlich begann er zu sprechen. Der wunderliche Mann! Es war unmoglich, da? er seine eigene Stimme horte, geschweige da? die anderen eine Silbe hatten verstehen konnen von dem, was er verlauten lie?, ohne da? es verlautete. Er aber erhob den Zeigefinger, streckte, den Becher in der Rechten, den linken Arm aus, die flache Hand schrag erhoben, und man sah, wie sein Konigsantlitz sich redend bewegte, sein Mund Worte formte, die tonlos blieben, als wurden sie in luftleerem Raum gesprochen. Niemand dachte anders, als da? er sein nutzloses Tun, das man mit betretenem Lacheln betrachtete, sogleich wieder einstellen werde, - er aber fuhr fort, sich unter bannenden, Aufmerksamkeit erzwingenden Kulturgebarden seiner Linken in das alles verschlingende Getose hinein zu au?ern, indem er die kleinen, muden und blassen, gewaltsam aufgerissenen Augen unter gespannten Stirnfalten abwechselnd auf einen und den anderen seiner Zuschauer richtete, so da? dereben Angeredete gezwungen war, mit hochgezogenen Brauen ihm zuzunicken und offenen Mundes die hohle Hand an die Ohrmuschel zu legen, als ob das die Heillosigkeit der Sache irgend hatte bessern konnen. Jetzt stand er sogar auf! Den Becher in der Hand, in seinem zerdruckten, fast fu?langen Reisemantel, dessen Kragen aufgestellt war, barhauptig, die hohe, idolhaft gefaltete Stirn vom wei?en Haar umflammt, stand er am Felsen und regte das Antlitz, vor das er dozierend den lanzenuberragten Ring seiner Finger hielt, die

Undeutlichkeit seines tauben Toastes mit dem bannenden Zeichen der Genauigkeit versehend. Man erkannte an seinen Gebarden und las von seinen Lippen einzelne Worter, die man von ihm zu horen gewohnt war: "Perfekt" und "Erledigt", - nichts weiter. Man sah sein Haupt sich schrage neigen, zerrissene Bitternis der Lippen, das Bild des Schmerzensmannes. Dann wieder sah man das uppige Grubchen erbluhen, sybaritische Schalkheit, ein tanzendes Gewanderraffen, die heilige Unsittsamkeit des Heidenpriesters. Er hob den Becher, fuhrte ihn im Halbkreis vor den Augen der Gaste hin und trank ihn in zwei, drei Schlucken so bis zum letzten aus, da? der Boden ganz nach oben stand. Dann reichte er ihn mit ausgestrecktem Arme dem Malaien, der das Gefa?, Hand auf der Brust, entgegennahm, und gab das Zeichen zum Aufbruch.

Alle verbeugten sich dankend gegen ihn, indem sie sich anschickten, nach Gehei? zu tun. Wer am Boden kauerte, sprang auf die Fu?e, wer auf dem Steggelander sa?, lie? sich herab. Der schmachtige Javaner in steifem Hut und Pelzkragen raffte die Reste des Mahls und das Geschirr zusammen. In derselben schmalen Ordnung, wie man gekommen, kehrte man auf dem feuchten Nadelwege, durch den von Flechtenbehang unkenntlich gemachten Wald zur Stra?e zuruck, auf der die Wagen hielten.

Hans Castorp stieg diesmal zum Meister und seiner Begleiterin. An der Seite des guten Ferge, dem alles Hohere vollig ferne lag, sa? er dem Paare gegenuber. Es wurde fast nichts gesprochen auf dieser Heimfahrt. Mynheer sa?, die flachen Hande auf dem Plaid, das seine Knie zusammen mit denen Clawdias umhullte, und lie? den Unterkiefer hangen. Settembrini und Naphta stiegen aus und verabschiedeten sich, bevor die Wagen Geleise und Wasserlauf uberschritten. Wehsal fuhr allein in der zweiten Kutsche die Wegschleife hinan und vor das Berghofportal, wo man sich trennte. -

War in dieser Nacht Hans Castorps Schlaf durch irgendwelche innere Bereitschaft, von der seine Seele nichts wu?te, leicht und fluchtig gehalten worden, so da? die leiseste Abweichung vom gewohnten nachtlichen Frieden des Berghofhauses, eine noch so gedampfte Unruhe, die kaum merkliche Erschutterung durch ein fernes Laufen, genugte, um ihn hell und wach zu machen und ihn sich in den Kissen aufsetzen zu lassen? Tatsachlich erwachte er langere Zeit bevor es an seineTur klopfte, was kurz nach zwei Uhr geschah. Er antwortete sofort, unverschlafen, geistesgegenwartig und energisch. Es war die hohe und

ungefestigte Stimme einer im Hause beschaftigten Pflegeschwester, die ihn in Frau Chauchats Auftrag ersuchte, sich sogleich im ersten Stockwerk einzufinden. Mit verstarkter Energie erklarte er seinen Gehorsam, sprang auf, fuhr in die Kleider, strich mit den Fingern das Haar aus der Stirn und ging nicht schnell und nicht langsam hinab, in Ungewi?heit mehr uber das Wie, als uber das Was der Stunde.

Er fand die Tur zum Peeperkornschen Salon offen stehen und ebenso diejenige zum Schlafzimmer des Hollanders, wo alle Lichter brannten. Die beiden Arzte, die Oberin von Mylendonk, Madame Chauchat und der javanische Kammerdiener waren dort anwesend. Dieser, nicht wie sonst gekleidet, sondern in einer Art von Nationaltracht, einer breitgestreiften hemdartigen Jacke mit sehr langen und weiten Armeln, einem bunten Rock statt der Hosen und einer kegelformigen Mutze aus gelbem Tuch auf dem Kopf, angetan ferner mit einem Brustschmuck von Amuletten, stand unbeweglich, die Arme gekreuzt, links zu Haupten des Bettes, in dem Pieter Peeperkorn mit ausgestreckten Handen auf dem Rucken lag. Der Eintretende uberblickte bleich die Szene. Frau Chauchat wandte ihm den Rucken zu. Sie sa? auf einem niederen Fauteuil am Fu?ende des Bettes, den Ellbogen auf die Steppdecke gestutzt, das Kinn in der Hand, die Finger in die Unterlippe vergraben, und blickte in das Gesicht ihres Reisebegleiters.

"N'Abend, mein Junge", sagte Behrens, der mit Doktor Krokowski und der Oberin in leisem Gesprach gestanden hatte, und nickte wehmutig, das wei?e Schnurrbartchen geschurzt. Er war im klinischen Kittel, aus dessen Brusttasche das Horrohr ragte, trug gestickte Morgenschuhe und keinen Kragen. "Nichts zu machen", setzte er flusternd hinzu. "Ganze Arbeit. Treten Sie nur ran. Werfen Sie ein Kennerauge auf ihn. Sie werden zugeben, da? der arztlichen Kunst da grundlich vorgebaut worden ist."

Hans Castorp naherte sich auf Zehenspitzen dem Bett. Die Augen des Malaien uberwachten ihn bei dieser Bewegung, folgten ihm ohne Drehung des Kopfes, so da? sie ihr Wei?es zeigten. Er stellte mit einem Seitenblick fest, da? Frau Chauchat sich nicht um ihn kummerte, und stand in typischer Haltung am Lager, auf einem Beine ruhend, die Hande auf dem Unterleibe zusammengelegt, mit schrag geneigtem Kopf, in ehrerbietig sinnender Betrachtung. Peeperkorn lag unter der rotseidenen Decke in seinem Trikothemd, wie Hans Castorp ihn so oft gesehen. Seine Hande waren schwarzlichblau angelaufen, Teile seines Gesichtes ebenfalls. Das schuf betrachtliche Entstellung, obgleich seine koniglichen

Zuge sonst unverandert waren. Die idolhafte Faltenlineatur der hohen, wei? umloderten Stirn, in vier- oder funffacher Reihe wagerecht gezogen und dann im rechten Winkel beiderseits die Schlafen hinablaufend, ausgepragt durch die habituelle Anspannung eines ganzen Lebens, trat auch bei gesenkten Augenlidern, imRuhestande, stark hervor. Die bitter zerrissenen Lippen waren leicht getrennt. Der Blaulauf deutete auf jahe Stockung, auf eine gewaltsam-schlagflussige Hemmung der Lebensfunktionen.

Hans Castorp verharrte eine Weile in Andacht, die sich uber den Sachbestand unterrichtet; er zogerte seine Haltung zu losen, in Erwartung einer Anrede durch die "Witwe". Da keine erfolgte, wunschte er vorlaufig nicht zu storen und sah sich nach der Gruppe der ubrigen Anwesenden in seinem Rucken um. Der Hofrat winkte mit dem Kopfe in der Richtung des Salons. Hans Castorp folgte ihm dorthin.

"Suicidium?" fragte er gedampft und fachlich ...

"Na!" antwortete Behrens mit wegwerfender Gebarde und fugte hinzu: "Uber und uber. Im Superlativ. Haben Sie sowas in Galanterieware schon mal gesehen?" fragte er, indem er aus der Kitteltasche ein unregelma?ig geformtes Etui zog und ihm einen kleinen Gegenstand entnahm, den er dem jungen Mann prasentierte ... "Ich nicht. Aber es ist sehenswert. Man lernt nicht aus. Kaprizios und erfinderisch. Ich hab es ihm aus der Hand genommen. Vorsicht. Wenn Ihnen was auf die Haut tropft, kriegen Sie Brandblasen."

Hans Castorp drehte das ratselhafte Ding zwischen den Fingern. Es war aus Stahl, Elfenbein, Gold und Kautschuk, sehr wunderlich anzusehen. Es zeigte zwei gebogene, stahlblanke Gabelzinken mit au?erst scharfen Spitzen, einen leicht gewundenen elfenbeinernen und mit Gold eingelegten Mittelteil, in dem die Zinken bis zu einem gewissen Grade und auf eine gewisse elastische Weise, namlich nach innen, beweglich waren, und endete in einer ballonartigen Erweiterung aus halbstarrem schwarzem Gummi. Die Gro?e betrug nur ein paar Zoll.

"Was ist das?" fragte Hans Castorp.

"Das", antwortete Behrens, "ist eine organisierte Injektionsspritze. Oder, anders herum aufgefa?t, eine mechanische Kopie des Bei?zeugs der Brillenschlange. Sie verstehen? - Sie scheinen nicht zu verstehen", sagte er, da Hans Castorp fortfuhr, benommen auf das bizarre Instrument niederzublicken. "Das sind die Zahne. Sie sind nicht ganz massiv, sie sind von einem Haarrohr, einem ganz feinen Kanal

durchzogen, dessen Austritt Sie hier vorn etwas oberhalb der Spitzen ganz deutlich sehen konnen. Naturlich sind die Rohrchen auch hier an der Zahnwurzel offen, und da kommunizieren sie mit dem Ausfuhrungsgang der Gummidruse, der in dem elfenbeinernen Mittelteil verlauft. Beim Zubi? federn die Zahne etwas einwarts, das ist deutlich, und uben auf das Reservoir einen Druck, der den Inhalt in die Kanale pre?t, so da? in dem Augenblick, wo die Spitzen ins Fleisch fassen, die Dosis auch schon in die Blutbahn schie?t. Es ist ganz einfach, wenn man es so vor Augen hat. Man mu? nur darauf kommen. Wahrscheinlich ist es nach seinen personlichen Angaben hergestellt."

"Sicher!" sagte Hans Castorp.

"Die Ladung kann nicht sehr gro? gewesen sein", fuhr der Hofrat fort. "Was sie an Quantitat vermissen lie?, mu? sie ersetzt haben durch -"

"Dynamik",erganzte Hans Castorp.

"Na also. Was es ist, das werden wir schon noch eruieren. Man darf dem Ergebnis mit einiger Neugier entgegensehen, es gibt da zweifellos was zu lernen. Wetten wir, da? der wachhabende Exot da hinten, der sich heute nacht so fein gemacht hat, uns ganz genau Bescheid sagen konnte? Ich nehme an, da? eine Kombination von Tierischem und Pflanzlichem vorliegt, - vom Guten das Beste jedenfalls, denn die Wirkung mu? fulminant gewesen sein. Alles spricht dafur, da? es ihm sofort den Atem verschlagen hat, Lahmung des Respirationszentrums, wissen Sie, rapider Erstickungstod, wahrscheinlich ohne Zwang und Qualen."

"Gott gebe es!" sagte Hans Castorp fromm, handigte dem Hofrat das unheimliche kleine Werkzeug seufzend wieder ein und kehrte ins Schlafzimmer zuruck.

Nur der Malaie und Madame Chauchat waren jetzt dort noch anwesend. Diesmal hob Clawdia den Kopf nach dem jungen Mann, als er sich dem Bett wieder naherte.

"Sie hatten ein Anrecht darauf, da? ich Sie rufen lie?", sagte sie.

"Es war sehr gutig von Ihnen", sagte er, "und Sie haben recht. Wir waren Duzfreunde. Ich schame mich in tiefster Seele, da? ich mich dessen schamte vor den Leuten und Umschweife gebrauchte. - Sie waren bei ihm in seinen letzten Augenblicken?"

"Der Diener benachrichtigte mich, als alles voruber war", antwortete sie.

"Er war von solchem Format", fing Hans Castorp wieder an, "da? er das Versagen des Gefuhls vor dem Leben als kosmische Katastrophe und als Gottesschande empfand. Denn er betrachtete sich als Gottes Hochzeitsorgan, mussen Sie wissen. Das war eine konigliche Narretei ... Wenn man ergriffen ist, hat man den Mut zu Ausdrucken, die kra? und pietatlos klingen, aber feierlicher sind als konzessionierte Andachtsworte."

"C'est une abdication", sagte sie. "Er wu?te von unserer Torheit?"

"Es war mir nicht moglich, sie ihm abzustreiten, Clawdia. Er hatte sie erraten aus meiner Weigerung, Sie in seiner Gegenwart auf die Stirn zu kussen. Seine Gegenwart ist eher symbolisch, als real, in diesem Augenblick, aber wollen Sie mir erlauben, es jetzt zu tun?"

Sie ruckte kurz den Kopf gegen ihn, die Augen geschlossen, wie mit einem kleinen Winken. Er fuhrte die Lippen an ihre Stirn. Die braunen Tieraugen des Malaien uberwachten die Szene seitwarts gerollt, so da? sie ihr Wei?es zeigten.

Der gro?e Stumpfsinn

Noch einmal horen wir Hofrat Behrens' Stimme - horchen wir gut hin! Wir vernehmen sie vielleicht zum letztenmal! Einmal endigt selbst diese Geschichte; sie hat die langste Zeit gedauert, oder vielmehr: Ihre inhaltliche Zeit ist derart ins Rollen gekommen, da? kein Halten mehr ist, da? auch ihre musikalische zur Neige geht, und da? vielleicht keine Gelegenheit mehr unterkommen wird, den aufgeraumten Tonfall zu belauschen der Sprache des redensartlichen Rhadamanthys. Er sagte zu Hans Castorp:

"Castorp, alter Schwede, Sie langweilen sich. Sie lassendas Maul hangen, ich sehe es alle Tage, die Verdrossenheit steht Ihnen an der Stirn geschrieben. Sie sind ein blasierter Balg, Castorp, Sie sind verhatschelt mit Sensationen, und wenn Ihnen nicht alle Tage was Erstklassiges geboten wird, so mucken und muffen Sie uber die Sauregurkenzeit. Hab ich recht oder unrecht?"

Hans Castorp schwieg, und da er das tat, so mu?te wohl wirklich Finsternis walten in seinem Innern.

"Recht hab ich, wie immer", gab Behrens sich selbst zur Antwort. "Und eh Sie mir hier das Gift der Reichsverdrossenheit verbreiten, Sie mi?vergnugter Staatsburger, sollen Sie doch sehen, da? Sie durchaus nicht

von Gott und Welt verlassen sind, sondern da? die Obrigkeit ein Auge auf Sie hat, ein unverwandtes Auge, mein Lieber, und rastlos auf Ihre Divertierung bedacht ist. Der alte Behrens ist auch noch da. Na, nun mal ohne Spa? mein Junge! Es ist mir was eingefallen in Ihrer Sache, ich hab mir, wei? Gott, in schlaflosen Nachten fur Sie was ausgedacht. Man konnte von einer Erleuchtung reden - tatsachlich versprech ich mir viel von meiner Idee, das hei?t nicht mehr und nicht weniger, als Ihre Entgiftung und triumphale Heimkehr in ungeahnter Balde."

"Da machen Sie Augen", fuhr er nach einer Kunstpause fort, obgleich Hans Castorp keinerlei Augen machte, sondern ihn ziemlich schlafrig und zerstreut betrachtete, "und haben keine Ahnung, wie der alte Behrens es meinen konnte. Ich meine es aber so. Mit Ihnen stimmt etwas nicht, Castorp, das wird Ihrer werten Apperzeption ja nicht entgangen sein. Es stimmt insofern nicht, als Ihre Vergiftungserscheinungen sich schon seit langerem auf den zweifellos sehr gebesserten lokalen Zustand nicht mehr recht reimen lassen - ich meditiere nicht erst seit gestern daruber. Wir haben hier Ihr neuestes Photo ... halten wir den Zauber mal gegen das Licht. Sie sehen, da findet der argste Norgler und Schwarzseher, wie unser kaiserlicher Herr immer sagt, nicht allzuviel mehr zu erinnern. Ein paar Herde sind ganz resorbiert, das Nest ist kleiner geworden und scharfer umgrenzt, was, wie Sie gelehrterweise wissen, auf Heilung deutet. Aus diesem Befund ist die Unsoliditat Ihres Warmehaushalts nicht recht zu erklaren, Mann; der Arzt sieht sich in die Notwendigkeit versetzt, nach neuen Ursachen zu fahnden."

Hans Castorps Kopfbewegung druckte leidlich hofliche Neugier aus.

"Nun werden Sie denken, Castorp, der olle Behrens mu? zugeben, da? er die Behandlung verfehlt hat. Da hatten Sie aber einen Bock geschossen und waren der Sachlage nicht gerecht geworden und dem ollen Behrens auch nicht. Ihre Behandlung war nicht verfehlt, sie war nur moglicherweise zu einseitig orientiert. Die Moglichkeit ist mir aufgegangen, da? Ihre Symptome von jeher nicht ausschlie?lich auf tuberculosis zuruckzufuhren gewesen sind, und ich leite diese Moglichkeit aus der Wahrscheinlichkeitab, da? sie heute uberhaupt nicht mehr darauf zuruckzufuhren sind. Es mu? eine andere Storungsquelle vorhanden sein. Nach meiner Meinung haben Sie Kokken."

"Nach meiner tiefinnersten Uberzeugung", wiederholte verstarkend der Hofrat, nachdem er die Kopfbewegung entgegengenommen, die hiernach auf seiten Hans Castorps fallig gewesen, "haben Sie Streptos -

woruber Sie sich ubrigens nicht gleich zu entsetzen brauchen."

(Es konnte von Entsetzen gar nicht die Rede sein. Hans Castorps Miene druckte vielmehr eine Art von ironischer Anerkennung, sei es des ihm begegnenden Scharfsinns, sei es des neuen Wurdenstandes aus, in den der Hofrat ihn hypothetisch versetzte.)

"Kein Grund zur Panik!" variierte dieser sein Zureden. "Kokken hat jeder. Streptos hat jeder Esel. Sie brauchen sich gar nichts einzubilden. Wir wissen erst seit neulich, da? einer Streptokokken im Blut haben kann, ohne irgendwie ansehnliche Infektionserscheinungen zu produzieren. Wir stehen vor dem vielen Kollegen noch gar nicht bekannten Ergebnis, da? auch Tuberkeln im Blute vorkommen konnen, ganz ohne Konsequenzen. Wir sind keine drei Schritte mehr von der Auffassung entfernt, da? die Tuberkulose eigentlich eine Blutkrankheit ist."

Hans Castorp fand das recht bemerkenswert.

"Wenn ich also sage: Streptos," fing Behrens wieder an, "so durfen Sie naturlich nicht an das bekannte schwere Krankheitsbild denken. Ob diese Kleinen von den Meinen sich uberhaupt bei Ihnen angesiedelt haben, mu? die baktereologische Blutuntersuchung zeigen. Aber ob Ihre Febrilitat von ihnen herruhrt, gesetzt, da? sie vorhanden sind, das lehrt dann erst die Wirkung der Streptovakzinkur, die wir diesfalls einzuleiten haben. Das ist der Weg, lieber Freund, und ich verspreche mir, wie gesagt, das Unvorhergesehenste davon. So langwierig Tuberkulose ist, so rasch konnen Erkrankungen dieser Art heute geheilt werden, und wenn Sie uberhaupt auf die Einspritzungen reagieren, so sind Sie in sechs Wochen springgesund. Was sagen Sie nun? Ist der olle Behrens auf seinem Posten, he?"

"Es ist ja vorlaufig nur eine Hypothese", sagte Hans Castorp schlaff.

"Eine beweisbare Hypothese! Eine hochst fruchtbare Hypothese!" versetzte der Hofrat. "Sie werden sehen, wie fruchtbar sie ist, wenn auf unseren Kulturen die Kokken wachsen. Morgen nachmittag zapfen wir Sie an, Castorp; nach allen Regeln der Dorfbaderkunst lassen wir Sie zur Ader. Das ist ein Spa? fur sich und kann allein schon fur Korper und Seele die segensreichsten Effekte zeitigen ..."

Hans Castorp erklarte sich zu der Diversion bereit und bedankte sich recht schon fur das ihm gewidmete Augenmerk. Den Kopf gegen die Schulter geneigt, blickte er dem davonrudernden Hofrat nach. Die

Ansprache des Chefs traf genau in einen kritischen Moment; Radamanth hatte Mienen und Stimmung des Berggastes ziemlich richtig gedeutet, und sein neues Unternehmen war bestimmt - ausdrucklich dazu bestimmt, die Absicht war gar nicht geleugnet worden -, den toten Punkt zu uberwinden, auf den dieser Gast sich seit kurzemgelangt fand, wie eben aus seiner Mimik zu schlie?en war, die deutlich an diejenige des seligen Joachim erinnerte, zur Zeit, als gewisse wilde und trotzige Entschlusse sich in ihm vorbereitet hatten.

Es ist mehr zu sagen. Nicht nur er selbst, Hans Castorp, schien sich auf solchem toten Punkte angekommen, sondern ihm war, als ob es mit der Welt, mit allem, mit "dem Ganzen" eben diese Bewandtnis habe, oder vielmehr: er fand, da? es schwer sei, hier das Besondere vom Allgemeinen zu unterscheiden. Seit dem exzentrischen Ende seiner Verbindung mit einer Personlichkeit; seit der vielfaltigen Bewegung, die dieses Ende uber das Haus gebracht, und seit Clawdia Chauchats neuerlichem Ausscheiden aus der Gemeinschaft derer hier oben, dem Lebewohl, das, beschattet von der Tragik gro?en Versagens, im Geiste ehrerbietiger Rucksicht, zwischen ihr und dem uberlebenden Duzbruder ihres Herrn getauscht worden, - seit dieser Wende schien es dem jungen Mann, als sei es mit Welt und Leben nicht ganz geheuer; als stehe es auf eine besondere Weise und zunehmend schief und beangstigend darum; als habe ein Damon die Macht ergriffen, der, schlimm und narrisch, zwar lange schon betrachtlichen Einflu? geubt, jetzt aber seine Herrschaft so zugellos offen erklart habe, da? es wohl geheimnisvollen Schrecken einflo?en und Fluchtgedanken nahelegen konnte, - der Damon, des Name Stumpfsinn war.

Man wird urteilen, der Erzahler trage dick und romantisch auf, indem er den Namen des Stumpfsinns mit dem des Damonischen in Verbindung bringe und ihm die Wirkung mystischen Grauens zuschreibe. Und dennoch fabeln wir nicht, sondern halten uns genau an unseres schlichten Helden personliches Erlebnis, dessen Kenntnis uns auf eine Weise, die sich freilich der Untersuchung entzieht, gegeben ist, und das schlechthin den Beweis liefert, da? Stumpfsinn unter Umstanden solchen Charakter gewinnen und solche Gefuhle einflo?en kann. Hans Castorp blickte um sich ... Er sah durchaus Unheimliches, Bosartiges, und er wu?te, was er sah: Das Leben ohne Zeit, das sorg- und hoffnungslose Leben, das Leben als stagnierend betriebsame Liederlichkeit, das tote Leben.

Geschaftigkeit herrschte darin, Betatigungen von allerlei Art liefen

nebeneinander her; doch dann und wann artete eine davon zur wilden Modewut aus, der alles fanatisch unterlag. So hatte die Liebhaberphotographie von jeher in der Berghofwelt eine bedeutende Rolle gespielt; schon zweimal aber - denn wer lange genug hier oben verweilte, konnte die periodische Wiederkehr solcher Epidemien erleben - war die Leidenschaft dafur auf Wochen und Monate zur allgemeinen Narretei geworden, so da? niemand war, der nicht, mit besorgter Miene den Kopf uber eine in die Magengrube gestutzte Kamera gebeugt, die Blende hatte blinzeln lassen, und das Herumreichen von Abzugen bei Tische kein Ende nahm. Plotzlich war es Ehrensache, selbst zu entwickeln. Die zur Verfugung stehende Dunkelkammer genugte derNachfrage bei weitem nicht. Man versah Fenster und Balkonturen der Zimmer mit schwarzen Vorhangen; und bei Rotlicht hantierte man so lange mit chemischen Badern, bis Feuer auskam und der bulgarische Student vom Guten Russentisch um ein Haar zu Asche verbrannt ware, worauf denn ein Verbot der Anstaltsobrigkeit erging. Bald fand man das einfache Lichtbild abgeschmackt; Blitzlichtaufnahmen und farbige Photographien nach Lumiere kamen in Schwung. Man weidete sich an Bildern, auf denen Personen, vom Magnesiumblitz jah betroffen, mit stieren Augen aus fahl verkrampften Gesichtern blickten, wie Leichen Ermordeter, die man mit offenen Augen aufrecht hingesetzt. Und Hans Castorp bewahrte eine in Pappe gerahmte Glasplatte, die ihn, wenn man sie gegen das Licht hielt, zwischen Frau Stohr und der elfenbeinfarbenen Levi, von denen die erste einen himmelblauen, die andere einen blutroten Sweater trug, mit kupferigem Angesicht und unter blechgelben Butterblumen, deren eine ihm im Knopfloch strahlte, auf einer giftgrunen Waldwiese zeigte.

Es war da ferner das Briefmarkensammeln, das, alle Zeit von einzelnen betrieben, zeitweise zu allgemeiner Besessenheit um sich griff. Jedermann klebte, schacherte, tauschte. Philatelistische Zeitschriften wurden gehalten, Korrespondenzen mit Spezialgeschaften des In- und Auslandes, mit Fachvereinen und Privatliebhabern unterhalten und erstaunliche Summen zur Gewinnung seltener Wertzeichen selbst von solchen aufgebracht, deren hausliche Verhaltnisse den monate- oder jahrelangen Aufenthalt in der Luxusheilstatte nur knapp gestatteten.

Das dauerte so lange, bis eine andere Geckerei zur Herrschaft gelangte und etwa das Anhaufen und unaufhorliche Verzehren von Schokolade der erdenklichsten Sorten zum guten Ton wurde. Alle Welt

hatte braune Munder, und die leckersten Darbietungen der Berghofkuche fanden faule und krittelnde Genie?er, da die Magen mit Milka-Nut, Chocolat a la creme d'amandes, Marquis-Napolitains und goldgesprenkelten Katzenzungen gestopft und davon verstimmt waren.

Das Schweinchenzeichnen mit geschlossenen Augen, inauguriert von hochster Stelle an einem verflossenen Faschingsabend und seitdem viel gepflegt, hatte fortzeugend zu geometrischen Geduldsubungen gefuhrt, denen zeitweise die Geisteskraft aller Berghofgaste und selbst noch die letzten Gedanken und Energiebezeugungen Moribunder gehorten. Wochenlang stand das Haus im Zeichen einer verwickelten Figur, die sich aus nicht weniger als acht gro?en und kleinen Kreisen und mehreren ineinanderliegenden Dreiecken zusammensetzte. Die Aufgabe war, diese flachige Vielgestalt freihandig in einem Zug zu beschreiben; das hochste Ziel aber, dies endlich auch noch bei sicher verbundenen Augen zu vollbringen, - was schlie?lich, uber geringe Schonheitsfehler billig hinweggesehen, denn doch nur dem Staatsanwalt Paravant gelang, der Haupttrager dieser Scharfsinnsverbohrung war.

Wir wissen, da? er der Mathematik oblag, wissen es vom Hofrat selbst und kennen auch die zuchtige Triebfeder dieser Hingabe, deren kuhlende, den Fleischesstachel stumpfende Wirkung wir haben preisen horen, und deren allgemeinere Nachfolge gewisse Ma?regeln, die man neuerdings zu treffen sich gezwungen gesehen hatte, wahrscheinlich unnotig gemacht haben wurde. Sie bestanden hauptsachlich in der Abriegelung aller Balkondurchgange, an den nicht ganz bis zurBrustung reichenden Milchglasscheidewanden vorbei, durch kleine Turen, die zur Nacht durch den Bademeister unter popularem Schmunzeln verschlossen wurden. Sehr gesucht waren seitdem die Zimmer im ersten Stock uber der Veranda, wo man nach Ubersteigung der Balustrade uber das vorspringende Glasdach hin, unter Vermeidung der Turchen, von Abteil zu Abteil gelangen konnte. Des Staatsanwalts wegen aber hatte die disziplinare Neuerung uberhaupt nicht eingefuhrt zu werden brauchen. Die schwere Anfechtung, die von der Erscheinung jener agyptischen Fatme auf Paravant ausgegangen, war langst uberwunden, und sie war die letzte gewesen, die seinem naturlichen Teil zu schaffen gemacht. Mit verdoppelter Inbrunst hatte er sich seitdem der klaraugigen Gottin in die Arme geworfen, von deren kalmierender Macht der Hofrat so Sittliches zu sagen wu?te, und das Problem, dem bei Tag und Nacht all sein Sinnen gehorte, an das er all jene Persistenz, die

ganze sportliche Zahigkeit wandte, mit der er ehemals, vor seiner oft verlangerten Beurlaubung, welche in vollige Quieszierung uberzugehen drohte, die Uberfuhrung armer Sunder betrieben hatte, - war kein anderes als die Quadratur des Kreises.

Der entgleiste Beamte hatte sich im Lauf seiner Studien mit der Uberzeugung durchdrungen, da? die Beweise, mit denen die Wissenschaft die Unmoglichkeit der Konstruktion erhartet haben wollte, unstichhaltig seien, und da? die planende Vorsehung ihn, Paravant, darum aus der unteren Welt der Lebendigen entfernt und hierher versetzt habe, weil sie ihn dazu ausersehen, das transzendente Ziel in den Bereich irdisch genauer Erfullung zu rei?en. So stand es mit ihm. Er zirkelte und rechnete, wo er ging und stand, bedeckte Unmassen von Papier mit Figuren, Buchstaben, Zahlen, algebraischen Symbolen, und sein gebrauntes Gesicht, das Gesicht eines scheinbar urgesunden Mannes, trug den visionaren und verbissenen Ausdruck der Manie. Sein Gesprach betraf ausschlie?lich und mit furchtbarer Eintonigkeit die Verhaltniszahl pi, diesen verzweifelten Bruch, den das niedrige Genie eines Kopfrechners namens Zacharias Dase eines Tages bis auf zweihundert Dezimalstellen berechnet hatte -, und zwar rein luxurioserweise, da auch mit zweitausend Stellen die Annaherungsmoglichkeiten an das Unerreichbar-Genaue so wenig erschopft gewesen waren, da? man sie fur unvermindert hatte erklaren konnen. Alles floh den gequalten Denker, denn wen immer ihm an der Brust zu ergreifen gelang, der mu?te gluhende Redestrome uber sich ergehen lassen, bestimmt, seine humane Empfindlichkeit zu wecken fur die Schande der Verunreinigung des Menschengeistes durch die heillose Irrationalitat dieses mystischen Verhaltnisses. Die Fruchtlosigkeit ewiger Multiplikation des Durchmessers mit pi, um den Umfang -, des Quadrats uber dem Halbmesser, um den Inhalt des Kreises zu finden, schuf dem Staatsanwalt Anfalle von Zweifeln, ob nicht die Menschheit sich die Losung des Problems seit Archimedes' Tagen viel zu schwer gemacht habe und ob diese Losung nicht in Wahrheit die kindlich einfachste sei. Wie, man sollte die Kreislinie nicht rektifizierenund also auch nicht jede Gerade zum Kreise biegen konnen? Zuweilen glaubte Paravant sich einer Offenbarung nahe. Man sah ihn ofters noch spat am Abend im verodeten und schlecht erleuchteten Speisesaal an seinem Tische sitzen, auf dessen entblo?ter Platte er ein Stuck Bindfaden sorgfaltig in Kreisform legte, um es plotzlich, mit uberrumpelnder Gebarde, zur Geraden zu strecken, danach aber, schwer aufgestutzt, in bitteres Grubeln zu

verfallen. Der Hofrat ging ihm gelegentlich zur Hand bei solchem schwermutigen Getandel, bestarkte ihn uberhaupt in seiner Grille. Und auch an Hans Castorp wandte sich der Leidende wohl einmal mit seinem geliebten Gram, einmal und wiederholt, da er auf viel freundliches Verstandnis, auf ein teilnehmendes Gefuhl fur das Geheimnis des Kreises stie?. Er veranschaulichte dem jungen Mann die Verzweiflung pi, indem er ihm eine haarscharfe Zeichnung vorwies, worin mit au?erster Muhe eine Kreislinie zwischen zwei Polygonen mit winzig-zahllosen Seiten, einem eingeschriebenen und einem umschriebenen, bis zur letzt-menschenmoglichen Annaherung eingefangen war. Der Rest aber, die Krummung, die sich auf eine atherisch-geistige Art der Rationalisierung durch die berechenbare Umklammerung entzog, - das, sagte der Staatsanwalt mit bebendem Unterkiefer, sei pi! Hans Castorp, bei aller Empfanglichkeit, zeigte sich weniger reizbar gegen pi, als sein Unterredner. Er nannte es eine Eulenspiegelei, riet Herrn Paravant, sich bei seinem Haschespiel doch nicht zu ernstlich zu erhitzen und sprach von den ausdehnungslosen Wendepunkten, aus denen der Kreis von seinem nicht vorhandenen Anfang bis zu seinem nicht vorhandenen Ende bestehe, sowie von der ubermutigen Melancholie, die in der ohne Richtungsdauer in sich selber laufenden Ewigkeit liege, mit so gelassener Religiositat, da? vorubergehend eine begutigende Wirkung davon auf den Staatsanwalt ausging.

Ubrigens bestimmte seine Natur den guten Hans Castorp zum Vertrauten mehr als eines Hausgenossen, von dem irgendeine fixe Idee Besitz ergriffen, und der darunter litt, da? er bei der leichtlebigen Mehrzahl kein Gehor dafur fand. Ein ehemaliger Bildhauer aus der osterreichischen Provinz, ein schon alterer Mann mit wei?em Schnurrbart, einer Hakennase und blauen Augen, hatte einen Plan finanzpolitischer Art gefa?t - und ihn, unter Markierung entscheidender Stellen durch Pinselstriche von Sepiawasserfarbe, in Schonschrift aufgesetzt -, der darauf ausging, da? jeder Zeitungsbezieher gehalten sein solle, eine tagliche Teilmenge von 40 Gramm Altzeitungspapier, gesammelt am ersten jeden Monats, abzuliefern, was denn im Jahre rund 14000 Gramm, in zwanzig Jahren aber nicht weniger als 288 Kilo ausmachen und, das Kilo zu 20 Pfennigen berechnet, einen Wert von 57,60 deutschen Mark darstellen werde. Funf Millionen Abonnenten, so fuhr das Memorandum fort, wurden also in zwanzig Jahren an Altzeitungswerten die ungeheuere Summe von 288 Millionen Mark abliefern, wovon ihnen zwei Drittel auf das Neuabonnement mochten

angerechnet werden, das sich so verbilligen werde, der Rest aber, ein Drittel, gegen 100 Millionen Mark, furhumanitare Zwecke, zur Finanzierung volkstumlicher Lungenheilstatten, zur Unterstutzung bedrangter Talente und so weiter, frei werden wurde. Der Plan war ausgearbeitet bis auf die zeichnerische Darstellung des Zentimeterpreisstockes, von dem das Altpapierabholorgan allmonatlich den Wert der gesammelten Papiermenge ablesen sollte, und der gelochten Formulare, mit denen Vergutungsgelder quittiert werden sollten. Er war gerechtfertigt und begrundet nach allen Seiten. Die unbesonnene Vergeudung und Vernichtung von Zeitungspapier, das von Unaufgeklarten dem Spulwasser, dem Feuer ausgesetzt werde, bedeute Hochverrat an unserem Walde, an unserer Volkswirtschaft. Papier schonen, Papier sparen hei?e Zellstoff, den Waldbestand, Menschenmaterial schonen und sparen, das bei der Fabrikation von Zellstoff und Papier verbraucht werde, nicht minder Menschenmaterial und Kapital. Da ferner Altzeitungspapier auf dem Wege uber die Packpapier- und Kartonageerzeugung leicht in vierfache Werte gesteigert werden konne, so werde es Wirtschaftsfaktor von Belang und Unterlage ergiebiger staatlicher und gemeindlicher Besteuerungen werden, die Zeitungsleser als Steuersubjekte entlasten. Kurzum, der Plan war gut, war eigentlich unwidersprechlich, und wenn ihm Unheimlich-Mu?iges, ja Finster-Narrisches anhaftete, so eben nur des schiefen Fanatismus wegen, womit der vormalige Kunstler eine okonomische Idee, und gerade nur diese verfolgte und verfocht, mit der es ihm offenbar im Innersten so wenig ernst war, da? er nicht den geringsten Versuch unternahm, sie ins Werk zu setzen ... Hans Castorp horte dem Mann mit schragem Kopfe nickend zu, wenn er mit fiebrig beschwingten Worten seinen Heilsgedanken vor ihm propagierte, und untersuchte dabei das Wesen der Verachtung und des Widerwillens, die seine Parteinahme fur den Erfinder gegen die gedankenlose Welt beeintrachtigten.

