Hans Fallada

"Wolf unter Wölfen"


ERSTES KAPITEL. Man erwacht in Berlin und anderswo

1

Auf einem schmalen Eisenbett schliefen ein Mädchen und ein Mann.

Der Kopf des Mädchens lag in der Ellenbogenbeuge des rechten Arms; der Mund, sachte atmend, war halb geöffnet: das Gesicht trug einen schmollenden und besorgten Ausdruck - wie von einem Kind, das nicht ausmachen kann, was ihm das Herz bedrückt.

Das Mädchen lag abgekehrt vom Mann, der auf dem Rücken schlief, mit schlaffen Armen, in einem Zustand äußerster Erschöpfung. Auf der Stirn, bis in das krause, blonde Kopfhaar hinein, standen kleine Schweißtropfen. Das schöne und trotzige Gesicht sah ein wenig leer aus.

Es war - trotz des geöffneten Fensters - sehr heiß in dem Zimmer. Ohne Decke und Nachtkleid schliefen die beiden.

Es ist Berlin, Georgenkirchstraße, dritter Hinterhof, vier Treppen, Juli 1923, der Dollar steht jetzt - um sechs Uhr morgens - vorläufig noch auf vierhundertvierzehntausend Mark.

2

In den Schlaf der beiden sandte der dunkle Schacht des Hinterhofs die flauen Gerüche aus hundert Wohnungen. Hundert Geräusche, sachte noch, drangen durch das offene Fenster, vor dem reglos eine gelblichgraue Gardine hing. Plötzlich schrie, auf der anderen Seite des Hofes, keine acht Meter entfernt, ein Flüchtlingskind von der Ruhr angstvoll auf.

Die Lider des schlafenden Mädchens zuckten. Der Kopf hob sich ein wenig. Die Glieder spannten sich. Nun weinte das Kind leiser, eine

Frauenstimme schalt schrill, ein Mann brummte - und der Kopf sank zurück, die Glieder entspannten sich neu - das Mädchen schlief weiter.

Im Haus rührte es sich. Türen schlugen, Schritte schlurften über den Hof. Auf den Treppen polterte es, Emaillekannen schlugen gegen eiserne Geländer. In der Küche nebenan lief die Wasserleitung. Im Erdgeschoß, in der Blechstanzerei, schrillte eine Glocke, Räder surrten, Riemen schleiften ...

Die beiden schliefen ...

3

Über der Stadt lag - trotz früher Stunde und klaren Himmels - ein trüber Dunst. Der Brodem eines verelendeten Volkes stieg nicht gen Himmel, er haftete träg an den Häusern, kroch durch alle Straßen, sickerte durch die Fenster, in jeden atmenden Mund. Die Bäume in den verwahrlosten Anlagen ließen fahl die Blätter hängen.

Dem Schlesischen Bahnhof näherte sich, aus dem Osten des Reiches kommend, ein früher Fernzug, mit klappernden Fenstern, zerbrochenen Scheiben, zerschnittenen Polstern - die Ruine eines Zuges. Schlagend, klirrend, stoßend fuhren die Wagen über die Weichen und Kreuzungen von Stralau-Rummelsburg.

Ein Herr, Rittmeister a. D. und Rittergutspächter, Joachim von Prackwitz-Neulohe, weißhaarig und schlank, doch mit dunkel glühenden Augen, beugte sich hinaus, zu sehen, wo man wäre. Er fuhr zurück - ein glühendes Rußteilchen war ihm ins Auge geflogen. Mit dem Taschentuch wischte er, er schalt zornig: "Elende Dreckstadt!"

4

Im Herd war Feuer entzündet mit lappigem, gelbem Papier und Streichhölzern, die stanken oder deren Kuppe abflog. Feuchtes, schwammiges Holz oder minderwertige Kohle schwelten. Das verfälschte Gas brannte puffend, ohne zu hitzen. Langsam wurde wäßrige, blaue Milch warm, das Brot war klitschig oder zu trocken. In der Hitze der Wohnungen weich gewordene Margarine roch ranzig.