Einige Berghofinsassen trieben Esperanto und wu?ten sich etwas damit, in dem kunstlichen Kauderwelsch bei Tische zu konversieren. Hans Castorp blickte sie finster an, indem er ubrigens bei sich selber dafur hielt, da? sie die Schlimmsten nicht seien. Es gab hier seit kurzem eine Gruppe von Englandern, die ein Gesellschaftsspiel eingefuhrt hatten, welches in nichts anderem bestand, als da? ein Teilnehmer an seinen Nachbarn im Kreise die Frage richtete: "Did you ever see the devil with a night-cap on?", der Gefragte aber zur Antwort gab: "No! I never saw the devil with a night-cap on", worauf er die Frage andererseits

weitergab - und so immer reihum. Das war entsetzlich. Aber dem armen Hans Castorp war doch noch schlimmer zumute beim Anblick der Patienceleger, die uberall im Hause und zu jeder Tageszeit zu beobachten waren. Denn die Leidenschaft fur diese Zerstreuung war neuestens derart eingerissen, da? sie buchstablich das Haus zur Lasterhohle machte, und Hans Castorp hatte um so mehr Ursache, sich grauenhaft davon beruhrt zu fuhlen, als er selber zeitweise ein Opfer - und zwar vielleicht das hingenommenste - der Seuche war. Die Elferpatience hatte es ihm angetan: jene Form, bei der man die Whistkarte zu je dreiBlatt in drei Reihen auslegt und zwei Karten, die zusammen elf ausmachen, sowie die drei Bildkarten, wenn sie offen daliegen, neu bedeckt, bis bei holdem Glucke das Spiel aufgeht. Man sollte nicht fur moglich halten, da? Seelenreize, die zur Behexung zu fuhren vermogen, von einem so einfachen Verfahren ausgehen konnten. Dennoch erprobte Hans Castorp, gleich so vielen anderen, diese Moglichkeit - erprobte sie, da die Ausschweifung niemals heiter ist, mit finsteren Brauen. Verfallen den Launen des Kartenkobolds, beruckt von dieser phantastisch wechselnden Gunst, die zuweilen, in leichter Glucksschwebe, von allem Anbeginn die Elferpaare, das Bub-Dame-Konigsbild sich haufen lie?, so da? das Spiel schon vergeben war, bevor noch die dritte Staffel sich vollendet hatte(ein fluchtiger Triumph, der die Nerven sogleich zu neuen Versuchen stachelte); dann wieder bis zum neunten und letzten Blatt jede einzige Moglichkeit der Neubedeckung verweigerte, oder den scheinbar schon sicheren Erfolg durch jahe Stockung im letzten Augenblick verflattern lie?, - legte er Patience uberall und zu allen Tageszeiten, des Nachts unter den Sternen, des Morgens im blo?en Pyjama, bei Tische und selbst im Traum. Ihm graute, aber er tat es. Und so betraf ihn bei einem Besuche Herr Settembrini, ihn "storend", wie es von jeher seine Sendung gewesen.

"Accidenti!" sprach er. "Sie legen sich die Karten, Ingenieur?"

"So ist es nicht gerade gemeint", erwiderte Hans Castorp. "Ich lege einfach, ich balge mich mit dem abstrakten Zufall. Mich intrigieren seine wetterwendischen Faxen, seine Liebedienerei und dann wieder seine unglaubliche Widerspenstigkeit. Heute morgen gleich nach dem Aufstehen ist die Patience dreimal hintereinander glatt ausgekommen, davon einmal in zwei Reihen, was ein Rekord ist. Wollen Sie glauben, da? ich jetzt zum zweiunddrei?igstenmal auslege, ohne ein einziges Mal auch nur bis zur Halfte des Spieles gekommen zu sein?"

Herr Settembrini blickte ihn, wie sooft schon im Laufe der Jahrchen, mit traurigen schwarzen Augen an.

"Jedenfalls finde ich Sie praokkupiert", sagte er. "Es sieht nicht aus, als ob ich hier fur meine Sorgen Trost, und Balsam fur den inneren Zwiespalt finden sollte, der mich qualt."

"Zwiespalt?" wiederholte Hans Castorp und legte ...

"Die Weltlage verwirrt mich", seufzte der Freimaurer. "Der Balkanbund wird zustandekommen, Ingenieur, alle meine Informationen sprechen dafur. Ru?land arbeitet fieberhaft daran, und die Spitze der Kombination ist gegen die osterreichisch-ungarische Monarchie gerichtet, ohne deren Zertrummerung kein Punkt des russischen Programms zu verwirklichen ist. Begreifen Sie meine Skrupel? Ich hasse Wien mit ganzer Kraft, Sie wissen es. Aber soll ich darum die Unterstutzung meiner Seele der sarmatischen Despotie zuteil werden lassen, die im Begriffe ist, die Brandfackel an unseren hochadeligen Erdteil zu legen? Andererseits wurde ein auch nur gelegentliches diplomatisches Zusammenwirken meines Landes mit Osterreich mich wie Entehrung treffen. Das sind Gewissensfragen, welche -"

"Sieben und vier", sagte HansCastorp. "Acht und drei. Bub, Dame, Konig. Es geht ja. Sie bringen mir Gluck, Herr Settembrini."

Der Italiener verstummte. Hans Castorp fuhlte seine schwarzen Augen, den Blick von Vernunft und Sittlichkeit, in tiefer Trauer auf sich ruhen, legte indessen noch eine Weile weiter, bevor er, die Wange in die Hand gestutzt, mit der falschen und verstockten Unschuldsmiene eines bosen Kindes zu dem vor ihm stehenden Mentor aufblickte.

"Ihre Augen", sprach dieser, "suchen ganz vergebens zu verhehlen, da? Sie wissen, wie es um Sie steht."

"Placet experiri", hatte Hans Castorp die Frechheit zu antworten, und Herr Settembrini verlie? ihn, - worauf denn freilich der allein Gebliebene noch langere Zeit, ohne weiterzulegen, den Kopf in die Hand gestutzt, an seinem Tische inmitten des wei?en Zimmers sitzenblieb, grubelnd und im Innersten grauenhaft beruhrt von dem nicht geheueren und schiefen Zustand, worin er die Welt befangen sah, von dem Grinsen des Damons und Affengottes, unter dessen rat- und zugellose Herrschaft er sie geraten fand, und des Name "Der gro?e Stumpfsinn" war.

Ein schlimmer, apokalyptischer Name, ganz danach angetan, geheime Beangstigung einzuflo?en. Hans Castorp sa? und rieb sich Stirn und

Herzgegend mit den flachen Handen. Er furchtete sich. Ihm war, als konne "das alles" kein gutes Ende nehmen, als werde eine Katastrophe das Ende sein, eine Emporung der geduldigen Natur, ein Donnerwetter und aufraumender Sturmwind, der den Bann der Welt brechen, das Leben uber den "toten Punkt" hinwegrei?en und der "Sauregurkenzeit" einen schrecklichen Jungsten Tag bereiten werde. Er hatte Lust zu fliehen, wir sagten es schon, - und ein Gluck denn nur, da? die Obrigkeit das vorerwahnte "unverwandte Auge" auf ihn hatte, da? sie in seinen Mienen zu lesen verstand und auf seine Divertierung mit neuen, fruchtbaren Hypothesen bedacht war!

Korpsstudentischen Tonfalles hatte sie erklart, den eigentlichen Ursachen der Unsoliditat von Hans Castorps Warmehaushalt auf der Spur zu sein, Ursachen, denen nach ihrer wissenschaftlichen Aussage so unschwer beizukommen sein wurde, da? Heilung, legitime Entlassung ins Flachland plotzlich in nahe Aussicht geruckt schienen. Des jungen Mannes Herz schlug hoch, von mannigfachen Empfindungen besturmt, als er zum Aderlasse den Arm hinstreckte. Blinzelnd und leicht erblassend bewunderte er das herrliche Rubinrot seines Lebenssaftes, der steigend den klaren Behalter fullte. Der Hofrat selbst, assistiert von Doktor Krokowski und einer Barmherzigen Schwester, vollzog die kleine, aber weittragende Operation. Danach verging eine Reihe von Tagen, beherrscht fur Hans Castorp von der Frage, wie das Hingegebene, au?erhalb seiner, unter den Augen der Wissenschaft sich bewahren werde.

Es habe naturlich noch nichts gedeihen konnen, sagte der Hofrat am Anfang. Es habe leider noch nichts gedeihen wollen, sagte er spater. Aber der Morgen kam, wo er, wahrend des Fruhstucks, zu Hans Castorp trat, der zu dieser Zeit amGuten Russentisch seinen Platz hatte, am oberen Ende, dort, wo dereinst sein gro?er Duzbruder gesessen, und ihm unter redensartlichen Gluckwunschen eroffnete, der Kettenkokkus sei nun doch in einer der angelegten Kulturen zweifelsfrei festgestellt. Ein Problem der Wahrscheinlichkeitsrechnung sei es denn nun, ob die Vergiftungserscheinungen auf die jedenfalls bestehende kleine Tuberkulose oder auf die Streptos, die ja auch nur in bescheidenem Ma?e vorhanden, zuruckzufuhren seien. Er, Behrens, musse sich die Sache naher und langer besehen. Noch sei die Kultur nicht ausgewachsen. - Er zeigte sie ihm im "Labor": ein rotes Blutgelee, worin man graue Punktchen gewahrte. Das waren die Kokken.(Kokken jedoch hatte jeder Esel, wie auch Tuberkeln, und hatte man nicht die Symptome gehabt, so

ware auf diesen Befund nicht weiter Gewicht zu legen gewesen.)

Au?erhalb seiner, unter den Augen der Wissenschaft, fuhr Hans Castorps geronnenes Herzblut fort, sich zu bewahren. Es kam der Morgen, da der Hofrat mit redensartlich bewegten Worten berichtete: Nicht nur auf der einen Kultur, sondern auch auf allen ubrigen seien nachtraglich noch Kokken gewachsen, und zwar in gro?en Mengen. Ungewi?, ob es alles Streptos seien; mehr als wahrscheinlich nun aber, da? die Vergiftungserscheinungen daher ruhrten, - wenn man auch freilich nicht wissen konne, wieviel davon auf Rechnung der zweifellos vorhanden gewesenen und nicht ganz uberwundenen Tuberkulose zu setzen sei. Die zu ziehende Schlu?folgerung? Eine Streptovakzinkur! Die Prognose? Au?erordentlich gunstig - zumal der Versuch jedes Risikos entbehre, auf keinen Fall schaden konne. Denn da das Serum ja aus Hans Castorps eigenem Blute hergestellt werde, so werde mit der Injektion kein Krankheitsstoff in den Korper eingefuhrt, der nicht schon darin sei. Schlimmstenfalls wurde sie nutzlos sein, Null im Effekt - aber ob man denn das, da Patient ja ohnedies bleiben musse, als einen schlimmen Fall bezeichnen konne!

Nicht doch, so weit wollte Hans Castorp nicht gehen. Er unterwarf sich der Kur, obgleich er sie ridikul und ehrlos fand. Diese Impfungen mit sich selbst wollten ihm als eine abscheulich freudlose Diversion erscheinen, als ein inzestuoser Greuel von Ich zu Ich, frucht- und hoffnungslos in seinem Wesen. So urteilte seine hypochondrische Unbelehrtheit, die nur im Punkte der Unfruchtbarkeit - und in diesem freilich vollkommen - recht behielt. Die Diversion erstreckte sich uber Wochen. Sie schien zuweilen zu schaden - was selbstverstandlich auf Irrtum beruhen mu?te -, zuweilen auch zu nutzen, was sich dann aber gleichfalls als Irrtum herausstellte. Das Ergebnis war Null, ohne bei Namen genannt und ausdrucklich verkundigt zu werden. Die Unternehmung verlief im Sande, und Hans Castorp fuhr fort, Patience zu legen - Aug' in Auge mit dem Damon, dessen zugelloser Herrschaft fur sein Gefuhl ein Ende mit Schrecken bevorstand.

Fulle des Wohllauts

Welche Errungenschaft und Neueinfuhrung des Hauses Berghof war es, dieunsern langjahrigen Freund vom Kartentic erloste und ihn einer anderen, edleren, wenn auch im Grunde nicht weniger seltsamen

Leidenschaft in die Arme fuhrte? Wir sind im Begriffe, es zu erzahlen, erfullt von den geheimen Reizen des Gegenstandes und aufrichtig begierig, sie mitzuteilen.

Es handelte sich um eine Vermehrung der Unterhaltungsgerate des Hauptgesellschaftsraumes, aus nie rastender Fursorge ersonnen und beschlossen im Verwaltungsgremium des Hauses, beschafft mit einem Kostenaufwand, den wir nicht berechnen wollen, den wir aber gro?zugig mussen nennen durfen, von der Oberleitung dieses unbedingt zu empfehlenden Instituts. Ein sinnreiches Spielzeug also von der Art des stereoskopischen Guckkastens, des fernrohrformigen Kaleidoskops und der kinematographischen Trommel? Allerdings - und auch wieder durchaus nicht. Denn erstens war das keine optische Veranstaltung, die man eines Abends - und man schlug die Hande teils uber dem Kopf, teils in gebuckter Haltung vorm Scho?e zusammen - im Klaviersalon aufgebaut fand, sondern eine akustische; und ferner waren jene leichten Attraktionen nach Klasse, Rang und Wert uberhaupt nicht mit ihr zu vergleichen. Das war kein kindliches und einformiges Gaukelwerk, dessen man uberdrussig war, und das man nicht mehr anruhrte, sobald man auch nur drei Wochen auf dem Buckel hatte. Es war ein stromendes Fullhorn heiteren und seelenschweren kunstlerischen Genusses. Es war ein Musikapparat. Es war ein Grammophon.

Unsere ernste Sorge ist, dies Wort mochte in einem unwurdigen und uberholten Sinne mi?verstanden und Vorstellungen mochten daran geknupft werden, die einer verjahrten Vorform dessen, was uns als Wahrheit vorschwebt, nicht aber dieser in unermudlich fortbildenden Versuchen einer musisch gerichteten Technik zur vornehmsten Vollendung entwickelten Wahrheit gerecht werden. Ihr Guten! Das war das armselige Kurbelkastchen nicht, das ehemals wohl, Drehscheibe und Griffel obenauf, Anhangsel eines unformigen Trompetenschalltrichters aus Messing, von einem Wirtshaustische herunter anspruchslose Ohren mit naselndem Gebrull erfullte. Der mattschwarz gebeizte Schrein, der hier, ein wenig tiefer als breit, angeschlossen mit seidenem Kabel an einen elektrischen Steckkontakt der Wand, in schlichter Distinktion auf einem Fachtischchen stand, zeigte mit jener rohen und vorsintflutlichen Maschinerie uberhaupt keine Ahnlichkeit mehr. Man offnete den anmutig sich verjungenden Deckel, dessen innere, vom Grunde gehobene Messingstutze ihn in schrag schirmender Lage automatisch feststellte, und man gewahrte in flacher Vertiefung die mit grunem Tuch

ausgeschlagene Drehscheibe mit Nickelrand und dem gleichfalls vernickelten Mittelzapfen, uber den das Loch der Hartgummiplatte zu fugen war. Man bemerkte ferner, rechts seitwarts im Vordergrunde, eine uhrahnlich bezifferte Vorrichtung zur Regelung des Tempos, zur Linken den Hebel, mit dem das Drehwerk in Lauf zu setzen oder zu stoppen war; links hinten aber den gewunden keulenformigen, in weichen Gelenken beweglichen Hohlarm aus Nickel, mit der flachrunden Schalldose an seinem Ende, deren Schraubwerk die ziehende Nadel zu tragen bestimmt war. Man offnete auch die Flugel der vorderen Doppeltur und erblickte dahinter einjalousieartiges Gefuge schrag stehender Leisten aus schwarz gebeiztem Holze - nichts weiter.

"Es ist das neueste Modell", sagte der Hofrat, der mit eingetreten war. "Letzte Errungenschaft, Kinder, Ia, ff, was Besseres gibt es nicht in dem Janger." Er sprach das Wort urkomisch-unmoglich aus, wie etwa ein minder gebildeter Verkaufer es anpreisend getan haben wurde. "Das ist kein Apparat und keine Maschine," fuhr er fort, indem er aus einem der auf dem Tischchen angeordneten buntfarbigen Blechbuchschen eine Nadel nahm und sie befestigte, "das ist ein Instrument, das ist eine Stradivarius, eine Guarneri, da herrschen Resonanz- und Schwingungsverhaltnisse vom ausgepichtesten Raffinemang! 'Polyhymnia' hei?t die Marke, wie die Inschrift hier im inneren Deckel Sie lehrt. Deutsches Fabrikat, wissen Sie. Wir machen das mit Abstand am besten. Das treusinnig Musikalische in neuzeitlich-mechanischer Gestalt. Die deutsche Seele up to date. Da haben Sie die Literatur!" sagte er und wies auf ein Wandschrankchen, worin breitruckige Alben aufgereiht standen. "Ich ubermache Ihnen den ganzen Zauber zu freier Lust, empfehle ihn aber dem Schutze des Publikums. Wollen wir mal probeweise eine erbrausen lassen?"

Die Kranken baten flehentlich darum, und Behrens zog eines der stumm-gehaltvollen Zauberbucher hervor, wandte die schweren Blatter, zog aus einer der Kartontaschen, deren kreisformige Ausschnitte die farbigen Titel erkennen lie?en, eine Platte und legte sie ein. Mit einem Handgriff gab er der Drehscheibe Strom, zogerte zwei Sekunden, bis ihr Lauf die volle Geschwindigkeit erreicht hatte, und setzte die feine Spitze des Stahlstiftes behutsam auf den Plattenrand. Ein leicht wetzendes Gerausch ward horbar. Er senkte den Deckel daruber, und in demselben Augenblick brach durch die offene Flugeltur, zwischen den Spalten der Jalousie hervor, nein, aus dem ganzen Korper der Truhe

Instrumentaltrubel, eine lustig larmende und drangende Melodie, die ersten gliederwerfenden Takte einer Ouverture von Offenbach.

Man lauschte mit offenen Mundern lachelnd. Man traute seinen Ohren nicht, wie uberaus rein und naturlich die Koloraturen der Holzblaser lauteten. Eine Geige, sie ganz allein, praludierte phantastisch. Man vernahm den Bogenstrich, das Tremolo des Griffes, das su?e Gleiten von einer Lage in die andere. Sie fand ihre Melodie, den Walzer, das "Ach, ich habe sie verloren". Leicht trug Orchesterharmonie die schmeichlerische Weise, und es war zum Entzucken, wie sie, ehrenvoll vom Ensemble aufgenommen, als rauschendes Tutti sich wiederholte. Naturlich war es nicht so, wie wenn eine wirkliche Kapelle im Zimmer hier konzertiert hatte. Der Klangkorper, unentstellt im ubrigen, erlitt eine perspektivische Minderung; es war, wenn es erlaubt ist, fur den Gehorsfall ein Gleichnis aus dem Gebiet des Gesichtes einzusetzen, als ob man ein Gemalde durch ein umgekehrtes Opernglas betrachtete, so da? es entruckt und verkleinert erschien, ohne an der Scharfe seiner Zeichnung, der Leuchtkraft seiner Farben etwas einzubu?en. Das Musikstuck, talentstraff und prickelnd, spieltesich ab in allem Witz seiner leichtsinnigen Erfindung. Den Schlu? machte die Ausgelassenheit selbst, ein drollig zogernd ansetzender Galopp, ein unverschamter Cancan, der die Vision in der Luft geschuttelter Zylinder, schleudernder Knie, aufstiebender Rocke erzeugte und im komisch-triumphalen Enden kein Ende fand. Dann schnappte das Drehwerk selbsttatig ein. Es war aus. Man applaudierte von Herzen.

Man rief nach Weiterem und man bekam es: Menschliche Stimme entstromte dem Schrein, mannlich, weich und gewaltig auf einmal, von Orchester begleitet, ein italienischer Bariton beruhmten Namens, - und nun konnte durchaus von keiner Verschleierung und Entfernung mehr die Rede sein: das herrliche Organ erscholl nach seinem vollen naturlichen Umfang und Kraftinhalt, und namentlich wenn man in eines der offenen Nebenzimmer trat und den Apparat nicht sah, so war es nicht anders, als stande dort im Salon der Kunstler in korperlicher Person, das Notenblatt in der Hand, und sange. Er sang eine Opernbravourarie in seiner Sprache - eh, il barbiere. Di qualita, di qualita! Figaro qua, Figaro la, Figaro, Figaro, Figaro! Die Zuhorer wollten sterben vor Lachen uber sein falsettierendes parlando, uber den Kontrast dieser Barenstimme und dieser zungenbrecherischen Sprechfertigkeit. Erfahrene mochten die Kunste seiner Phrasierung, seiner Atemtechnik verfolgen und

bewundern. Meister des Unwiderstehlichen, Virtuose des welschen Da capo-Geschmacks, hielt er den vorletzten Ton, vor der Schlu?tonika, zur Rampe vordringend, wie es schien, und offenbar die Hand in der Luft, auf eine Weise aus, da? man in gezogene Bravorufe ausbrach, bevor er geendigt hatte. Es war vorzuglich.

Und es gab mehr. Ein Waldhorn vollfuhrte mit schoner Vorsicht Variationen uber ein Volkslied. Eine Sopranistin schmetterte, stakkierte und trillerte eine Arie aus "La Traviata" mit der lieblichsten Kuhle und Genauigkeit. Der Geist eines Violinisten von Weltruf spielte, wie hinter Schleiern, zu einer Klavierbegleitung, die trocken klang, wie Spinett, eine Romanze von Rubinstein. Aus der sacht kochenden Wundertruhe drangen Glockenklange, Harfenglissandos, Trompetengeschmetter und Trommelwirbel. Schlie?lich wurden Tanzplatten eingelegt. Sogar von dem neuen Import war schon ein und das andere Beispiel vorhanden, im exotischen Hafenkneipengeschmack, der Tango, berufen, aus dem Wiener Walzer einen Gro?vatertanz zu machen. Zwei Paare, des modischen Schrittes machtig, zeigten sich darin auf dem Teppich. Behrens hatte sich zuruckgezogen, nachdem er die Vermahnung erteilt, jede Nadel nur einmal zu benutzen und die Platten "ganz ahnlich wie rohe Eier" zu behandeln. Hans Castorp bediente den Apparat.

Warum gerade er? Es hatte sich so gemacht. Mit gedampfter Kurzangebundenheit war er denjenigen entgegengetreten, die nach des Hofrats Weggang den Nadel- und Plattenwechsel, die Ein- und Ausschaltung des Triebstroms hatten in die Hand nehmen wollen. "Lassen Sie mich das tun!" hatte er gesagt, indem er sie beiseite drangte, und sie waren ihm gleichmutig gewichen, erstens, weil er die Miene hatte, als ob er von langerer Hand hersich auf die Sache verstande, dann aber, weil ihnen sehr wenig daran gelegen war, an der Quelle des Genusses tatig zu sein, statt sich bequem und unverbindlich damit bewirten zu lassen, solange es sie nicht langweilte.

Nicht so Hans Castorp. Wahrend der Vorfuhrung der neuen Erwerbung durch den Hofrat hatte er sich still im Hintergrunde gehalten, ohne Lachen, ohne Beifallsrufe, aber die Darbietungen gespannt verfolgend, indes er nach gelegentlicher Gewohnheit mit zwei Fingern an einer Augenbraue drehte. Mit einer gewissen Unruhe hatte er im Rucken des Publikums mehrfach den Standort gewechselt, war ins Bibliothekszimmer getreten, um von dort zu lauschen, und hatte sich spater, Hande auf dem Rucken und mit verschlossenem

Gesichtsausdruck, neben Behrens aufgestellt, den Schrein im Auge, den einfachen Dienst daran erkundend. In ihm hie? es: "Halt! Achtung! Epoche! Das kam zu mir." Die bestimmteste Ahnung neuer Passion, Bezauberung, Liebeslast erfullte ihn. Dem Jungling im Flachland, dem beim ersten Blick auf ein Madchen Amors widerhakiger Pfeil unverhofft mitten im Herzen sitzt, ist nicht gar anders zumute. Eifersucht beherrschte sofort Hans Castorps Schritte. Offentliches Gut? Schlaffe Neugier hat weder Recht noch Kraft, zu besitzen. "Lassen Sie mich das tun!" sagte er zwischen den Zahnen, und sie waren es ganz zufrieden. Sie tanzten noch ein bi?chen nach leichtgeschurzten Piecen, die er laufen lie?, verlangten auch noch eine Gesangsnummer, ein Opernduett, die Barkarole aus "Hoffmanns Erzahlungen", die lieblich genug ins Ohr ging, und als er den Deckel schlo?, zogen sie ab, fluchtig angeregt und schwatzend, in die Liegekur, zur Ruhe. Darauf hatte er gewartet. Sie lie?en hinter sich alles stehen und liegen wie es mochte, die offenen Nadelbuchschen und Albums, die zerstreuten Platten. Das sah ihnen ahnlich. Er tat, als schlosse er sich ihnen an, verlie? aber heimlich ihren Zug auf der Treppe, kehrte in den Salon zuruck, schlo? alle Turen und blieb dort die halbe Nacht, tief beschaftigt.

Er machte sich mit der neuen Erwerbung vertraut, durchmusterte ungestort den beigestellten Vortragsschatz, den Inhalt der schweren Alben. Es waren deren zwolf, von zweierlei Gro?e, zu je zwolf Platten; und da viele der eng kreisformig geritzten schwarzen Scheiben doppelseitig waren, nicht nur weil manches Stuck auch die Kehrseite in Anspruch nahm, sondern auch weil einer ganzen Reihe von Tafeln zwei verschiedene Darbietungen eingeschrieben waren, so war das ein anfangs schwer ubersichtliches, ja verwirrendes Eroberungsgebiet schoner Moglichkeiten. Er spielte wohl ein Viertelhundert, indem er sich, um nicht zu storen, in der Nacht nicht gehort zu werden, gewisser sacht ziehender Nadeln bediente, die den Klang verringerten, - aber das war kaum der achte Teil dessen, was sich aller Enden lockend zum Versuche anbot. Fur heute mu?te es genug sein, die Titel zu uberfliegen und nur dannund wann, stichprobeweise, ein Beispiel der stummen Zirkelgraphik dem Schreine einzuverleiben, um es zum Tonen zu bringen. Sie waren unterschieden durch das farbige Etikett ihres Zentrums, die Hartgummidisken, und durch nichts weiter, fur das Auge. Eine sah aus wie die andere, ganz oder nicht ganz bis zur Mitte mit konzentrischen Kreisen dicht bedeckt; und doch barg ihr feines Liniengeprage die erdenklichste Musik, glucklichste Eingebungen aus allen Regionen der

Kunst, in ausgesuchter Wiedergabe.

Es waren da eine Menge Ouverturen und Einzelsatze aus der Welt der erhabenen Symphonik, gespielt von beruhmten Orchestern, deren Leiter namhaft gemacht waren. Eine lange Reihe von Liedern sodann, vorgetragen zum Klavier, von Mitgliedern gro?er Opernhauser, - und zwar sowohl Lieder, die das hohe und bewu?te Erzeugnis personlicher Kunst waren, wie auch schlichte Volkslieder, wie dann endlich auch noch solche, die zwischen diesen beiden Gattungen gleichsam die Mitte hielten, insofern sie zwar Produkte geistiger Kunst, aber im Sinn und Geist des Volkes tiefecht und fromm empfunden und erfunden waren; kunstliche Volkslieder, wenn man so sagen durfte, ohne durch das Wort "kunstlich" ihrer Innigkeit zu nahe zu treten: eines zumal, das Hans Castorp von Kindesbeinen an gekannt hatte, zu dem er aber jetzt eine geheimnisvoll-beziehungsreiche Liebe fa?te, und von dem die Rede sein wird. - Was gab es noch, oder eigentlich, was gab es nicht? Es gab Oper die Hulle und Fulle. Ein internationaler Chor gefeierter Sanger und Sangerinnen setzte, begleitet von diskret zurucktretendem Orchester, die hochgeschulte Gottesgabe seiner Stimmen ein zur Ausfuhrung von Arien, Duetten, ganzen Ensembleszenen aus den verschiedenen Gegenden und Epochen des musikalischen Theaters: der sudlichen Schonheitssphare einer zugleich hoch- und leichtherzigen Hingerissenheit, einer deutsch-volkhaften Welt von Schalkheit und Damonie, der franzosischen Gro?en und Komischen Oper. War damit ein Ende? O nein. Denn es folgte die Serie der Kammermusiken, der Quartette und Trios, der Instrumental-Solonummern fur Violine, Cello, Flote, die Konzertgesangsnummern mit obligater Violine oder Flote, die rein pianistischen Nummern, - von den blo?en Belustigungen, den Couplets, den Zweckplatten, in die kleine Aufspielorchester ihre Weisen gepragt hatten, und die nach einer derben Nadel verlangten, nicht erst zu reden.

Hans Castorp sichtete das, ordnete das, ubergab es, einsam hantierend, zu einem kleinen Teile dem Instrument, das es zu tonendem Leben weckte. Er ging mit hei?em Kopfe zu ahnlich vorgeruckter Stunde schlafen, wie nach dem ersten Gelage mit Pieter Peeperkorn majestatisch-duzbruderlichen Angedenkens, und traumte von zwei bis sieben von dem Zauberkasten. Er sah im Traume die Drehscheibe um ihren Zapfen kreisen, schnell bis zur Unsichtlichkeit und lautlos dabei, in einer Bewegung, die nicht nur eben in dem wirbeligen Rundflu?, sondern

auch noch in einem eigentumlichen seitlichen Wogen bestand, dergestalt, da? dem nadeltragenden Gelenkarm, unter dem sie hinzog, ein elastisch atmendes Schwingen mitgeteilt wurde, -sehr dienlich, wie man glauben mochte, dem vibrato und portamento der Streicher und der menschlichen Stimmen; doch unbegreiflich blieb es, im Traum nicht weniger als im Wachen, wie das blo?e Nachziehen einer haarfeinen Linie uber einem akustischen Hohlraum und einzig mit Hilfe des Schwingungshautchens der Schallbuchse die reich zusammengesetzten Klangkorper wiedererzeugen konnte, die das geistige Ohr des Schlafers fullten.

Er war am Morgen zeitig wieder im Salon, schon vor dem Fruhstuck, und lie?, mit gefalteten Handen in einem Sessel sitzend, einen herrlichen Bariton aus dem Schreine zur Harfe singen: "Blick' ich umher in diesem edlen Kreise -". Die Harfe klang vollkommen naturlich, es war unverfalschtes und unvermindertes Harfenspiel, was der Schrein au?er der schwellenden, hauchenden, artikulierenden menschlichen Stimme aus sich entlie? - durchaus zum Erstaunen. Und Zartlicheres gab es auf Erden nicht, als den Zwiegesang aus einer modernen italienischen Oper, den Hans Castorp darauf folgen lie?, - als diese bescheidene und innige Gefuhlsannaherung zwischen der weltberuhmten Tenorstimme, die so vielfach in den Alben vertreten war, und einem glashell-su?en kleinen Sopran, - als sein "Da mi il braccio, mia piccina" und die simple, su?e, gedrangt melodische kleine Phrase, die sie ihm zur Antwort gab ...

Hans Castorp zuckte zusammen, da hinter ihm die Tur ging. Es war der Hofrat, der zu ihm hereinschaute; - in seinem klinischen Kittel mit dem Horrohr in der Brusttasche stand er dort einen Augenblick, den Turgriff in der Hand, und nickte dem Laboranten zu. Dieser erwiderte das Nicken uber die Schulter hin, worauf das blauwangige Gesicht des Chefs mit dem einseitig geschurzten Schnurrbartchen hinter der zugezogenen Tur verschwand und Hans Castorp sich seinem unsichtbar-wohllautenden Liebesparchen wieder zuwandte.

Spater im Lauf des Tages, nach der Mittagsmahlzeit, nach dem Diner, hatte er Zuhorer bei seinem Treiben, wechselndes Publikum, - wenn man ihn selbst nicht als solches, sondern als Spender des Genusses betrachten wollte. Personlich neigte er zu dieser Auffassung, und die Hausgesellschaft bewilligte sie ihm in dem Sinne, da? sie seiner entschlossenen Selbsteinsetzung als Verwalter und Kustos der offentlichen Einrichtung von Anfang an stillschweigend zustimmte. Das

kostete diese Leute nichts; denn ungeachtet ihres oberflachlichen Entzuckens, wenn jener tenorale Abgott in Schmelz und Glanz schwelgte, die weltbegluckende Stimme in Kantilenen und hohen Kunsten der Leidenschaft sich verstromte, - trotz dieses laut bekundeten Entzuckens waren sie ohne Liebe und darum vollig einverstanden, jedem, der da wollte, die Sorge zu lassen. Hans Castorp war es, der den Plattenschatz in Ordnung hielt, den Inhalt der Alben auf die Innenseite der Deckel schrieb, so da? ein jegliches Stuck auf Wunsch und Anruf sofort zur Hand war, und der das Instrument handhabte: Man sah es ihn mit bald geubten, knappen und zarten Bewegungen tun. Was hatten auch dieanderen gemacht? Sie hatten die Platten geschandet, indem sie sie mit abgenutzten Nadeln bearbeiteten, hatten sie offen auf Stuhlen herumliegen lassen, mit dem Apparat stumpfen Jux getrieben, indem sie ein edles Stuck mit Tempo und Tonhohe hundertundzehn laufen lie?en oder auch den Zeiger auf Null einstellten, so da? es ein hysterisches Tirili oder ein versacktes Stohnen ergab ... Sie hatten das alles schon getan. Sie waren zwar krank, aber roh. Und darum trug Hans Castorp nach kurzer Zeit den Schlussel des Schrankchens, worin die Alben und Nadeln aufbewahrt wurden, einfach in der Tasche, so da? man ihn rufen mu?te, wenn man aufgespielt haben wollte.

Spat, nach der Abendgeselligkeit, nach Abzug der Menge, war seine beste Zeit. Dann blieb er im Salon oder kehrte heimlich dorthin zuruck und musizierte allein bis tief in die Nacht. Die Ruhe des Hauses damit zu storen, brauchte er weniger zu furchten, als er anfangs geglaubt hatte tun zu mussen, denn die Tragkraft seiner Geistermusik hatte sich ihm als von geringer Reichweite erwiesen: so Staunenswertes die Schwingungen nahe ihrem Ursprung bewirkten, so bald ermatteten sie, schwach und scheinmachtig wie alles Geisterhafte, ferner von ihm. Hans Castorp war allein mit den Wundern der Truhe in seinen vier Wanden, - mit den bluhenden Leistungen dieses gestutzten kleinen Sarges aus Geigenholz, dieses mattschwarzen Tempelchens, vor dessen offener Flugeltur er im Sessel sa?, die Hande gefaltet, den Kopf auf der Schulter, den Mund geoffnet, und sich von Wohllaut uberstromen lie?.

Die Sanger und Sangerinnen, die er horte, er sah sie nicht, ihre Menschlichkeit weilte in Amerika, in Mailand, in Wien, in Sankt Petersburg, - sie mochte dort immerhin weilen, denn was er von ihnen hatte, war ihr Bestes, war ihre Stimme, und er schatzte diese Reinigung oder Abstraktion, die sinnlich genug blieb, um ihm, unter Ausschaltung

aller Nachteile zu gro?er personlicher Nahe, und namentlich soweit es sich um Landsleute, um Deutsche handelte, eine gute menschliche Kontrolle zu gestatten. Die Aussprache, der Dialekt, die engere Landsmannschaft der Kunstler war zu unterscheiden, ihr Stimmcharakter sagte etwas aus uber des Einzelnen seelischen Wuchs, und daran, wie sie geistige Wirkungsmoglichkeiten nutzten oder versaumten, erwies sich die Stufe ihrer Intelligenz. Hans Castorp argerte sich, wenn sie es fehlen lie?en. Er litt auch und bi? sich auf die Lippen vor Scham, wenn Unvollkommenheiten der technischen Wiedergabe mit unterliefen, sa? wie auf Kohlen, wenn im Lauf einer oft zitierten Platte ein Gesangston scharf oder grohlend verlautete, was namentlich bei den heiklen Frauenstimmen so leicht sich ereignete. Doch nahm er das in den Kauf, denn Liebe mu? leiden. Zuweilen beugte er sich uber das Spielwerk, das atmend kreiste, wie uber einen Fliederstrau?, den Kopf in einer Klangwolke; standvor dem offenen Schrein, das Herrschergluck des Dirigenten kostend, indem er mit aufgehobener Hand einer Trompete den punktlichen Einsatz gab. Er hatte Lieblinge in seinem Magazin, einige Vokal- und Instrumentalnummern, die zu horen er niemals satt wurde. Wir mogen nicht unterlassen, sie anzufuhren.

Eine kleine Gruppe von Platten bot die Schlu?szenen des pomposen, von melodiosem Genie uberquellenden Opernwerks, das ein gro?er Landsmann des Herrn Settembrini, der Altmeister der dramatischen Musik des Sudens, in der zweiten Halfte des vorigen Jahrhunderts aus solennem Anla?, bei Gelegenheit der Ubergabe eines Werkes der volkerverbindenden Technik an die Menschheit, im Auftrage eines orientalischen Fursten geschaffen hatte. Hans Castorp wu?te bildungsweise ungefahr Bescheid damit, er kannte in gro?en Zugen das Schicksal des Radames, der Amneris und der Aida, die ihm auf Italienisch aus dem Kasten sangen, und so verstand er so ziemlich, was sie ihm sangen, - der unvergleichliche Tenor, der furstliche Alt mit dem herrlichen Stimmbruch in der Mitte seines Umfanges und der silberne Sopran - verstand nicht jedes Wort, aber doch eines hie und da mit Hilfe seiner Kenntnis der Situationen und seiner Sympathie fur diese Situationen, einer vertraulichen Anteilnahme, die wuchs, je ofter er die vier oder funf Platten laufen lie?, und schon zur wirklichen Verliebtheit geworden war.

Zuerst setzten Radames und Amneris sich auseinander: Die Konigstochter lie? den Gefesselten vor sich fuhren, ihn, den sie liebte

und sehnlich fur sich zu retten wunschte, obgleich er um der barbarischen Sklavin willen Vaterland und Ehre hingegeben hatte, - wahrend allerdings, wie er sagte, "im Herzensgrunde die Ehre unverletzt geblieben" war. Diese Intaktheit seines Innersten bei aller Schuldbeladenheit jedoch half ihm wenig, denn durch sein klar zutage liegendes Verbrechen war er dem geistlichen Gerichte verfallen, dem alles Menschliche fremd war, und das bestimmt kein Federlesen machen wurde, wenn er sich nicht im letzten Augenblick dahin besann, der Sklavin abzuschworen und sich dem koniglichen Alt mit dem Stimmbruch in die Arme zu werfen, der dies, rein akustisch genommen, so vollkommen verdiente. Amneris gab sich die inbrunstigste Muhe mit dem wohllautenden, aber tragisch verblendeten und dem Leben abgewandten Tenor, der immer nur "Ich kann nicht!" und "Vergebens!" sang, wenn sie ihm mit verzweifelten Bitten anlag, der Sklavin zu entsagen, es gelte sein Leben. "Ich kann nicht!" - "Hore noch einmal, entsage ihr!" - "Vergebens!" Todwillige Verblendung und warmster Liebeskummer vereinigten sich zu einem Zwiegesang, der au?erordentlich schon war, aber keine Hoffnung lie?. Und dann begleitete Amneris mit ihren Schmerzensrufen die schauerlich-formelhaften Repliken des geistlichen Gerichtes, die dumpf aus der Tiefe schollen, und an denen der unselige Radames sich uberhaupt nicht beteiligte.

"Radames, Radames", sang dringlich der Oberpriester und fuhrte ihm in zugespitzter Form sein Verbrechen des Verrates vor Augen.

"Rechtfertige dich!" fordertenim Chore alle Priester.

Und da der Oberste darauf hinweisen konnte, da? Radames schwieg, erkannten alle in hohler Einstimmigkeit auf Felonie.

"Radames, Radames!" fing der Vorsitzende wieder an. "Du hast das Lager vor der Schlacht verlassen."

"Rechtfertige dich!" hie? es abermals. "Seht, er schweiget", durfte der stark voreingenommene Verhandlungsleiter zum zweitenmal feststellen, und so vereinigten auch diesmal alle Richterstimmen sich mit der seinen in dem Wahrspruch: "Felonie!"

"Radames, Radames!" horte man den unerbittlichen Anklager zum drittenmal. "Dem Vaterlande, der Ehre und dem Konige brachst du deinen Eid." - "Rechtfertige dich!" scholl es aufs neue. Und: "Felonie!" erkannte endgultig und mit Schauder die Priesterschaft, nachdem sie aufmerksam gemacht worden, da? Radames absolut stillschwieg. So konnte denn das Unausbleibliche nicht ausbleiben, da? der Chor, der

stimmlich gleich beieinander geblieben war, dem Missetater fur Recht verkundete, sein Los sei erfullt, er sterbe den Tod der Verfluchten, unter dem Tempel der zurnenden Gottheit habe er lebend ins Grab einzugehen.

Die Entrustung der Amneris uber diese pfaffische Harte mu?te man sich nach Kraften selber einbilden, denn hier brach die Wiedergabe ab, Hans Castorp mu?te die Platte wechseln, was er mit stillen und knappen Bewegungen, gleichsam mit niedergeschlagenen Augen, tat, und wenn er sich wieder zum Lauschen niedergelassen hatte, war es schon des Melodramas letzte Szene, die er vernahm: das Schlu?duett des Radames und der Aida, gesungen auf dem Grunde ihres Kellergrabes, wahrend uber ihren Kopfen bigotte und grausame Priester im Tempel ihren Kult feierten, die Hande spreizten, sich in dumpfem Gemurmel ergingen ... "Tu - in questa tomba?!" schmetterte die unbeschreiblich ansprechende, zugleich su?e und heldenhafte Stimme des Radames entsetzt und entzuckt ... Ja, sie hatte sich zu ihm gefunden, die Geliebte, um derentwillen er Ehre und Leben verwirkt, sie hatte ihn hier erwartet, sich mit ihm einschlie?en lassen, um mit ihm zu sterben, und die Gesange, die sie in dieser Sache, zuweilen unterbrochen von dem dumpfen Geton des Zeremoniells im oberen Stockwerk, miteinander tauschten, oder zu denen sie sich vereinigten, - sie waren es eigentlich, die es dem einsam-nachtlichen Zuhorer in tiefster Seele angetan hatten: in Hinsicht auf die Umstande sowohl, wie auf ihren musikalischen Ausdruck. Es war vom Himmel die Rede in diesen Gesangen, aber sie selbst waren himmlisch, und sie wurden himmlisch vorgetragen. Die melodische Linie, die Radames' und Aidas Stimmen einzeln und dann in Vereinigung unersattlich nachzogen, diese einfache und selige, um Tonika und Dominante spielende Kurve, die vom Grundton zu lang betontem Vorhalt, einen halben Ton vor der Oktave, aufstieg und nach fluchtiger Beruhrung mit dieser sich zur Quinte wandte, erschien dem Lauscher als das Verklarteste, Bewunderungswurdigste, was ihm je untergekommen. Doch ware er in das Lautliche weniger verliebt gewesen, ohne die zum Grunde liegendeSituation, die sein Gemut fur die daraus erwachsende Su?e erst recht empfanglich machte. Es war so schon, da? Aida sich zu dem verlorenen Radames gefunden hatte, um sein Grabesschicksal mit ihm zu teilen in Ewigkeit! Mit Recht protestierte der Verurteilte gegen das Opfer so lieblichen Lebens, aber seinem zartlich verzweifelten "No, no! troppo sei bella" war doch das Entzucken endgultiger Vereinigung mit derjenigen anzumerken, die er nie wiederzusehen gemeint hatte,

und dieses Entzucken, diese Dankbarkeit ihm deutlich nachzufuhlen, bedurfte es fur Hans Castorp keines Aufgebotes an Einbildungskraft. Was er aber letztlich empfand, verstand und geno?, wahrend er mit gefalteten Handen auf die schwarze kleine Jalousie blickte, zwischen deren Leisten dies alles hervorbluhte, das war die siegende Idealitat der Musik, der Kunst, des menschlichen Gemuts, die hohe und unwiderlegliche Beschonigung, die sie der gemeinen Gra?lichkeit der wirklichen Dinge angedeihen lie?. Man mu?te sich nur vor Augen fuhren, was hier, nuchtern genommen, geschah! Zwei lebendig Begrabene wurden, die Lungen voll Grubengas, hier miteinander, oder, noch schlimmer, einer nach dem anderen, an Hungerkrampfen verenden, und dann wurde an ihren Korpern die Verwesung ihr unaussprechliches Werk tun, bis zwei Gerippe unterm Gewolbe lagerten, deren jedem es vollig gleichgultig und unempfindlich sein wurde, ob es allein oder zu zweien lagerte. Das war die reale und sachliche Seite der Dinge - eine Seite und Sache fur sich, die vor dem Idealismus des Herzens uberhaupt nicht in Betracht kam, vom Geiste der Schonheit und der Musik aufs Triumphalste in den Schatten gestellt wurde. Fur Radames' und Aidas Operngemuter gab es das sachlich Bevorstehende nicht. Ihre Stimmen schwangen sich unisono zum seligen Oktavenvorhalt auf, versichernd, nun offne sich der Himmel und ihrem Sehnen erstrahle das Licht der Ewigkeit. Die trostliche Kraft dieser Beschonigung tat dem Zuhorer au?erordentlich wohl und trug nicht wenig dazu bei, da? diese Nummer seines Leibprogramms ihm so besonders am Herzen lag.

Er pflegte sich auszuruhen von ihren Schrecken und Verklarungen bei einer zweiten Piece, die kurzlaufig, aber von konzentriertem Zauber war, - viel friedlicher ihrem Inhalt nach, als jene erste, ein Idyll, aber ein raffiniertes Idyll, gemalt und gestaltet mit den zugleich sparsamen und verwickelten Mitteln neuester Kunst. Es war ein reines Orchesterstuck, ohne Gesang, ein symphonisches Praludium franzosischen Ursprungs, bewerkstelligt mit einem fur zeitgenossische Verhaltnisse kleinen Apparat, jedoch mit allen Wassern moderner Klangtechnik gewaschen und kluglich danach angetan, die Seele in Traum zu spinnen.

Der Traum, den Hans Castorp dabei traumte, war dieser: Rucklings lag er auf einer mit bunten Sternblumen besaten, von Sonne beglanzten Wiese, einen kleinen Erdhugel unter dem Kopf, das eine Bein etwas hochgezogen, das andere daruber gelegt, - wobei es jedoch Bocksbeine waren, die er kreuzte. Seine Hande fingerten, nur zuseinem eigenen

Vergnugen, da die Einsamkeit uber der Wiese vollkommen war, an einem kleinen Holzgeblase, das er im Munde hielt, einer Klarinette oder Schalmei, der er friedlich-nasale Tone entlockte: einen nach dem anderen, wie sie eben kommen wollten, aber doch in geglucktem Reigen, und so stieg das sorglose Genasel zum tiefblauen Himmel auf, unter dem das feine, leicht vom Winde bewegte Blatterwerk einzeln stehender Birken und Eschen in der Sonne flimmerte. Doch war sein beschauliches und unverantwortlich-halbmelodisches Dudeln nicht lange die einzige Stimme der Einsamkeit. Das Summen der Insekten in der sommerhei?en Luft uber dem Grase, der Sonnenschein selbst, der leichte Wind, das Schwanken der Wipfel, das Glitzern des Blatterwerks, - der ganze sanft bewegte Sommerfriede umher wurde gemischter Klang, der seinem einfaltigen Schalmeien eine immer wechselnde und immer uberraschend gewahlte harmonische Deutung gab. Die symphonische Begleitung trat manchmal zuruck und verstummte; aber Hans mit den Bocksbeinen blies fort und lockte mit der naiven Eintonigkeit seines Spiels den ausgesucht kolorierten Klangzauber der Natur wieder hervor, - welcher endlich nach einem abermaligen Aussetzen, in su?er Selbstubersteigerung, durch Hinzutritt immer neuer und hoherer Instrumentalstimmen, die rasch nacheinander einfielen, alle verfugbare, bis dahin gesparte Fulle gewann, fur einen fluchtigen Augenblick, dessen wonnevoll-vollkommenes Genugen aber die Ewigkeit in sich trug. Der junge Faun war sehr glucklich auf seiner Sommerwiese. Hier gab es kein "Rechtfertige dich!", keine Verantwortung, kein priesterliches Kriegsgericht uber einen, der der Ehre verga? und abhanden kam. Hier herrschte das Vergessen selbst, der selige Stillstand, die Unschuld der Zeitlosigkeit: Es war die Liederlichkeit mit bestem Gewissen, die wunschbildhafte Apotheose all und jeder Verneinung des abendlandischen Aktivitatskommandos, und die davon ausgehende Beschwichtigung machte dem nachtlichen Musikanten die Platte vor vielen wert. -

Da war eine dritte ... Es waren eigentlich wiederum mehrere, zusammengehorig, ineinandergehend, drei oder vier, denn die Tenorarie, die vorkam, nahm allein eine bis zur Mitte beringte Seite fur sich in Anspruch. Wieder war das etwas Franzosisches, aus einer Oper, die Hans Castorp gut kannte, die er wiederholt im Theater gehort und gesehen und auf deren Handlung er einmal sogar gesprachsweise - und zwar in einem sehr entscheidenden Gesprach - eine Anspielung gemacht hatte ... Es war im zweiten Akt, in der spanischen Schenke, einer geraumigen

Spelunke, dielenartig, mit Tuchern geschmuckt und von defekter maurischer Architektur. Carmens warme, ein wenig rauhe, aber durch Rassigkeit einnehmende Stimme erklarte, tanzen zu wollen vor dem Sergeanten, und schon horte man ihre Kastagnetten klappern. In demselben Augenblick aber erschollen aus einiger Entfernung Trompeten, Clairons, ein wiederholtes militarisches Signal, das dem Kleinen nicht wenig in die Glieder fuhr. "Halt! Einen Augenblick!" rief er und spitzte die Ohren wie ein Pferd. Und da Carmen "Warum?" fragte und "was es denn gabe?": "Horstdu nicht?" rief er, ganz erstaunt, da? ihr das nicht eingehe, wie ihm. Es seien ja die Trompeten aus der Kaserne, die das Zeichen gaben. "Zur Heimkehr naht die Frist", sagte er opernhaft. Aber die Zigeunerin konnte das nicht begreifen und wollte es vor allem auch gar nicht. Desto besser, meinte sie halb dumm, halb frech, da brauchten sie keine Kastagnetten, der Himmel selbst schicke ihnen Musik zum Tanz und darum: Lalalala! - Er war au?er sich. Sein eigener Enttauschungsschmerz trat ganz zuruck hinter dem Bemuhen, ihr klarzumachen, um was es sich handle, und da? keine Verliebtheit der Welt gegen dieses Signal aufkomme. Wie war es denn moglich, da? sie etwas so Fundamentales und Unbedingtes nicht verstand! "Ich mu? nun fort, nach Haus, ins Quartier, zum Appell!" rief er, verzweifelt uber eine Ahnungslosigkeit, die ihm das Herz doppelt so schwer machte, als es ohnedies gewesen ware. Da aber mu?te man Carmen horen! Sie war wutend, sie war in tiefster Seele emport, ihre Stimme war ganz und gar betrogene und beleidigte Liebe - oder sie stellte sich so. "Ins Quartier? Zum Appell?" Und ihr Herz? Und ihr gutes, zartliches Herz, das in seiner Schwache - ja, sie gebe es zu: in seiner Schwache! - bereit gewesen sei, ihm mit Gesang und Tanz die Zeit zu kurzen? "Traterata!" und sie hob mit wildem Hohn die gerollte Hand an den Mund, um das Clairon nachzuahmen. "Traterata!" Und das genuge. Da springe der Dummkopf in die Hohe und wolle fort. Gut denn, fort mit ihm! Hier sein Helm, sein Sabel und Gehange! Machen, machen, machen solle er, da? er in die Kaserne komme! - Er bat um Erbarmen. Aber sie fuhr fort in ihrem gluhenden Hohn, indem sie tat, als sei sie er, der beim Schall der Horner sein bi?chen Verstand verloren habe. Traterata, zum Appell! Barmherziger Himmel, er werde noch zu spat kommen! Nur fort, denn es rufe ja zum Appelle, und da store er selbstverstandlich auf wie ein Narr, in dem Augenblick, wo sie, Carmen, fur ihn habe tanzen wollen. Das, das, das sei seine Liebe zu ihr! -

Qualvolle Lage! Sie verstand nicht. Das Weib, die Zigeunerin konnte

und wollte nicht verstehen. Sie wollte es nicht, - denn ohne jeden Zweifel: in ihrer Wut, ihrem Hohn war etwas uber den Augenblick und das Personliche Hinausgehende, ein Ha?, eine Urfeindschaft gegen das Prinzip, das durch diese franzosischen Clairons - oder spanischen Horner - nach dem verliebten kleinen Soldaten rief, und uber das zu triumphieren ihr hochster, eingeborener, uberpersonlicher Ehrgeiz war. Sie besa? ein sehr einfaches Mittel dazu: Sie behauptete, wenn er gehe, so liebe er sie nicht; und daswar genau das, was zu horen Jose dort drinnen im Kasten nicht ertrug. Er beschwor sie, ihn zu Worte kommen zu lassen. Sie wollte nicht. Da zwang er sie - es war ein verteufelt ernster Moment. Fatale Klange losten sich aus dem Orchester, ein duster drohendes Motiv, das sich, wie Hans Castorp wu?te, durch die ganze Oper bis zum katastrophalen Ausgang zog und auch die Einleitung zu des kleinen Soldaten Arie bildete, der neuen Platte, die nun einzulegen war.

"Hier an dem Herzen treu geborgen" - Jose sang das wunderschon; Hans Castorp lie? die Scheibe auch einzeln, au?er dem vertrauten Zusammenhange ofters laufen und lauschte stets in achtsamster Sympathie. Es war inhaltlich nicht weit her mit der Arie, aber ihr flehender Gefuhlsausdruck war im hochsten Grade ruhrend. Der Soldat sang von der Blume, die Carmen ihm am Anfang ihrer Bekanntschaft zugeworfen, und die im schweren Arrest, worein er um ihretwillen geraten, sein ein und alles gewesen sei. Er gestand tief erschuttert, er habe augenblicksweise dem Schicksal geflucht, weil es zugelassen hatte, da? er Carmen je mit Augen gesehen. Aber gleich habe er die Lasterung bitter bereut und auf den Knien zu Gott um ein Wiedersehen gebetet. Da - und dies Da war der gleiche hohe Ton, mit dem er unmittelbar vorher sein "Ach, teures Madchen" begonnen, - da - und nun war in der Begleitung aller Instrumentalzauber los, der nur irgend geeignet sein mochte, den Schmerz, die Sehnsucht, die verlorene Zartlichkeit, die su?e Verzweiflung des kleinen Soldaten zu malen, - da hatte sie vor seinen Blicken gestanden in all ihrem schlechthin verhangnishaften Reiz, so da? er klar und deutlich das eine gefuhlt hatte, da? es "um ihn getan"("getan" mit einem schluchzenden ganztonigen Vorschlag auf der ersten Silbe), auf immer also um ihn getan sei. "Du meine Wonne, mein Entzucken!" sang er verzweifelt in einer wiederkehrenden und auch vom Orchester noch einmal auf eigene Hand geklagten Tonfolge, die vom Grundton zwei Stufen aufstieg und sich von dort mit Innigkeit zur tieferen Quinte wandte. "Dein ist mein Herz", beteuerte er

abgeschmackter, aber allerzartlichster Weise zum Uberflu?, indem er sich eben dieser Figur bediente, ging dann die Tonleiter bis zur sechsten Stufe durch, um hinzuzufugen: "Und ewig dir gehor ich an!", lie? danach die Stimme um zehn Tone sinken und bekannte erschuttert sein "Carmen, ich liebe dich!", dessen Ausklang von einem wechselnd harmonisierten Vorhalt schmerzlich verzogert wurde, bevor das "dich" mit der vorhergehenden Silbe sich in den Grundakkord ergab.

"Ja, ja!" sagte Hans Castorp schwergemut und dankbar und legte auch noch das Finale ein, wo alle den jungen Jose dazu begluckwunschten, da? ihm durch das Renkontre mit dem Offizier der Ruckweg abgeschnittenwar, so da? er nun fahnenfluchtig werden mu?te, wie Carmen es zu seinem Entsetzen schon vorher von ihm verlangt hatte.

"O folg uns in felsige Klufte,

wilder, doch rein wehen dort die Lufte -"

sangen sie ihm im Chor, - man konnte sie ganz gut verstehen.

"Offen die Welt - nicht Sorgen drucken;

unbegrenzt dein Vaterland;

und voran: das seligste Entzucken,

die Freiheit lacht! Die Freiheit lacht!"

"Ja, ja!" sagte er abermals und ging zu etwas Viertem uber, etwas sehr Liebem und Gutem.

Da? es wieder etwas Franzosisches war, ist so wenig unsere Schuld, wie es auf unsere Rechnung kommt, da? auch wieder militarischer Geist obwaltete. Es war eine Einlage, eine Solo-Gesangsnummer, ein "Gebet" aus der Faust-Oper von Gounod. Jemand trat auf, jemand Erz-Sympathisches, der Valentin hie?, den aber Hans Castorp im Stillen anders nannte, mit einem vertrauteren, wehmutsvollen Namen, dessen Trager er in hohem Grade mit der aus dem Kasten laut werdenden Person identifizierte, obgleich diese eine viel schonere Stimme hatte. Es war ein starker und warmer Bariton, und sein Gesang war dreiteilig; er bestand aus zwei miteinander nahverwandten Eckstrophen, die frommen Charakters, ja, fast im Stile des protestantischen Chorals gehalten waren, und einer Mittelstrophe keck-chevaleresken Mutes, kriegerisch, leichtsinnig, dabei aber ebenfalls fromm; und das war eigentlich das Franzosisch-Militarische daran. Der Unsichtbare sang:

"Da ich nun verlassen soll

mein geliebtes Heimatland" -

und er wandte unter diesen Umstanden sein Flehen zum Herrn des Himmels, da? er ihm unterdessen das holde Schwesterblut schutzen moge! Es ging in den Krieg, der Rhythmus sprang um, wurde unternehmend, Gram und Sorge mochten zum Teufel fahren, er, der Unsichtbare wollte sich dort, wo die Schlacht am hei?esten, die Gefahr am gro?ten war, keck, fromm und franzosisch dem Feinde entgegenwerfen. Wenn ihn aber Gott zu Himmelshohen rufe, sang er, dann wolle er schutzend von dort auf "dich" herniedersehen. Mit diesem "dich" war das Schwesterblut gemeint; aber es ruhrte Hans Castorp trotzdem in tiefster Seele, und diese seine Ergriffenheit lie? nicht nach bis zum Schlu?, wo der Brave dort drinnen zu machtigen Choralakkorden sang:

"O Herr des Himmels, hor mein Flehn,

in deinem Schutz la? Margarete stehn!"

Weiter war es nichts mit dieser Platte. Wir glaubten, kurz von ihr reden zu sollen, weil Hans Castorp sie so ausnehmend gern hatte, dann aber auch, weil sie bei spaterer, seltsamer Gelegenheit noch eine gewisse Rolle spielte. Fur jetzt kommen wir auf ein funftes und letztes Stuck aus der Gruppe der engeren Favoriten, - welches nun freilich gar nichts Franzosisches mehr war, sondern etwas sogar besonders und exemplarisch Deutsches, auch nichts Opernhaftes, sondern ein Lied, eines jener Lieder, - Volksgut und Meisterwerk zugleich und eben durch dieses Zugleich seinen besonderen geistig-weltbildlichen Stempel empfangend ... Wozu die Umschweife?Es war Schuberts "Lindenbaum", es war nichts anderes, als dies allvertraute "Am Brunnen vor dem Tore".

Ein Tenorist trug es vor zum Klavier, ein Bursche von Takt und Geschmack, der seinen zugleich simplen und gipfelhohen Gegenstand mit vieler Klugheit, musikalischem Feingefuhl und rezitatorischer Umsicht zu behandeln wu?te. Wir alle wissen, da? das herrliche Lied im Volks- und Kindermunde etwas anders lautet, denn als Kunstgesang. Dort wird es meist, vereinfacht, nach der Hauptmelodie strophisch durchgesungen, wahrend diese populare Linie im Original schon bei der zweiten der achtzeiligen Strophen in Moll variiert, um beim funften Vers, uberaus schon, wieder in Dur einzulenken, bei den darauf folgenden "kalten Winden" aber und dem vom Kopfe fliegenden Hute dramatisch aufgelost wird und sich erst bei den letzten vier Versen der dritten Strophe wiederfindet, die wiederholt werden, damit die Weise sich

aussingen konne. Die eigentlich bezwingende Wendung der Melodie erscheint dreimal und zwar in ihrer modulierenden zweiten Halfte, das drittemal also bei der Reprise der letzten Halbstrophe "Nun bin ich manche Stunde". Diese zauberhafte Wendung, der wir mit Worten nicht zu nahe treten mogen, liegt auf den Satzfragmenten "So manches liebe Wort", "Als riefen sie mir zu", "Entfernt von jenem Ort", und die helle und warme, atemkluge und zu einem ma?vollen Schluchzen geneigte Stimme des Tenoristen sang sie jedesmal mit so viel intelligentem Gefuhl fur ihre Schonheit, da? sie dem Zuhorer auf ungeahnte Weise ans Herz griff, zumal der Kunstler seine Wirkung durch au?erordentlich innige Kopftone bei den Zeilen "Zu ihm mich immerfort", "Hier findst du deine Ruh" zu steigern wu?te. Beim wiederholten letzten Verse aber, diesem "Du fandest Ruhe dort!" sang er das "fandest" das erstemal aus voller, sehnsuchtiger Brust und erst das zweitemal wieder als zartestes Flageolett.

Soviel vom Liede und seinem Vortrag. Wir mogen uns wohl schmeicheln, es sei uns in fruheren Fallen gelungen, unseren Zuhorern ein ungefahres Verstandnis fur die intime Teilnahme einzuflo?en, die Hans Castorp den Vorzugs-Programmnummern seiner nachtlichen Konzerte entgegenbrachte. Allein begreiflich zu machen, was diese letzte, dies Lied, der alte "Lindenbaum" ihm bedeutete, das ist nun freilich ein Unternehmen der kitzlichsten Art, und hochste Behutsamkeit der Intonation ist vonnoten, wenn nicht mehr verdorben, als gefordert werden soll.

Wir wollen es so stellen: Ein geistiger, das hei?t ein bedeutender Gegenstand ist eben dadurch "bedeutend", da? er uber sich hinausweist, da? er Ausdruck und Exponent eines Geistig-Allgemeineren ist, einer ganzen Gefuhls- und Gesinnungswelt, welche in ihm ihr mehr oder weniger vollkommenes Sinnbild gefunden hat, - wonach sich denn der Grad seiner Bedeutung bemi?t. Ferner ist die Liebe zu einem solchen Gegenstand ebenfalls und selbst "bedeutend". Sie sagt etwas aus uber den, der sie hegt, sie kennzeichnet sein Verhaltnis zu jenem Allgemeinen, jener Welt, die derGegenstand vertritt, und die in ihm, bewu?t oder unbewu?t, mitgeliebt wird.

Will man glauben, da? unser schlichter Held nach so und so vielen Jahrchen hermetisch-padagogischer Steigerung tief genug ins geistige Leben eingetreten war, um sich der "Bedeutsamkeit" seiner Liebe und ihres Objektes bewu?t zu sein? Wir behaupten und erzahlen, da? er es

war. Das Lied bedeutete ihm viel, eine ganze Welt und zwar eine Welt, die er wohl lieben mu?te, da er sonst in ihr stellvertretendes Gleichnis nicht so vernarrt gewesen ware. Wir wissen, was wir sagen, wenn wir - vielleicht etwas dunklerweise - hinzufugen, da? sein Schicksal sich anders gestaltet hatte, wenn sein Gemut den Reizen der Gefuhlssphare, der allgemein geistigen Haltung, die das Lied auf so innig-geheimnisvolle Weise zusammenfa?te, nicht im hochsten Grade zuganglich gewesen ware. Eben dieses Schicksal aber hatte Steigerungen, Abenteuer, Einblicke mit sich gebracht, Regierungsprobleme in ihm aufgeworfen, die ihn zu ahnungsvoller Kritik an dieser Welt, diesem ihrem allerdings absolut bewunderungswurdigen Gleichnis, dieser seiner Liebe reif gemacht hatten und danach angetan waren, sie alle drei unter Gewissenszweifel zu stellen.

Der mu?te nun freilich von Liebesdingen rein gar nichts verstehen, der meinte, durch solche Zweifel geschahe der Liebe Abtrag. Sie bilden im Gegenteil ihre Wurze. Sie sind es erst, die der Liebe den Stachel der Leidenschaft verleihen, so da? man schlechthin die Leidenschaft als zweifelnde Liebe bestimmen konnte. Worin bestanden denn aber Hans Castorps Gewissens- und Regierungszweifel an der hoheren Erlaubtheit seiner Liebe zu dem bezaubernden Liede und seiner Welt? Welches war diese dahinter stehende Welt, die seiner Gewissensahnung zufolge eine Welt verbotener Liebe sein sollte?

Es war der Tod.

Aber das war ja erklarter Wahnsinn! Ein so wunderherrliches Lied! Reines Meisterwerk, geboren aus letzten und heiligsten Tiefen des Volksgemuts; ein hochster Besitz, das Urbild des Innigen, die Liebenswurdigkeit selbst! Welch ha?liche Verunglimpfung!

Ei ja, ja, ja, das war recht schon, so mu?te wohl jeder Redliche sprechen. Und dennoch stand hinter diesem holden Produkte der Tod. Es unterhielt Beziehungen zu ihm, die man lieben mochte, aber nicht ohne sich von einer bestimmten Unerlaubtheit solcher Liebe ahnungsvoll-regierungsweise Rechenschaft zu geben. Es mochte seinem eigenen ursprunglichen Wesen nach nicht Sympathie mit dem Tode, sondern etwas sehr Volkstumlich-Lebensvolles sein, aber die geistige Sympathie damit war Sympathie mit dem Tode, - lautere Frommigkeit, das Sinnige selbst an ihrem Anfang, das sollte auch nicht aufs Leiseste bestritten werden; aber in ihrer Folge lagen Ergebnisse der Finsternis.

Was redete er sich da ein! - Er hatte es sich von euch nicht ausreden

lassen. Ergebnisse der Finsternis. Finstere Ergebnisse. Folterknechtssinn und Menschenfeindlichkeit in spanischem Schwarz mit der Tellerkrause und Lust statt Liebe - als Ergebnis treublickender Frommigkeit.

Wahrhaftig, der Literat Settembrini war nicht eben der Mann seines unbedingten Vertrauens, aber ererinnerte sich einiger Belehrung, die der klare Mentor ihm einst, vor Zeiten, am Anfang seiner hermetischen Laufbahn, uber "Ruckneigung", die geistige "Ruckneigung" in gewisse Welten hatte zuteil werden lassen, und er fand es ratsam, diese Unterweisung mit Vorsicht auf seinen Gegenstand zu beziehen. Herr Settembrini hatte das Phanomen jener Ruckneigung als "Krankheit" bezeichnet, - das Weltbild selbst, die Geistesepoche, der die Ruckneigung galt, mochte seinem padagogischen Sinn wohl als "krankhaft" erscheinen. Wie denn nun aber! Hans Castorps holdes Heimwehlied, die Gemutssphare, der es angehorte, und die Liebesneigung zu dieser Sphare sollten - "krank" sein? Mit nichten! Sie waren das Gemutlich-Gesundeste auf der Welt. Allein das war eine Frucht, die, frisch und prangend gesund diesen Augenblick oder eben noch, au?erordentlich zu Zersetzung und Faulnis neigte, und, reinste Labung des Gemutes, wenn sie im rechten Augenblicke genossen wurde, vom nachsten unrechten Augenblicke an Faulnis und Verderben in der genie?enden Menschheit verbreitete. Es war eine Lebensfrucht, vom Tode gezeugt und todestrachtig. Es war ein Wunder der Seele, - das hochste vielleicht vor dem Angesicht gewissenloser Schonheit und gesegnet von ihr, jedoch mit Mi?trauen betrachtet aus triftigen Grunden vom Auge verantwortlich regierender Lebensfreundschaft, der Liebe zum Organischen, und Gegenstand der Selbstuberwindung nach letztgultigem Gewissensspruch.

Ja, Selbstuberwindung, das mochte wohl das Wesen der Uberwindung dieser Liebe sein, - dieses Seelenzaubers mit finsteren Konsequenzen! Hans Castorps Gedanken oder ahndevolle Halbgedanken gingen hoch, wahrend er in Nacht und Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge sa?, - sie gingen hoher, als sein Verstand reichte, es waren alchimistisch gesteigerte Gedanken. O, er war machtig, der Seelenzauber! Wir alle waren seine Sohne, und Machtiges konnten wir ausrichten auf Erden, indem wir ihm dienten. Man brauchte nicht mehr Genie, nur viel mehr Talent, als der Autor des Lindenbaumliedes, um als Seelenzauberkunstler dem Liede Riesenma?e zu geben und die Welt damit zu unterwerfen.

Man mochte wahrscheinlich sogar Reiche darauf grunden, irdisch-allzu irdische Reiche, sehr derb und fortschrittsfroh und eigentlich gar nicht heimwehkrank, - in welchen das Lied zur elektrischen Grammophonmusik verdarb. Aber sein bester Sohn mochte doch derjenige sein, der in seiner Uberwindung sein Leben verzehrte und starb, auf den Lippen das neue Wort der Liebe, das er noch nicht zu sprechen wu?te. Es war so wert, dafur zu sterben, das Zauberlied! Aber wer dafur starb, der starb schon eigentlich nicht mehr dafur und war ein Held nur, weil er im Grunde schon fur das Neue starb, das neue Wort der Liebe und der Zukunft in seinem Herzen - -

Das also waren Hans Castorps Vorzugsplatten.

Fragwurdigstes

Mit Edhin Krokowskis Konferenzen hatte es im Laufe der Jahrchen eine unerwartete Wendung genommen. Immer hatten seine Forschungen, die der Seelenzergliederung und dem menschlichen Traumleben galten, einen unterirdischen und katakombenhaften Charaktergetragen; neuerdings aber, in gelindem, der Offentlichkeit kaum merklichem Ubergang, hatten sie die Richtung ins Magische, durchaus Geheimnisvolle eingeschlagen, und seine vierzehntagigen Vortrage im Speisesaal, Hauptattraktion des Hauses, Stolz des Prospektes, - diese Vortrage, gehalten in Gehrock und Sandalen, hinter gedecktem Tischchen und mit exotisch schleppenden Akzenten vor dem unbeweglich lauschenden Berghofpublikum, sie handelten nicht mehr von verkappter Liebesbetatigung und Ruckverwandlung der Krankheit in den bewu?t gemachten Affekt, sie handelten von den profunden Seltsamkeiten des Hypnotismus und Somnambulismus, den Phanomenen der Telepathie, des Wahrtraums und des Zweiten Gesichtes, den Wundern der Hysterie, bei deren Erorterung der philosophische Horizont sich derart weitete, da? auf einmal solche Ratsel dem Auge der Zuhorer erschimmerten, wie das des Verhaltnisses der Materie zum Psychischen, ja dasjenige des Lebens selbst, welchem beizukommen auf unheimlichstem, auf krankhaftem Wege, wie es scheinen mochte, mehr Hoffnung war, als auf dem der Gesundheit ...

Wir sagen dies, weil wir es fur unsere Pflicht halten, leichtfertige Geister zu beschamen, die wissen wollten, Dr. Krokowski habe sich nur aus der Sorge, seine Vortrage vor heilloser Monotonie zu bewahren, zu

rein emotionellen Zwecken also, dem Verborgenen zugewandt. So sprachen Lasterzungen, an denen es nirgends fehlt. Es ist wahr, da? bei den Montagskonferenzen die Herren hastiger als je ihre Ohren schuttelten, um sie hellhoriger zu machen, und da? Fraulein Levi womoglich noch genauer als ehemals der Wachsfigur mit dem Triebwerk im Busen dabei glich. Aber diese Wirkungen waren so legitim, wie die Entwicklung, die der Geist des Gelehrten durchlaufen, und fur die er nicht nur Folgerechtheit, sondern geradezu Notwendigkeit in Anspruch nehmen durfte. Immer schon hatten jene dunklen und weitlaufigen Gegenden der menschlichen Seele sein Studiengebiet ausgemacht, die man als Unterbewu?tsein bezeichnet, obgleich man moglicherweise besser tate, von einem Uberbewu?tsein zu reden, da aus diesen Spharen zuweilen ein Wissen emporgeistert, das das Bewu?tseinswissen des Individuums bei weitem ubersteigt und den Gedanken nahelegt, es mochten Verbindungen und Zusammenhange zwischen den untersten und lichtlosen Gegenden der Einzelseele und einer durchaus wissenden Allseele bestehen. Der Bereich des Unterbewu?tseins, "okkult" dem eigentlichen Wortsinne nach, erweist sich sehr bald auch als okkult im engeren Sinn dieses Wortes und bildet eine der Quellen, woraus die Erscheinungen flie?en, die man aushilfsweise so benennt. Das ist nicht alles. Wer im organischen Krankheitssymptom ein Werk aus dem bewu?ten Seelenleben verbannter und hysterisierter Affekte erblickt, der anerkennt die Schopfermacht des Psychischen im Materiellen, - eine Macht, die man als zweite Quelle der magischen Phanomene anzusprechen gezwungen ist. Idealist des Pathologischen, um nicht zu sagen: pathologischer Idealist, wird er sich am Ausgangspunkt von Gedankengangen sehen, die ganz kurzlaufig ins Problem des Seins uberhaupt, das will sagen: in das Problem der Beziehungen von Geist und Materie munden. Der Materialist, Sohn einerPhilosophie der blo?en Robustheit, wird es sich niemals nehmen lassen, das Geistige als ein phosphoreszierendes Produkt des Materiellen zu erklaren. Der Idealist dagegen, ausgehend vom Prinzip der schopferischen Hysterie, wird geneigt und sehr bald entschlossen sein, die Frage des Primats in vollstandig umgekehrtem Sinn zu beantworten. Alles in allem liegt hier nichts Geringeres als die alte Streitfrage vor, was eher gewesen sei: Das Huhn oder das Ei, - diese Streitfrage, die eben durch die doppelte Tatsache eine so au?erordentliche Verwirrung erfahrt, da? kein Ei denkbar ist, das nicht von einem Huhn gelegt worden ware, und kein Huhn, das nicht sollte aus einem vorausgesetzten Ei gekrochen sein.

Diese Angelegenheiten also erorterte Dr. Krokowski neuerdings in seinen Vortragen. Auf organischem, auf legitimem, auf logischem Wege war er dazu gekommen, wir konnen es nicht sattsam betonen, und nur zum Uberflu? fugen wir hinzu, da? er in solche Erorterungen eingetreten war, lange bevor durch das Erscheinen Ellen Brands auf der Bildflache die Dinge in ein empirisch-experimentelles Stadium traten.

Wer war Ellen Brand? Fast hatten wir vergessen, da? unsere Zuhorer es nicht wissen, wahrend uns naturlich der Name gelaufig ist. Wer sie war? Fast niemand auf den ersten Blick. Ein liebes Ding von neunzehn Jahren, Elly gerufen, flachsblond, Danin, doch nicht einmal aus Kopenhagen, sondern aus Odense auf Funen, woselbst ihr Vater ein Buttergeschaft besa?. Sie selbst stand im praktischen Leben, hatte schon ein paar Jahre, einen Schreibarmel uber dem rechten Arm, als Beamtin der Provinzfiliale einer hauptstadtischen Bank auf einem Drehbock uber dicken Buchern gesessen, - wobei sie Temperatur bekommen hatte. Der Fall war unerheblich, er hatte wohl eigentlich nur Verdachtscharakter, wenn Elly auch freilich ja zart war, zart und offenbar bleichsuchtig, - dabei unbedingt sympathisch, so da? man ihr gern die Hand auf den flachsblonden Scheitel gelegt hatte, was denn der Hofrat auch regelma?ig tat, wenn er im Speisesaal mit ihr sprach. Nordische Kuhle umgab sie, eine glasern-keusche, kindlich-jungfrauliche Atmosphare, durchaus liebenswert, wie der volle und reine Kinderblick ihrer Blauaugen und wie ihre Sprache, die spitz, hoch und fein war, ein leicht gebrochenes Deutsch mit kleinen typischen Lautfehlern, wie "Fleich" statt "Fleisch". An ihren Zugen war nichts Bemerkenswertes. Das Kinn war zu kurz. Sie sa? am Tische der Kleefeld, die sie bemutterte.

Mit diesem Jungfraulein Brand also, dieser Elly, dieser freundlichen kleinen danischen Radfahrerin und Kontorbockhockerin hatte es Bewandtnisse, von denen niemand beim ersten und zweiten Anblick ihrer klaren Person sich etwas hatte traumen lassen, die aber schon nach ein paar Wochen ihres Aufenthaltes hier oben anfingen sich zu entdecken, und die in ihrer ganzen Seltsamkeit blo?zulegen Dr. Krokowskis Sache wurde.

Gemeinsame Unterhaltungen gelegentlich der Abendgeselligkeit gaben dem Gelehrten ersten Anla? zum Stutzen. Man ubtesich in allerlei Ratespielen; ferner im Auffinden versteckter Gegenstande mit Hilfe eines Klavierspiels, das anschwoll, wenn man sich dem Verstecke naherte, dagegen leiser wurde, wenn man Irrwege einschlug; und man ging in der

Folge dazu uber, demjenigen, der wahrend der Verabredung die Tur hatte von au?en besehen mussen, das richtige Ausfuhren bestimmter zusammengesetzter Handlungen zuzumuten: z. B. die Ringe zweier gewisser Personen zu wechseln; jemanden mit drei Verbeugungen zum Tanze aufzufordern; ein bezeichnetes Buch der Bibliothek zu entnehmen und es dem und dem zu uberreichen und dergleichen mehr. Es ist zu bemerken, da? Spiele dieser Art sonst nicht zu den Gewohnheiten der Berghof-Gesellschaft gehort hatten. Wer eigentlich die Anregung dazu gegeben, war nachtraglich nicht festzustellen. Es war gewi? nicht Elly gewesen. Dennoch war man erst in ihrer Gegenwart darauf verfallen.

Die Teilnehmer - es waren fast lauter alte Bekannte von uns, und auch Hans Castorp war darunter - zeigten sich bei den Versuchen mehr oder weniger anstellig oder versagten auch ganzlich. Die Tauglichkeit Elly Brands aber erwies sich als au?erordentlich, als auffallend, als ungebuhrlich. Ihre sichere Findigkeit im Aufsuchen von Verstecken hatte unter Beifall und bewunderndem Gelachter hingehen mogen; bei den kombinierten Handlungen jedoch fing man an zu verstummen. Sie fuhrte aus, was immer man ihr heimlich vorgeschrieben, fuhrte es aus, sobald sie wieder eingetreten, mit sanftem Lacheln, ohne ein Schwanken, auch ohne leitende Musik. Sie holte aus dem Speisesaal eine Prise Salz, streute sie dem Staatsanwalt Paravant auf den Kopf, nahm ihn danach bei der Hand und fuhrte ihn zum Klavier, wo sie mit seinem Zeigefinger den Anfang des Liedchens "Kommt ein Vogel geflogen" spielte. Dann brachte sie ihn zu seinem Platze zuruck, machte einen Knix vor ihm, zog einen Fu?schemel herbei und setzte sich abschlie?end darauf zu seinen Fu?en nieder, - genau so, wie man es sich unter vielem Kopfzerbrechen fur sie ausgedacht.

So hatte sie also gehorcht!

Sie errotete; und mit wahrer Erleichterung, sie beschamt zu sehen, fing man an, sie im Chore zu schelten, als sie versicherte: Nein, nein, nicht so, man moge doch das nicht glauben! Nicht drau?en, nicht an der Tur habe sie gehorcht, gewi? und wahrhaftig nicht!