Eilig aßen die Leute das lieblose Essen, eilig, wie sie eilig in die zu oft entfleckten, gewaschenen, ausgebeutelten Kleider gefahren waren. Eilig überflogen ihre Augen die Zeitungen. Es hatte Teuerungskrawalle, Unruhen und Plünderungen in Gleiwitz und Breslau, in Frankfurt am Main und Neuruppin, in Eisleben und Dramburg gegeben, sechs Tote und

tausend Verhaftete. Daraufhin hat die Regierung Versammlungen unter freiem Himmel verboten. Der Staatsgerichtshof verurteilt eine Prinzessin wegen Begünstigung des Hochverrats und Meineids zu sechs Monaten Gefängnis - aber der Dollar steht auf vierhundertvierzehntausend Mark gegen dreihundertfünfzigtausend am 23. "Am Ultimo, in einer Woche, gibt es Gehalt - wie wird der Dollar dann stehen? Werden wir uns zu essen kaufen können? Für vierzehn Tage? Für zehn Tage? Für drei Tage? Werden wir Schuhsohlen kaufen, das Gas bezahlen können, das Fahrgeld -? Schnell, Frau, hier sind noch zehntausend Mark, kauf was dafür. Was, ist gleichgültig, ein Pfund Mohrrüben, Manschettenknöpfe, die Schallplatte ›Bananen verlangt sie von mir‹ - oder einen Strick, uns aufzuhängen ... Nur schnell, lauf, rasch -!"

5

Auch über Rittergut Neulohe leuchtete die frühe Sonne. Auf den Feldern stand der Roggen in Stiegen, der Weizen war reif, der Hafer auch. Ein paar Maschinen klapperten verloren in der Felderweite, über der die Lerchen unermüdlich ihre Wirbel und Triller schlugen.

Förster Kniebusch, rotbraunes, faltiges Altersgesicht, mit kahlem Kopf, aber weißgelblichem, rundem Vollbart, tritt aus der Hitze des offenen Feldes in den Wald. Er geht langsam, mit der einen Hand rückt er den Flintenriemen auf der Schulter zurecht, mit der andern wischt er den Schweiß von der Stirn. Er geht nicht fröhlich, nicht eilig, nicht kraftvoll; er geht in seiner eigenen, also wenigstens in der von ihm betreuten Forst sachtfüßig, mit weichen Knien, vorsichtig. Sein Auge sieht auf dem Wege jeden Ast, er vermeidet, auf ihn zu treten, er will leise gehen.

Und doch trifft er trotz aller Vorsicht bei einer Wegbiegung, hinter einem Gebüsch vorkommend, auf eine kleine Prozession von Handwagen. Männer und Frauen. Auf den Wagen liegt frisch geschlagenes Holz, nur schiere Stämme - die Äste sind denen zu schlecht. Förster Kniebusch steigt die Zornröte in die Wangen, seine Lippen bewegen sich, in die vom Alter ausgeblaßten blauen Augen kommt ein tieferer Glanz, ein wenig Feuer, aus der Jugend her.

Der Mann am vordersten Wagen - natürlich der Bäumer - hat gestutzt. Nun geht er schon weiter. Nahe, in kaum einem Meter Abstand, klappern die Wägelchen mit dem gestohlenen Holz am Förster vorüber. Die Leute starren in die Luft oder zur Seite, als sei er nicht da, der da schwer atmend steht ... Dann verschwinden sie um die Gebüschecke.

"Sie werden alt, Kniebusch", hört der Förster des Rittmeisters von Prackwitz Stimme.

Ja, denkt er trübe. Ich bin so alt geworden, daß ich gerne in meinem Bett sterben möchte.

Denkt es und geht weiter.

Er wird nicht in seinem Bette sterben.

6

Im Zuchthaus Meienburg schrillen die Alarmglocken, die Wachtmeister rennen von Zelle zu Zelle, der Direktor telefoniert mit der Reichswehr um Verstärkung, die Verwaltungsbeamten schnallen sich Gürtel mit Pistolen um die Bäuche und greifen nach Gummiknütteln. Vor zehn Minuten hat Gefangener 367 dem Wachtmeister sein Brot vor die Füße geworfen: "Ich verlange Brot, vorgeschriebenes Gewicht, und keinen verdammten Gipsbrei!" hat er geschrien.

In der gleichen Sekunde war der Tumult, der Aufruhr losgebrochen. Aus zwölfhundert Zellen hatte es geschrien, gebrüllt, gejammert, gesungen, geheult: "Kohldampf! Hunger! Kohldampf! Hunger!"

Unter den strahlend weißen Mauern des hoch gelegenen Zuchthauses lag geduckt das Städtchen Meienburg - in jedes Haus, in jedes Fenster drang das Gebrüll: "Kohldampf! Hunger!" Nun krachte es, tausend Gefangene waren mit ihren Schemeln gegen die Eisentüren angerannt.

Durch die Gänge liefen die Wachtmeister und Kalfaktoren, flüsterten beschwörend an den Türen der Aufrührerischen. Die Zellen der Gutgesinnten wurden aufgeschlossen: "Seid vernünftig, niemand in Deutschland bekommt anderes Essen ... der Dollar ... das Ruhrrevier ... Es werden sofort Erntekommandos zusammengestellt, die auf die großen Güter geschickt werden. Jede Woche ein Paket Tabak, täglich Fleisch ... für die mit guter Führung ..."

Mählich schwillt der Lärm ab. Erntekommandos ... Fleisch ... Tabak ... gute Führung ... Es sickert durch die Mauern, es besänftigt die knurrenden Mägen, eine Aussicht, eine Hoffnung auf Sättigung, freien Himmel, vielleicht Flucht ... Die letzten Lärmschläger, die von der eigenen Wut Wütenden schleppen die Wachtmeister in die Arrestzellen: "Da, versucht, wie es sich ohne den Gipsbrei lebt!"

Die Eisentüren fliegen krachend zu.

7

Trotz der frühen Morgenstunde ist im Bayerischen Viertel zu Berlin in der Wohnung der Gräfin Mutzbauer die Zofe Sophie schon wach. Ihre Kammer, die sie mit der noch tief schlafenden Köchin teilt, ist so schmal, daß außer für die zwei Eisenbetten nur noch Platz für zwei Stühle ist - so schreibt sie auf dem Brett des geöffneten Fensters ihren Brief.

Sophie Kowalewski hat schön gepflegte Hände, doch führen sie den Bleistift nur ungeschickt. Grundstrich, Haarstrich, Häkchen, Komma, Haarstrich, Grundstrich ... Ach, sie möchte so vieles sagen ...: wie er ihr fehlt, wie die Zeit nicht vergehen will, fast noch drei Jahre und kaum erst ein halbes herum ... Aber es wird nichts; Gefühle in Geschriebenes umzusetzen, hat Sophie Kowalewski, Tochter des Leutevogts Kowalewski in Neulohe, nicht gelernt. Ja, wenn er hier wäre, wenn es sich um Sprechen handelte, um eine Berührung -! Sie könnte alles ausdrücken, sie könnte ihn mit einem Kuß wild machen, mit einem leisen Anfassen glücklich ... Aber so!

Sie starrt vor sich hin. Ach, sie möchte es ihn spüren lassen in diesem Brief! Aus der Fensterscheibe sieht sie mattfarbig eine zweite Sophie an. Unwillkürlich lächelt sie ihr rasch zu. Ein paar Löckchen haben sich gelöst, hängen dunkel in die Stirn. Die Schatten unter den Augen sind auch dunkel. Sie müßte sich wieder einmal die Zeit nehmen, gründlich auszuschlafen - aber gibt es denn Schlafenszeit in dieser Zeit, wo alles so merklich verrinnt, kaum da es deutlich wurde -? Alles zerfällt, nutze die Minute, heute lebst du noch, Sophie!