Nicht drau?en, nicht an der Tur?

"O nein, ents-chuldigen Sie!" Sie horche hier im Zimmer, wenn sie hereinkomme, konne nicht umhin, es zu tun.

Nicht umhin? Im Zimmer?

Es flustere ihr zu, sagte sie. Es werde ihr zugeflustert, was sie zu tun

habe, leise, aber ganz scharf und deutlich.

Das war ein Gestandnis, offenbar. Elly war in gewissem Sinne schuldbewu?t, hatte betrogen. Sie hatte sagen mussen, da? sie fur ein solches Spiel nicht tauge, da alles ihr zugeflustert werde. Ein Wettstreit verliert jeden menschlichen Sinn, wenn einer der Konkurrierenden ubernaturlicheVorteile besitzt. Im sportlichen Sinn war Ellen plotzlich disqualifiziert, allein auf eine Weise, da? manchem der Rucken kalt wurde bei ihrem Bekenntnis. Mehrere Stimmen auf einmal riefen nach Dr. Krokowski. Man lief, ihn zu holen, und er kam: stammig und kernig lachelnd, sofort im Bilde, zu heiterem Vertrauen auffordernd mit seinem ganzen Wesen. Man hatte ihm atemlos gemeldet, kra? Anormales liege vor, es sei eine Allwissende aufgetreten, eine Jungfrau mit Stimmen. - Ei, ei, und was weiter? Ruhe, meine Freunde! Wir werden sehen. Es war sein Grund und Boden, - schwankend und sumpfig-nachgiebig fur alle, auf welchem er jedoch mit sicherer Sympathie sich bewegte. Er fragte, er lie? sich erzahlen. Ei, ei, und da sehe einer! "So steht es also mit Ihnen, mein Kind?" Und er legte, wie jeder gern tat, der Kleinen die Hand aufs Haupt. Viel Ursache zur Aufmerksamkeit, doch nicht die geringste zum Entsetzen. Er tauchte seine braunen exotischen Augen in die hellblauen Ellen Brands, wahrend er sanft mit der Hand von ihrem Scheitel uber die Schulter zum Arme abwarts strich. Fromm und frommer erwiderte sie seinen Blick, namlich mehr und mehr von unten, da ihr Kopf sich langsam zur Brust und Schulter neigte. Als ihre Augen anfingen, sich zu brechen, tat der Gelehrte eine lassige Handbewegung aufwarts vor ihrem Gesichtchen, worauf er alle Dinge fur wohl bestellt erklarte und die ganze erregte Gesellschaft zum Abenddienst schickte, ausgenommen Elly Brand, mit der er noch etwas zu "plaudern" gedachte.

Zu plaudern! Man konnte es sich denken. Niemandem war wohl bei dem Wort, einem rechten Wort des frohlichen Kameraden Krokowski. Jedermann fuhlte sein Innerstes kalt davon angeruhrt, auch Hans Castorp, als er verspatet seinen vorzuglichen Liegestuhl bezog und sich erinnerte, wie ihm bei Ellys ungebuhrlichen Leistungen und der verschamten Erklarung, die sie dafur gegeben, der Boden unter den Fu?en geschwankt hatte, so da? eine gewisse Ubelkeit und korperliche Beangstigung, eine leichte Seekrankheit ihn angekommen war. Er hatte niemals ein Erdbeben erlebt, aber er sagte sich, da? damit wohl ahnliche Empfindungen unverwechselbaren Schreckens verbunden sein mu?ten, -

von der Neugier abgesehen, die Ellen Brands fatale Fahigkeiten ihm au?erdem einflo?ten: einer Neugier, die das Gefuhl ihrer hoheren Hoffnungslosigkeit in sich selbst trug, das hei?t: das Bewu?tsein der geistigen Unzuganglichkeit des Gebietes, wonach sie tastete, und daher den Zweifel, ob sie nur mu?ig oder auch sundig sei, was sie aber nicht hinderte, zu bleiben, was sie war, namlich Neugier. Hans Castorp hatte, wie jedermann, im Lauf seiner Lebensjahre von Dingen der geheimen Natur oder Ubernatur dies und jenes vernommen, - der seherischen Urtante ist ja Erwahnung geschehen, von der eine melancholische Uberlieferung auf ihn gekommen. Aber niemals war diese Welt, der ereine theoretische und unbeteiligte Anerkennung nicht versagt hatte, ihm personlich auf den Leib geruckt, nie hatte er praktische Erfahrungen damit gemacht, und sein Widerstreben gegen solche Erfahrungen, ein Geschmackswiderstreben, ein asthetisches Widerstreben, ein Widerstreben humanen Stolzes - wenn wir so anspruchsvolle Ausdrucke verwenden durfen in Hinsicht auf unseren durchaus anspruchslosen Helden - kam der Neugier, die sie ihm lebhaft erregten, fast gleich. Er fuhlte im voraus, fuhlte es klar und deutlich, da? diese Erfahrungen, wie sie auch fortgehen mochten, nie anders sich wurden anlassen konnen, als abgeschmackt, unverstandlich und menschlich wurdelos. Dennoch brannte er darauf, sie zu machen. Er begriff, da? "Mu?ig oder sundig", als Alternative schon schlimm genug, gar keine Alternative war, sondern da? das zusammenfiel, und da? geistige Hoffnungslosigkeit nur die au?ermoralische Ausdrucksform der Verbotenheit war. Das Placet experiri aber, ihm eingepflanzt von einem, der solche Versuche freilich aufs prallste mi?billigen mu?te, sa? fest in Hans Castorps Sinn; seine Sittlichkeit fiel nachgerade mit seiner Neugier zusammen, hatte das wohl eigentlich immer getan: mit der unbedingten Neugier des Bildungsreisenden, die vielleicht schon, als sie vom Mysterium der Personlichkeit kostete, nicht mehr weit von dem hier auftauchenden Gebiet entfernt gewesen war, und die eine Art von militarischem Charakter bekundete dadurch, da? sie dem Verbotenen nicht auswich, wenn es sich anbot. So beschlo? Hans Castorp, auf dem Posten zu sein und nicht beiseite zu stehen, wenn es mit Ellen Brand zu weiteren Abenteuern kommen sollte.

Dr. Krokowski hatte ein striktes Verbot ergehen lassen, fernerhin laienhafte Experimente mit Fraulein Brands geheimen Gaben anzustellen. Er hatte das Kind mit wissenschaftlichem Beschlag belegt, hielt Sitzungen mit ihr in seinem analytischen Verlies, hypnotisierte sie,

wie man horte, war bestrebt, die in ihr schlummernden Moglichkeiten zu entwickeln und zu disziplinieren, ihr seelisches Vorleben zu erforschen. Dies tat ubrigens auch Hermine Kleefeld, ihre mutterliche Freundin und Patronin, und erfuhr unter dem Siegel der Verschwiegenheit dies und das, was sie unter demselben Siegel im ganzen Hause verbreitete, bis in die Concierge-Loge hinein. Sie erfuhr zum Beispiel, da? der- oder dasjenige, was der Kleinen beim Spiele die Aufgaben zugeflustert hatte, Holger hie? - es war der Jungling Holger, ein spirit, ihr wohlvertraut, ein abgeschieden-atherisch Wesen und etwas wie ein Schutzgeist der kleinen Ellen. - Er also hatte ihr das mit der Salzprise und Paravants Zeigefinger verraten? - Ja, die Schattenlippen liebkosend an ihrem Ohr, so da? es leise kitzelte und zum Lacheln reizte, habe er es ihr eingeflustert. - Das musse angenehm gewesen sein, wenn Holger ihr fruher in der Schule die Antworten eingesagt habe, wenn sie nicht vorbereitet gewesen sei. - Hierauf hatte Ellen geschwiegen. Das habe Holger wohl nicht gedurft, sagte sie spater. In so ernste Dinge sicheinzumischen, sei ihm verwehrt, und ubrigens habe er die Schulantworten wohl selber nicht recht gewu?t.

Ferner stellte sich heraus, da? Ellen von jung auf, wenn auch in gro?eren Zeitabstanden, Erscheinungen gehabt hatte, - sichtbare und unsichtbare. - Was das denn hei?en solle: unsichtbare Erscheinungen? - Zum Beispiel so. Sie hatte als sechzehnjahriges Madchen allein im Wohnzimmer ihres Elternhauses gesessen, am runden Tisch mit einer Handarbeit, am hellen Nachmittag, und neben ihr auf dem Teppich hatte ihres Vaters Dogge, die Hundin Freia, gelegen. Der Tisch war mit einer bunten Decke, einem solchen turkischen Schal, wie alte Frauen ihn dreieckig trugen, bedeckt gewesen: ubereck, mit kurz hangenden Zipfeln hatte er auf der Platte gelegen. Und plotzlich hatte Ellen gesehen, wie der Zipfel ihr gegenuber sich langsam aufgerollt hatte: still, sorgfaltig und regelma?ig war er aufgerollt worden, ein gutes Stuck gegen die Mitte der Tischplatte hin, so da? die Rolle schlie?lich schon ziemlich lang gewesen war; und wahrend dies geschehen, hatte Freia, wild auffahrend, mit angestemmten Vorderbeinen und gestraubtem Fell sich auf die Keulen gesetzt, war heulend ins Nebenzimmer gesturzt, unter das Sofa gekrochen und dann ein volles Jahr lang nicht zu bewegen gewesen, einen Fu? ins Wohnzimmer zu setzen.

Ob es Holger gewesen sei, fragte Fraulein Kleefeld, der die Schaldecke aufgerollt habe. - Die kleine Brand wu?te es nicht. - Und was sie sich bei

dem Vorkommnis denn wohl gedacht habe. - Aber da es absolut unmoglich war, sich das Allergeringste dabei zu denken, so hatte auch Elly sich weiter nichts dabei gedacht. - Ob sie es ihren Eltern berichtet habe. - Nein. - Das war seltsam. Obgleich sich so ganz und gar nichts dabei denken lie?, hatte Elly doch das Gefuhl gehabt, in diesem Fall und in ahnlichen, da? sie es fur sich behalten und ein strenges, schamhaftes Geheimnis daraus machen musse. - Ob sie denn schwer daran getragen habe. - Nein, nicht besonders schwer. Was denn auch an dem Sich-Aufrollen einer Decke viel zu tragen sei. Aber an anderem habe sie schwerer getragen. Zum Beispiel hieran:

Vor einem Jahre, ebenfalls in ihrem Elternhaus zu Odense, hatte sie fruhmorgens, in aller Frische, ihr Zimmer verlassen, das im Erdgescho? gelegen war, und sich uber die Diele die Treppe hinauf ins E?zimmer begeben wollen, um, wie es ihre Gewohnheit war, Kaffee zu kochen, bevor die Eltern sich einfanden. Fast bis zum Podest, wo die Treppe sich wandte, war sie schon gelangt gewesen, da hatte sie auf eben diesem Podest, am Rande desselben, dicht an den Stufen, ihre in Amerika verheiratete altere Schwester Sophie stehen sehen - leiblich und wirklich. Sie hatte ein wei?es Kleid angehabt und sonderbarerweise einen Kranz von Wasserrosen, schilfigen Mummeln,auf dem Kopf getragen und die Hande an der Schulter gefaltet und hatte ihr zugenickt. "Ja, aber, Sophie, bist du da?" hatte die angewurzelte Ellen halb freudig und halb erschrocken gefragt. Da hatte Sophie noch einmal genickt und sich darnach verfluchtigt. Sie war durchsichtig geworden; bald war sie nur in dem Grade noch sichtbar gewesen, wie eine flie?ende Stromung hei?er Luft, und dann uberhaupt nicht mehr, so da? der Weg frei gewesen war fur Ellen. Doch dann hatte sich erwiesen, da? in dieser selbigen Morgenstunde Schwester Sophie in New-Jersey an Herzentzundung gestorben war.

Nun, meinte Hans Castorp, als die Kleefeld es ihm erzahlte, das habe doch einigen Verstand, es lasse sich horen. Die Erscheinung hier, der Todesfall dort, - immerhin, da sei ein gewisser achtbarer Zusammenhang zu ersehen. Und er willigte ein, an einem spiritistischen Gesellschaftsspiel, einem Glasrucken, teilzunehmen, das man aus Ungeduld, unter heimlicher Umgehung von Dr. Krokowskis eifersuchtigem Verbot, mit Ellen Brand zu veranstalten beschlossen hatte.

Nur gewisse Personen wurden zu der Sitzung, deren Schauplatz

Hermine Kleefelds Zimmer war, vertraulich zugezogen: au?er der Gastgeberin, Hans Castorp und der kleinen Brand, waren es nur noch die Damen Stohr und Levi sowie Herr Albin, der Tscheche Wenzel und Dr. Ting-Fu. Abends, erst mit dem Schlage Zehn, trat man leise zusammen und musterte flusternd die Vorkehrungen, die Hermine getroffen, und die darin bestanden, da? auf einem ungedeckten Rundtisch von mittlerer Gro?e, inmitten des Zimmers, ein Weinglas, umgekehrt, den Fu? nach oben, gestellt war, rundum aber, am Rande der Tischplatte, in gehorigen Abstanden, kleine Beinplattchen, Spielmarken nach ihrer gewohnlichen Bestimmung, lagen, auf die mit Tinte und Feder die funfundzwanzig Buchstaben des Alphabets gezeichnet waren. Vorerst reichte die Kleefeld Tee, was dankbar begru?t wurde, da die Damen Stohr und Levi, ungeachtet der kindlichen Harmlosigkeit des Unternehmens, uber kalte Extremitaten und Herzklopfen klagten. Nach genossener Erwarmung lie? man sich um das Tischchen nieder, und in matt-rosiger Beleuchtung, da die Wirtin, der Stimmung zuliebe, das Deckenlicht geloscht und nur das verkleidete Nachttischlampchen hatte brennen lassen, legte jedermann einen Finger seiner Rechten leicht an den Fu? des Glases. So wollte es die Methode. Man harrte des Augenblicks, wo das Glas ins Rucken geraten wurde.

Das mochte leichtlich geschehen, denn die Tischplatte war glatt, der Glasrand wohl geschliffen, und der Druck, den die noch so leicht aufgelegten, zitternden Finger ubten, wurde, da er naturlich ungleichma?ig war, hier mehr vertikale, dort eher seitliche Richtung haben mochte, auf die Dauer sehr hinreichend sein, das Glas zum Verlassen seines mittlern Ortes zu bestimmen. An der Peripherie des Bewegungsfeldes wurde es auf Buchstaben sto?en, und wenn diejenigen, die es anlief, in ihrer Zusammensetzung Worte und irgend welchen Sinn ergaben, so wurde das eineinnerlich bis zur Unreinlichkeit verwickelte Erscheinung sein, ein Mischprodukt ganz-, halb- und unbewu?ter Elemente, der wunschgetriebenen Nachhilfe Einzelner - ob sie selbst ein solches Tun sich nun eingestanden oder nicht - und des geheimen Einverstandnisses lichtloser Seelenschichten der Allgemeinheit, eines unterirdischen Zusammenwirkens zu scheinbar fremden Ergebnissen, an denen die Dunkelheiten des Einzelnen mehr oder weniger beteiligt sein wurden, am starksten wohl diejenigen der lieblichen kleinen Elly. Dies wu?ten im Grunde alle im voraus, und Hans Castorp, nach seiner Art, schwatzte es sogar aus, wahrend man mit zitternden Fingern sa? und wartete. Auch kamen die kalten Extremitaten und das Herzklopfen der Damen, die

bedrangte Heiterkeit der Herren eben nur daher, da? sie es wu?ten, daher also, da? sie sich zu einem unreinlichen Spiel mit ihrer Natur, einem furchtsam-neugierigen Erproben unbekannter Teile ihres Selbst in stiller Nacht zusammengetan hatten und jener Schein- oder Halb-Dinglichkeiten harrten, die man magisch nennt. Es war fast nur, um der Sache eine Form zu geben, geschah also konventionellerweise, da? man unterstellte, durch das Glas wurden die Geister Abgeschiedener zu der Versammlung reden. Herr Albin war erbotig, das Wort zu fuhren und mit den etwa auftretenden Intelligenzen zu unterhandeln, da er schon fruher hie und da an spiritistischen Sitzungen teilgenommen.

Zwanzig und mehr Minuten vergingen. Der Stoff zum Flustern versiegte, die erste Spannung gab nach. Man stutzte den rechten Arm mit der Linken am Ellbogen. Der Tscheche Wenzel war im Begriffe einzunicken. Ellen Brand, das Fingerchen leicht aufgelegt, hielt den gro?en und reinen Kinderblick uber die nahen Dinge hinweg in den Schein des Nachttischlampchens gerichtet.

Plotzlich kippte das Glas, schlug auf und lief den Umsitzenden unter den Handen weg. Sie hatten Muhe, mit ihren Fingern zu folgen. Es rutschte bis zum Tischrande, lief ein Stuck daran entlang und kehrte dann geradlinig ungefahr zur Mitte zuruck. Hier schlug es noch einmal auf und verhielt sich ruhig.

Der Schrecken aller war teils freudiger, teils banger Art. Frau Stohr erklarte weinerlich, lieber aufhoren zu wollen, doch wurde ihr bedeutet, da? sie sich fruher hatte prufen mussen und sich nun still zu verhalten habe. Die Dinge schienen in Flu? zu kommen. Man stipulierte, da?, um ja und nein zu antworten, das Glas nicht erst die Buchstaben sollte anlaufen mussen, sondern sich mit ein- und zweimaligem Aufschlagen begnugen moge.

"Ist eine Intelligenz zugegen?" erkundigte sich Herr Albin mit strenger Miene uber die Kopfe hin ins Leere hinein ... Ein Zogern folgte. Dann kippte das Glas und bejahte.

"Wie hei?t du?" fragte Herr Albin fast schroffen Tones, indem er die Energie seiner Anrede durch ein Kopfschutteln verstarkte.

Das Glas ruckte. Es lief mit Entschiedenheit und im Zickzack von Marke zu Marke, indem es zwischendurch immer ein Stuck gegen die Tischmittehin zuruckkehrte; es lief zum h, zum o, zum l, es schien danach zu ermatten, sich zu verwirren, nicht weiter zu wissen, aber es fand sich wieder, fand auch das g, das e und r. Hatte man's doch

gedacht! Es war Holger personlich, der spirit Holger, der das mit der Salzprise usw. gewu?t, aber freilich in Schulfragen sich nicht eingemischt hatte. Er war da, er flutete in den Luften, er umschwebte das Kranzchen. Was fing man nun mit ihm an? Eine gewisse Blodigkeit beherrschte den Kreis. Man beriet sich leise und gleichsam hinter der Hand, was man von ihm zu wissen begehren sollte. Herr Albin entschied sich, zu fragen, was Holgers Stand und Geschaft bei Lebzeiten gewesen sei. Er tat es, wie oben, im Tone des Verhors, streng und mit zusammengezogenen Brauen.

Das Glas schwieg eine Weile. Dann begab es sich kippend und stolpernd zum d, ruckte ab und bezeichnete das i. Was wollte das werden? Die Spannung war machtig. Dr. Ting-Fu befurchtete kichernd, Holger sei ein Dieb gewesen. Frau Stohr verfiel in hysterisches Lachen, ohne dadurch der Arbeit des Glases Einhalt zu tun, das, wenn auch humpelnd und klappernd, zum c, zum h glitt, das t beruhrte und dann, offenbar unter fehlerhafter Auslassung einer Letter, mit dem r endigte. Es hatte "Dichtr" buchstabiert.

Was tausend, ein Dichter war Holger gewesen? - Zum Uberflu? und nur aus Stolz, wie es schien, kippte das Glas und klopfte bejahend. - Ein lyrischer Dichter? fragte die Kleefeld, indem sie das y wie i aussprach, wie Hans Castorp unwillig bemerkte ... Zu solchen Spezifikationen schien Holger unlustig. Er gab keine neue Antwort. Er buchstabierte die vorige noch einmal, rasch, sicher und klar, das e hinzufugend, das er vorhin vergessen.

Gut, gut, also Dichter. Die Verlegenheit wuchs, - eine sonderbare Verlegenheit, die den Kundgebungen unkontrollierter Gegenden des eigenen Inneren galt, aber durch die gleisnerisch-halbdingliche Gegebenheit dieser Kundgebungen doch auch wieder die Richtung ins Au?en-Wirkliche erhielt. Ob Holger sich wohl und glucklich fuhlte in seinem Zustande, wollte man wissen. - Das Glas schob traumerischerweise das Wort "Gelassen". Ach so, "gelassen" also. Nun ja, man ware von selbst nicht darauf gekommen, aber da denn das Glas so buchstabierte, fand man es wahrscheinlich und gut gesagt. - Und wie lange Holger sich denn schon in seinem gelassenen Zustande befinde? - Jetzt kam wieder etwas, worauf niemand verfallen ware, etwas traumerisch sich selbst Gebendes. Es lautete: "Eilende Weile". - Sehr gut! Es hatte auch "Weilende Eile" lauten konnen, es war ein bauchrednerischer Dichterspruch von au?en, Hans Castorp namentlich fand ihn vorzuglich. Eine eilende Weile war Holgers Zeitelement,

naturlich, er mu?te die Frager spruchweise abfertigen, mit irdischen Worten und Ma?genauigkeiten mochte erfreilich zu operieren verlernt haben. - Was wollte man also noch von ihm erfahren? Die Levi gestand ihre Neugier, zu wissen, wie Holger aussahe, beziehungsweise einst ausgesehen habe. Ob er ein schoner Jungling sei? - Sie solle ihn selber fragen, ordnete Herr Albin an, der diesen Wissenswunsch unter seiner Wurde fand. So fragte sie per du, ob spirit Holger wohl blonde Locken habe.

"Schone braune, braune Locken", zog das Glas, indem es das Wort "braune" ausfuhrlich zweimal buchstabierte. Erfreute Heiterkeit herrschte im Kreise. Die Damen bekundeten offen Verliebtheit. Sie warfen Ku?hande schrag gegen den Plafond empor. Dr. Ting-Fu meinte kichernd, Mister Holger scheine ja ziemlich eitel zu sein.

Da wurde das Glas zornig und toll! Es lief wie wild und ohne Sinn auf dem Tische umher, kippte wutend, fiel um und rollte der Stohr in den Scho?, die schreckensbleich mit gespreizten Armen darauf niederblickte. Man fuhrte es behutsam und unter Entschuldigungen an seinen Ort zuruck. Der Chinese wurde gescholten. Wie er sich habe unterstehen konnen! Da sehe er, wohin solch ein Vorwitz fuhre! Und wie, wenn Holger nun im Zorne auf und davon war und kein Wort mehr verlauten lie?? Man redete seinem Glase aufs beste zu. Ob er denn nicht vielleicht etwas dichten wolle! Er sei ja ein Dichter gewesen, als er noch nicht in eilender Weile gewebt und geschwebt habe. Ach, wie sie alle nach etwas Gedichtetem verlangten! Sie wurden es so herzlich genie?en.

Und siehe, das gute Glas schlug Ja. Wirklich lag etwas Gutmutig-Versohnliches darin, wie es dies tat. Und dann begann spirit Holger zu dichten und dichtete umstandlich, ausfuhrlich und ohne Besinnen, wer wei? wie lange, - es schien, als werde er uberhaupt nicht wieder zum Schweigen zu bringen sein! Es war ein durch und durch uberraschendes Gedicht, das er bauchrednerisch vorbrachte, wahrend die Umsitzenden es bewundernd mit sprachen, eine magische Dingheit, uferlos, wie das Meer, von dem es vornehmlich handelte, - Seemist in langen Haufen entlang des schmalen Strandes der weit geschwungenen Bucht des Insellandes mit steiler Dunenkuste. O seht, wie sterbend grun die ungeheure Weite ins Ewige verschwebt, wo unter breiten Nebelschleierstreifen in trubem Karmesin und milchig-weichem Scheinen die Sommersonne den Untergang verzogert! Kein Mund vermochte zu sagen, wann und wie des Wassers silbrig regsamer Widerglanz in lauter

Perlmutterschimmer sich wandelte, in ein unnennbar Farbenspiel bla?-bunt-opalenen Mondsteinglanzes, das alles uberzieht ... Ach, heimlich, wie er entstanden, erstarb der stille Zauber. Das Meer entschlief. Jedoch die sanften Spuren des Sonnenabschieds bleiben dort druben und drau?en. Es wird nicht dunkel bis in die tiefe Nacht. Ein halbes Geisterlicht waltet im Kiefernwalde der Dunenhohe und la?t den bleichen Sand des Grundes wie Schnee erscheinen. Tauschender Winterwald im Schweigen, knackend durchstreiftvon einer Eule schwerem Flug! Sei unser Aufenthalt zu dieser Stunde! So weich der Tritt, so hoch und mild die Nacht! Und langsam atmet dort unten tief das Meer und flustert gedehnt im Traum. Verlangt dich's, es wiederzusehen? So tritt hervor zum fahlen Gletschergehange der Dune und steige vollends im Weichen empor, das kuhl in deine Schuhe rinnt. Hart buschig fallt das Land und steil zum steinigen Strande ab, und immer geistern noch am Rande der vergehenden Weite die Reste des Tages ... La? dich hier oben im Sande nieder! Wie ist er todeskuhl, wie mehlig-seidenweich! Er flie?t dir aus der geschlossenen Hand in farblos-dunnem Strahl und bildet ein zartes Hugelchen bei sich im Grunde. Erkennst du dies feine Rinnen? Es ist das lautlos schmale Stromen durch die Enge des Stundenglases, des ernsten, gebrechlichen Gerats, das das Gehause des Klausners schmuckt. Ein aufgeschlagen Buch, ein Totenschadel und im Gestell, im leicht gefugten Rahmen das dunne Doppelhohlgeblase, darin ein wenig Sand, dem Ewigen entnommen, als Zeit sein heimlich und heilig beangstend Wesen treibt ...

So war spirit Holger bei seiner "lirischen" Improvisation in sonderbarer Gedankenflucht vom heimatlichen Meere auf einen Klausner und das Werkzeug seiner Beschaulichkeit gekommen, und er kam noch auf manches, auf Menschliches und Gottliches in traumerisch gewagten Worten, uber die das Kranzchen sich grenzenlos verwunderte, indes es sie buchstabierte, und kaum fand man Zeit, seinen entzuckten Beifall einzuschalten, so rasch ging es im Zickzack vom Hundertsten ins Tausendste weiter und wollte gar nicht aufhoren, - nach einer Stunde noch war dieses Dichtens kein Ende im entferntesten abzusehen, das von Mutternot und dem ersten Kusse der Liebenden und von der Krone des Leides und Gottes ernster Vatergute ganz unerschopflich handelte, sich in das Weben der Kreatur vertiefte, in Zeiten und Landern und im Sternenraum sich verlor, einmal sogar der Chaldaer und des Tierkreises erwahnte und bestimmt die ganze Nacht hindurch gewahrt hatte, wenn nicht die Beschworer endlich doch ihre Finger vom Glase genommen und

unter besten Danksagungen an Holger erklart hatten, nun musse es fur diesmal genug sein, es sei von ungeahnter Herrlichkeit gewesen und ewig schade, da? niemand mitgeschrieben habe, so da? nun das Gedichtete unfehlbar in Vergessenheit geraten werde, ja, leider allergro?tenteils schon in Vergessenheit geraten sei, vermoge einer gewissen Unhaltbarkeit, wie sie Traumen eigne. Das nachste Mal wollte man rechtzeitig einen Schriftwart bestellen und zusehen, wie es sich schwarz auf wei? bewahrt und im Zusammenhang vorgetragen, wohl ausnehmen werde; fur den Augenblick aber, und ehe Holger in die Gelassenheit seiner eilenden Weile zuruckkehre, werde es besser und jedenfalls au?erordentlich liebenswurdig von ihm sein, wenn er dem Kreise vielleicht noch eine oder die andere sachliche Frage beantwortenwolle, - noch unbestimmt welche, aber ob er gegebenenfalls wohl grundsatzlich und aus besonderer Gefalligkeit bereit dazu sein wurde?

"Ja", lautete die Antwort. Doch nun entdeckte sich Ratlosigkeit, was zu fragen sei. Es war wie im Marchen, wenn die Fee oder das Mannchen eine Frage freigeben und man Gefahr lauft, die kostbare Moglichkeit ganz mu?ig zu vertun. Vieles schien wissenswert in Welt und Zukunft, und verantwortungsvoll war es, eine Wahl zu treffen. Da niemand zum Entschlu? kommen mochte, sagte Hans Castorp, einen Finger am Glase, die linke Wange in seine Faust gestutzt, er wolle horen, wie hoch sich, statt der drei Wochen, die er ursprunglich zu bleiben gedacht hatte, die Zeit seines Aufenthaltes hier oben belaufen werde.

Gut, da man nichts Besseres wu?te, mochte der Geist dies Erste-Beste aus der Fulle seiner Kenntnisse kunden. Nach einigem Zogern ruckte das Glas. Es ruckte etwas ganz Sonderbares und, wie es scheinen wollte, Beziehungsloses, worauf sich einen Vers zu machen, niemandem gelingen wollte. Es ruckte die Silbe "Geh" und dann das Wort "Quer", womit man erst recht nichts anzufangen wu?te, und danach ruckte es etwas von Hans Castorps Zimmer, so da? die ganze knappe Anweisung lautete, der Fragende solle "quer durch sein Zimmer gehen". - Quer durch sein Zimmer? Quer durch Nummer 34? Was sollte nun das? Wahrend man sa? und beriet und die Kopfe schuttelte, geschah auf einmal ein schwerer Faustschlag gegen die Tur.

Alle erstarrten. War das ein Uberfall? Stand Dr. Krokowski drau?en, um die verbotene Sitzung aufzuheben? Man schaute betreten, man gewartigte den Eintritt des Hintergangenen. Da schlug es krachend mitten auf den Tisch, wiederum wie mit voller Faust und gleichsam um

klarzustellen, da? auch der erste Schlag nicht von au?en, sondern von innen gefallen war.

Das war ein minderwertiger Scherz Herrn Albins gewesen! - Er leugnete ehrenwortlich, und ubrigens waren alle auch ohne sein Wort so gut wie sicher, da? niemand aus ihrer Runde den Schlag gefuhrt hatte. So hatte es Holger getan? Sie blickten auf Elly, deren stilles Verhalten allen gleichzeitig auffallig geworden war. Sie sa?, die Fingerspitzen bei hangenden Handgelenken auf der Tischkante, an ihrer Stuhllehne, den Kopf zur Schulter geneigt, die Augenbrauen empor-, das Mundchen aber, verkleinert, etwas nach unten gezogen, mit einem ganz kleinen Lacheln, das zugleich etwas Verstecktes und Unschuldiges hatte, und blickte mit blauen Kinderaugen, die nichts sahen, schrag ins Leere. Man rief sie an, doch ohne da? sie ein Zeichen von Gegenwart gegeben hatte. In diesem Augenblick erlosch das Nachttischlampchen.

Erlosch? Frau Stohr, nicht mehr zu halten, schrie Hi und Hu, denn sie hatte es knipsen horen. Das Licht war nicht ausgegangen, es war abgedreht worden, von einer Hand, die man sehr schonendkennzeichnete, wenn man sie eine fremde Hand nannte. War es Holgers Hand? Er war so sanft, so diszipliniert und poetisch gewesen bis dahin; jetzt aber hatte sein Wesen begonnen, in Buberei und Schabernack auszuarten. Wer stand dafur, da? eine Hand, die Faustschlage gegen Tur und Mobel fuhrte und bubisch das Licht ausdrehte, nicht irgendjemandem an die Gurgel fuhr? Im Finstern rief man nach Zundholzern, nach einer Taschenlaterne. Die Levi kreischte auf, man habe sie am Stirnhaar gezogen. Vor Angst schamte Frau Stohr sich nicht, laut zu Gott zu beten. "Ach du Herr, noch diesmal!" schrie sie und wimmerte, es moge Gnade vor Recht ergehen, obgleich man die Holle versucht habe. Dr. Ting-Fu war es, der den gesunden Gedanken fa?te, das Deckenlicht einzuschalten, so da? alsbald das Zimmer in Klarheit lag. Wahrend man feststellte, da? das Nachttischlampchen in der Tat nicht zufallig ausgegangen, sondern abgedreht worden war, und da? man nur den verborgenerweise geschehenen Handgriff menschlich zu wiederholen brauchte, um es wieder zum Brennen zu bringen, erfuhr Hans Castorp personlich und in der Stille eine Uberraschung, die er als besondere Aufmerksamkeit der hier sich kundgebenden kindischen Dunkelheiten auffassen mochte. Auf seinen Knieen lag ein leichter Gegenstand, das "Souvenir", das einst seinen Onkel erschreckt hatte, als er es von des Neffen Kommode genommen: das glaserne Diapositiv, das

Clawdia Chauchats Innenportrat zeigte, und das bestimmt nicht er, Hans Castorp, in dieses Zimmer eingefuhrt hatte.

Er steckte es zu sich, ohne von der Erscheinung Aufhebens zu machen. Man war um Ellen Brand beschaftigt, die immer noch in der beschriebenen Haltung, blinden Blickes und mit sonderbar geziertem Gesichtsausdruck an ihrem Platze sa?. Herr Albin blies sie an und ahmte vor ihrem Gesichtchen die aufwarts fachelnde Handbewegung Dr. Krokowskis nach, worauf sie sich ermunterte und - unklar, warum - ein wenig weinte. Man streichelte, trostete sie, ku?te sie auf die Stirn und schickte sie schlafen. Die Levi erklarte sich bereit, die Nacht bei Frau Stohr zu verbringen, da die tiefstehende Frau vor Grauen nicht wu?te, wie sie ins Bett kommen sollte. Hans Castorp, seinen Apport in der Brusttasche, hatte nichts dagegen, den ausgearteten Abend mit den anderen Herren auf Albins Zimmer mit einem Kognak zu beschlie?en, denn er fand, da? Vorkommnisse gleich diesen zwar weder auf das Herz noch auf den Geist, wohl aber auf die Magennerven Wirkung ubten - und zwar eine nachhaltige Wirkung, so, wie der Seekranke wohl noch am Lande stundenlang die ubelkeiterregenden Schwankungen zu spuren meint.

Vorderhand war seine Neugier gestillt. Holgers Gedicht war ja im Augenblick nicht ubel gewesen, aber die vorausgeahnte innere Hoffnungslosigkeit und Abgeschmacktheit des Ganzen hatte sich ihm doch so unverkennbar aufgedrangt, da? es, so dachte er, beidiesen wenigen Flocken Hollenfeuers, die ihn angestoben, sein Bewenden haben mochte. Herr Settembrini, wie sich denken la?t, bestarkte ihn aus allen Kraften in diesem Vorsatz, als Hans Castorp ihm von seinen Erlebnissen erzahlte. "Das," rief er, "war alles, was noch gefehlt hatte! O Elend, Elend!" Und kurzerhand erklarte er die kleine Elly fur eine abgefeimte Betrugerin.

Sein Zogling sagte nicht ja und nicht nein dazu. Er meinte achselzuckend, was Wirklichkeit sei, scheine nicht bis zur Unzweideutigkeit klargestellt und folglich auch nicht, was Betrug. Vielleicht sei die Grenze flie?end. Vielleicht gabe es Ubergange zwischen beidem, Grade der Realitat innerhalb der wort- und wertungslosen Natur, die sich einer Entscheidung entzogen, der, wie ihm scheine, etwas stark Moralisches anhafte. Wie Herr Settembrini uber das Wort "Gaukelei" denke, diesen Begriff, in welchem Elemente des Traumes und solche der Realitat eine Mischung eingingen, die der Natur vielleicht weniger fremd

sei, als unserem derben Tagesdenken. Das Geheimnis des Lebens sei buchstablich bodenlos, und was Wunder denn, wenn gelegentlich Gaukeleien daraus aufstiegen, die - und so fort in unseres Helden freundlich zugestandlicher und reichlich laxer Art.

Herr Settembrini wusch ihm den Kopf nach Gebuhr und erzielte denn auch eine augenblickliche Gewissensstarkung und etwas wie ein Versprechen, an solchem Greuel nie wieder teilhaben zu wollen. "Achten Sie", so forderte er, "den Menschen in sich, Ingenieur! Vertrauen Sie dem klaren und humanen Gedanken und verabscheuen Sie die Hirnverrenkung, den geistigen Pfuhl! Gaukelei? Lebensgeheimnis? Caro mio! Wo der sittliche Mut zu Entscheidungen und Unterscheidungen, wie der zwischen Betrug und Wirklichkeit, sich zersetzt, da ist es mit dem Leben uberhaupt, dem Urteile, dem Werte, der bessernden Tat zu Ende, und der Verwesungsproze? moralischer Skepsis beginnt sein schauerliches Werk." Der Mensch sei das Ma? der Dinge, sagte er noch. Sein Recht, uber Gut und Bose, Wahrheit und Lugenschein erkennend zu befinden, sei unverau?erlich, und wehe dem, der ihn im Glauben an dieses schopferische Recht zu beirren sich unterfange! Es sei ihm besser, einen Muhlstein um den Hals im tiefsten Brunnen ertrankt zu werden.

Hans Castorp nickte dazu und hielt sich in der Tat furs erste von diesen Unternehmungen fern. Er horte, da? Dr. Krokowski in seinem analytischen Souterrain mit Ellen Brand Sitzungen veranstalte, zu denen ausgewahlte Mitglieder der Gasteschaft zugezogen wurden. Aber er lehnte die Beteiligung gleichgultig ab, - naturlich nicht ohne uber die Versuchserfolge aus dem Munde der Mitwirkenden und Dr. Krokowskis selbst dies und das zu erfahren. Kraftau?erungen von der Art, wie sie im Zimmer der Kleefeld wilder und unwillkurlicher Weise sich ereignet hatten: Schlage also gegen Tisch und Wande, das Abdrehen der Lampe und anderes, weitergehendes, wurden bei diesen Zusammenkunften, nachdem Kamerad Krokowski die kleine Elly nach der Kunst hypnotisiert und in wachtraumhaften Zustandversetzt hatte, systematisch und unter moglichster Gewahr ihrer Echtheit erzielt und geubt. Es hatte sich gezeigt, da? eine musikalische Begleitung die Exerzitien erleichterte, und so wechselte an diesen Abenden das Grammophon seinen Standort, wurde von dem magischen Kreise mit Beschlag belegt. Da aber der Bohme Wenzel, der es bei dieser Gelegenheit bediente, ein musikalischer Mann war, der das Instrument gewi? nicht mi?handeln und

schadigen wurde, so konnte Hans Castorp es in leidlicher Gemutsruhe ubergeben. Aus dem Plattenfundus stellte er fur den besonderen Dienst ein Album zur Verfugung, worin er allerlei Leichtigkeiten, Tanze, kleine Ouverturen und sonstiges Dideldum angeordnet hatte, das, da Elly keineswegs nach hoheren Tonen verlangte, seinen Zweck vollkommen erfullte.

Unter diesen Klangen also war, so horte Hans Castorp, ein Taschentuch selbsttatig, oder vielmehr von einer in seinen Falten verborgenen "Klaue" gefuhrt, vom Boden aufgestiegen, des Doktors Papierkorb hatte sich schwebend zur Decke erhoben, der Perpendikel einer Wanduhr war "von niemandem" abwechselnd angehalten und wieder in Gang gesetzt, eine Tischglocke "genommen" und gelautet worden und dergleichen trube Nichtigkeiten mehr. Der gelehrte Versuchsleiter war in der glucklichen Lage, diese Leistungen mit einem griechischen Namen voll wissenschaftlichen Anstandes zu treffen. Es waren, so erlauterte er in seinen Vortragen und in Privatgesprachen "telekinetische" Erscheinungen, Falle von Fernbewegung; und der Doktor ordnete sie einem Gebiet von Phanomenen zu, das die Wissenschaft auf den Namen der Materialisation getauft hatte, und auf das sein Sinnen und Trachten bei den Versuchen mit Ellen Brand eigentlich gerichtet war.