Sie mag morgens noch so müde sein, die Füße brennen, der Mund schmeckt schal nach all den Likören, dem Wein, den Küssen - am Abend zieht es sie doch wieder in eine der Bars. Tanzen, trinken und toben! Kavaliere genug, lappig wie ihr Geld, Hunderttausende, fünfzigfacher Zofenlohn, lose in einer Jackettasche. Sie ist auch letzte Nacht mit einem von den Kavalieren mitgegangen - was kommt es darauf an? Die Zeit rinnt, läuft, jagt. Vielleicht sucht sie auch Hans, den für dreiundeinviertel Jahr verlorenen Hans(Hochstapelei), in all den immer wiederholten Umarmungen, in all den Gesichtern, die sich über das ihre neigen, so gierig-ruhelos wie das ihre ... Aber den Hans, strahlend, rasch, allen überlegen, gibt es kein zweites Mal!

Sophie Kowalewski, der harten Arbeit auf einem Rittergut entflohen, sucht in der Stadt - sie weiß nicht was, irgend etwas, das sie noch härter anfassen wird. Einmalig ist dieses Leben, vergänglich; wenn wir tot sind, sind wir so lange tot; und wenn wir alt sind, schon, wenn wir über fünfundzwanzig sind, sieht uns keiner mehr an. Hans, ach Hans ... Sie trägt das Abendkleid der Gnädigen, es ist schnurz, ob die Köchin es

sieht. Was die bei den Lieferanten Schmu macht, klaut sie an Seidenstrümpfen und Seidenwäsche. Keine hat der andern etwas vorzuwerfen. Es ist gleich sieben, schnell noch den Schluß ... "Und verbleibe ich mit heißen Küssen Deine Dich ewig liebende Braut Sophie ..."

Sie legt keinen Wert auf das Wort Braut, sie weiß auch gar nicht, ob sie das möchte, ihn heiraten, aber sie muß es schreiben, damit sie ihm im Zuchthaus den Brief auch aushändigen.

Und der Zuchthausgefangene Hans Liebschner wird den Brief seiner Braut erhalten, er gehörte nicht zu denen, die wegen zu wilden Gebrülls in eine Arrestzelle gebracht worden waren. Nein, trotzdem er kaum erst ein halbes Jahr im Zuchthaus Meienburg wohnte, war er ganz gegen alle Hausordnung schon zum Kalfaktor aufgerückt und hatte es verstanden, mit besonderer Überzeugung von Erntekommandos zu reden. Das konnte er, er wußte: Neulohe lag nicht weitab von Meienburg, und Neulohe war die Heimat einer süßen Puppe, namens Sophie ...

Ich werde das Kind schon schaukeln, dachte er.

8

Das Mädchen war erwacht.

Den Kopf in die Hand gestützt, lag es und sah nach dem Fenster hinüber. Die gelblichgraue Gardine bewegte sich nicht. Das Mädchen glaubte die riechende Hitze vom Hof her zu spüren. Es schauderte leicht.

Dabei sah es an sich herunter. Nicht, daß es vor Kälte geschaudert hatte - es hatte wegen der häßlichen Hitze, wegen des üblen Geruches geschaudert. Es sah seinen Leib an; der Leib war weiß und fehlerlos; man mußte sich wundern, daß in einer Luft, die wie zersetzt, wie faulig war, etwas so fehlerlos bleiben konnte!

Das Mädchen hatte keinen genauen Begriff, welche Zeit es war, nach den Geräuschen konnte es neun oder zehn oder auch elf sein - die Vormittagsgeräusche blieben sich nach acht ziemlich gleich. Es war möglich, daß die Wirtin, Frau Thumann, gleich mit dem Morgenkaffee hereinkam. Nach Wolfgangs Wünschen hätte sie aufstehen und sich anständig bekleiden, auch ihn zudecken müssen. Nun gut, sie würde es gleich tun. Wolfgang hatte so überraschende Anfälle von Anstand ...

"Es ist doch gleich", sagte sie etwa zu ihm. "Die Thumann ist es so und noch ganz anders gewöhnt. Wenn sie nur ihr Geld bekommt, stört sie gar nichts ..."

"Stören -?" hatte Wolfgang zärtlich gelacht. "Stören, wenn sie dich so sieht -?!!"

Er hatte sie angesehen. Immer wurde ihr unter solchen Blicken von ihm schwach und zärtlich. Sie hätte ihn an sich ziehen mögen, aber da sagte er schon ernster: "Es ist doch unsertwegen, Peter, unsertwegen! Wenn wir jetzt auch drinsitzen im Dreck: richtig im Dreck sind wir erst, wenn wir nicht mehr auf uns aufpassen ..."