In seiner Sprache handelte es sich da um biopsychische Projektionen unterbewu?ter Komplexe ins Objektive, um Vorgange, als deren Quelle man die mediale Konstitution, den somnambulen Zustand zu betrachten hatte, und die man insofern als objektivierte Traumvorstellungen ansprechen mochte, als sich darin ein ideoplastisches Vermogen der Natur bewahrte, eine unter gewissen Bedingungen dem Gedanken zukommende Fahigkeit, Materie an sich zu ziehen und sich zu ephemerer Wirklichkeit darin auszupragen. Diese Materie entstromte dem Korper des Mediums, um sich au?erhalb seiner zu biologisch-lebendigen Endorganen, Greifgliedern, Handen, vorubergehend auszugestalten, die eben jene erstaunlichen Unbetrachtlichkeiten vollbrachten, deren Zeuge man in Dr. Krokowskis Laboratorium war. Unter Umstanden waren sie sichtbar und tastbar, diese Glieder, lie?en in Paraffin und Gips ihre Form bewahren. Unter weiteren Umstanden aber brauchte es bei ihrer Ausbildung nicht sein Bewenden zu haben. Kopfe, individuelle Menschenantlitze, Phantome in Vollgestalt verwirklichten sich vor den Augen der Experimentierenden, um in einen gewissen begrenzten Verkehr mit ihnen zu treten - - und hier begann Dr. Krokowskis Lehre

uberaugig zu werden, begann zu schielen und einen ahnlich schwankenden und doppeldeutigen Charakter anzunehmen, wie seinen Expektorationen uber die "Liebe" geeignet hatte. Denn nun ging es nicht langer unmi?verstandlich und gewahrten wissenschaftlichen Gesichtes um ins Wirkliche gespiegelte Subjektivitaten des Mediums und seiner passiven Mithelfer; nunmischten, wenigstens halb und halb, wenigstens allenfalls, Ichheiten von au?en und jenseits sich in das Spiel; es handelte sich - moglicherweise, nicht ganz eingestandenerma?en - um Nichtvitales, um Wesen, die die verzwickte und geheime Gunst des Augenblicks benutzten, um in die Materie zuruckzukehren und sich den Rufenden kundzugeben, - kurz, um die spiritistische Beschworung Verstorbener.

Solche Erzeugnisse also waren es, die Kamerad Krokowski bei der Arbeit mit den Seinen letztlich anstrebte. Stammig und kernig lachelnd, zu frohlichem Vertraun auffordernd, strebte er sie an, heimisch fur seine untersetzte Person im Sumpfig-Verdachtigen und Untermenschlichen und ein rechter Fuhrer, denn also sogar fur Zaghafte und Zweifelvolle in diesen Bezirken. Auch schien, dank Ellen Brands au?erordentlichen Gaben, die zu entwickeln, zu zuchten er sich angelegen sein lie?, der Erfolg ihm zu lacheln, nach allem, was Hans Castorp erfuhr. Beruhrungen einzelner Teilnehmer durch materialisierte Hande hatten sich ereignet. Staatsanwalt Paravant hatte aus der Transzendenz eine derbe Backpfeife empfangen und mit wissenschaftlicher Heiterkeit quittiert, ja, vor Begier sogar noch die andere Backe hingehalten, - ungeachtet seiner Eigenschaften als Kavalier, Jurist und Alter Herr einer schlagenden Verbindung, welche alle ihn zu einem ganz anderen Verhalten wurden genotigt haben, ware der Streich vitaler Herkunft gewesen. A. K. Ferge, dieser schlichte Dulder, dem alles Hohere fernlag, hatte eines Abends ein solches Geisterglied in seiner eigenen Hand gehalten und durch den Tastsinn die Richtigkeit und Vollstandigkeit seiner Bildung festgestellt, worauf es sich seinem Griff, der herzhaft in den Grenzen des Respektes gewesen war, auf nicht genau zu beschreibende Weise entzogen hatte. Es dauerte geraume Frist, wohl zweieinhalb Monate, bei zwei Sitzungen wochentlich, bis eine Hand so hinterweltlicher Herkunft, rotlich angestrahlt von einem mit rotem Papier verdunkelten Tischlampchen, - eines jungen Mannes Hand, wie es hatte scheinen wollen, - uber der Tischplatte fingernd sich allen Blicken dargestellt und in einer irdenen Schussel mit Mehl ihre Spur hinterlassen hatte. Aber nur acht Tage spater geschah es, da? eine Gruppe von Mitarbeitern Dr. Krokowskis,

Herr Albin, die Stohr, das Ehepaar Magnus, noch gegen Mitternacht mit allen Anzeichen verzerrter Begeisterung und fieberigen Entzuckens in Hans Castorps Balkonloge erschien und dem in bei?endem Froste Dammernden in fliegendem Durcheinander berichtete, Ellys Holger habe sich sehen lassen, uber der Schulter der Somnambulen habe sein Kopf sich gezeigt, er habe wirklich "schone braune, braune Locken" gehabt und so unverge?lich sanft und melancholisch gelachelt, bevor er verschwand!

Wie stimmte, dachte Hans Castorp, diese edle Trauer mit Holgers anderweitigem Benehmen, seinen phantasielosen Kindereien und simplen Bubenstucken, der ganz unmelancholischen Tatze, zum Beispiel, zusammen, die der Staatsanwalt von ihm eingesteckt? Folgerechte Geschlossenheit des Charakters war hier offenbar nicht zu fordern. Vielleicht lag eine Gemutsverfassung vor, ahnlich der des bucklichen Mannleins im Liede, seiner kummervollen und furbittebedurftigenBosheit. Holgers Verehrer schienen sich daruber keine Gedanken zu machen. Was ihnen am Herzen lag, war, Hans Castorp zum Aufgeben seiner Enthaltsamkeit zu bestimmen. Unbedingt musse er der nachsten Sitzung beiwohnen, nun, wo alles so prachtig stehe. Denn Elly habe im Schlafe versprochen, das nachste Mal jeden beliebigen Verstorbenen vorzufuhren, der aus dem Kreise wurde verlangt werden.

Jeden beliebigen? Hans Castorp hielt sich trotzdem ablehnend. Aber da? es jeder beliebige Abgeschiedene sein konne, beschaftigte ihn dennoch in einem Ma?e, da? er im Laufe der nachsten drei Tage zu entgegengesetzten Beschlussen kam. Genau genommen waren es nicht diese drei Tage, sondern nur einige Minuten davon, die ihn dazu brachten. Seine Sinnesanderung vollzog sich, wahrend er zu einsamer Abendstunde im Musiksalon wieder einmal jene Platte laufen lie?, in welche Valentins erzsympathische Personlichkeit eingepragt war, - wahrend er in seinem Stuhl diesem Soldatengebet des scheidenden Braven lauschte, den es aufs Feld der Ehre drangte, und der sang:

"Und ruft mich Gott zu Himmelshohn,

Will schutzend ich auf dich herniedersehn,

O Margarete!"

Da hob sich, wie immer bei diesem Gesange, aber diesmal durch gewisse Moglichkeiten verstarkt und zum Wunsche verdichtet, gro?e Ruhrung auf in Hans Castorps Brust, und er dachte: "Mu?ig und sundig oder nicht, es ware doch herzlich seltsam und ein sehr liebes Abenteuer.

Er, wenn er damit zu tun hat, wird es nicht ubelnehmen, wie ich ihn kenne." Und er erinnerte sich des gleichmutig-liberalen, "Bitte, bitte!", das er einst, im Durchleuchtungslaboratorium, aus der Nacht zur Antwort erhalten, als er um Erlaubnis zu gewissen optischen Indiskretionen einkommen zu sollen geglaubt hatte.

Am nachsten Morgen meldete er seine Teilnahme an der abendlich bevorstehenden Sitzung an und gesellte sich eine halbe Stunde nach dem Diner zu denen, die, unbeklommen plaudernd, als Habitues des Nichtgeheueren, den Weg ins Kellergescho? einschlugen. Es waren lauter wurzelstandig Alteingesessene oder doch langst Zugehorige, wie Dr. Ting-Fu und der Bohme Wenzel, mit denen er auf der Treppe und dann in Dr. Krokowskis Gela? zusammentraf: die Herren Ferge und Wehsal also, der Staatsanwalt, die Damen Levi und Kleefeld, zu schweigen von denen, die ihm die Erscheinung von Holgers Haupt gemeldet hatten, und von der Mittlerin, Elly Brand.

Das nordische Kind befand sich bereits in des Doktors Obhut, als Hans Castorp die mit der Visitenkarte geschmuckte Tur durchschritt. An Krokowskis Seite, der, bekleidet mit seinem schwarzen Arbeitskittel, in vaterlichem Sinne den Arm um ihre Schulter geschlungen hielt, erwartete sie am Fu?e der Stufen, die noch von der Ebene des Souterrains in die Wohnung des Assistenten hinabfuhrten, die Gaste und begru?te sie mit ihm. Allerseits war diese Begru?ung von aufgeraumt-unbedenklicher Herzlichkeit getragen. Es schien Absicht, die Stimmung von jeder feierlichen Beengung freizuhalten. Laut und scherzhaft sprach man durcheinander, tauschte aufmunterndeRippensto?e und bekundete auf alle Weise seine Unbefangenheit. In Dr. Krokowskis Barte zeigten sich bestandig mit jenem kernigen und zum Vertrauen auffordernden Ausdruck seine gelben Zahne, wahrend er sein "Ich gdie?e Sie!" wiederholte, und besonders taten sie das, als er Hans Castorp willkommen hie?, der schweigsam war, und dessen Miene schwankte. "Mut, mein Freund!" schien die auf- und ruckwarts schuttelnde Kopfbewegung des Wirtes zu sagen, wahrend er dem jungen Mann fast derb die Hand druckte. "Wer wird die Ohren hangen lassen? Hier gibt es nicht Duckmausertum noch Frommelei, sondern einzig die mannliche Heiterkeit vorurteilsloser Forschung!" Dem pantomimisch so Angeredeten wurde nicht wohler davon. Wir lie?en ihn sich bei seinen Vorsatzen des Durchleuchtungslaboratoriums erinnern, doch diese Ideenverbindung reicht keineswegs hin, um den Zustand seines Gemuts

zu kennzeichnen. Vielmehr gemahnte dieser ihn selbst sehr lebhaft an die eigentumlich und unverge?lich aus Ubermut und Nervositat, Wi?begier, Verachtung und Andacht gemischte Verfassung, worin er sich vor Jahren befunden, als er sich, etwas bekneipt, mit Kameraden zum erstenmal angeschickt hatte, ein Madchenhaus in Sankt Pauli zu besuchen.

Da man ubrigens vollzahlig war, so zog Dr. Krokowski sich mit zwei Assistentinnen, zu welchen diesmal Frau Magnus und die elfenbeinfarbene Levi ernannt worden, zur Leibeskontrolle des Mediums ins Nebengela? zuruck, wahrend Hans Castorp mit den neun verbleibenden Teilnehmern das Ende dieses regelma?ig und stets ergebnislos wiederholten Aktes wissenschaftlicher Strenge im Arbeits- und Ordinationszimmer des Doktors erwartete. Der Raum war ihm vertraut von gewissen Plauderstunden her, die er eine Zeitlang, hinter Joachims Rucken, hier mit dem Analytiker abgehalten. Es war, mit seinem Schreibbureau nebst Armsessel und Besucherfauteuil links hinten am Fenster, seiner Handbibliothek zu beiden Seiten der Nebentur, seiner von der Schreibtischgruppe durch einen mehrteiligen Wandschirm getrennten schrag stehenden Wachstuch-Chaiselongue im rechten Hintergrunde, seinem Instrumentenglasschrank im dortigen Winkel, der Hippokratesbuste in einem anderen und dem Stich nach Rembrandts Anatomie uber dem Gaskamin an der rechten Seitenwand, alltaglich ein arztliches Empfangszimmer wie andere mehr; doch waren einige fur den besonderen Zweck getroffene Abanderungen in seiner Einrichtung festzustellen. Der Mahagonirundtisch, der gewohnlich, von Sesseln umgeben, in der Mitte, unter dem elektrischen Luster auf dem fast den ganzen Boden bedeckenden roten Teppich seinen Platz hatte, war gegen den linken Winkel des Vordergrundes, dorthin, wo die Gipsbuste stand, verruckt, und exzentrisch, naher gegen den brennenden und eine trockene Hitze ausstromenden Kamin hin, stand ein kleineres, leicht bedecktes Tischchen, das ein rot verkleidetes Lampchen trug, und uber dem, von der Decke herab, noch eine weitere, ebenfalls mit rotem und au?erdem noch mit schwarzem Schleierstoff umkleidete Birne hing. Auf und neben dem Tischchen standen ein paar beruchtigte Gegenstande: die Tischglocke, oder eigentlich zwei von verschiedener Konstruktion, eine Handschelle und eine Druckglocke, zum Daraufschlagen, ferner der Teller mit Mehl, der Papierkorb.Etwa ein Dutzend Stuhle und Sessel unterschiedlichen Typs umgaben das Tischchen in einem Halbkreis, dessen eines Ende nahe dem Fu?ende der Chaiselongue und dessen

anderes ziemlich genau in der Mitte des Zimmers, unter dem Deckenluster gelegen war. Hier, in der Nahe des letzten Sitzes, etwa halbwegs zur Nebentur, hatte auch der Musikschrein seinen Platz gefunden. Das Album mit den Leichtigkeiten lag auf einem Stuhle daneben. So die Anordnung. Noch waren die roten Lampen nicht entzundet. Der Deckenkorper spendete tagwei?es Licht. Das Fenster, dem der davor stehende Schreibtisch die Schmalseite zukehrte, war mit einem dunklen Vorhang verhullt, vor dem noch ein cremefarbener, spitzenartig durchbrochener, ein sogenannter Store, herniederhing.

Nach zehn Minuten kehrte der Doktor mit den drei Damen aus dem Kabinett zuruck. Das Au?ere der kleinen Elly hatte sich verandert. Sie zeigte sich nicht mehr in ihren Kleidern, sondern in einer Art Sitzungskostum, einem schlafrockartigen Gewande aus wei?em Crepe, das um die Taille von einer Gurtelschnur, einer Kordel zusammengehalten wurde und ihre schmalen Arme entblo?t lie?. Da ihre jungfrauliche Brust sich so weich und ungefesselt darunter abzeichnete, schien es, da? sie unter diesem Gewande wenig trage.

Sie wurde lebhaft begru?t. "Hallo, Elly! Wie reizend sie wieder aussieht! Die reine Fee! Mach's gut, mein Engel!" Sie lachelte uber die Zurufe, uber ihren Aufzug, von dem sie wohl wu?te, da? er sie kleidete. "Vorkontrolle negativ", stellte Dr. Krokowski fest. "Frisch ans Werk denn, Kameraden!" fugte er mit nur einmal anschlagendem exotischem Zungen-r hinzu; und Hans Castorp, ubel beruhrt von der Anrede, war im Begriff, sich gleich den anderen, die unter Hallos, Geschwatz und Schulterschlagen den Halbkreis der Stuhle einzunehmen begannen, irgendeinen Platz zu suchen, als der Doktor sich personlich an ihn wandte.

"Ihnen, mein Freund(mein Freind) ", sagte er, "der Sie gewisserma?en als Gast oder Neuling in unserer Mitte weilen, mochte ich fur diesen Abend besondere Ehrenrechte zuerkennen. Ich betraue Sie mit der Kontrolle unseres Mediums. Wir uben sie, wie folgt." Und er bat den jungen Mann an das eine Ende des offenen Zirkels, an das der Chaiselongue und dem Wandschirm benachbarte, wo Elly, das Gesicht mehr der Eingangstur mit den Stufen, als der Zimmermitte zugewandt, einen gewohnlichen Rohrstuhl eingenommen hatte, setzte sich auf einen ebensolchen ihr dicht gegenuber und ergriff ihre Hande, indem er ihre beiden Knie zwischen die seinen klemmte. "Ahmen Sie das nach!" befahl er und lie? Hans Castorp fur sich eintreten. "Sie werden zugeben, da? die

Haft vollkommen ist. Zum Uberflu? erhalten Sie Unterstutzung. Mein Fraulein Kleefeld, darf ich ersuchen?" Und die so hofisch-exotisch Beorderte gesellte sich zu der Gruppe, indem sie mit ihren beiden Handen Ellys gebrechliche Handgelenke umfa?te.

Es war nicht ganz zu vermeiden, da? Hans Castorp in dasdem seinen so nahe Gesicht des eng von ihm gefesselten jungfraulichen Wunderkindes blickte. Ihre Augen begegneten sich, aber Ellys glitten ab und nieder, zum Zeichen einer Schamhaftigkeit, die nach Lage der Dinge wohl begreiflich war, und sie lachelte dazu ein wenig geziert, mit schragem Kopfe und leicht gespitzten Lippen, wie neulich bei der Glasseance. Ubrigens flog noch eine andere und weitlaufigere Erinnerung ihren Aufseher an bei dieser stillen Ziererei. So ungefahr, fiel ihm ein, hatte Karen Karstedt gelachelt, als er mit Joachim und ihr an der noch unaufgemachten Bettstatt des Friedhofs von "Dorf" gestanden hatte ...

Der Halbkreis war se?haft geworden. Es waren dreizehn Personen, nicht eingeschlossen den Bohmen Wenzel, der seine Person zur Versorgung Polyhymnias freizuhalten gewohnt war und neben dem Apparat, nachdem er ihn in Bereitschaft gesetzt, im Rucken der gegen die Zimmermitte hin Sitzenden einen Hocker einnahm. Auch seine Guitarre hatte er bei sich. Unter dem Mittelluster, dort, wo die gekrummte Reihe wiederum endigte, lie? Dr. Krokowski sich nieder, nachdem er mit einem Handgriff die beiden roten Beleuchtungskorper entzundet und mit einem zweiten das Deckenwei?licht geloscht hatte. Sacht gluhende Finsternis lag nun uber dem Zimmer, dessen entferntere Gegenden und Winkel dem Blick uberhaupt unzuganglich geworden waren. Eigentlich war nur die Platte des Tischchens und seine nachste Umgebung schwach rotlich erhellt. Man sah kaum seinen Nachbarn wahrend der nachsten Minuten. Nur langsam bequemten die Augen sich dem Dunkel und lernten, das zugestandene Licht sich zunutzezumachen, das durch das Flammchengetanzel des Kamins eine gewisse Verstarkung erfuhr.

Der Doktor widmete der Beleuchtung einige Worte, entschuldigte ihre wissenschaftlichen Mangel. Man moge sich huten, sie im Sinne der Stimmungsmache und Mystifikation zu deuten. Kein Mehr an Licht sei leider beim besten Willen vorerst zu erreichen gewesen. Die Natur der hier in Frage stehenden und zu studierenden Krafte bringe es nun einmal mit sich, da? sie bei Wei?licht sich nicht zu entwickeln, nicht wirksam zu

werden vermochten. Das sei eine bedingende Tatsache, mit der man sich vorlaufig abzufinden habe. - Hans Castorp war es zufrieden. Das Dunkel tat wohl; es milderte die Eigentumlichkeiten der Gesamtlage. Uberdies erinnerte er sich zur Rechtfertigung des Dunkels an dasjenige, worin man sich im Durchleuchtungsraum fromm gesammelt und mit dem man sich die Tagaugen gewaschen hatte, bevor man "sah".

Das Medium, so setzte Dr. Krokowski sein Vorwort fort, das er offenbar an Hans Castorp besonders richtete, bedurfe der Einschlaferung durch ihn, den Arzt, nicht langer. Sie falle, wie der Kontrolleur schon merken werde, von selbst in Trance, und, dies geschehen, spreche ihr Schutzgeist, der bekannte Holger, aus ihr, an den man sich auch - und nicht an sie - mit seinen Wunschen zu wenden habe. Ubrigens sei es irrtumlich und konne Mi?lingenzeitigen, zu glauben, man musse Willen und Gedanken mit Gewalt auf das gewartigte Phanomen versammeln. Im Gegenteil sei eine halb zerstreute und gesprachige Aufmerksamkeit das Gebotene. Hans Castorp moge vor allem darauf bedacht sein, die Extremitaten des Mediums in untadeliger Obhut zu halten.

"Man bilde die Kette!" schlo? Dr. Krokowski, und so tat man, lachend, wenn im Dunkel die Hande der Nachbarn nicht gleich zu finden waren. Dr. Ting-Fu, Hermine Kleefeld zunachst sitzend, legte seine Rechte auf ihre Schulter und reichte die Linke Herrn Wehsal, der auf ihn folgte. Neben dem Doktor sa?en Herr und Frau Magnus, an die A. K. Ferge sich schlo?, welcher, wenn Hans Castorp sich nicht tauschte, die Hand der elfenbeinfarbenen Levi zu seiner Rechten hielt, - und so fort. "Musik!" befahl Dr. Krokowski; und der Tscheche im Rucken des Doktors und seiner Nachsten, lie? laufen und setzte die Nadel auf. "Gesprach!" kommandierte Krokowski wieder, wahrend die ersten Takte einer Ouverture von Millocker erschollen; und gehorsam ruckte man sich auf, um eine Unterhaltung in Gang zu setzen, die von nichts und wieder nichts, hier von den Schneeverhaltnissen dieses Winters, da von der letzten Speisenfolge, dort von einer Arrivee, einer wilden oder legitimen Abreise handelte und, halb zugedeckt von der Musik, abrei?end und wieder anhebend, sich kunstlich am Leben hielt. So vergingen einige Minuten.

Die Platte war noch nicht abgelaufen, als Elly heftig zusammenzuckte. Ein Zittern durchlief sie, sie seufzte, ihr Oberkorper sank nach vorn, so da? ihre Stirn diejenige Hans Castorps beruhrte, und gleichzeitig begannen ihre Arme mit denen der Aufseher sonderbar pumpende, vor-

und ruckwarts sto?ende Bewegungen auszufuhren.

"Trance!" meldete kundig die Kleefeld. Die Musik verstummte. Das Gesprach brach ab. In die jahe Stille hinein horte man des Doktors weich schleppenden Bariton die Frage tun:

"Ist Holger zur Stelle?"

Elly erzitterte aufs neue. Sie schwankte auf ihrem Stuhl. Dann spurte Hans Castorp, wie sie mit beiden Handen fest und kurz die seinen druckte.

"Sie druckt mir die Hande", teilte er mit.

"Er", verbesserte ihn der Doktor. "Er hat sie Ihnen gedruckt. Er ist also gegenwartig. - Wir gdie?en dich, Holger", fuhr er mit Salbung fort. "Sei uns von Herzen willkommen, Gesell! Und la? dich erinnern! Als du das letztemal unter uns weiltest, versprachst du, jeden beliebigen Abgeschiedenen, sei es ein Menschenbduder oder eine Schwester, herbeizurufen und unseren sterblichen Augen sichtbar zu machen, der dir aus unserem Kreise genannt werden wurde. Bist du gewillt und fuhlst du dich vermogend, heut dieses Versprechen einzulosen?"

Wieder schauderte Elly. Sie seufzte und zogerte mit der Antwort. Langsam fuhrte sie ihre Hande nebst denen der Beisitzer an ihre Stirn, wo sie sie eine Weile ruhen lie?. Dann flusterte sie dicht an Hans CastorpsOhr ein hei?es "Ja!"

Der Sprechhauch unmittelbar in sein Ohr hinein schuf unserem Freund jenes epidermale Gruseln, das man volkstumlich als "Gansehaut" bezeichnet, und dessen Wesen der Hofrat ihm eines Tages erlautert hatte. Wir sprechen von einem Gruselreiz, um das rein Korperliche vom Seelischen zu unterscheiden; denn von Grauen konnte nicht wohl die Rede sein. Was er dachte, war ungefahr: "Na, die vermi?t sich ja weitgehend!" Zugleich aber wandelte Ruhrung, ja Erschutterung ihn an, eine verwirrte Ruhrung und Erschutterung, ein Gefuhl, geboren aus Verwirrung, aus dem tauschenden Umstande namlich, da? ein junges Blut, dessen Hande er hielt, an seinem Ohre ein "Ja" gehaucht hatte.

"Er hat Ja gesagt", rapportierte er und schamte sich.

"Gut denn, Holger!" sprach Dr. Krokowski. "Wir nehmen dich beim Wort. Wir alle vertrauen, da? du redlich das Deine tust. Der Name des Teuren, nach dessen Manifestation wir verlangen, wird dir sogleich genannt werden. Kameraden", wandte er sich an die Gesellschaft, "heraus mit der Sprache! Wer ist es, der einen Wunsch in Bereitschaft

hat? Wen soll uns Freund Holger zeigen?"

Ein Schweigen folgte. Es wartete jeder auf eine Au?erung des anderen. Der einzelne hatte sich wohl in den letzten Tagen gepruft, wohin, zu wem seine Gedanken gingen; doch bleibt die Ruckkunft Verstorbener, das hei?t: die Wunschbarkeit solcher Wiederkehr immer ein verwickeltes und heikles Ding. Im Grunde und gerade heraus gesprochen besteht sie nicht, diese Wunschbarkeit; sie ist ein Irrtum; sie ist, bei Lichte besehen, genau so unmoglich, wie die Sache selbst, was sich erweisen wurde, hobe die Natur die Unmoglichkeit dieser nur einmal auf; und was wir Trauer nennen, ist vielleicht nicht sowohl der Schmerz uber die Unmoglichkeit, unsere Toten ins Leben kehren zu sehen, als daruber, dies gar nicht wunschen zu konnen.

So empfanden dunkel alle, und wiewohl es sich hier um keine ernste und praktische Ruckkehr ins Leben, sondern um eine rein sentimentale und theatralische Veranstaltung handelte, bei der man den Ausgeschiedenen eben nur sehen sollte, der Fall also lebensunbedenklich war, so furchteten sie sich doch vor dem Angesichte dessen, an den sie dachten, und jeder hatte das Recht, einen Wunsch zu au?ern, lieber dem Nachsten zugeschoben. Auch Hans Castorp, obgleich er das gutmutig liberale "Bitte - bitte!" aus der Nacht vernahm, hielt sich zuruck und war im letzten Augenblick ziemlich bereit, einem anderen den Vortritt zu lassen. Da es ihm aber zu lange dauerte, so sagte er denn, den Kopf gegen den Sitzungsleiter gewandt, mit belegter Stimme:

"Ich mochte meinen verstorbenen Vetter Joachim Ziem?en sehen."

Das war Befreiung fur alle. Von samtlichen Anwesenden hatten nur Dr. Ting-Fu, der Tscheche Wenzel und das Medium selbst den Angeforderten nicht gekannt. Die ubrigen, Ferge, Wehsal, Herr Albin, der Staatsanwalt, Herrund Frau Magnus, die Stohr, die Levi, die Kleefeld, bekundeten laut und froh ihren Beifall, und selbst Dr. Krokowski nickte zufrieden, obgleich sein Verhaltnis zu Joachim allezeit kuhl gewesen war, da dieser im Punkte der Analyse sich wenig willfahrig erwiesen hatte.

"Sehr wohl", sagte der Doktor. "Du hortest, Holger? Im Leben war der Genannte dir fremd. Erkennst du ihn im Jenseits der Dinge und bist du bereit, ihn uns herbeizufuhren?"

Gro?te Erwartung. Die Schlafende schwankte, seufzte und schauderte. Sie schien zu suchen und zu kampfen, wahrend sie, hin und her sinkend, bald an Hans Castorps Ohr, bald an dem der Kleefeld Unverstandliches flusterte. Endlich empfing Hans Castorp von ihren beiden Handen den

Druck, der "Ja" bedeutete. Er erstattete Meldung, und -

"Gut denn!" rief Dr. Krokowski. "An die Arbeit, Holger! Musik!" rief er. "Gesprach!" Und er wiederholte die Einscharfung, da? keinerlei Gedankenkrampf und gewaltsame Vorstellung des Erwarteten, sondern einzig eine zwanglos schwebende Achtsamkeit der Sache zu dienen vermoge.

Nun folgten die sonderbarsten Stunden, die unseres Helden junges Leben bis dahin aufzuweisen hatte; und obgleich uns sein spateres Schicksal nicht vollkommen deutlich ist, obgleich wir ihn an einem bestimmten Punkt unserer Geschichte aus den Augen verlieren werden, mochten wir annehmen, da? es die uberhaupt sonderbarsten blieben, die er erlebte.

Es waren Stunden, mehr als zwei, wir sagen es gleich, eine kurze Unterbrechung der nun anhebenden "Arbeit" Holgers oder eigentlich des Jungfrauleins Elly mit eingerechnet, - dieser Arbeit, die sich entsetzlich in die Lange zog, so da? man endlich an einem Ergebnis zu verzagen allgemein im Begriffe war und au?erdem aus purem Mitleid oft genug sich versucht fuhlte, sie verzichtend abzukurzen, denn sie schien wirklich erbarmungswurdig schwer und uber die zarten Krafte zu gehen, denen sie auferlegt war. Wir Manner, wenn wir dem Menschlichen nicht ausweichen, kennen aus einer bestimmten Lebenslage dies unertragliche Erbarmen, das lacherlicherweise von niemandem angenommen wird und wahrscheinlich gar nicht am Platze ist, dies emporte "Genug!", das sich unserer Brust entringen will, obgleich "es" nicht genug sein will und darf und so oder so zu Ende gefuhrt werden mu?. Man versteht schon, da? wir von unserer Gatten- und Vaterschaft sprechen, vom Akt der Geburt, dem Ellys Ringen tatsachlich so unzweideutig und unverwechselbar glich, da? auch derjenige ihn wiedererkennen mu?te, der ihn noch gar nicht kannte, wie der junge Hans Castorp, welcher also, da auch er dem Leben nicht ausgewichen war, diesen Akt voll organischer Mystik in solcher Gestalt kennen lernte, - in was fur einer Gestalt! Und zu welchem Behufe! Und unter welchen Umstanden! Unmoglich konnte man sie anders als skandalos bezeichnen, die Merkmale und Einzelheiten dieser animierten Wochenstube im Rotlicht, sowohl was die jungfrauliche Person der Wochnerin in ihremflie?enden Schlafrock und mit ihren blo?en Armchen, wie auch was die weiteren Verhaltnisse, die unaufhorliche leichtlebige Grammophon-Musik, das kunstliche Geschwatz betraf, das der Halbkreis

auf Befehl zu unterhalten suchte, die Zurufe frohlich aufmunternder Art, die aus ihm immerfort an die Kampfende ergingen: "Hallo, Holger! Mut! Es wird schon! Nicht nachlassen, Holger, und immer heraus damit, so wirst du's schaffen!" Und keineswegs nehmen wir hier die Person und Lage des "Gatten" aus - wenn wir Hans Castorp, der ja den Wunsch getan, als den zugehorigen Gatten betrachten durfen - des Gatten also, der die Knie der "Mutter" zwischen den seinen, ihre Hande in seinen hielt: diese Handchen, die so na? waren, wie der kleinen Leila ihre einst gewesen, so da? er bestandig seinen Zugriff erneuern mu?te, damit sie ihm nicht entglitten.

Denn der Gaskamin im Rucken der hier Sitzenden strahlte Hitze.

Mystik und Weihe? Ach nein, es ging laut und abgeschmackt zu im Rotdunkel, an welches die Augen sich nachgerade soweit gewohnt hatten, da? sie das Zimmer so ziemlich beherrschten. Die Musik, das Rufen erinnerten an Aufpulverungsmethoden der Heilsarmee, erinnerten auch denjenigen daran, der, wie Hans Castorp, einem Gottesfest dieser aufgeraumten Zeloten noch niemals beigewohnt hatte. Mystisch, geheimnisvoll, den Fuhlenden zur Frommigkeit anhaltend, wirkte die Szene in keinerlei gespenstischem Sinn, sondern einzig in einem naturlichen, organischen - und durch welche nahere und intime Verwandtschaft, das sagten wir schon. Ellys Anstrengungen kamen wehenartig, nach Ruhezustanden, wahrend welcher sie seitlich schlaff vom Stuhle hing, in einer Verfassung von Unzuganglichkeit, die Dr. Krokowski als "Tief-Trance" bezeichnete. Dann wieder fuhr sie auf, stohnte, warf sich hin und her, drangte, rang mit ihren Aufsehern, flusterte Hei?es und Sinnloses an ihren Ohren, schien mit seitwarts schleudernden Bewegungen etwas aus sich hinausjagen zu wollen, knirschte mit den Zahnen und bi? einmal sogar in Hans Castorps Armel.

Das ging so eine Stunde und langer. Dann fand der Sitzungsleiter es im allseitigen Interesse geraten, eine Pause eintreten zu lassen. Der Tscheche Wenzel, der erleichternder Abwechselung halber den Musikapparat zuletzt geschont und sehr gewandt die Gitarre hatte schollern und tonen lassen, stellte sein Instrument beiseite. Man loste aufseufzend die Hande. Dr. Krokowski schritt zur Wand, um das Deckenlicht einzuschalten. Blendend flammte die wei?e Helligkeit auf, da? alle die Nachtaugen blode verkniffen. Elly schlummerte weit vorgebeugt, das Gesicht fast in ihrem Scho?. Man sah sie eigentumlich beschaftigt, begriffen in einem Tun, das den anderen vertraut schien,

dem aber Hans Castorp verwundert und aufmerksam zusah: Einige Minuten lang fuhr sie mit der hohlen Hand in der Gegend ihrer Hufte hin und her, - fuhrte die Hand von sich fort und mit schopfender oder rechender Bewegung wieder an sich heran, so, als zoge und sammle sieetwas ein. - Dann kam sie in mehrmaligem Aufzucken zu sich, blinzelte, auch sie, mit bloden Schlafaugen ins Licht und lachelte.

Sie lachelte, - zierlich und etwas verschlossen. Das Erbarmen mit ihrer Muhsal schien in der Tat verschwendet. Es sah nicht aus, als sei sie besonders erschopft davon. Vielleicht erinnerte sie sich gar nicht daran. Sie sa? in des Doktors Besuchersessel an der ruckwartigen Breitseite des Schreibtisches am Fenster, zwischen ihm und der spanischen Wand, die die Chaiselongue umstand; hatte dem Stuhl eine Wendung gegeben, da? sie den Arm auf die Schreibtischplatte stutzen konnte und ins Zimmer blickte. So sa? sie, von geruhrten Blicken gestreift, mit aufmunterndem Kopfnicken hie und da bedacht, schweigend wahrend der ganzen Pause, die funfzehn Minuten dauerte.

Es war eine richtige Pause, - gelost und von sanfter Genugtuung im Hinblick auf die schon geleistete Arbeit erfullt. Die Zigarettenbuchsen der Herren klappten. Man rauchte mit Behagen und besprach da und dort nahe beieinander stehend den Charakter der Sitzung. Viel fehlte, da? man an diesem Charakter verzagen, eine endgultige Ergebnislosigkeit hatte ins Auge fassen mussen. Es gab Anzeichen, geeignet, solchen Kleinmut vollig hintanzuhalten. Diejenigen, die am entgegengesetzten Ende des Halbkreises, beim Doktor, gesessen hatten, stimmten darin uberein, mehrmals und deutlich jenen kuhlen Hauch verspurt zu haben, der regelma?ig, wenn Phanomene sich vorbereiteten, von der Person des Mediums in eine bestimmte Richtung ausgehe. Andere wollten Lichterscheinungen bemerkt haben, wei?e Flecken, wandernde Ballungen von Kraft, die sich vor der spanischen Wand verschiedentlich gezeigt hatten. Kurzum, kein Nachlassen! Keine Mattherzigkeit! Holger hatte sein Wort gegeben, und man hatte kein Recht, zu zweifeln, da? er es einlosen werde.

Dr. Krokowski gab das Zeichen zum Wiederbeginn der Sitzung. Er selbst geleitete Elly, wahrend auch die ubrigen ihre Platze wieder aufsuchten, zu ihrem Marterstuhl zuruck, wobei er ihr Haar streichelte. Alles ging wie vorhin; Hans Castorp beantragte zwar seine Ablosung vom Posten des ersten Kontrolleurs, wurde aber vom Sitzungsleiter abschlagig beschieden. Er lege Wert darauf, sagte dieser, demjenigen,

der den Wunsch getan, die unmittelbar sinnliche Gewahr zu geben, da? jede irrefuhrende Manipulation des Mediums praktisch ausgeschlossen sei. So nahm Hans Castorp seine sonderbare Stellung mit Elly wieder ein. Das Licht erlosch zum Rotdunkel. Die Musik begann wieder. Wieder folgten nach einigen Minuten das jahe Zusammenzucken, die Pumpbewegungen Ellys, und diesmal war es Hans Castorp, der "Trance" meldete. Die skandalose Niederkunft nahm ihren Fortgang.

Wie schrecklich schwer sie vonstatten ging! Sie schien nicht vonstatten gehen zu wollen, - und konnte sie denn? Welcher Wahnsinn! Woher hier Mutterschaft? Entbindung - wie und wovon? "Helft! Helft!" stohnte das Kind, wahrend seine Wehen in jenen unforderlichen und gefahrlichen Dauerkrampf uberzugehen drohten, den gelehrte Geburtshelfer als Eklampsie bezeichnen. Sie rief nach dem Doktor zwischendurch, da?er ihr die Hande auflege. Er tat es unter kernigem Zureden. Die Magnetisierung, wenn es denn eine solche war, starkte sie zu weiterem Ringen.

Also verging die zweite Stunde, wahrend abwechselnd die Gitarre schollerte und das Grammophon die Weisen des leichten Albums in den Raum warf, dessen Lichtverhaltnissen die tagentwohnten Augen sich wieder leidlich angepa?t hatten. Da ereignete sich ein Zwischenfall, - Hans Castorp war es, der ihn herbeifuhrte. Er gab eine Anregung, sprach einen Wunsch und Gedanken aus, den er langst, eigentlich von allem Anbeginn, gehegt und mit dem er moglicherweise fruher hatte hervortreten sollen. Eben lag Elly, das Gesicht auf ihren gehaltenen Handen, in "Tieftrance", und Herr Wenzel war im Begriffe die Platte zu wechseln oder sie umzudrehen, als unser Freund mit Entschlu? begann und sagte, er habe einen Vorschlag zu machen, - unbedeutend ubrigens, und doch konne seine Annahme vielleicht von Nutzen sein. Er habe da ... das hei?e: der Plattenschatz des Hauses enthalte eine Nummer: aus "Margarete" von Gounod, Gebet des Valentin, Bariton mit Orchester, sehr ansprechend. Er, Redner, meine, da? man es einmal mit dieser Platte versuchen sollte.

"Und warum das?" fragte der Doktor durch das Rotdunkel ...

"Stimmungssache, Gefuhlsangelegenheit", versetzte der junge Mann. Der Geist des fraglichen Stuckes sei eigentumlich und speziell. Es komme auf einen Versuch damit an. Nicht ganz ausgeschlossen, seiner Meinung nach, da? dieser Geist und Charakter den Proze?, um den es hier gehe, werde abkurzen konnen.

"Ist die Platte zur Stelle?" erkundigte sich der Doktor.

Nein, das war sie nicht. Aber Hans Castorp konnte sie ohne weiteres holen.

"Wo denken Sie hin!" Krokowski wies das unbedingt von der Hand. Wie? Hans Castorp wollte gehen und kommen, etwas holen und dann die unterbrochene Arbeit wieder aufnehmen? Unerfahrenheit rede aus ihm. Nein, das sei schlechthin unmoglich. Alles ware zerstort, man konnte von vorn beginnen. Auch die wissenschaftliche Exaktheit verbiete, an solch willkurliches Aus- und Eingehen nur zu denken. Die Tur sei verschlossen. Er, der Doktor, trage den Schlussel in der Tasche. Und kurz, wenn die Platte nicht ohne weiteres greifbar sei, so musse man - Er redete noch, als der Tscheche vom Grammophon her dazwischen warf:

"Die Platte ist hier."

"Hier?" fragte Hans Castorp ...

Ja, hier. Margarete, Gebet des Valentin. Bitte sehr. Sie hatte ausnahmsweise im leichten Album gesteckt und nicht im grunen Arien-Album Nummer II, wohin sie nach der Organisation gehorte. Sie war zufalligerweise, au?erordentlicherweise, schlampigerweise, erfreulicherweise unter die Allotria geraten und brauchte nur eingelegt zu werden.

Was sagte Hans Castorp dazu? Er sagte nichts. Der Doktor war es, der "Desto besser" sagte, und mehrere wiederholten es. Die Nadel wetzte, der Deckel sank. Und mannlich begann es zu choralhaften Klangen: "Da ich nun verlassen soll -"

Niemand sprach.Man lauschte. Elly hatte, sobald der Gesang begann, ihre Arbeit erneuert. Sie war aufgefahren, zitterte, achzte, pumpte und fuhrte wieder die gleitnassen Hande an ihre Stirn. Die Platte lief. Es kam der mittlere Teil, mit umspringendem Rhythmus, die Stelle von Kampf und Gefahr, keck, fromm und franzosisch. Sie ging voruber, es folgte der Schlu?, die orchestral verstarkte Reprise des Anfangs, machtigen Klangs: "O, Herr des Himmels, hor' mein Flehn -"

Hans Castorp hatte mit Elly zu tun. Sie baumte sich, zog durch verengte Kehle die Luft ein, sank dann lang ausseufzend in sich zusammen und blieb still. Besorgt beugte er sich uber sie, da horte er die Stohr mit piepender, winselnder Stimme sagen:

"Ziem - ?en -!"

Er richtete sich nicht auf. In seinen Mund trat ein bitterer Geschmack.

Er horte eine andere Stimme tief und kalt erwidern:

"Ich sehe ihn langst."

Die Platte war abgelaufen, der letzte Blaserakkord verklungen. Aber niemand stoppte den Apparat. Leer kratzend in der Stille lief die Nadel inmitten der Scheibe weiter. Da hob denn Hans Castorp den Kopf, und seine Augen gingen, ohne suchen zu mussen, den richtigen Weg.

Es war einer mehr im Zimmer, als vordem. Dort, abseits von der Gesellschaft, im Hintergrund, wo die Reste des Rotlichtes sich fast in Nacht verloren, so da? die Augen kaum noch dahin drangen, zwischen Schreibtisch-Breitseite und spanischer Wand, auf dem gegen das Zimmer gedrehten Besucherstuhl des Doktors, wo wahrend der Pause Elly gesessen, sa? Joachim. Es war Joachim mit den schattigen Wangenhohlen und dem Kriegsbart seiner letzten Tage, in dem die Lippen so voll und stolz sich wolbten. Angelehnt sa? er und hielt ein Bein uber das andere geschlagen. Auf seinem abgezehrten Gesicht erkannte man, obgleich es von einer Kopfbedeckung beschattet war, den Stempel des Leidens und auch den Ausdruck von Ernst und Strenge wieder, der es so mannlich verschont hatte. Zwei Falten standen auf seiner Stirn zwischen den Augen, die tief in knochigen Hohlen lagen, doch das beeintrachtigte nicht die Sanftmut des Blicks dieser schonen, gro?-dunklen Augen, der still und freundlich spahend auf Hans Castorp, auf diesen allein, gerichtet war. Sein kleiner Kummer von ehedem, die abstehenden Ohren waren erkennbar auch unter der Kopfbedeckung, der sonderbaren Kopfbedeckung, auf die man sich nicht verstand. Vetter Joachim war nicht in Zivil; sein Sabel schien am ubergeschlagenen Schenkel zu lehnen, er hielt die Hande am Griff, und etwas wie eine Pistolentasche glaubte man gleichfalls an seinem Gurtel zu unterscheiden. Doch war das auch kein richtiger Waffenrock, was er trug. Nichts Blankes noch Farbiges war daran zu bemerken, es hatte einen Litewkakragen und Seitentaschen, und irgendwo ziemlich tief sa? ein Kreuz. Die Fu?e Joachims wirkten gro? und die Beinesehr dunn; sie schienen eng eingewickelt, auf sportliche mehr, denn auf militarische Art. Und wie war das mit der Kopfbedeckung? Sie sah aus, als hatte Joachim sich ein Feldgeschirr, einen Kochtopf aufs Haupt gestulpt und ihn durch Sturmband unter dem Kinn befestigt. Doch wirkte das altertumlich und landsknechthaft und kriegerisch kleidsam, merkwurdigerweise.

Hans Castorp spurte den Atem Ellen Brands auf seinen Handen. Neben

sich horte er den der Kleefeld, der beschleunigt ging. Sonst war nichts zu vernehmen, als das unaufhorliche wetzende Gerausch der abgelaufenen, unter der Nadel weiter rotierenden Platte, die niemand stoppte. Er sah sich nach keinem seiner Kumpane um, wollte nichts von ihnen sehen und wissen. Schrag hin uber die Hande, den Kopf auf seinen Knien, starrte er weit vorgebeugt durch das Rotdunkel auf den Besuch im Sessel. Einen Augenblick schien sein Magen sich umkehren zu wollen. Es zog ihm die Kehle zusammen, und ein vier- oder funffaches Schluchzen stie? ihn innig-krampfhaft. "Verzeih!" flusterte er in sich hinein; und dann gingen die Augen ihm uber, so da? er nichts mehr sah.

Er horte raunen: "Reden Sie ihn an!" - Er horte Dr. Krokowskis baritonale Stimme feierlich und heiter seinen Namen nennen und die Aufforderung wiederholen. Statt ihr nachzukommen, zog er seine Hande unter Ellys Gesicht fort und stand auf.

Wieder rief Dr. Krokowski seinen Namen, diesmal in streng vermahnendem Ton. Aber Hans Castorp war mit wenigen Schritten bei den Stufen der Eingangstur und schaltete mit knappem Handgriff das Wei?licht ein.

Die Brand war in schwerem Chok zusammengefahren. Sie zuckte in den Armen der Kleefeld. Jener Sessel war leer.

Auf den im Stehen protestierenden Krokowski ging Hans Castorp zu, nahe vor ihn hin. Er wollte sprechen, aber von seinen Lippen kam kein Wort. Mit brusk heischender Kopfbewegung streckte er die Hand aus. Da er den Schlussel empfangen, nickte er dem Doktor mehrmals drohend ins Gesicht, machte kehrt und ging aus dem Zimmer.

Die gro?e Gereiztheit

Wie so die Jahrchen wechselten, begann etwas umzugehen im Hause Berghof, ein Geist, dessen unmittelbare Abstammung von dem Damon, dessen bosartigen Namen wir genannt haben, Hans Castorp ahnte. Mit der unverantwortlichen Neugier des Bildungsreisenden hatte er diesen Damon studiert, ja, bedenkliche Moglichkeiten in sich vorgefunden, an dem ungeheuerlichen Dienste, den die Mitwelt ihm widmete, ausgiebig teilzunehmen. Dem Wesen zu fronen, das jetzt um sich griff, nachdem es ubrigens, genau wie das alte, keimweise und da und dort sich andeutend schon immer vorhanden gewesen, war er nach seiner Gemutsart wenig geschaffen. Trotzdem bemerkte er mit Schrecken, da? auch er, sobald er

sich ein wenig gehen lie?, in Miene, Wort und Gehaben einer Infektion unterlag, der niemand in der Runde sich entzog.

Was gab es denn? Was lag in der Luft? -Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zugelloses Hin- und Hergeschrei entsprang alle Tage zwischen Einzelnen und ganzen Gruppen, und das Kennzeichnende war, da? die Nichtbeteiligten, statt von dem Zustande der gerade Ergriffenen abgesto?en zu sein oder sich ins Mittel zu legen, vielmehr sympathetischen Anteil daran nahmen und sich dem Taumel innerlich ebenfalls uberlie?en. Man erbla?te und bebte. Die Augen blitzten ausfallig, die Munder verbogen sich leidenschaftlich. Man beneidete die eben Aktiven um das Recht, den Anla?, zu schreien. Eine zerrende Lust, es ihnen gleichzutun, peinigte Seele und Leib, und wer nicht die Kraft zur Flucht in die Einsamkeit besa?, wurde unrettbar in den Strudel gezogen. Die mu?igen Konflikte, die gegenseitigen Bezichtigungen vor dem Angesicht der schlichtungsbemuhten, aber brullender Grobheit selbst erschreckend leicht verfallenden Obrigkeit hauften sich im Hause Berghof, und wer es bei leidlich gesunder Seele verlie?, konnte nicht wissen, in welcher Verfassung er zuruckkehrte. Ein Mitglied des Guten Russentisches, eine recht elegante Provinzdame aus Minsk, noch jung und nur leichtkrank - drei Monate und nicht mehr waren ihr zudiktiert - begab sich eines Tages in den Ort hinunter zum franzosischen Blusenhaus, um Einkaufe zu machen. Hier zankte sie sich derart mit der Ladnerin, da? sie in letzter Erregung zu Hause wieder eintraf, einen Blutsturz erlitt und fortan unheilbar war. Ihrem herbeigerufenen Gatten wurde eroffnet, da? ihres Bleibens hier oben nun immer und ewig sein musse.

Das war ein Beispiel dessen, was umging. Widerwillig fuhren wir weitere an. Dieser und jener wird sich des rund bebrillten Schulers oder ehemaligen Schulers am Tische Frau Salomons erinnern, dieses durftigen jungen Menschen, der die Gewohnheit hatte, sich seine Speisen auf dem Teller zu einem Kleingemengsel zusammenzuschneiden und dieses, aufgestutzt, in sich hineinzuschlingen, wobei er zuweilen mit der Serviette hinter die dicken Augenglaser fuhr. So hatte er, immer noch ein Schuler oder ehemaliger Schuler, all die Zeit hier gesessen, geschlungen und sich die Augen gewischt, ohne Anla? zu einer mehr als fluchtig hinstreifenden Beachtung seiner Person zu geben. Jetzt jedoch, eines

Morgens, beim ersten Fruhstuck, ganz uberraschend und sozusagen aus heiterem Himmel, erlitt er einen Zufall und Raptus, der allgemeines Aufsehen erregte, den ganzen Speisesaal auf die Beine brachte. Es wurde laut in der Gegend, wo er sa?; bleich sa? er dort und schrie, und es galt der Zwergin, die bei ihm stand. "Sie lugen!" schrie er mit sich uberschlagender Stimme. "Der Tee ist kalt! Eiskalt ist mein Tee, den Sie mir gebracht haben, ich will ihn nicht, versuchen Sie ihn doch selbst, bevor Sie lugen, ob er nicht lauwarmes Spulicht ist und von anstandigen Menschen uberhaupt nicht zu trinken! Wie konnen Sie es wagen, mireiskalten Tee zu bringen, wie konnen Sie auf den Gedanken verfallen und sich einreden, Sie konnten mir solches laue Gesoff vorsetzen mit auch nur einiger Aussicht, da? ich es trinke?! Ich trinke es nicht! Ich will es nicht!" kreischte er und fing an, mit beiden Fausten auf den Tisch zu trommeln, da? alles Geschirr der Tafel klirrte und tanzte. "Ich will hei?en Tee! Siedehei?en Tee will ich, das ist mein Recht vor Gott und den Menschen! Ich will es nicht, ich will bruhhei?en, ich will auf der Stelle sterben, wenn ich auch nur einen Schluck - - Verfluchter Kruppel!!" gellte er auf einmal, indem er gleichsam mit einem Ruck den letzten Zugel abwarf und zur au?ersten Freiheit der Raserei begeistert durchstie?. Er hob die Fauste dabei gegen Emerenzia und zeigte ihr buchstablich seine beschaumten Zahne. Dann fuhr er fort zu trommeln, zu stampfen und sein "Ich will", "Ich will nicht" zu heulen, - wahrend es unterdessen im Saale wie immer ging. Furchtbare und angespannte Sympathie ruhte auf dem tobenden Schuler. Einige waren aufgesprungen und sahen ihm mit ebenfalls geballten Fausten, zusammengebissenen Zahnen und gluhenden Blicken zu. Andere sa?en bleich, mit niedergeschlagenen Augen, und bebten. Dies taten sie noch, als der Schuler schon langst, in Erschopfung versunken, vor seinem ausgewechselten Tee sa?, ohne ihn zu trinken.

Was war das?

Ein Mann trat in die Berghofgemeinschaft ein, ein ehemaliger Kaufmann, drei?igjahrig, schon lange febril, seit Jahren von Anstalt zu Anstalt gewandert. Der Mann war Judengegner, Antisemit, war es grundsatzlich und sportsma?ig, mit freudiger Versessenheit, - die aufgelesene Verneinung war Stolz und Inhalt seines Lebens. Er war ein Kaufmann gewesen, er war es nicht mehr, er war nichts in der Welt, aber ein Judenfeind war er geblieben. Er war sehr ernstlich krank, hustete schwer beladen und tat zwischendurch, als ob er mit der Lunge nieste,

hoch, kurz, einmalig, unheimlich. Jedoch war er kein Jude, und das war das Positive an ihm. Sein Name war Wiedemann, ein christlicher Name, kein unreiner. Er hielt sich eine Zeitschrift, genannt "Die arische Leuchte", und fuhrte Reden wie diese:

"Ich komme ins Sanatorium X. in A.. Wie ich mich in der Liegehalle installieren will, - wer liegt links von mir im Stuhl? Der Herr Hirsch! Wer liegt rechts? Der Herr Wolf! Selbstverstandlich bin ich sofort gereist" usw.

"Du hast es notig!" dachte Hans Castorp mit Abneigung.

Wiedemann hatte einen kurzen, lauernden Blick. Es sah tatsachlich und unbildlich so aus, als hinge dicht vor seiner Nase eine Puschel, auf die er boshaft schielte, und hinter der er nichts mehr sah. Die Mi?idee, die ihn ritt, war zu einem juckenden Mi?trauen, einer rastlosen Verfolgungsmanie geworden, die ihn trieb, Unreinheit, diesich in seiner Nahe versteckt oder verlarvt halten mochte, hervorzuziehen und der Schande zuzufuhren. Er stichelte, verdachtigte und geiferte, wo er ging und stand. Und kurz, das Betreiben der Anprangerung alles Lebens, das nicht den Vorzug besa?, der sein einziger war, fullte seine Tage aus.

Die inneren Umstande nun, mit deren Andeutung wir eben befa?t sind, verschlimmerten das Leiden dieses Mannes au?erordentlich; und da es nicht fehlen konnte, da? er auch hier auf Leben stie?, das den Nachteil aufwies, von dem er, Wiedemann, frei war, so kam es unter dem Einflu? jener Umstande zu einer Elendsszene, der Hans Castorp beizuwohnen hatte, und die uns als weiteres Beispiel fur das zu Schildernde dienen mu?.

Denn es war da ein anderer Mann, - zu entlarven gab es nichts, was ihn betraf, der Fall war klar. Dieser Mann hie? Sonnenschein, und da man nicht schmutziger hei?en konnte, so bildete Sonnenscheins Person vom ersten Tage an die Puschel, die vor Wiedemanns Nase hing, auf die er kurz und boshaft schielte, und nach der er mit der Hand schlug, fast weniger, um sie zu verjagen, als um sie ins Pendeln zu versetzen, damit sie ihn desto besser reize.

Sonnenschein, Kaufmann, wie der andere, von Hause aus, war ebenfalls recht ernstlich krank und krankhaft empfindlich. Ein freundlicher Mann, nicht dumm und selbst scherzhaft von Natur, ha?te er Wiedemann fur seine Sticheleien und seine Puschelschlage auch seinerseits bald bis zum Leiden, und eines Nachmittags lief alles in der Halle zusammen, weil Wiedemann und Sonnenschein einander dort auf ausschweifende und tierische Weise in die Haare geraten waren.

Es war ein Anblick voll Grauen und Jammer. Sie katzbalgten sich wie kleine Jungen, aber mit der Verzweiflung erwachsener Manner, mit denen es dahin gekommen ist. Sie gingen einander mit den Krallen ins Gesicht, hielten sich an Nase und Kehle, wahrend sie aufeinander losschlugen, umschlangen sich, walzten sich in furchtbarem und radikalem Ernste am Boden, spieen nach einander, traten, stie?en, zerrten, hieben und schaumten. Herbeigeeiltes Bureaupersonal trennte mit Muhe die Verbissenen und Verkrallten. Wiedemann, speichelnd und blutend, wutverblodeten Angesichts, zeigte das Phanomen der zu Berge stehenden Haare. Hans Castorp hatte das noch nie gesehen und nicht geglaubt, da? es eigentlich vorkomme. Die Haare standen Herrn Wiedemann starr und steif zu Berge, und so sturzte er davon, wahrend Herr Sonnenschein, das eine Auge in Blaue verschwunden und eine blutende Lucke in dem Kranz lockigen schwarzen Haares, das seinen Schadel umgab, ins Bureau gefuhrt wurde, wo er sich niederlie? und bitterlich in seine Hande weinte.

So ging es mit Wiedemann und Sonnenschein. Alle, die es sahen, bebten noch stundenlang. Es ist vergleichsweise eine Wohltat, im Gegensatz zu solcher Misere von einem wahren Ehrenhandel zu erzahlen,der ebenfalls dieser Periode angehort, und der seinen Namen allerdings, der formalen Feierlichkeit wegen, mit der er gehandhabt wurde, bis zur Lacherlichkeit verdiente. Hans Castorp wohnte ihm in seinen einzelnen Phasen nicht bei, sondern belehrte sich uber den verwickelten und dramatischen Hergang nur an der Hand von Dokumenten, Erklarungen und Protokollen, die, diese Sache betreffend, im Hause Berghof und au?erhalb seiner, namlich nicht nur am Ort, im Kanton, im Lande, sondern auch im Auslande und in Amerika abschriftlich vertrieben und auch solchen zum Studium zugestellt wurden, von denen ohne weiteres sicher sein mu?te, da? sie der Angelegenheit auch nicht einen Deut von Teilnahme widmen konnten und wollten.

Es war eine polnische Angelegenheit, ein Ehrentrubel, entstanden im Scho?e der polnischen Gruppe, die sich kurzlich im Berghof zusammengefunden hatte, einer ganzen kleinen Kolonie, die den Guten Russentisch besetzt hielt -(Hans Castorp, dies hier einzuflechten, sa? nicht mehr dort, sondern war mit der Zeit an den der Kleefeld, dann an den der Salomon und dann an den Fraulein Levis gewandert). Die Gesellschaft war derma?en elegant und ritterlich gewichst, da? man nur

die Brauen emporziehen und sich innerlich auf alles gefa?t machen konnte, - ein Ehepaar, ein Fraulein dazu, das mit einem der Herren in freundschaftlichen Beziehungen stand, und sonst lauter Kavaliere. Sie hie?en von Zutawski, Cieszynski, von Rosinski, Michael Lodygowski, Leo von Asarapetian und noch anders. Im Restaurant des Berghofs nun, beim Champagner, hatte ein gewisser Japoll in Gegenwart zweier anderer Kavaliere uber die Gattin des Herrn von Zutawski, wie auch uber das dem Herrn Lodygowski nahestehende Fraulein namens Kryloff Unwiederholbares geau?ert. Hieraus ergaben sich die Schritte, Taten und Formalien, die den Inhalt der zur Verteilung und Versendung gelangenden Schriftsatze bildeten. Hans Castorp las:

"Erklarung, ubersetzt aus dem polnischen Original. - Am 27. Marz 19.. wandte sich Herr Stanislaw von Zutawski an die Herren Dr. Antoni Cieszynski und Stefan von Rosinski mit der Bitte, sich in seinem Namen zum Herrn Kasimir Japoll zu begeben, um von demselben auf dem durch das Ehrenrecht angezeigten Wege Satisfaktion zu verlangen fur 'die schwere Beleidigung und Verleumdung, welche Herr Kasimir Japoll dessen Frau Gemahlin Jadwiga von Zutawska im Gesprache mit den Herren Janusz Teofil Lenart und Leo von Asarapetian zugefugt hat'.

"Als von diesem obenerwahnten Gesprach, das Ende November stattgehabt hat, vor einigen Tagen Herr von Zutawski mittelbar Kenntnis erhalten hat, unternahm er sofort Schritte, um vollige Sicherheit uber den Tatbestand und das Wesen der geschehenen Beleidigung zu erlangen. Am gestrigen Tage, dem 27. Marz 19.., wurde durch den Mund des Herrn Leo von Asarapetian, dem unmittelbaren Zeugen des Gespraches, in welchem die beleidigenden Worte und die Insinuationen gefallen sind, die Verleumdung und Beleidigung festgestellt; hierdurch wurde Herr Stanislaw von Zutawskiveranla?t, sich ungesaumt an die Unterzeichneten zu wenden, um ihnen das Mandat zur Einleitung des ehrenrechtlichen Verfahrens gegen Herrn Kasimir Japoll zu erteilen.

"Die Unterzeichneten geben folgende Erklarung ab:

'1. Unter Zugrundelegung des von einer Partei abgefa?ten Protokolls vom 9. April 19.., welches in Lemberg von den Herren Zdzistaw Zygulski und Tadeusz Kadyj in der Angelegenheit des Herrn Ladislaw Goduleczny gegen Herrn Kasimir Japoll verfa?t worden ist, ferner unter Zugrundelegung der Erklarung des Ehrengerichtes vom 18. Juni 19.., die zu Lemberg in ebenderselben Angelegenheit abgefa?t worden ist, welch beide Schriftstucke in gemeinsamem Ubereinklang stehend feststellen,

da? Herr Kasimir Japoll 'infolge seines wiederholten Verhaltens, welches nicht mit dem Begriff der Ehre in Einklang zu bringen ist, als Gentleman nicht angesehen werden kann',

'2. ziehen die Unterzeichneten die aus Obigem sich ergebenden Konsequenzen in ihrer vollen Tragweite und stellen die absolute Unmoglichkeit fest, da? Herr Kasimir Japoll irgendwie noch satisfaktionsfahig ware.

'3. Dieselben erachten fur ihre Person als unzulassig, gegen einen Mann, der au?erhalb des Begriffes der Ehre steht, die Ehrenangelegenheit zu fuhren oder in derselben zu vermitteln.'

"In Anbetracht dieser Sachlage machen die Unterzeichneten Herrn Stanislaw von Zutawski darauf aufmerksam, da? es zwecklos sei, seinem Recht auf dem Wege eines ehrenrechtlichen Verfahrens gegen Herrn Kasimir Japoll nachzugehen und raten ihm, den strafgerichtlichen Weg einzuschlagen, um zu verhindern, da? von seiten einer Personlichkeit, die in dem Ma?e au?erstande ist, Satisfaktion zu leisten, wie es beim Herrn Kasimir Japoll der Fall ist, weitere Schadigungen ergehen. -(Datiert und gezeichnet:) Dr. Antoni Cieszynski, Stefan von Rosinski."

Ferner las Hans Castorp:

"Protokoll

"der Zeugen uber den Vorgang zwischen Herrn Stanislaw von Zutawski, Herrn Michael Lodygowski

"und den Herren Kasimir Japoll und Janusz Teofil Lenart in der Bar des Kurhauses zu D., am 2. April 19.. zwischen 7? und 7? h abends.

"Da Herr Stanislaw von Zutawski auf Grund der Erklarung seiner Vertreter, der Herren Dr. Antoni Cieszynski und Stefan Rosinski, in der Angelegenheit des Herrn Kasimir Japoll am 28. Marz 19.. nach reifer Uberlegung zu der Uberzeugung gekommen war, da? ihm die empfohlene strafgerichtliche Verfolgung des Herrn Kasimir Japoll fur 'die schwere Beleidigung und Verleumdung' seiner Gemahlin Jadwiga keine Satisfaktion wird geben konnen, da:

1. der berechtigte Verdacht bestand, da? Herr Kasimir Japoll im gegebenen Augenblick vor Gericht nicht erscheinen und seine weitere Verfolgung mit Rucksicht darauf, da? er osterreichischer Staatsangehoriger ist, nicht nur erschwert, sondern geradezu unmoglich sein wird,

2. da au?erdem eine gerichtliche Bestrafung des Herrn Kasimir Japoll

die Beleidigung, durch die Herr Kasimir Japoll den Namen und das Haus des Herrn Stanislaw von Zutawski und seiner Gemahlin Jadwiga in verleumderischer Weise zu schanden versuchte, nicht zu suhnen vermochte,

hat Herr Stanislaus von Zutawski den kurzesten, seiner Uberzeugung nach grundlichsten und in Anbetracht dergegebenen Verhaltnisse entsprechendsten Weg gewahlt, nachdem er indirekt in Erfahrung gebracht hat, da? Herr Kasimir Japoll beabsichtigt, hiesigen Ort am nachsten Tage zu verlassen,

und hat am 2. April 19.. zwischen 7? - 7? h abends in Gegenwart seiner Gemahlin Jadwiga und der Herren Michael Lodygowski und Ignaz von Mellin Herrn Kasimir Japoll, der in Gesellschaft des Herrn Janusz Teofil Lenart und zweier unbekannter Madchen in der American Bar hiesigen Kurhauses bei alkoholischen Getranken sa?, mehrfach geohrfeigt.

"Unmittelbar darauf hat Herr Michael Lodygowski Herrn Kasimir Japoll geohrfeigt, indem er hinzufugte, da? dies fur die dem Fraulein Krylow und ihm zugefugten schweren Beleidigungen sei.

"Sofort danach ohrfeigte Herr Michael Lodygowski Herrn Janusz Teofil Lenart fur das Herrn und Frau von Zutawski zugefugte unqualifizierbare Unrecht, worauf noch,

"ohne einen Augenblick zu verlieren, auch Herr Stanislaus von Zutawski Herrn Janusz Teofil Lenart fur die verleumderische Besudelung seiner Gemahlin sowohl wie Fraulein Krylows wiederholt und mehrfach ohrfeigte.

"Die Herren Kasimir Japoll und Janusz Teofil Lenart verhielten sich wahrend dieses ganzen Vorganges vollig passiv.(Datiert u. gezeichnet:) Michael Lodygowski, Ign. v. Mellin."

Die inneren Umstande erlaubten Hans Castorp nicht, uber dies Schnellfeuer offizieller Ohrfeigen zu lachen, wie er es sonst wohl getan haben wurde. Er erbebte, indem er davon las, und der untadelige Komment der einen -, die bubische und schlaffe Ehrlosigkeit der anderen Seite, wie beides aus den Dokumenten dem Leser in die Augen sprang, erregten ihn in ihrer etwas unlebendigen, aber eindrucksvollen Gegensatzlichkeit aufs tiefste. So ging es allen. Weit und breit wurde der polnische Ehrenhandel leidenschaftlich studiert und mit zusammengebissenen Zahnen besprochen. Etwas ernuchternd wirkte ein Gegenflugblatt des Herrn Kasimir Japoll, dahingehend, dem von Zutawski

sei ganz genau bekannt gewesen, da? er, Japoll, seinerzeit in Lemberg von irgendwelchen aufgeblasenen Laffen fur satisfaktionsunfahig erklart worden sei, und alle seine sofortigen und ungesaumten Schritte seien das reine Affentheater gewesen, da er von vornherein gewu?t habe, da? er sich nicht werde schlagen mussen. Auch habe von Zutawski einzig und allein aus dem Grunde darauf verzichtet, ihn, Japoll, zu verklagen, weil, wie jedermann und er selbst ebenfalls recht gut wisse, seine Gemahlin Jadwiga ihn mit einer ganzen Geweihsammlung versehen habe, wofur er, Japoll, spielend den Wahrheitsbeweis hatte erbringen konnen, wie denn auch mit der allgemeinen Auffuhrung der Krylow vor Gericht wenig Ehre einzulegen gewesen ware. Ubrigens sei nur seine eigene, Japolls, Satisfaktionsunfahigkeit erhartet, nicht auch bereits die seines Gesprachspartners Lenart, und von Zutawski habe sich hinter die erstere verschanzt, um keine Gefahr zu laufen. Von der Rolle, die Herr Asarapetian in der ganzen Sache gespielt habe, wolle er nicht reden. Was aber den Auftritt in der Kurhaus-Bar betreffe, so sei er, Japoll, ein wenn auch mundscharfer und zum Witz geneigter, so dochau?erst schwachlicher Mensch; von Zutawski habe sich mit seinen Freunden und der ungewohnlich kraftigen Zutawska in physischer Uberlegenheit befunden, zumal die beiden Damchen, die sich in seiner, Japolls, und Lenarts Gesellschaft befunden, zwar lustige Geschopfe, aber schreckhaft wie die Huhner gewesen seien; und so habe er, um eine wuste Schlagerei und offentlichen Skandal zu vermeiden, Lenart, der sich habe zur Wehr setzen wollen, veranla?t, sich ruhig zu verhalten und die fluchtigen gesellschaftlichen Beruhrungen der Herren von Zutawski und Lodygowski in Gottes Namen zu dulden, die nicht weh getan hatten und von den Umsitzenden als freundschaftliche Neckerei aufgefa?t worden seien.

So Japoll, fur den naturlich nicht viel zu retten war. Seine Korrekturen vermochten den schonen Kontrast von Ehre und Misere, wie er aus den Feststellungen der Gegenseite hervorging, nur oberflachlich zu storen, zumal er nicht uber die Vervielfaltigungstechnik der Zutawskischen Partei verfugte, sondern nur ein paar Maschinendurchschlage seiner Replik unter die Leute zu bringen wu?te. Jene Protokolle dagegen, wie gesagt, erhielt jedermann, auch vollig Fernstehende erhielten sie. Naphta und Settembrini z. B. hatten sie ebenfalls zugestellt bekommen, - Hans Castorp sah sie in ihren Handen, und zu seiner Uberraschung bemerkte er, da? auch sie mit verbissenen und sonderbar hingerissenen Mienen darauf niederblickten. Den heiteren Spott, den er selbst vermoge

der herrschenden inneren Umstande nicht aufbrachte, von Herrn Settembrini wenigstens hatte er ihn erwartet. Aber auch uber den klaren Geist des Maurers ubte die umlaufende Infektion, die Hans Castorp beobachtete, offenbar eine Gewalt, die ihm das Lachen verschlug, ihn fur die aufpeitschenden Reize des Ohrfeigenhandels ernstlich empfanglich machte; und au?erdem verdusterte ihn, den Mann des Lebens, sein langsam und unter foppenden Ruckschlagen zum Guten, aber unaufhaltsam sich verschlechternder Gesundheitszustand, den er verwunschte, und dessen er sich ingrimmig und mit Selbstverachtung schamte, der ihn aber um diese Zeit schon alle paar Tage zwang, das Bett zu huten.

Naphta, seinem Hausgenossen und Widersacher, erging es nicht besser. Auch in seinem organischen Innern schritt die Krankheit fort, die der physische Grund - oder mu? man sagen: Vorwand gewesen, weshalb seine Ordenslaufbahn ein so verfruhtes Ende genommen, und die hohen und dunnen Bedingungen, unter denen man lebte, konnten ihrer Ausbreitung nicht Einhalt tun. Auch er war oft bettlagerig; der Tellersprung seiner Stimme klapperte starker, wenn er sprach, und er sprach bei erhohtem Fieber mehr noch, scharfer und bei?ender als ehedem. Jene ideellen Widerstande gegen Krankheit und Tod, deren Niederlage vor der Ubergewalt einer niedertrachtigen Natur Herrn Settembrini so schmerzte, mu?ten dem kleinen Naphta fremd sein, und seine Art, die Verschlimmerung seines Korperzustandes aufzunehmen, war denn auch nicht Trauer und Gram, sondern eine hohnische Aufgeraumtheit und Angriffslust sondergleichen, eine Sucht nach geistiger Bezweifelung, Verneinung und Verwirrung, die die Melancholie des anderen aufsschwerste reizte und ihre intellektuellen Streitigkeiten taglich verscharfte. Hans Castorp, naturlich, konnte nur von denen reden, denen er beiwohnte. Aber er war so ziemlich gewi?, da? er keine versaumte, da? seine, des padagogischen Objektes, Gegenwart vonnoten war, um bedeutende Kolloquien zu entzunden. Und wenn er Herrn Settembrini nicht den Kummer ersparte, Naphtas Bosheiten horenswert zu finden, so mu?te er doch zugeben, da? sie nachgerade alles Ma? und haufig genug die Grenze des geistig Gesunden uberschritten.

Dieser Kranke besa? nicht die Kraft oder den guten Willen, sich uber die Krankheit zu erheben, sondern sah die Welt in ihrem Bilde und Zeichen. Zum Ingrimm Herrn Settembrinis, der den lauschenden Zogling

am liebsten aus dem Zimmer gewiesen oder ihm die Ohren zugehalten hatte, erklarte er die Materie fur ein bei weitem zu schlechtes Material, um den Geist darin verwirklichen zu konnen. Dies anzustreben, sei eine Narrheit. Was komme dabei heraus? Eine Fratze! Das Wirklichkeitsergebnis der gepriesenen franzosischen Revolution sei der kapitalistische Bourgeoisstaat - eine schone Bescherung! die man in der Weise zu verbessern hoffe, da? man den Greuel universal mache. Die Weltrepublik, das werde das Gluck sein, sicher! Fortschritt? Ach, es handele sich um den beruhmten Kranken, der bestandig die Lage wechsele, weil er sich Erleichterung davon verspreche. Der uneingestandene, aber heimlich ganz allgemein verbreitete Wunsch nach Krieg sei davon ein Ausdruck. Er werde kommen, dieser Krieg, und das sei gut, obgleich er anderes zeitigen werde, als seine Veranstalter sich davon versprachen. Naphta verachtete den burgerlichen Sicherheitsstaat. Er nahm Veranlassung, sich daruber zu au?ern, als man im Herbst auf der Hauptstra?e spazieren ging und bei beginnendem Regen plotzlich und wie auf Kommando alle Welt Regenschirme uber die Kopfe hielt. Das war ihm ein Symbol fur die Feigheit und ordinare Verweichlichung, die das Ergebnis der Zivilisation seien. Ein Zwischenfall und Menetekel wie der Untergang des Dampfers "Titanic" wirke atavistisch, aber wahrhaft erquicklich. Danach gro?es Geschrei nach mehr Sicherheit des "Verkehrs". Uberhaupt immer die gro?te Emporung, sobald die "Sicherheit" bedroht scheine. Das sei jammerlich und reime sich in seiner humanitaren Schlaffheit recht artig auf die wolfische Kruditat und Niedertracht des wirtschaftlichen Schlachtfeldes, das der Burgerstaat darstelle. Krieg, Krieg! Er sei einverstanden, und die allgemeine Lusternheit danach scheine ihm vergleichsweise ehrenwert.

Sobald aber etwa Herr Settembrini das Wort "Gerechtigkeit" ins Gesprach einfuhrte, und dieses hohe Prinzip als vorbeugendes Mittel gegen innen- und au?enpolitische Katastrophen empfahl, da zeigte es sich, da? Naphta, der kurzlich noch das Geistige fur zu gut befunden hatte, als da? seine irdische Auspragung je gelingen konne und solle, eben dies Geistige selbst unter Zweifel zu setzen und zu verunglimpfen bestrebt war. Gerechtigkeit! War sie ein anbetungswurdiger Begriff? Ein gottlicher? Ein Begriff ersten Ranges? Gott und Natur waren ungerecht, siehatten Lieblinge, sie ubten Gnadenwahl, schmuckten den einen mit gefahrlicher Auszeichnung und bereiteten dem anderen ein leichtes, gemeines Los. Und der wollende Mensch? Fur ihn war Gerechtigkeit einerseits eine lahmende Schwache, war der Zweifel selbst - und auf der

anderen Seite eine Fanfare, die zu unbedenklichen Taten rief. Da also der Mensch, um im Sittlichen zu bleiben, stets "Gerechtigkeit" in diesem Sinne durch "Gerechtigkeit" in jenem Sinne korrigieren mu?te, - wo blieben Unbedingtheit und Radikalismus des Begriffs? Ubrigens war man "gerecht" gegen den einen Standpunkt oder gegen den anderen. Der Rest war Liberalismus, und kein Hund war heutzutage mehr damit vom Ofen zu locken. Gerechtigkeit war selbstverstandlich eine leere Worthulse der Burgerrhetorik, und um zum Handeln zu kommen, musse man vor allen Dingen wissen, welche Gerechtigkeit man meine: diejenige, die jedem das Seine, oder diejenige, die allen das Gleiche geben wolle.

Wir haben da nur auf gut Gluck aus dem Uferlosen ein Beispiel herausgegriffen dafur, wie er es darauf anlegte, die Vernunft zu storen. Aber noch schlimmer wurde es, wenn er auf die Wissenschaft zu sprechen kam, - an die er nicht glaubte. Er glaube nicht an sie, sagte er, denn es stehe dem Menschen vollig frei, an sie zu glauben oder nicht. Sie sei ein Glaube, wie jeder andere, nur schlechter und dummer als jeder andere, und das Wort "Wissenschaft" selbst sei der Ausdruck des stupidesten Realismus, der sich nicht schame, die mehr als fragwurdigen Spiegelungen der Objekte im menschlichen Intellekt fur bare Munze zu nehmen oder auszugeben und die geist- und trostloseste Dogmatik daraus zu bereiten, die der Menschheit je zugemutet worden sei. Ob etwa nicht der Begriff einer an und fur sich existierenden Sinnenwelt der lacherlichste aller Selbstwiderspruche sei? Aber die moderne Naturwissenschaft als Dogma lebe einzig und allein von der metaphysischen Voraussetzung, da? die Erkenntnisformen unserer Organisation, Raum, Zeit und Kausalitat, in denen die Erscheinungswelt sich abspiele, reale Verhaltnisse seien, die unabhangig von unserer Erkenntnis existierten. Diese monistische Behauptung sei die nackteste Unverschamtheit, die man dem Geiste je geboten. Raum, Zeit und Kausalitat, das hei?e auf monistisch: Entwicklung, - und da habe man das Zentraldogma der freidenkerisch-atheistischen Afterreligion, womit man das erste Buch Mosis au?er Kraft zu setzen und einer verdummenden Fabel aufklarendes Wissen entgegenzustellen meine, als ob Haeckel bei der Entstehung der Erde zugegen gewesen sei. Empirie! Der Weltather sei wohl exakt? Das Atom, dieser nette mathematische Scherz des "kleinsten, unteilbaren Teilchens" - bewiesen? Die Lehre von der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit fu?e sicherlich auf Erfahrung? In der Tat, man werde, ein wenig Logik vorausgesetzt, zu

lustigen Erfahrungen und Ergebnissen gelangen mit dem Dogma von der Unendlichkeit und Realitat des Raumes und der Zeit:namlich zum Ergebnis des Nichts. Namlich zur Einsicht, da? Realismus der wahre Nihilismus sei. Warum? Aus dem einfachen Grunde, weil das Verhaltnis jeder beliebigen Gro?e zum Unendlichen gleich null sei. Es gebe keine Gro?e im Unendlichen und weder Dauer noch Veranderung in der Ewigkeit. Im raumlich Unendlichen konne es, da jede Distanz dort mathematisch gleich null sei, nicht einmal zwei Punkte nebeneinander, geschweige denn Korper, geschweige denn gar Bewegung geben. Dies stelle er, Naphta, fest, um der Dreistigkeit zu begegnen, mit der die materialistische Wissenschaft ihre astronomischen Flausen, ihr windiges Geschwatz vom "Universum" fur absolute Erkenntnis ausgabe. Beklagenswerte Menschheit, die sich durch ein prahlerisches Aufgebot nichtiger Zahlen ins Gefuhl eigener Nichtigkeit habe drangen, um das Pathos der eigenen Wichtigkeit habe bringen lassen! Denn es moge noch leidlich hei?en, wenn menschliche Vernunft und Erkenntnis sich im Irdischen hielten und in dieser Sphare ihre Erlebnisse mit den Subjektiv-Objekten als real behandle. Greife sie aber daruber hinaus ins ewige Ratsel, indem sie sogenannte Kosmologie, Kosmogonie treibe, so hore der Spa? auf, und die Anma?ung komme auf den Gipfel ihrer Ungeheuerlichkeit. Welch ein lasterlicher Unsinn, im Grunde, die "Entfernung" irgendeines Sternes von der Erde nach Trillionen Kilometern oder auch Lichtjahren zu berechnen und sich einzubilden, mit solchem Zifferngeflunker verschaffe man dem Menschengeist Einblick ins Wesen der Unendlichkeit und Ewigkeit, - wahrend doch Unendlichkeit mit Gro?e und Ewigkeit mit Dauer und Zeitdistanzen uberhaupt und schlechterdings nichts zu schaffen hatten, sondern, weit entfernt, naturwissenschaftliche Begriffe zu sein, vielmehr geradezu die Aufhebung dessen bedeuteten, was wir Natur nennten! Wahrhaftig, die Einfalt eines Kindes, das glaube, die Sterne seien Locher im Himmelszelt, durch welche die ewige Klarheit scheine, sei ihm vieltausendmal lieber, als das ganze hohle, widersinnige und anma?ende Geschwatz, das die monistische Wissenschaft vom "Weltall" verube!