"Ein Kleid macht doch nicht anständig, kein Kleid nicht unanständig", fing sie an.

"Und wenn es nur ein Kleid ist! Darauf kommt es nicht an!" hatte er fast heftig gesagt. "Wenn es nur irgend etwas ist, was uns erinnert. Wir sind kein Dreck, ich nicht und du auch nicht. Und habe ich es erst einmal geschafft, wird uns alles viel leichter sein, wenn wir uns hier nicht wohl gefühlt haben, in diesem Dreckloch. Wir dürfen bloß nicht mitmachen mit denen hier!"

Er murmelte nur noch, seine Worte verloren sich im Unverständlichen. Er dachte wieder daran, wie er es "schaffen" würde, er war weg von ihr.(Er war viel weg von ihr, seinem Peter.)

"Wenn du es geschafft hast, werde ich nicht mehr bei dir sein", hatte sie einmal gesagt.

Ein Weilchen war Stille gewesen, dann hatte ihn doch in seinem Grübeln erreicht, was sie gesagt hatte.

"Du wirst bei mir sein, Peter!" hatte er heftig geantwortet. "Immer und immer. Glaubst du denn, ich vergesse das, wie du Nacht für Nacht auf mich wartest?! Ich vergesse das, wie du hier sitzt - in dem Loch - ohne alles?! Ich vergesse, daß du mich nie fragst und nie drängst, wie ich auch komme?! Oh, Peter!!" hatte er gerufen, und seine Augen leuchteten mit jenem Glanz, den sie nicht mochte, denn es war ein Glanz, den nicht sie entzündet. "Letzte Nacht war es fast soweit! Es war ein Augenblick, wie ein Berg lag das Geld vor mir ... Ich fühlte, es war beinahe soweit, nur noch ein-, zweimal ... Nein, ich mache dir nichts vor. Ich habe an nichts Bestimmtes gedacht, an kein Haus, keinen Garten, kein Auto, nicht an dich ... Es war wie eine plötzliche Helle vor mir, nein, eine strahlende Helle in mir, das Leben war so weit und klar, wie der Himmel, wenn die Sonne aufgeht, es war alles rein ...

Dann "..., er senkte die Stirne, "... sprach mich eine Nutte an, und von da an ging alles verquer ..."

Er hatte mit gesenkter Stirn am Fenster gestanden. Sie fühlte, als sie seine zuckende Hand zwischen die ihren nahm, wie jung er war, wie jung

seine Begeisterung, wie jung seine Verzweiflung, wie jung und ohne alle Verpflichtung, was er ihr sagte ...

"Du wirst es schaffen!" sagte sie leise. "Aber wenn du es geschafft haben wirst, werde ich nicht mehr bei dir sein."

Er zog seine Hand zwischen den ihren hervor.

"Du wirst bei mir bleiben", sagte er kalt. "Ich vergesse nichts."

Sie wußte, er hatte eben an seine Mutter gedacht, die ihr einmal ins Gesicht geschlagen. Sie wollte nicht darum bei ihm bleiben, weil seine Mutter sie einmal geschlagen hatte.

Und nun, von heute an, würde sie doch bei ihm bleiben, für immer. Noch hatte er es zwar nicht geschafft, und sie wußte längst, auf dem bisherigen Wege würde nie etwas draus werden. Aber was tat das? Weiter dieses schmierige Zimmer, weiter nicht wissen, wovon morgen leben, sich kleiden, weiter alles unklar - aber an ihn gebunden von heute mittag ein Uhr an!

Sie griff auf den Stuhl neben ihrem Bett, faßte die Strümpfe und fing an, sie überzustreifen. -

Plötzlich überfiel sie eine schreckliche Angst, es könne nichts daraus werden, es sei gestern alles fehlgegangen, völlig fehl, bis auf den letzten Tausendmarkschein. Sie wagte nicht aufzustehen, um sich zu überzeugen, sie sah mit brennenden Augen auf Wolfgangs Kleider, die über dem Stuhl neben der Tür hingen. Sie versuchte, die Dicke der rechten Jacketttasche, in der er sein Geld aufbewahrte, richtig abzuschätzen.