Settembrini fragte ihn, ob er, seinesteils, in betreff der Sterne jenen Glauben hege. Worauf er antwortete, er behalte sich jede Demut und Freiheit der Skepsis vor. Daraus war wieder einmal zu ersehen, was er unter "Freiheit" verstand, und wohin ein solcher Begriff davon zu fuhren vermochte. Und wenn nur nicht Herr Settembrini Grund gehabt hatte, zu furchten, Hans Castorp mochte das alles horenswert finden!

Naphtas Bosheit lag auf der Lauer nach Gelegenheiten, die Schwachen des naturbezwingenden Fortschritts zu erspahen, seinen Tragern und Pionieren menschliche Ruckfalle ins Irrationale nachzuweisen. Aviatiker, Flieger, sagte er, seien meist recht uble und verdachtige Individuen, vor allem sehr aberglaubisch. Sie nahmen Glucksschweine, eine Krahe mit an Bord, sie spuckten dreimal dahin und dorthin, sie zogen die Handschuhe von glucklichen Fahrern an. Wie sich so primitive Unvernunft mit der ihrem Beruf zum Grunde liegenden Weltanschauung reime? - Der Widerspruch, den er aufzeigte, ergotzte ihn, bereitete ihm Genugtuung; er hielt sich lange daruber auf ...Aber wir greifen im Unerschopflichen hin und her nach Proben von Naphtas Feindseligkeit, wahrend es nur allzu Gegenstandliches zu erzahlen gibt.

Eines Nachmittags im Februar vereinigten sich die Herren, nach Monstein auszufliegen, einem Orte, anderthalb Stunden Schlittenfahrt von der Statte ihres Alltags entfernt. Es waren Naphta und Settembrini, Hans Castorp, Ferge und Wehsal. In zwei einspannigen Schlitten fuhren sie, Hans Castorp mit dem Humanisten, Naphta mit Ferge und Wehsal, der neben dem Kutscher sa?, um 3 Uhr, gut eingehullt, vom Domizil der Auswartigen ab und nahmen unter Schellengelaut, das so freundlich durch schneestille Landschaft geht, ihren Weg an der rechten Lehne hin, vorbei an Frauenkirch und Glaris, gegen Suden. Schneebedeckung ruckte rasch aus dieser Himmelsrichtung vor, so da? bald nur noch hinten uber der Rhatikonkette ein bla?blauer Streifen zu sehen war. Der Frost war stark, das Gebirge nebelig. Die Stra?e, die sie fuhrte, schmale, gelanderlose Plattform zwischen Wand und Abgrund, hob sich steil ins Tannenwilde. Es ging schrittweise. Abfahrende Rodler kamen oft auf sie zu, die bei der Begegnung absteigen mu?ten. Hinter Biegungen klang zart und warnend fremdes Gelaute auf, Schlitten, mit zwei Pferden hintereinander bespannt, gingen vorbei, und das Ausweichen forderte Behutsamkeit. Nahe dem Ziele tat ein schoner Blick auf eine felsige Partie der Zugenstra?e sich auf. Man stieg aus den Decken vor dem kleinen Gasthaus von Monstein, das sich "Kurhaus" nannte, und, die Schlitten zurucklassend, ging man noch einige Schritte weiter, um gegen Sudosten nach dem "Stulsergrat" auszuschauen. Die Riesenwand, dreitausend Meter hoch, war nebelverhullt. Nur irgendwo ragte eine himmelhohe Zacke, uberirdisch, walhallma?ig fern und heilig unzuganglich aus dem Gedunst hervor. Hans Castorp bewunderte das sehr und forderte auch die andern auf, es zu tun. Er war es, der mit Unterwerfungsgefuhlen das Wort "unzuganglich" aussprach und damit

Herrn Settembrini Anla? gab, zu betonen, da? jener Fels naturlich sehr wohl betreten sei. Uberhaupt gabe es das kaum noch: Unzuganglichkeit und irgendwelche Natur, auf die der Mensch nicht schon seinen Fu? gesetzt habe. Eine kleine Ubertreibung und Dicktuerei, erwiderte Naphta. Und er nannte den Mount Everest, der dem Vorwitz des Menschen bis dato eisige Ablehnung entgegengesetzt habe und in dieser Reserve dauernd verharren zu wollen scheine. Der Humanist argerte sich. Die Herren kehrten zum "Kurhaus" zuruck, vor dem neben den eigenen ein paar fremde, ausgespannte Schlitten standen.

Man konnte hier wohnen. Im Obergescho? gab es Hotelzimmer mit Nummern. Dort lag auch das E?zimmer, baurisch und wohl geheizt. Die Ausflugler bestellten einen Imbi? bei der dienstwilligen Wirtin: Kaffee, Honig, Wei?brot und Birnenbrot, die Spezialitat des Ortes. Den Kutschern ward Rotwein geschickt. Schweizerische und hollandische Besucher sa?en an anderen Tischen.

Wir hatten Lust zu sagen, da? an demjenigen unserer funf Freunde die Erwarmung durch den hei?enund sehr loblichen Kaffee ein hoheres Gesprach gezeitigt habe. Doch waren wir ungenau damit, denn dies Gesprach war eigentlich ein Monolog Naphtas, der es nach wenigen Worten, die andere beigetragen, allein bestritt, - ein Monolog, gefuhrt auf recht sonderbare und gesellschaftlich ansto?ige Art, da der Ex-Jesuit sich namlich, liebenswurdig instruierend, ausschlie?lich an Hans Castorp damit wandte, Herrn Settembrini, der an seiner anderen Seite sa?, den Rucken zukehrte und auch die beiden anderen Herren vollig unbeachtet lie?.

Es ware schwer gewesen, das Thema seiner Improvisation, der Hans Castorp mit halb und halb zustimmendem Kopfnicken folgte, bei Namen zu nennen. Einheitlichen Gegenstandes war sie wohl eigentlich nicht, sondern bewegte sich locker im Geistigen, da und dort anstreifend und im wesentlichen darauf aus, die Zweideutigkeit der geistigen Lebenserscheinungen, die irisierende Natur und kampferische Unbrauchbarkeit der daraus abgezogenen gro?en Begriffe auf eine entmutigende Art nachzuweisen und bemerklich zu machen, in wie schillerndem Gewande das Absolute auf Erden erscheine.

Allenfalls hatte man seinen Vortrag auf das Problem der Freiheit festlegen konnen, das er im Sinne der Verwirrung behandelte. Unter anderem sprach er von der Romantik und dem faszinierenden Doppelsinn dieser europaischen Bewegung vom Anfang des 19.

Jahrhunderts, vor der die Begriffe der Reaktion und der Revolution zunichte wurden, sofern sie sich nicht zu einem hoheren vereinigten. Denn es sei selbstverstandlich hochst lacherlich, den Begriff des Revolutionaren ausschlie?lich mit dem Fortschritt und der siegreich anrennenden Aufklarung verbinden zu wollen. Die europaische Romantik sei vor allem eine Freiheitsbewegung gewesen: antiklassizistisch, antiakademisch, gerichtet gegen den altfranzosischen Geschmack, gegen die Alte Schule der Vernunft, deren Verteidiger sie als gepuderte Peruckenkopfe verhohnt habe.

Und Naphta fiel auf die Freiheitskriege, auf Fichte'sche Begeisterungen, auf jene rausch- und gesangvolle volkische Erhebung gegen eine unertragliche Tyrannei, - als welche nur leider, he, he, die Freiheit, das hei?e: die Ideen der Revolution verkorpert habe. Sehr lustig: Laut singend habe man ausgeholt, um die revolutionare Tyrannei zugunsten der reaktionaren Furstenfuchtel zu zerschlagen, und das habe man fur die Freiheit getan.

Der jugendliche Zuhorer werde da des Unterschiedes oder auch Gegensatzes von au?erer und innerer Freiheit gewahr - und zugleich der kitzlichen Frage, welche Unfreiheit mit der Ehre einer Nation am ehesten, he, he, am wenigsten vertraglich sei.

Freiheit sei wohl eigentlich mehr noch ein romantischer, als ein aufklarerischer Begriff, denn mit der Romantik habe er die unentwirrbare Verschrankung menschheitlicher Ausdehnungstriebe und leidenschaftlich verengernder Ichbetonung gemeinsam. Individualistischer Freiheitstrieb habe den historisch-romantischen Kultus der Nationalen gezeitigt, der kriegerisch sei, und den der humanitare Liberalismus finster nenne, wiewohl dieser doch ebenfalls den Individualismus lehre, nur eben ein wenig anders herum. Der Individualismus sei romantisch-mittelalterlich in seiner Uberzeugung von der unendlichen, der kosmischen Wichtigkeit des Einzelwesens, woraus die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, die geozentrische Lehre unddie Astrologie sich ergaben. Andererseits sei Individualismus eine Angelegenheit des liberalisierenden Humanismus, welcher zur Anarchie neige und jedenfalls das liebe Individuum davor schutzen wolle, der Allgemeinheit geopfert zu werden. Das sei Individualismus, eins und auch wieder das andere, ein Wort fur manches.

Aber das musse man einraumen, da? Freiheitspathos die glanzendsten Freiheitsfeinde, die geistreichsten Ritter des Vergangenen im Kampf mit dem andachtslos zersetzenden Fortschritt erzeugt habe. Und Naphta

nannte Arndt, der den Industrialismus verflucht und den Adelsstand verherrlicht, nannte Gorres, der die Christliche Mystik verfa?t habe. Und ob denn Mystik etwa nichts mit Freiheit zu tun habe? Ob sie etwa nicht anti-scholastisch, anti-dogmatisch, anti-priesterlich gewesen sei? Man sei freilich gezwungen, in der Hierarchie eine Freiheitsmacht zu erblicken, denn sie habe der schrankenlosen Monarchie einen Damm entgegengesetzt. Die Mystik des ausgehenden Mittelalters aber habe ihr freiheitliches Wesen als Vorlauferin der Reformation bewahrt, - der Reformation, he, he, die ihrerseits ein unauflosliches Filzwerk von Freiheit und mittelalterlichem Ruckschlag gewesen sei ...

Luthers Tat ... Ei ja, sie habe den Vorzug, mit derbster Anschaulichkeit das fragwurdige Wesen der Tat selbst, der Tat uberhaupt zu demonstrieren. Ob Naphtas Zuhorer wisse, was eine Tat sei? Eine Tat sei beispielsweise die Ermordung des Staatsrats Kotzebue durch den Burschenschaftler Sand gewesen. Was habe dem jungen Sand, kriminalistisch zu reden, "die Waffe in die Hand gedruckt"? Freiheitsbegeisterung, selbstverstandlich. Sehe man jedoch naher hin, so sei es eigentlich nicht diese, es seien vielmehr Moralfanatismus und der Ha? auf unvolkische Frivolitat gewesen. Allerdings nun wieder habe Kotzebue in russischen Diensten, im Dienste der Heiligen Allianz also, gestanden; und so habe Sand denn doch wohl fur die Freiheit geschossen, - was freilich aufs neue der Unwahrscheinlichkeit verfalle kraft des Umstandes, da? sich unter seinen nachsten Freunden Jesuiten befunden hatten. Kurzum, was immer die Tat auch sein moge, auf jeden Fall sei sie ein schlechtes Mittel, sich deutlich zu machen, und zur Bereinigung geistiger Probleme trage sie auch nur wenig bei.

"Darf ich mir die Erkundigung erlauben, ob Sie mit Ihren Schlupfrigkeiten bald zu Rande zu kommen gedenken?"

Herr Settembrini hatte es gefragt und zwar mit Scharfe. Er hatte gesessen, mit den Fingern auf dem Tisch getrommelt und den Schnurrbart gedreht. Jetzt war es genug. Seine Geduld war zu Ende. Aufrecht sa? er, mehr als aufrecht: - sehr bleich, hatte er sich sozusagen im Sitzen auf die Zehen gestellt, so da? nur noch seine Schenkel den Stuhlsitz beruhrten, und so begegnete er blitzenden schwarzen Auges dem Feinde, der sich mit geheucheltem Erstaunen nach ihm umgewandt hatte.

"Wie beliebten Sie sich auszudrucken?" lautete Naphtas Gegenfrage ...

"Ich beliebte", sagte der Italiener und schluckte hinunter, "- ich beliebe

mich dahin auszudrucken, da? ich entschlossen bin, Sie daran zu hindern, eine ungeschutzte Jugendnoch langer mit Ihren Zweideutigkeiten zu behelligen!"

"Mein Herr, ich fordere Sie auf, nach Ihren Worten zu sehen!"

"Einer solchen Aufforderung, mein Herr, bedarf es nicht. Ich bin gewohnt, nach meinen Worten zu sehen, und mein Wort wird prazis den Tatsachen gerecht, wenn ich ausspreche, da? Ihre Art, die ohnehin schwanke Jugend geistig zu verstoren, zu verfuhren und sittlich zu entkraften, eine Infamie und mit Worten nicht streng genug zu zuchtigen ist ..."

Bei dem Wort "Infamie" schlug Settembrini mit der flachen Hand auf den Tisch und stand, seinen Stuhl zuruckschiebend, nun vollends auf, - das Zeichen fur alle ubrigen, ein Gleiches zu tun. Von anderen Tischen blickte man aufhorchend heruber, - von einem eigentlich nur, die Schweizer Gaste waren schon aufgebrochen, und nur die Hollander lauschten mit verdutzten Mienen auf den ausbrechenden Wortwechsel.

Sie standen also alle steif aufrecht an unserem Tisch: Hans Castorp und die beiden Gegner und ihnen gegenuber Ferge und Wehsal. Alle funf waren sie bla?, mit erweiterten Augen und zuckenden Mundern. Hatten nicht die drei Unbeteiligten den Versuch machen konnen, beschwichtigend einzuwirken, mit einem Scherzwort die Spannung zu losen, durch irgendein menschliches Zureden alles zum Guten zu wenden? Sie unternahmen ihn nicht, diesen Versuch. Die inneren Umstande hinderten sie daran. Sie standen und bebten, und unwillkurlich ballten ihre Hande sich zu Fausten. Selbst A. K. Ferge, dem alles Hohere erklarterma?en vollig fern lag und der von vornherein ganzlich darauf verzichtete, die Tragweite des Streites zu ermessen, - auch er war uberzeugt, da? es hier auf Biegen und Brechen gehe, und da? man, selbst mit hingerissen, nichts tun konne, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Sein gutmutiger Schnurrbartbausch wanderte heftig auf und nieder.

Es war still, und so horte man Naphta mit den Zahnen knirschen. Das war fur Hans Castorp eine ahnliche Erfahrung, wie die mit Wiedemanns gestraubtem Haar: Er hatte gedacht, es sei nur eine Redensart und komme in Wirklichkeit nicht vor. Nun aber knirschte Naphta tatsachlich in der Stille, ein furchtbar unangenehmes, wildes und abenteuerliches Gerausch, das sich aber immerhin als Zeichen einer gewissen furchterlichen Beherrschung erwies, denn er schrie nicht, sondern sagte

leise und nur mit einer Art von keuchendem Halblachen:

"Infamie? Zuchtigen? Werden die Tugendesel sto?ig? Haben wir die padagogische Schutzmannschaft der Zivilisation so weit, da? sie blank zieht? Das nenne ich einen Erfolg, fur den Anfang, - leicht erzielt, wie ich mit Geringschatzung hinzufuge, denn eine wie gelinde Neckerei hat hingereicht, den wachhabenden Tugendsinn in Harnisch zu jagen! Das Weitere wird sich finden, mein Herr. Auch die 'Zuchtigung', auch diese. Ich hoffe, da? Ihre zivilen Grundsatze Sie nicht hindern, zu wissen, was Sie mir schuldig sind, sonst ware ich gezwungen, diese Grundsatzedurch Mittel auf die Probe zu stellen, die -"

Eine steile Bewegung Herrn Settembrinis lie? ihn fortfahren:

"Ah, ich sehe, das wird nicht notig sein. Ich bin Ihnen im Wege, Sie sind es mir, - gut denn, wir werden den Austrag dieser kleinen Differenz an den gehorigen Ort verlegen. Fur den Augenblick nur eines. Ihre frommelnde Angst um den scholastischen Begriffsstaat der Jakobiner-Revolution sieht in meiner Art, die Jugend zweifeln zu lassen, die Kategorien uber den Haufen zu werfen und die Ideen ihrer akademischen Tugendwurde zu berauben, ein padagogisches Verbrechen. Diese Angst ist nur allzu berechtigt, denn es ist geschehen um Ihre Humanitat, seien Sie dessen versichert, - geschehen und getan. Sie ist schon heute nur noch ein Zopf, eine klassizistische Abgeschmacktheit, ein geistiges Ennui, das Gahnkrampf erzeugt, und mit dem aufzuraumen die neue, unsere Revolution, mein Herr, sich anschickt. Wenn wir als Erzieher den Zweifel stiften, tiefer, als euere modeste Aufgeklartheit sich je hat traumen lassen, so wissen wir wohl, was wir tun. Nur aus der radikalen Skepsis, dem moralischen Chaos geht das Unbedingte hervor, der heilige Terror, dessen die Zeit bedarf. Dies zu meiner Rechtfertigung und Ihrer Belehrung. Das Weitere steht auf einem anderen Blatt. Sie werden von mir horen."

"Sie werden Gehor finden, mein Herr!" rief Settembrini ihm nach, der den Tisch verlie? und zum Kleiderstander eilte, um sich seines Pelzwerks zu bemachtigen. Dann lie? der Freimaurer sich hart auf seinen Stuhl zurucksinken und pre?te sein Herz mit den Handen.

"Distruttore! Cane arrabbiato! Bisogna ammazzarlo!" stie? er kurzen Atems hervor.

Die anderen standen noch immer am Tisch. Ferges Schnurrbart fuhr fort auf und ab zu wandern. Wehsal hatte den Unterkiefer schief gestellt. Hans Castorp ahmte die Kinnstutze seines Gro?vaters nach, denn ihm

zitterte das Genick. Alle bedachten, wie wenig man sich bei der Ausfahrt solcher Dinge versehen habe. Alle, Herrn Settembrini nicht ausgenommen, bedachten gleichzeitig, welch ein Gluck es sei, da? man in zwei Schlitten und nicht in einem gemeinsamen gekommen war. Dies erleichterte vorderhand einmal die Heimkehr. Aber was dann?

"Er hat Sie gefordert", sagte Hans Castorp beklommen.

"Allerdings", antwortete Settembrini und warf zu dem neben ihm Stehenden einen Blick empor, um sich gleich danach von ihm abzuwenden und den Kopf in die Hand zu stutzen.

"Sie nehmen an?" wollte Wehsal horen ...

"Sie fragen?" antwortete Settembrini und betrachtete auch ihn einen Augenblick ... "Meine Herren", fuhr er fort und erhob sich vollkommen gefa?t, "ich beklage den Ausgang unseres Vergnugens, allein mit solchen Zwischenfallen mu? jeder Mann im Leben rechnen. Ich mi?billige theoretisch das Duell, ich denke gesetzlich. Mit der Praxis jedoch ist es eine andere Sache; und es gibt Lagen, wo, - Gegensatze, die - kurzum, ich stehe diesem Herrnzur Verfugung. Es ist gut, da? ich in meiner Jugend ein wenig gefochten habe. Ein paar Stunden Ubung werden mir das Handgelenk wieder gelaufig machen. Gehen wir! Das Nahere wird zu verabreden sein. Ich vermute, da? jener Herr bereits anzuspannen befohlen hat."

Hans Castorp hatte Augenblicke, wahrend der Heimfahrt und nachher, wo ihm vor der Ungeheuerlichkeit des Bevorstehenden schwindelte, namentlich, als sich herausstellte, da? Naphta von Hieb und Stich nichts wissen wollte, sondern auf einem Pistolenduell bestand, - und da? tatsachlich er die Waffe zu wahlen hatte, da er nach ehrenrechtlichen Begriffen der Beleidigte war. Augenblicke, sagen wir, kamen dem jungen Mann, wo er seinen Geist aus der allgemeinen Verstrickung und Benebelung durch die inneren Umstande bis zu einem gewissen Grade befreien konnte und sich vorhielt, da? dies ja Wahnsinn sei, und da? man es verhindern musse.

"Wenn eine wirkliche Beleidigung vorlage!" rief er im Gesprach mit Settembrini, Ferge und Wehsal, den Naphta schon auf der Ruckfahrt als Kartelltrager gewonnen hatte, und der den Verkehr zwischen den Parteien vermittelte. "Eine Beschimpfung burgerlicher, gesellschaftlicher Art! Wenn einer des anderen ehrlichen Namen in den Schmutz gezogen hatte, wenn es sich um eine Frau handelte, um irgendein solches handgreifliches Lebensverhangnis, bei dem man keine Moglichkeit des

Ausgleichs sieht! Gut, fur solche Falle ist das Duell als letzter Ausweg da, und wenn dann der Ehre Genuge geschehen und die Sache glimpflich abgegangen ist, und es hei?t: Die Gegner schieden versohnt, so kann man sogar finden, da? es eine gute Einrichtung ist, heilsam und praktikabel in gewissen Verwicklungsfallen. Aber was hat er getan? Ich will ihn nicht etwa in Schutz nehmen, ich frage nur, was er zu Ihrer Beleidigung getan hat. Er hat die Kategorien uber den Haufen geworfen. Er hat, wie er sich ausdruckt, den Begriffen ihre akademische Wurde geraubt. Dadurch haben Sie sich beleidigt gefuhlt, - mit Recht, wollen wir mal unterstellen -"

"Unterstellen?" wiederholte Herr Settembrini und sah ihn an ...

"Mit Recht, mit Recht! Er hat Sie beleidigt damit. Aber er hat Sie nicht beschimpft! Das ist ein Unterschied, erlauben Sie mal! Es handelt sich um abstrakte Dinge, um geistige. Mit geistigen Dingen kann man beleidigen, aber man kann nicht damit beschimpfen. Das ist eine Maxime, die jedes Ehrengericht annehmen wurde, ich kann es Ihnen bei Gott versichern. Und darum ist auch das, was Sie ihm von 'Infamie' und 'strenger Zuchtigung' geantwortet haben, keine Beschimpfung, denn auch das war geistig gemeint, es halt sich alles im geistigen Bezirke und hat mit dem personlichen uberhaupt nichts zu tun, worin es einzig so etwas wie Beschimpfung gibt. Das Geistige kann niemals personlich sein, das ist die Vervollstandigung und die Erlauterung der Maxime, und deshalb -"

"Sie irren,mein Freund", versetzte Herr Settembrini mit geschlossenen Augen. "Sie irren erstens in der Annahme, da? Geistiges nicht personlichen Charakter gewinnen konne. Sie sollten das nicht meinen", sagte er und lachelte eigentumlich fein und schmerzlich. "Sie gehen jedoch vor allem fehl in Ihrer Einschatzung des Geistigen uberhaupt, das Sie offenbar fur zu schwach halten, um Konflikte und Leidenschaften zu zeitigen von der Harte derjenigen, die das reale Leben mit sich bringt, und die keinen anderen Ausweg lassen, als den des Waffenganges. All' incontro! Das Abstrakte, das Gereinigte, das Ideelle ist zugleich auch das Absolute, es ist damit das eigentlich Strenge, und es birgt viel tiefere und radikalere Moglichkeiten des Hasses, der unbedingten und unversohnlichen Gegnerschaft, als das soziale Leben. Wundern Sie sich, da? es sogar direkter und unerbittlicher, als dieses, zur Situation des Du oder Ich, zur eigentlich radikalen Situation, zu der des Duells, des korperlichen Kampfes fuhrt? Das Duell, mein Freund, ist keine

'Einrichtung' wie eine andere. Es ist das Letzte, die Ruckkehr zum Urstande der Natur, nur leicht gemildert durch eine gewisse Regelung ritterlicher Art, die sehr oberflachlich ist. Das Wesentliche der Lage bleibt das schlechthin Ursprungliche, der korperliche Kampf, und es ist Sache jedes Mannes, sich in aller Entfernung vom Naturlichen dieser Lage gewachsen zu halten. Er kann taglich in sie geraten. Wer fur das Ideelle nicht mit seiner Person, seinem Arm, seinem Blute einzutreten vermag, der ist seiner nicht wert, und es kommt darauf an, in aller Vergeistigung ein Mann zu bleiben."

Da hatte Hans Castorp seine Zurechtweisung. Was gab es darauf zu erwidern? Er schwieg in bedrucktem Grubeln. Herrn Settembrinis Worte taten gefa?t und logisch, und dennoch klangen sie fremd und unnaturlich aus ihm hervor. Seine Gedanken waren nicht seine Gedanken, - wie er ja auch auf den des Zweikampfes gar nicht von selbst verfallen war, sondern ihn nur von dem terroristischen kleinen Naphta ubernommen hatte -; sie waren Ausdruck der Umfangenheit durch die allgemeinen inneren Umstande, deren Knecht und Werkzeug Herrn Settembrinis schoner Verstand geworden war. Wie, das Geistige, weil es streng war, sollte unerbittlich zum Tierischen, zum Austrag durch den korperlichen Kampf fuhren? Hans Castorp lehnte sich auf dagegen, oder er versuchte doch, es zu tun, - um zu seinem Schrecken zu finden, da? er es auch nicht konnte. Sie waren stark auch in ihm, die inneren Umstande, er war nicht der Mann, er auch nicht, sich ihnen zu entwinden. Furchtbar und letztgultig wehte es ihn an aus jener Erinnerungsgegend, wo Wiedemann und Sonnenschein sich in ratlos tierischem Kampfe walzten, und er begriff mit Grauen, da? am Ende aller Dinge nur das Korperliche blieb, die Nagel, die Zahne. Ja, ja, man mu?te sichwohl schlagen, denn so war wenigstens jene Milderung des Urstandes durch ritterliche Regelung zu retten ... Hans Castorp bot sich Herrn Settembrini als Sekundanten an.

Das wurde abgelehnt. Nein, es passe nicht, es wolle sich nicht schicken, wurde ihm geantwortet, - zuerst von Herrn Settembrini mit einem Lacheln, das fein und schmerzlich war, dann auch, nach kurzer Uberlegung, von Ferge und Wehsal, die ebenfalls ohne besondere Begrundung fanden, es gehe nicht an, da? Hans Castorp sich an der Mensur in dieser Eigenschaft beteilige. Als Unparteiischer etwa - denn auch die Anwesenheit eines solchen gehorte ja zu den vorgeschriebenen ritterlichen Milderungen des Tierischen - moge er auf dem Kampfplatz

zugegen sein. Selbst Naphta lie? sich durch den Mund seines Ehrengeschaftstragers Wehsal in diesem Sinne vernehmen, und Hans Castorp war es zufrieden. Zeuge oder Unparteiischer, auf jeden Fall gewann er die Moglichkeit, Einflu? auf die Festsetzung der Modalitaten zu nehmen, was sich als bitter notig erwies.

Denn Naphta war ja au?er Rand und Band mit seinen Vorschlagen. Er verlangte funf Schritt Distanz und dreimaligen Kugelwechsel, falls es notig sein sollte. Diesen Wahnsinn lie? er noch am Abend des Zerwurfnisses durch Wehsal uberbringen, der sich vollig zum Mundstuck und Vertreter seiner wilden Interessen gemacht hatte und teils im Auftrage, teils gewi? auch nach eigenem Geschmack mit gro?ter Zahigkeit auf solchen Bedingungen bestand. Naturlich fand Settembrini nichts daran auszusetzen, aber Ferge, als Sekundant, und der unparteiische Hans Castorp waren au?er sich, und dieser wurde sogar grob mit dem elenden Wehsal. Ob er sich nicht schame, fragte er, solche wusten Unannehmlichkeiten auszukramen, wo es sich um ein rein abstraktes Duell handle, dem gar keine Realinjurie zugrunde liege! Pistolen seien schon kra? genug, aber nun diese morderischen Einzelheiten. Da hore die Ritterlichkeit auf, und ob man sich nicht gleich ubers Schnupftuch schie?en wolle! Er, Wehsal, solle ja nicht auf sich feuern lassen auf solche Entfernung, darum gehe ihm der Blutdurst wohl so leicht von den Lippen - und so fort. Wehsal zuckte die Achseln, wortlos andeutend, da? eben die radikale Situation vorliege, wodurch er denn die Gegenseite, die dies zu vergessen geneigt war, gewisserma?en entwaffnete. Immerhin gelang es dieser beim Hin und Her des folgenden Tages, vor allem den dreimaligen Kugelwechsel auf einen zuruckzufuhren, dann aber die Distanzfrage so zu regeln, da? die Kombattanten sich auf funfzehn Schritte gegenuberstehen und das Recht haben sollten, funf Schritte vorzugehen, bevor sie schossen. Aber auch dies wurde nur erreicht gegen die Zusicherung, da? keine Versohnungsversuche gemacht werden sollten. Ubrigens hatte man keine Pistolen.

Herr Albin hatte welche. Au?er dem blanken kleinen Revolver, mit dem er die Damen zu angstigen liebte, besa? er noch ein Zwillingspaar in den Samt eines gemeinsamen Etuis gebetteterOffizierspistolen, die aus Belgien stammten: automatische Brownings mit Griffen aus braunem Holz, in denen sich die Magazine befanden, blaulich stahlerner Geschutzmaschinerie und blank gedrehten Rohren, auf deren

Mundungen knapp und fein die Visiere sa?en. Hans Castorp hatte sie irgendwann einmal bei dem Windbeutel gesehen und erbot sich gegen seine Uberzeugung, aus reiner Umfangenheit, sie von ihm auszuleihen. So tat er, indem er aus dem Zwecke sachlich kein Hehl machte, ihn aber in personliches Ehrengeheimnis hullte und mit leichtem Erfolge sich an den Kavalierssinn des Windbeutels wandte. Herr Albin unterwies ihn sogar im Laden und gab mit ihm im Freien blinde Probeschusse aus beiden Gewehren ab.

Das alles kostete Zeit, und so kam es, da? bis zum Stelldichein zwei Tage und drei Nachte vergingen. Der Treffpunkt war von Hans Castorps Erfindung: Es war der malerische, im Sommer blau bluhende Ort seiner Regierungs-Zuruckgezogenheit, den er in Vorschlag gebracht hatte. Hier sollte am dritten Morgen nach dem Streit, sobald es nur hell genug war, der Handel seine Erledigung finden. Erst am Vorabend, ziemlich spat, verfiel Hans Castorp, der sehr aufgeregt war, auf den Gedanken, da? es ja notig sei, einen Arzt mit auf den Kampfplatz zu nehmen.

Er beriet sofort mit Ferge den Punkt, der sich als sehr schwierig erwies. Radamanth war zwar Korpsstudent gewesen, aber unmoglich konnte man den Chef der Anstalt um Unterstutzung einer solchen Ungesetzlichkeit angehen, zumal es sich um Patienten handelte. Uberhaupt bestand kaum Hoffnung, da? man hier einen Arzt werde ausfindig machen, der bereit sein wurde, zu einem Pistolenduell zwischen zwei Schwerkranken die Hand zu bieten. Krokowski angehend, so war nicht einmal sicher, ob dieser spirituelle Kopf uberhaupt sehr fest in der Wundbehandlung sei.

Wehsal, der zugezogen wurde, teilte mit, Naphta habe sich schon geau?ert, namlich dahin, er wolle keinen Arzt. Er gehe an jenen Ort nicht, um sich salben und wickeln zu lassen, sondern um sich zu schlagen und zwar sehr ernsthaft. Was nachher komme, sei ihm gleichgultig und werde sich finden. Das schien eine finstere Kundgebung, die aber Hans Castorp so zu deuten sich bemuhte, als sei Naphta der stillen Meinung, ein Arzt werde nicht notig sein. Hatte nicht auch Settembrini durch den zu ihm entsandten Ferge sagen lassen, man solle die Frage absetzen, sie interessiere ihn nicht? Es war nicht ganz unvernunftig, zu hoffen, die Gegner mochten im Grunde einig sein in dem Vorsatz, es zu keinem Blutvergie?en kommen zu lassen. Man hatte zweimal geschlafen seit jenem Wortwechsel und wurde es ein drittes Mal tun. Das kuhlt, das klart, dem Zuge der Stunden halt eine bestimmte

Gemutsverfassung nicht ungewandelt stand. Morgen fruh, das Schie?zeug in der Hand, wurde keiner der Streitbaren noch der Mann sein, derer am Abend des Zwistes gewesen. Hochstens mechanisch noch und ehrenzwangsweise, nicht nach gegenwartigem freien Willen wurden sie handeln, wie sie damals aus Lust und Uberzeugung gehandelt hatten; und eine solche Verleugnung ihres aktuellen Selbst zugunsten dessen, was sie einmal gewesen, mu?te sich irgendwie ja verhuten lassen!

Hans Castorp hatte nicht unrecht mit seiner Uberlegung, - nicht unrecht nur leider auf eine Art, von der er sich nichts traumen lassen konnte. Er hatte sogar vollkommen recht damit, soweit Herr Settembrini in Frage kam. Hatte er aber geahnt, in welchem Sinn Leo Naphta bis zum entscheidenden Augenblick seine Vorsatze wurde geandert haben oder in eben diesem Augenblick andern wurde, so hatten selbst die inneren Umstande, aus denen dies alles hervorging, ihn nicht vermocht, das Bevorstehende zuzulassen.

Um 7 Uhr war die Sonne weit entfernt, hinter ihrem Berge hervorzukommen, aber es tagte muhsam qualmend, als Hans Castorp nach unruhig verbrachter Nacht Haus Berghof verlie?, um sich zum Rendezvous zu begeben. Dienstmagde, die die Halle putzten, sahen verwundert von der Arbeit nach ihm auf. Er fand jedoch das Haupttor nicht mehr verschlossen: Ferge und Wehsal, einzeln oder zu zweien, hatten es gewi? schon passiert, der eine, um Settembrini, der andere, um Naphta zum Kampfplatze abzuholen. Er, Hans, ging allein, da seine Eigenschaft als Unparteiischer ihm nicht gestattete, sich einer der beiden Parteien anzuschlie?en.

Er ging mechanisch und ehrenzwangsweise unter dem Druck der Umstande. Da? er dem Treffen beiwohnte, war selbstverstandliche Notwendigkeit. Unmoglich, sich davon auszuschlie?en und das Ergebnis im Bette zu erwarten, erstens, weil - aber das Erstens fuhrte er nicht aus, sondern fugte gleich das Zweitens hinzu, da? man die Dinge uberhaupt nicht sich selbst uberlassen durfe. Noch war nichts Schlimmes geschehen, gottlob, und es brauchte nichts Schlimmes zu geschehen, es war sogar unwahrscheinlich. Man hatte bei kunstlichem Licht aufstehen mussen und mu?te nun ungefruhstuckt, in bitterer Frostfruhe im Freien zusammenkommen, so war es einmal verabredet. Aber dann wurde, unter der Einwirkung von seiner, Hans Castorps, Gegenwart sich zweifellos irgendwie alles zum Guten und Heiteren wenden, - auf eine Weise, die nicht vorauszusehen war, und die erraten zu wollen, man

besser unterlie?, da die Erfahrung lehrte, da? selbst der bescheidenste Vorgang anders verlief, als man vorwegnehmend ihn sich auszumalen versucht hatte.

Dennoch war es der unangenehmste Morgen seiner Erinnerung. Flau und ubernachtig, neigte Hans Castorp zu nervosem Zahneklappern und war schon in geringer Tiefe seines Wesens sehr versucht, seinen Selbstbeschwichtigungen zu mi?trauen. Es waren so ganz besondere Zeiten ... Die zankzerstorte Dame aus Minsk, der tobende Schuler, Wiedemann und Sonnenschein, der polnische Ohrfeigenhandel gingen ihm wust durch den Sinn. Er konnte sich nicht vorstellen, da? vor seinen Augen, wenn er zugegen war, zwei aufeinander schie?en, sichblutig zurichten wurden. Aber wenn er bedachte, was mit Wiedemann und Sonnenschein vor diesen seinen Augen zur Tatsache geworden war, so mi?traute er sich und seiner Welt und frostelte in seiner Pelzjacke, - wahrend ubrigens immerhin und bei alldem ein Gefuhl von der Au?erordentlichkeit und Pathetik der Lage, zusammen mit den starkenden Elementen der Fruhluft ihn erhob und belebte.

Unter so gemischten und wechselnden Empfindungen und Gedanken stieg er im Halbhellen, langsam sich Erhellenden in "Dorf" von der Mundung der Bobbahn auf schmalstem Pfade die Lehne hinan, erreichte den tief verschneiten Wald, uberschritt die Holzbrucken, unter denen die Bahn hinablief, und stapfte auf einem Wege, der mehr ein Erzeugnis von Fu?spuren, als der Schaufel war, zwischen den Stammen weiter. Da er hastig ging, uberholte er sehr bald Settembrini und Ferge, welcher mit einer Hand den Pistolenkasten unter seinem Radmantel festhielt. Hans Castorp nahm keinen Anstand, sich zu ihnen zu gesellen, und kaum war er an ihrer Seite, so erblickte er auch schon Naphta und Wehsal, die geringen Vorsprung hatten.

"Kalter Morgen, mindestens achtzehn Grad," sagte er in guter Absicht, erschrak aber selbst uber die Frivolitat seiner Worte und fugte hinzu: "Meine Herren, ich bin uberzeugt ..."

Die anderen schwiegen. Ferge lie? seinen gutmutigen Schnurrbart auf und nieder wandern. Nach einer Weile blieb Settembrini stehen, nahm Hans Castorps Hand, legte auch noch seine andere darauf und sprach:

"Mein Freund, ich werde nicht toten. Ich werde es nicht. Ich werde mich seiner Kugel darstellen, das ist alles, was mir die Ehre gebieten kann. Aber ich werde nicht toten, verlassen Sie sich darauf!"

Er lie? los und ging weiter. Hans Castorp war tief ergriffen, sagte

jedoch nach einigen Schritten:

"Das ist wunderbar schon von Ihnen, Herr Settembrini, nur, andererseits ... Wenn er fur sein Teil ..."

Herr Settembrini schuttelte nur den Kopf. Und da Hans Castorp uberlegte, da?, wenn einer nicht schosse, auch der andere sich dessen unmoglich wurde unterwinden konnen, so fand er, da? alles sich glucklich anlasse und da? seine Annahmen sich zu bestatigen begonnen. Es wurde ihm leichter ums Herz.

Sie uberschritten den Steg, der uber die Schlucht fuhrte, worin im Sommer der jetzt in Starre verstummte Wasserfall niederging, und der so sehr zu dem malerischen Charakter des Ortes beitrug. Naphta und Wehsal gingen im Schnee vor der mit dicken wei?en Kissen gepolsterten Bank auf und ab, auf der Hans Castorp einst, unter ungewohnlich lebendigen Erinnerungen, das Ende seines Nasenblutens hatte erwarten mussen. Naphta rauchte eine Zigarette, und Hans Castorp prufte sich, ob er ebenfalls Lust hatte, das zu tun, fand aber nicht die geringste Neigung dazu in sich vor und schlo?, da? es also bei jenem erst recht auf Affektation beruhen musse.Mit dem Wohlgefallen, das er hier stets empfand, sah er sich in der kuhnen Intimitat seiner Statte um, die unter diesen eisigen Umstanden nicht weniger schon war, als zu Zeiten ihrer blauen Blute. Stamm und Gezweig der schrag ins Bild ragenden Fichte waren mit Schnee beschwert.

"Guten Morgen!" wunschte er mit heiterer Stimme, in dem Wunsch, einen naturlichen Ton sofort in die Versammlung einzufuhren, der Boses zerstreuen helfen sollte, - hatte aber kein Gluck damit, denn niemand antwortete ihm. Die gewechselten Gru?e bestanden in stummen Verbeugungen, die bis zur Unsichtbarkeit steif waren. Dennoch blieb er entschlossen, seine Ankunftsbewegung, den herzlichen Hochgang seines Atems, die Warme, die der rasche Gang durch den Wintermorgen ihm mitgeteilt, ohne Saumen zum guten Zweck zu verwenden und fing an:

"Meine Herren, ich bin uberzeugt ..."

"Sie werden Ihre Uberzeugungen ein andermal entwickeln," schnitt Naphta ihm kalt das Wort ab. "Die Waffen, wenn ich bitten darf," fugte er mit demselben Hochmut hinzu. Und Hans Castorp, auf den Mund geschlagen, mu?te zusehen, wie Ferge das fatale Etui unter seinem Mantel hervorholte, und wie Wehsal, der zu ihm getreten war, eine der Pistolen von ihm empfing, um sie an Naphta weiterzugeben. Settembrini nahm aus Ferges Hand die andere. Dann mu?te man Raum geben, Ferge

ersuchte murmelnd darum und fing an, die Distanzen auszugehen und sichtbar zu machen: die au?ere Begrenzung, indem er mit dem Absatz kurze Linien in den Schnee grub, die inneren Barrieren mit zwei Spazierstocken, seinem eigenen und dem Settembrinis.

Der gutmutige Dulder, womit befa?te er sich da? Hans Castorp traute seinen Augen nicht. Ferge war langbeinig und griff gehorig aus, so da? wenigstens die funfzehn Schritte eine stattliche Entfernung ergaben, wenn da auch noch die verdammten Barrieren waren, die wirklich nicht weit voneinander lagen. Gewi?, er meinte es redlich. Doch immerhin, im Zwange welcher Umnebelung handelte er, indem er Vorkehrungen so ungeheuerlichen Sinnes traf?

Naphta, der seinen Pelzmantel in den Schnee geworfen hatte, so da? man das Nerzfutter sah, trat, die Pistole in der Hand, auf einen der au?eren Absatzstriche, sobald er nur gezogen war und wahrend Ferge an weiteren Markierungen noch arbeitete. Als er fertig war, bezog auch Settembrini, die schadhafte Pelzjacke offen, seine Stellung. Hans Castorp ri? sich aus einer Lahmung und trat hastig noch einmal vor.

"Meine Herren," sagte er bedrangt, "keine Ubereilungen! Es ist trotz allem meine Pflicht ..."

"Schweigen Sie!" rief Naphta schneidend. "Ich wunsche das Zeichen."

Aber niemand gab ein Zeichen. Das war nicht gut verabredet. Es sollte wohl "Los!" ausgesprochen werden, allein da? es Sache des Unparteiischen sein werde, die furchtbare Aufforderung ergehen zu lassen, war nicht bedacht und jedenfalls nicht erwahnt worden. Hans Castorp blieb stumm und niemand sprang fur ihnein.

"Wir beginnen!" erklarte Naphta. "Gehen Sie vor, mein Herr, und schie?en Sie!" rief er zu seinem Gegner hinuber und begann selbst vorzugehen, die Pistole mit gestrecktem Arm auf Settembrini, in Brusthohe, gerichtet, - ein unglaubwurdiger Anblick. Auch Settembrini tat so. Beim dritten Schritt - der andere war, ohne zu feuern, schon bis zur Barriere gelangt - hob er die Pistole sehr hoch und druckte ab. Der scharfe Schu? weckte vielfaches Echo. Die Berge warfen einander Hall und Widerhall zu, das Tal larmte davon, und Hans Castorp dachte, die Leute mu?ten zusammenlaufen.

"Sie haben in die Luft geschossen," sagte Naphta mit Selbstbeherrschung, indem er die Waffe sinken lie?.

Settembrini antwortete:

"Ich schie?e, wohin es mir beliebt."

"Sie werden noch einmal schie?en!"

"Ich denke nicht daran. Die Reihe ist an Ihnen." Herr Settembrini, erhobenen Hauptes gen Himmel blickend, hatte sich etwas seitlich zum anderen gestellt, nicht ganz in Front, was ruhrend zu sehen war. Man merkte deutlich, da? er gehort hatte, man solle dem Gegner nicht gerade die volle Breitseite bieten, und da? er nach dieser Weisung handelte.

"Feigling!" schrie Naphta, indem er mit diesem Aufschrei der Menschlichkeit das Zugestandnis machte, da? mehr Mut dazu gehore, zu schie?en, als auf sich schie?en zu lassen, hob seine Pistole auf eine Weise, die nichts mehr mit Kampf zu tun hatte, und scho? sich in den Kopf.

Klaglicher, unverge?licher Anblick! Er taumelte oder sturzte, wahrend die Berge mit dem scharfen Larm seiner Untat Fangball spielten, ein paar Schritte ruckwarts, indem er die Beine nach vorn warf, beschrieb mit dem ganzen Korper eine schleudernde Rechtsdrehung und fiel mit dem Gesicht in den Schnee.

Alle standen einen Augenblick starr. Settembrini, nachdem er sein Schie?zeug weit von sich geworfen, war der erste bei ihm.

"Infelice!" rief er. "Che cosa fai per l'amor di Dio!"

Hans Castorp war ihm behilflich, den Korper umzulegen. Sie sahen das schwarzrote Loch neben der Schlafe. Sie sahen in ein Gesicht, das man am besten mit dem seidenen Schnupftuch bedeckte, von dem ein Zipfel aus Naphtas Brusttasche hing.

Der Donnerschlag

Sieben Jahre blieb Hans Castorp bei Denen hier oben, - keine runde Zahl fur Anhanger des Dezimalsystems, und doch eine gute, handliche Zahl in ihrer Art, ein mythisch-malerischer Zeitkorper, kann man wohl sagen, befriedigender fur das Gemut als etwa ein trockenes halbes Dutzend. Er hatte an allen sieben Tischen des Speisesaales gesessen, an jedem ungefahr ein Jahr. Zuletzt sa? er am Schlechten Russentisch, zusammen mit zwei Armeniern, zwei Finnen, einem Bucharier und einem Kurden. Er sa? dort mit einem kleinen Bartchen, das er sich mittlerweile hatte stehen lassen, einem strohblonden Kinnbartchen ziemlich

unbestimmbarer Gestalt, das wir als Zeugnis einer gewissen philosophischen Gleichgultigkeit gegen sein Au?eres aufzufassen gezwungen sind. Ja, wir mussen weitergehen unddiese Idee einer personlichen Neigung zur Vernachlassigung seiner selbst in Verbindung bringen mit einer ebensolchen Neigung der Au?enwelt in Beziehung zu ihm. Die Obrigkeit hatte aufgehort, Diversionen fur ihn zu ersinnen. Au?er der morgentlichen Frage, ob er "schon" geschlafen habe, die aber rhetorischer Art war und summarisch gestellt wurde, richtete der Hofrat nicht mehr besonders oft das Wort an ihn, und auch Adriatica von Mylendonk(sie trug ein hochreifes Gerstenkorn um die Zeit, von der wir reden) tat es nicht alle paar Tage. Sehen wir die Dinge genauer an, so geschah es selten oder nie. Man lie? ihn in Ruhe - ein wenig wie einen Schuler, der des eigentumlich lustigen Vorzuges genie?t, nicht mehr gefragt zu werden, nichts mehr zu tun zu brauchen, weil sein Sitzenbleiben beschlossene Sache ist und weil er nicht mehr in Betracht kommt, - eine orgiastische Form der Freiheit, wie wir hinzufugen, indem wir uns selber fragen, ob Freiheit je von anderer Form und Art sein konne, als ebendieser. Jedenfalls war hier einer, auf den die Obrigkeit furder kein sorgendes Auge zu haben brauchte, weil es gewi? war, da? in seiner Brust keine wilden und trotzigen Entschlusse mehr reifen wurden, - ein Sicherer und Endgultiger, der langst gar nicht mehr gewu?t hatte, wohin denn sonst, der den Gedanken der Ruckkehr ins Flachland uberhaupt nicht mehr zu fassen imstande war ... Druckte sich nicht eine gewisse Sorglosigkeit in betreff seiner Person allein in der Tatsache aus, da? er an den Schlechten Russentisch versetzt worden war? Womit ubrigens gegen den sogenannten Schlechten Russentisch nicht das Allergeringste gesagt sein soll! Es gab keine irgendwie greifbaren Vor- oder Nachteile unter den sieben Tischen. Es war eine Demokratie von Ehrentischen, kuhn gesagt. Dieselben ubergewaltigen Mahlzeiten wurden an diesem gereicht, wie an allen anderen; Rhadamanthys selbst faltete dort zuweilen, im Turnus, die riesigen Hande vor seinem Teller; und die daran speisenden Volkerschaften waren ehrenwerte Mitglieder der Menschheit, wenn sie auch kein Latein verstanden und sich beim Essen nicht ubertrieben zierlich benahmen.

Die Zeit, die nicht von der Art der Bahnhofsuhren ist, deren gro?er Zeiger ruckweise, von funf zu funf Minuten fallt, sondern eher von der jener ganz kleinen Uhren, deren Zeigerbewegung uberhaupt untersichtig bleibt, oder wie das Gras, das kein Auge wachsen sieht, ob es gleich heimlich wachst, was denn auch eines Tages nicht mehr zu verkennen

ist; die Zeit, eine Linie, die sich aus lauter ausdehnungslosen Punkten zusammensetzt(wobei der unselig verstorbene Naphta wahrscheinlich fragen wurde, wie lauter Ausdehnungslosigkeiten es anfangen, eine Linie hervorzubringen): die Zeit also hatte in ihrer schleichend untersichtlichen, geheimen und dennoch betriebsamen Art fortgefahren, Veranderungen zu zeitigen. Der Knabe Teddy, um nur ein Beispiele zu nennen, war eines Tages -aber naturlich nicht "eines Tages", sondern ganz unbestimmt von welchem Tage an - kein Knabe mehr. Die Damen konnten ihn nicht mehr auf den Scho? nehmen, wenn er zuweilen aufstand, den Pyjama mit dem Sportanzug vertauschte und herunterkam. Unmerklich hatte das Blattchen sich gewendet, er nahm sie selbst auf den Scho? bei solchen Gelegenheiten, und das machte beiden Teilen ebensoviel Vergnugen, sogar noch mehr. Er war zum Jungling - wir wollen nicht sagen: erbluht, aber doch aufgeschossen: Hans Castorp hatte es nicht gesehen, aber er sah es. Ubrigens bekamen die Zeit und das Aufschie?en dem Jungling Teddy nicht, er war nicht dafur geschaffen. Das Zeitliche segnete ihn nicht, - in seinem einundzwanzigsten Jahre starb er an der Krankheit, fur die er aufnahmelustig gewesen, und in seinem Zimmer wurde gestobert. Mit ruhiger Stimme erzahlen wir es, da kein gro?er Unterschied war zwischen seinem neuen Zustande und dem bisherigen.

Aber gewichtigere Todesfalle ereigneten sich, flachlandische Todesfalle, die unseren Helden naher angingen oder doch ehemals ihn naher angegangen hatten. Wir denken an das kurzlich erfolgte Ableben des alten Konsul Tienappel, Hansens Gro?onkel und Pflegevater verbla?ten Angedenkens. Er hatte unzutragliche Luftdruckverhaltnisse sorgfaltigst gemieden und es Onkel James uberlassen, sich darin zu blamieren; aber der Apoplexie hatte er auf die Dauer doch nicht entgehen konnen, und die drahtlich knapp, aber zart und schonend abgefa?te Nachricht von seinem Hintritt - zart und schonend mehr mit Rucksicht auf den Verblichenen, als auf den Empfanger der Botschaft - war eines Tages herauf an Hans Castorps vorzuglichen Liegestuhl gelangt, worauf er sich schwarz gerandertes Papier gekauft und den Onkel-Cousins geschrieben hatte, er, die Doppelwaise, die sich nun als noch einmal, als dreifach verwaist zu betrachten habe, sei um so betrubter, als es ihm verwehrt und verboten sei, seinen hiesigen Aufenthalt zu unterbrechen, um dem Gro?onkel das letzte Geleite zu geben.

Von Trauer zu reden, ware Schonfarberei, doch zeigten Hans Castorps Augen in jenen Tagen immerhin einen Ausdruck, der sinnender war als gewohnlich. Dieser Sterbefall, dessen Gefuhlsbedeutung niemals machtig gewesen ware und durch abenteuerliche Jahrchen der Entfremdung auf fast nichts herabgemindert worden war, er kam doch dem Zerrei?en noch einer Bindung, noch einer Beziehung zur unteren Sphare gleich, gab dem, was Hans Castorp mit Recht die Freiheit nannte, letzte Vollstandigkeit. Wirklich war in der spaten Zeit, von der wir sprechen, jede Fuhlung zwischen ihm und dem Flachlande restlos aufgehoben. Er schrieb keine Briefe dorthin und empfing keine. Er bezog Maria Mancini nicht mehr von dort. Er hatte hier oben eine Marke gefunden, die ihm zusagte, und der er nun ebenso Treue trug wie einst jener Freundin: ein Fabrikat, das selbst dem Polarforscher im Eise uber die argsten Strapazen hinweggeholfen hatte, und mitdem versehen, man einfach wie am Meere lag und es aushalten konnte, - eine besonders gut gepflegte Sandblattzigarre, namens "Rutlischwur", etwas gedrungener, als Maria, mausgrau von Farbe, mit einem blaulichen Leibring, sehr fugsam und mild im Charakter und zu schneewei?er, haltbarer Asche, in welcher die Adern des Deckblattes stehen blieben, so gleichma?ig sich verzehrend, da? sie dem Genie?enden statt einer flie?enden Sanduhr hatte dienen konnen und ihm nach seinen Bedurfnissen auch so diente, denn seine Taschenuhr trug er nicht mehr. Sie stand, sie war ihm eines Tages vom Nachttisch gefallen, und er hatte davon abgesehen, sie wieder in messenden Rundlauf setzen zu lassen, - aus denselben Grunden, weshalb er auch auf den Besitz von Kalendern, sei es zum taglichen Abrei?en, sei es zur Vorbelehrung uber den Fall der Tage und Feste, schon langst verzichtet hatte: aus Grunden der "Freiheit" also, dem Strandspaziergange, dem stehenden Immer-und-Ewig zu Ehren, diesem hermetischen Zauber, fur den der Entruckte sich aufnahmelustig erwiesen, und der das Grundabenteuer seiner Seele gewesen, dasjenige, worin alle alchymistischen Abenteuer dieses schlichten Stoffes sich abgespielt hatten.

So lag er, und so lief wieder einmal, im Hochsommer, der Zeit seiner Ankunft, zum siebentenmal - er wu?te es nicht - das Jahr in sich selber.

Da erdrohnte -

Aber Scham und Scheu halten uns ab, erzahlerisch den Mund vollzunehmen von dem, was da erscholl und geschah. Nur hier keine Prahlerei, kein Jagerlatein! Die Stimme gema?igt zu der Aussage, da?

also der Donnerschlag erdrohnte, von dem wir alle wissen, diese betaubende Detonation lang angesammelter Unheilsgemenge von Stumpfsinn und Gereiztheit, - ein historischer Donnerschlag, mit gedampftem Respekt zu sagen, der die Grundfesten der Erde erschutterte, fur uns aber der Donnerschlag, der den Zauberberg sprengt und den Siebenschlafer unsanft vor seine Tore setzt. Verdutzt sitzt er im Grase und reibt sich die Augen, wie ein Mann, der es trotz mancher Ermahnung versaumt hat, die Presse zu lesen.

Sein mittellandischer Freund und Mentor hatte dem immer ein wenig abzuhelfen gesucht und es sich angelegen sein lassen, das Sorgenkind seiner Erziehung uber die unteren Vorgange in gro?en Zugen zu unterrichten, hatte aber wenig Ohr bei einem Schuler gefunden, der sich zwar von den geistigen Schatten der Dinge regierungsweise das eine und andere traumen lie?, der Dinge selbst aber nicht geachtet hatte und zwar aus der Hochmutsneigung, die Schatten fur die Dinge zu nehmen, in diesen aber nur Schatten zu sehen, - weswegen man ihn nicht einmal allzu hart schelten darf, da dies Verhaltnis nicht letztgultig geklart ist.

Es war nicht mehr so, wie einst, da? Herr Settembrini, nachdem er plotzliche Klarheit hergestellt hatte, an dem Bette des horizontalen Hans Castorp sa? und in Dingen des Todes und des Lebens berichtigend auf ihneinzuwirken suchte. Umgekehrt sa? nun dieser, die Hande zwischen den Knien, an dem Bette des Humanisten im kleinen Kabinett oder an seinem Tagesruhelager im separierten und traulichen Mansardenstudio mit den Carbanarostuhlen und der Wasserflasche, leistete ihm Gesellschaft und lauschte hoflich seinen Erorterungen der Weltlage, denn nicht oft mehr war Herr Lodovico auf den Beinen. Naphtas krasses Ende, die terroristische Tat des scharf verzweifelten Disputanten, hatte seiner empfindsamen Natur einen harten Sto? versetzt, er konnte sich nicht davon erholen, unterlag seither gro?er Schwache und Hinfalligkeit. Seine Mitarbeit an der "Soziologischen Pathologie" stockte, das Lexikon aller Werke des schonen Geistes, die das menschliche Leiden zum Gegenstande hatten, kam nicht mehr vom Fleck, jene Liga wartete vergebens auf den betreffenden Band ihrer Enzyklopadie, Herr Settembrini war gezwungen, seine Mitwirkung an der Organisation des Fortschritts aufs Mundliche zu beschranken, und dazu eben boten Hans Castorps freundschaftliche Besuche ihm eine Gelegenheit, die er ohne sie ebenfalls hatte entbehren mussen.

Er sprach mit schwacher Stimme, aber viel, schon und von Herzen

uber die Selbstvervollkommnung der Menschheit auf gesellschaftlichem Wege. Seine Rede ging wie auf Taubenfu?en, aber bald, wenn er etwa von der Vereinigung der befreiten Volker zum allgemeinen Glucke sprach, so mischte sich - er wollte und wu?te es wohl selber nicht - etwas wie Rauschen von Adlersschwingen hinein, und das machte zweifellos die Politik, das gro?vaterliche Erbe, das sich mit dem humanistischen Erbe des Vaters in ihm, Lodovico, zur schonen Literatur vereinigt hatte, - genau wie Humanitat und Politik sich vereinigten in dem Hoch- und Toastgedanken der Zivilisation, diesem Gedanken voll Taubenmilde und Adlerskuhnheit, der seinen Tag erwartete, den Volkermorgen, da das Prinzip der Beharrung wurde aufs Haupt geschlagen und die heilige Allianz der burgerlichen Demokratie in die Wege geleitet werden ... Kurzum, hier gab es Unstimmigkeiten. Herr Settembrini war humanitar, aber zugleich und eben damit, halb ausgesprochen, war er auch kriegerisch. Er hatte sich beim Duell mit dem krassen Naphta wie ein Mensch benommen, im gro?en aber, wo die Menschlichkeit sich begeisterungsvoll mit der Politik zur Sieges- und Herrschaftsidee der Zivilisation verband und man die Pike des Burgers am Altar der Menschheit weihte, wurde es zweifelhaft, ob er, unpersonlich, gemeint blieb, seine Hand zuruckzuhalten vom Blute; - ja die inneren Umstande bewirkten, da? in Herrn Settembrinis schoner Gesinnung das Element der Adlerskuhnheit mehr und mehr gegen das der Taubenmilde durchschlug.

Nicht selten war sein Verhaltnis zu den gro?en Konstellationen der Welt zwiespaltig, von Skrupeln gestort und verlegen. Neulich, zwei oder anderthalb Jahrchen zuruck, hatte das diplomatische Zusammenwirken seines Landes mit Osterreich in Albanien sein Gesprach beunruhigt, dies Zusammenwirken, das ihn erhob, da es gegen das lateinlose Halbasien, gegen Knute und Schlusselburg gerichtet war, und das ihn qualteeben als Mi?bundnis mit dem Erbfeinde, dem Prinzip der Beharrung und der Volkerknechtschaft. Vorigen Herbst hatte die gro?e Leihgabe Frankreichs an Ru?land zum Zwecke des Baues eines Bahnnetzes in Polen ihm ahnlich widerstreitende Gefuhle geweckt. Denn Herr Settembrini gehorte der frankophilen Partei seines Landes an, was nicht wundernehmen kann, wenn man bedenkt, da? sein Gro?vater die Tage der Julirevolution denjenigen der Weltschopfung gleichgesetzt hatte; aber das Einverstandnis der erleuchteten Republik mit dem byzantinischen Skythentum schuf ihm moralische Verlegenheit, - eine Beklemmung seiner Brust, die doch auch wieder, beim Gedanken an den strategischen

Sinn jenes Bahnnetzes, in rasch atmende Hoffnung und Freude sich umdeuten wollte. Dann fiel der Furstenmord ein, der fur jedermann, au?er fur deutsche Siebenschlafer, ein Sturmzeichen war, Bescheid fur die Wissenden, zu denen wir Herrn Settembrini mit Fug zu rechnen haben. Hans Castorp sah ihn wohl privatmenschlich schaudern vor solcher Schreckenstat, sah aber auch seine Brust sich heben beim Gedanken daran, da? es eine Volks- und Befreiungstat war, die da geschehen, gerichtet gegen die Burg seines Hasses, wenn auch hinwiederum zu werten als Frucht moskowitischen Betreibens, was ihm Beklemmung schuf, ihn aber nicht hinderte, die au?erste Aufforderung der Monarchie an Serbien, drei Wochen spater, als Beleidigung der Menschheit und grauenhaftes Verbrechen zu kennzeichnen, in Anbetracht ihrer Folgen, die zu sehen er eingeweiht war, und die er rasch atmend begru?te ...

Kurzum, Herrn Settembrinis Empfindungen waren vielfach zusammengesetzt, wie das Verhangnis, das er mit gro?er Schnelle sich ballen sah, und fur das er seinem Zogling mit halben Worten Augen zu machen suchte, wahrend doch eine Art von nationaler Hoflichkeit und Erbarmnis ihn abhielt, vollends daruber aus sich herauszugehen. In den Tagen der ersten Mobilisationen, der ersten Kriegserklarung, hatte er eine Gewohnheit angenommen, dem Besucher beide Hande entgegenzustrecken und ihm die seinen zu drucken, da? es dem Tolpel zu Herzen ging, wenn auch nicht recht zu Kopfe. "Mein Freund!" sagte der Italiener. "Das Schie?pulver, die Druckerpresse - unleugbar, Sie haben das einst erfunden! Allein wenn Sie glauben, da? wir gegen die Revolution marschieren werden ... Caro ..."

Wahrend der Tage schwulster Erwartung, als eine wahre Streckfolter die Nerven Europas spannte, sah Hans Castorp Herrn Settembrini nicht. Die wusten Zeitungen drangen nun unmittelbar aus der Tiefe zu seiner Balkonloge empor, durchzuckten das Haus, erfullten mit ihrem die Brust beklemmenden Schwefelgeruch den Speisesaal und selbst die Zimmer der Schweren und Moribunden. Es waren jene Sekunden, wo der Siebenschlafer im Grase, nicht wissend, wie ihm geschah, sich langsam aufrichtete, bevor er sa? und sich die Augen rieb ... Wir wollen aber das Bild zu Ende fuhren, um seiner Gemutsbewegung gerecht zu werden. Er zog die Beine unter sich, stand auf, blickte um sich. Er sah sich entzaubert, erlost,befreit, - nicht aus eigener Kraft, wie er sich mit Beschamung gestehen mu?te, sondern an die Luft gesetzt von elementaren Au?enmachten, denen seine Befreiung sehr nebensachlich

mit unterlief. Aber wenn auch sein kleines Schicksal vor dem allgemeinen verschwand, - druckte nicht dennoch etwas von personlich gemeinter und also von gottlicher Gute und Gerechtigkeit sich darin aus? Nahm das Leben sein sundiges Sorgenkind noch einmal an, - nicht auf wohlfeile Art, sondern eben nur so, auf diese ernste und strenge Art, im Sinn einer Heimsuchung, die vielleicht nicht Leben, aber gerade in diesem Falle drei Ehrensalven fur ihn, den Sunder, bedeutete, konnte es geschehen. Und so sank er denn auf seine Knie hin, Gesicht und Hande zu einem Himmel erhoben, der schweflig dunkel, aber nicht langer die Grottendecke des Sundenberges war.

In dieser Haltung traf ihn Herr Settembrini, - stark bildlich gesprochen, wie sich versteht; denn in Wirklichkeit, das wissen wir, schlo? unseres Helden Sittensprodigkeit solches Theater aus. In sproder Wirklichkeit traf ihn der Mentor beim Kofferpacken, - denn seit dem Augenblick seines Erwachens sah Hans Castorp sich in den Trubel und Strudel von wilder Abreise gerissen, den der sprengende Donnerschlag im Tale angerichtet. Die "Heimat" glich einem Ameisenhaufen in Panik. Funftausend Fu? tief sturzte das Volkchen Derer hier oben sich kopfuber ins Flachland der Heimsuchung, die Trittbretter des gesturmten Zugleins belastend, ohne Gepack, wenn es sein mu?te, das in Stapelreihen die Steige des Bahnhofs bedeckte, - des wimmelnden Bahnhofs, in dessen Hohe brenzlige Schwule von unten heraufzuschlagen schien, - und Hans sturzte mit. Im Tumult umarmte ihn Lodovico, - buchstablich, er schlo? ihn in seine Arme und ku?te ihn wie ein Sudlander(oder auch wie ein Russe) auf beide Wangen, was unseren wilden Reisenden in aller Bewegung nicht wenig genierte. Aber fast hatte er die Fassung verloren, als Herr Settembrini ihn im letzten Augenblick mit Vornamen, namlich "Giovanni" nannte und dabei die im gesitteten Abendland ubliche Form der Anrede dahin fahren und das Du walten lie?!

"E cosi in giu," sagte er, - "in giu finalmente! Addio, Giovanni mio! Anders hatte ich dich reisen zu sehen gewunscht, aber sei es darum, die Gotter haben es so bestimmt und nicht anders. Zur Arbeit hoffte ich dich zu entlassen, nun wirst du kampfen inmitten der Deinen. Mein Gott, dir war es zugedacht und nicht unserm Leutnant. Wie spielt das Leben ... Kampfe tapfer, dort, wo das Blut dich bindet! Mehr kann jetzt niemand tun. Mir aber verzeih', wenn ich den Rest meiner Krafte daransetze, um auch mein Land zum Kampfe hinzurei?en, auf jener Seite, wohin der Geist und heiliger Eigennutz es weisen. Addio!"

Hans Castorp zwangte seinen Kopf zwischen zehn andere, die den Rahmendes Fensterchens fullten. Er winkte uber sie hin. Auch Herr Settembrini winkte mit der Rechten, wahrend er mit der Ringfingerspitze der Linken zart einen Augenwinkel beruhrte.

Wo sind wir? Was ist das? Wohin verschlug uns der Traum? Dammerung, Regen und Schmutz, Brandrote des truben Himmels, der unaufhorlich von schwerem Donner brullt, die nassen Lufte erfullt, zerrissen von scharfem Singen, wutend hollenhundhaft daherfahrendem Heulen, das seine Bahn mit Splittern, Spritzen, Krachen und Lohen beendet, von Stohnen und Schreien, von Zinkgeschmetter, das bersten will, und Trommeltakt, der schleuniger, schleuniger treibt ... Dort ist ein Wald, aus dem sich farblose Schwarme ergie?en, die laufen, fallen und springen. Dort zieht eine Hugelzeile sich vor dem fernen Brande hin, dessen Glut sich manchmal zu wehenden Flammen sammelt. Um uns ist welliges Ackerland, zerwuhlt, zerweicht. Eine Landstra?e lauft kotig, mit gebrochenen Zweigen bedeckt, dem Walde gleich; ein Feldweg, zerfurcht und grundlos, schwingt sich von ihr im Bogen gegen die Hugel hin, Baumstocke ragen im kalten Regen, nackt und entzweigt ... Hier ist ein Wegweiser, - unnutz ihn zu befragen; Halbdunkel wurde uns seine Schrift verhullen, auch wenn das Schild nicht von einem Durchschlage zackig zerrissen ware. Ost oder West? Es ist das Flachland, es ist der Krieg. Und wir sind scheue Schatten am Wege, schamhaft in Schattensicherheit, und keineswegs gesonnen, uns in Prahlerei und Jagerlatein zu ergehen, aber dahergefuhrt vom Geist der Erzahlung, um von den grauen, laufenden, sturzenden, vorwarts getrommelten Kameraden, die aus dem Walde schwarmen, einem, den wir kennen, dem Weggenossen so vieler Jahrchen, dem gutmutigen Sunder, dessen Stimme wir so oft vernahmen, noch einmal ins einfache Angesicht zu blicken, bevor wir ihn aus den Augen verlieren.

Man hat sie herangeholt, die Kameraden, um dem Gefechte letzten Nachdruck zu geben, das schon den ganzen Tag gedauert hat, und das dem Wiedergewinn jener Hugelstellung und der dahinterliegenden brennenden Dorfer gilt, die vor zwei Tagen an den Feind verloren gingen. Es ist ein Regiment Freiwilliger, junges Blut, Studenten zumeist, nicht lange im Felde. Sie wurden alarmiert in der Nacht, sie fuhren mit der Bahn bis zum Morgen und marschierten im Regen bis zum Nachmittag auf schlimmen Wegen, - auf gar keinen Wegen, die Stra?en waren verstopft, es ging durch Acker und Moor, sieben Stunden lang, im

schwergesogenen Mantel, mit Sturmgepack, und das war kein Lustwandel; denn wollte man nicht die Stiefel verlieren, so mu?te man fast bei jedem Schritte gebuckt mit dem Finger in die Lasche greifen um den Fu? daran aus dem quatschenden Grunde ziehen. So haben sie eine Stunde gebraucht, um uber eine kleine Wiese zu kommen. Nun sind sie da, ihr junges Blut hat alles geschafft, ihre erregten und schon erschopften, aberaus tiefsten Lebensreserven in Spannung gehaltenen Korper fragen dem vorenthaltenen Schlaf, der Nahrung nicht nach. Ihre nassen, mit Schmutz bespritzten, vom Sturmband umrahmten Gesichter unter den grau bespannten, verschobenen Helmen gluhen. Sie gluhen von Anstrengung und von dem Anblick der Verluste, die sie beim Zuge durch den morastigen Wald erlitten haben. Denn der Feind, ihres Anruckens kundig, hat Sperrfeuer von Schrapnells und gro?kalibrigen Granaten auf ihren Weg gelegt, das schon durch den Wald splitternd in ihre Gruppen schlug und heulend, spritzend und flammend das weite Sturzackerland peitscht.

Sie mussen hindurch, die dreitausend fiebernden Knaben, sie mussen als Nachschub mit ihren Bajonetten den Sturm auf die Graben vor und hinter der Hugelzeile, auf die brennenden Dorfer entscheiden und helfen, ihn vorzutragen bis zu einem bestimmten Punkt, der bezeichnet ist in dem Befehl, den ihr Fuhrer in seiner Tasche tragt. Sie sind dreitausend, damit sie noch ihrer zweitausend sind, wenn sie bei den Hugeln, den Dorfern anlangen; das ist der Sinn ihrer Menge. Sie sind ein Korper, darauf berechnet, nach gro?en Ausfallen noch handeln und siegen, den Sieg noch immer mit tausendstimmigem Hurra begru?en zu konnen, - ungeachtet derer, die sich vereinzelten, indem sie ausfielen. Manch einer schon hat sich vereinzelt, fiel aus beim Gewaltmarsch, fur den er sich als zu jung und zart erwies. Er wurde blasser und wankte, forderte verbissen Mannheit von sich und blieb endlich doch zuruck. Er schleppte sich noch eine Weile neben der Marschkolonne hin, Rotte um Rotte uberholte ihn, und er verschwand, blieb liegen, wo es nicht gut war. Und dann war der splitternde Wald gekommen. Aber der Hervorschwarmenden sind immer noch viele; dreitausend konnen einen Aderla? aushalten und sind auch dann noch ein wimmelnder Verband. Schon uberfluten sie unser gepeitschtes Regenland, die Chaussee, den Feldweg, die verschlammten Acker; wir schauenden Schatten am Wege sind mitten unter ihnen. Am Waldesrand wird immer das Seitengewehr aufgepflanzt, mit gedrillten Griffen, das Zink ruft dringend, die Trommel klopft und rollt im tieferen Donner, und vorwarts sturzen sie, wie es gehen will, mit sprodem

Schreien und qualtraumschwer die Fu?e, da die Ackerkluten sich bleiern an ihre plumpen Stiefel hangen.

Sie werfen sich nieder vor anheulenden Projektilen, um wieder aufzuspringen und weiter zu hasten, mit jungsprodem Mutgeschrei, weil es sie nicht getroffen hat. Sie werden getroffen, sie fallen, mit den Armen fechtend, in die Stirn, in das Herz, ins Gedarm geschossen. Sie liegen, die Gesichter im Kot, und ruhren sich nicht mehr. Sie liegen, den Rucken vom Tornister gehoben, den Hinterkopf in den Grund gebohrt und greifen krallend mit ihren Handen in die Luft. Aber der Wald sendet neue, die sich hinwerfen und springen und schreiend oder stumm zwischen den Ausgefallenen vorwartsstolpern.

Das junge Blut mit seinen Ranzen und Spie?gewehren, seinen verschmutzten Manteln und Stiefeln! Man konnte sich humanistisch-schonseliger Weise auch andere Bilder ertraumen in seiner Betrachtung. Man konnte es sich denken: Rosse regend und schwemmend in einer Meeresbucht, mit der Geliebten am Strande wandelnd, die Lippen am Ohre der weichen Braut, auch wie es glucklich freundschaftlich einander im Bogenschu? unterweist. Statt dessen liegt es, die Nase im Feuerdreck. Da? es das freudig tut, wenn auch in grenzenlosen Angsten und unaussprechlichem Mutterheimweh, ist eine erhabene und beschamende Sache fur sich, sollte jedoch kein Grund sein, es in die Lage zu bringen.

Da ist unser Bekannter, da ist Hans Castorp! Schon ganz von weitem haben wir ihn erkannt an seinem Bartchen, das er sich am Schlechten Russentisch hat stehen lassen. Er gluht durchna?t, wie alle. Er lauft mit ackerschweren Fu?en, das Spie?gewehr in hangender Faust. Seht, er tritt einem ausgefallenen Kameraden auf die Hand, - tritt diese Hand mit seinem Nagelstiefel tief in den schlammigen, mit Splitterzweigen bedeckten Grund hinein. Er ist es trotzdem. Was denn, er singt! Wie man in stierer, gedankenloser Erregung vor sich hinsingt, ohne es zu wissen, so nutzt er seinen abgerissenen Atem, um halblaut fur sich zu singen:

"Ich schnitt in seine Rinde

So manches liebe Wort -".

Er sturzt. Nein, er hat sich platt hingeworfen, da ein Hollenhund anheult, ein gro?es Brisanzgescho?, ein ekelhafter Zuckerhut des Abgrunds. Er liegt, das Gesicht im kuhlen Kot, die Beine gespreizt, die Fu?e gedreht, die Absatze erdwarts. Das Produkt einer verwilderten Wissenschaft, geladen mit dem Schlimmsten, fahrt drei?ig Schritte

schrag vor ihm wie der Teufel selbst tief in den Grund, zerplatzt dort unten mit gra?licher Ubergewalt und rei?t einen haushohen Springbrunnen von Erdreich, Feuer, Eisen, Blei und zerstuckeltem Menschentum in die Lufte empor. Denn dort lagen zwei, - es waren Freunde, sie hatten sich zusammengelegt in der Not: nun sind sie vermengt und verschwunden.

O Scham unserer Schattensicherheit! Hinweg! Wir erzahlen das nicht! Ist unser Bekannter getroffen? Er meinte einen Augenblick, es zu sein. Ein gro?er Erdklumpen fuhr ihm gegen das Schienbein, das tat wohl weh, ist aber lacherlich. Er macht sich auf, er taumelt hinkend weiter mit erdschweren Fu?en, bewu?tlos singend:

"Und sei-ne Zweige rau-uschten,

Als rie-fen sie mir zu -".

Und so, im Getummel, in dem Regen, der Dammerung, kommt er uns aus den Augen.

Lebewohl, Hans Castorp, des Lebens treuherziges Sorgenkind! Deine Geschichte ist aus. Zu Ende haben wir sie erzahlt; sie war weder kurzweilig noch langweilig, es war eine hermetische Geschichte. Wir haben sie erzahlt um ihretwillen, nicht deinethalben, denn du warst simpel. Aber zuletzt war es deine Geschichte; da sie dir zustie?, mu?test du's irgend wohl hinter den Ohren haben, undwir verleugnen nicht die padagogische Neigung, die wir in ihrem Verlaufe fur dich gefa?t, und die uns bestimmen konnte, zart mit der Fingerspitze den Augenwinkel zu tupfen bei dem Gedanken, da? wir dich weder sehen noch horen werden in Zukunft.

Fahr wohl - du lebest nun oder bleibest! Deine Aussichten sind schlecht; das arge Tanzvergnugen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sundenjahrchen, und wir mochten nicht hoch wetten, da? du davonkommst. Ehrlich gestanden, lassen wir ziemlich unbekummert die Frage offen. Abenteuer im Fleische und Geist, die deine Einfachheit steigerten, lie?en dich im Geist uberleben, was du im Fleische wohl kaum uberleben sollst. Augenblicke kamen, wo dir aus Tod und Korperunzucht ahnungsvoll und regierungsweise ein Traum von Liebe erwuchs. Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzundet, einmal die Liebe steigen?

FINIS OPERIS