Gebühren müssen bezahlt werden, dachte sie angstvoll. Wenn die Gebühren nicht bezahlt werden können, wird nichts daraus.

Es war ein vergebliches Bemühen. Manchmal hatte er auch sein Taschentuch in dieser Tasche. Was konnte es jetzt wieder für neue Scheine geben -? Fünfhunderttausendmarkscheine -? Millionenscheine? Was wußte sie -? Was würde eine Trauung kosten - eine Million? Zwei Millionen? Fünf Millionen - was wußte sie -?! Selbst wenn sie den Mut gehabt hätte, in die Tasche zu fassen, nachzuzählen, sie wußte immer noch nichts! Sie wußte nie etwas.

Die Tasche war nicht dick genug.

Langsam, daß die Bettfedern nicht knarrten, langsam, behutsam, angstvoll drehte sie sich nach ihm um.

"Guten Morgen, Peter", sagte er mit fröhlicher Stimme. Sein Arm zog sie gegen seine Brust. Sie legte ihren Mund auf seinen Mund. Sie wollte es nicht hören, jetzt wollte sie es nicht hören, was er sagte.

"Ich bin vollkommen blank, Peter. Wir haben keine Mark mehr!" Und die Flamme stieg und stieg, lautlos. Ihre reine, weißbläuliche Hitze brannte die verbrauchte Luft des Zimmers rein. Immer noch hoben barmherzige Arme die Liebenden von jedem Liebeslager aus Dunst und Unruhe, aus Kampf, Hunger und Verzweiflung, aus Sünde und Schamlosigkeit hoch in den reinen, kühlen Himmel der Erfüllung.

ZWEITES KAPITEL. Berlin macht sich schwach

1

Viele Straßen um den Schlesischen Bahnhof sind schlimm; damals, 1923, kam zu der Trostlosigkeit der Fassaden, den üblen Gerüchen, dem Elend, der öden, dürren Steinwüste eine wilde, verzweifelte Schamlosigkeit, Feilheit aus Elend oder Gleichgültigkeit, Geilheit aus der Gier, sich einmal selbst zu fühlen, selbst etwas zu sein in einer Welt, die in sausender, irrer Fahrt jeden mitriß, unbekannten Dunkelheiten zu.

Der Rittmeister von Prackwitz, viel zu elegant in einen hellgrauen Anzug gekleidet, den ihm ein Londoner Schneider nach gesandten Maßen gefertigt, viel zu auffallend aussehend mit seiner schlanken Figur, dem schlohweißen Haupthaar über dem braun verbrannten Gesicht, mit den dunklen, buschigen Brauen und den dunkel glühenden Augen - der Rittmeister von Prackwitz geht achtsam, sehr grade aufgerichtet, den Bürgersteig entlang, besorgt, niemanden zu streifen. Er sieht gradeaus vor sich hin, auf einen imaginären Fleck, der in Augenhöhe fern von ihm die Straße hinunter liegt, um niemanden und nichts sehen zu müssen. Er möchte auch gerne mit seinen Ohren weghorchen können, etwa in das schwere Rauschen seiner immer noch kaum angemähten, erntereifen Neuloher Kornfelder hinein, er bemüht sich, wegzuhorchen von dem, was ihm Hohn und Neid und Gier nachrufen.

Plötzlich ist es ihm wie in den unseligen Novembertagen des Jahres 1918, als er mit zwanzig Kameraden - dem Rest seiner Schwadron - auch eine Berliner Straße langmarschierte, in der Reichstagsnähe - und plötzlich prasselte aus Fenstern, von Dächern, aus dunklen Torgängen eine wüste Schießerei auf den kleinen Zug herab, ein regelloses, wildes, feiges Geknalle. Auch damals waren sie so weitermarschiert, das Kinn vorgestoßen, den Mund fest geschlossen, mit den Augen einen imaginären Punkt am Ende der Straße fixierend, den sie wohl nie

erreichen würden.

Und dem Rittmeister ist, als sei er in den fünf Wahnsinnsjahren seitdem eigentlich immer so weitermarschiert, einen imaginären Punkt fixierend, wachend wie schlafend - denn es gab in diesen Jahren keinen Schlaf ohne Traum. Immer eine trostlose Straße voller Feinde, Haß, Gemeinheit, Würdelosigkeit hinunter, und kam, wider alles Erwarten, doch die Ecke, so tat sich nur eine neue, ganz gleiche Straße auf, mit demselben Haß und derselben Gemeinheit. Aber wieder war der Punkt da, auf den man losmarschieren mußte, dieser Punkt, den es gar nicht gab, eine bloße Einbildung -.

Oder war der Punkt etwas, das gar nicht draußen, außerhalb von ihm lag, sondern in ihm, in seiner eigenen Brust - sage ich es denn: in meinem Herzen? Marschierte er, weil ein Mann marschieren muß, ohne auf Haß und Gemeinheit zu horchen, sehen auch aus tausend Fenstern zehntausend böse Augen auf ihn, sei er auch ganz allein - denn wo sind die Kameraden?! Marschierte er, weil man nur so sich näher kommt, das wird, was man auf dieser Erde zu sein hat, nämlich nicht das, was die andern von einem erwarten, sondern man selbst -? Man selbst!

Und plötzlich ist dem Rittmeister von Prackwitz, hier auf der Langen Straße am Schlesischen Bahnhof in Berlin, einer verfluchten Stadt, ist dem Rittmeister und Rittergutspächter, angesichts von zehn schreienden Kaffeehausschildern, die nichts anzeigen als Bordelle - ist dem Rittmeister und Rittergutspächter und Mann Joachim von Prackwitz-Neulohe, der hierherkam, sehr gegen seinen Willen hierherkam, um mindestens sechzig Leute für die Ernte aufzutreiben - ist ihm, als wenn nun wirklich das Ende seines Marschierens ganz nahe wäre. Als könne er nun wirklich bald einmal das Kinn zurücknehmen, den Blick senken, den Fuß ruhen und sagen wie der Herrgott: Siehe da, es war alles sehr gut!

Jawohl, eine gute, fast eine Bombenernte stand auf den Feldern, eine Ernte, die diese Verhungerten in der Stadt sehr wohl hätten gebrauchen können, und er mußte alles stehenlassen, einem jungen, etwas verlotterten Bengel von Inspektor übergeben und in die Stadt fahren und um Leute flehen. Denn es war seltsam und völlig unverständlich: je größer das Elend in der Stadt wurde, je knapper dort das Brot und je mehr nur noch das Land wenigstens die auskömmliche Nahrung bot, um so mehr drängten die Leute in die Stadt. Es war wirklich wie mit den Motten, die von der tötenden Flamme gelockt werden!

Der Rittmeister lachte auf. Ja wahrhaftig, es sah wirklich so aus, als winke ihm ganz nahebei die himmlische Herrgottsruhe vom sechsten Schöpfungstage! Eine Fata Morgana, ein Oasenvorgespiegel, wenn der

Durst ganz schlimm wird!

Das Weibsbild, dem er gedankenlos ins Gesicht gelacht, gießt hinter ihm her einen ganzen Kübel, ein Jauchenfaß, ach was, eine ganze Jauchengrube unflätiger Schimpfereien aus. Der Rittmeister aber tritt in einen Laden, über dem, verdreckt und schief, ein Schild hängt: "Berliner Schnitter-Vermittlung".

2

Die Flamme steigt empor und sinkt, das Feuer, das eben noch brannte, ist erloschen - glücklich der Herd, der die Glut lange bewahrt! Funken laufen über die Asche, die Flamme sank zusammen, die Glut verglomm, aber noch ist Wärme da.

Wolfgang Pagel sitzt in seinem feldgrauen, schon arg verbrauchten Waffenrock am Tisch. Er hat die Hände auf die leere Wachstuchplatte gelegt. Nun deutet er mit dem Kopf zur Tür. Sein eines Auge zwinkert, er flüstert: "Pottmadamm hat's auch schon gewittert."

"Was?" fragt Petra, und: "Du sollst doch nicht zu Frau Thumann Pottmadamm sagen! Sie setzt uns noch raus."

"Bestimmt!" sagt er. "Heute gibt's schon kein Frühstück mehr. Sie hat's schon gewittert."

"Soll ich fragen, Wolf -?"

"I wo. Wer viel fragt, kriegt keinen Kaffee. Warten wir."

Er kippt den Stuhl zurück, wippt und fängt an zu pfeifen: Erhebt euch von der Erde, ihr Schläfer allzumal ...

Er ist ganz unbekümmert, ganz ohne Sorgen. Durch das Fenster - der Vorhang ist nun zurückgezogen - kommt etwas Sonne in die graue, öde Höhle, was man so in Berlin Sonne nennt, was die Dunstschicht dem Sonnenlicht noch gelassen ... Wie er hin und her schaukelt, leuchten einmal die breiten, leicht welligen Haarsträhnen auf, einmal das Gesicht mit den hellen, jetzt lustig funkelnden Augen, graugrünen.

Petra, die sich nur seinen abgeschabten Sommermantel übergezogen hat, einen noch aus der Vorkriegszeit - Petra sieht ihn an, sie wird es nie müde, ihn anzusehen, sie bewundert ihn. Sie fragt sich, wie er es fertigbringt, sich in einem Schüsselchen mit einem halben Liter Wasser zu waschen und doch auszusehen, als habe er sich eine Stunde lang in einer Wanne geschrubbt. Sie kommt sich alt und verbraucht gegen ihn vor, obwohl sie ein Jahr jünger ist als er.

Plötzlich hält er mit dem Pfeifen inne, er lauscht zur Tür: "Der Feind

naht. Gibt es Kaffee? Ich habe Kohldampf noch und noch."

(Sie möchte sagen, daß sie auch Kohldampf hat, schon seit Tagen, denn das bißchen Frühstück mit den zwei Semmeln ist seit vielen Tagen ihre einzige Nahrung - nein, sie möchte es nicht sagen!)

Der Schlurfeschritt auf dem Flur ist verhallt, die Etagentür klappt zu. "Siehst du, Peter! Pottmadamm ist bloß wieder mit dem Pott aufs Klo gegangen. Auch ein Zug der Zeit: alle Geschäfte werden auf Umwegen erledigt. Pottmadamm läuft mit ihrem Pott."

Er hat den Stuhl wieder zurückgekippt, er fängt wieder an zu pfeifen, unbekümmert, lustig.

Er täuscht sie nicht. Sie versteht lange nicht alles, was er erzählt, sie hört nicht einmal so genau darauf hin. Es ist der Klang seiner Stimme, die leiseste Schwingung, kaum ihm selbst bewußt, sie hört's doch: er ist nicht so lustig, wie er tut, nicht so unbekümmert, wie er sein möchte. Wenn er sich doch ausspräche - mit wem soll er sich denn aussprechen, wenn nicht mit ihr?! Vor ihr braucht er sich doch nicht zu schämen, sie braucht er doch nicht zu belügen, sie versteht alles von ihm - nein, nicht! Aber sie billigt alles, von vornherein und blindlings! Verzeiht es. Verzeiht? Unsinn! Es ist alles recht, und wenn es ihn jetzt überkäme, zu toben, sie zu schlagen - es wäre schon notwendig gewesen.

Petra Ledig(es gibt solche Namen, die ein Schicksal zu sein scheinen) war ein lediges Kind gewesen, ohne einen Vater. Später eine kleine Verkäuferin, von der nun verheirateten Mutter grade noch gelitten, solange sie ihr Monatsgehalt bis auf den letzten Pfennig als Kostgeld ablieferte. Aber es kam der Tag, da die Mutter sagte: "Mit dem Dreck beköstige dich selbst!" und nachrief: "Und wo du schlafen kannst, wirst du auch wissen!"

Petra Ledig(es ist anzunehmen, daß der anspruchsvolle Name Petra der einzige Beitrag ihres unbekannten Vaters für ihre Lebensausrüstung war) - Petra Ledig war kein unbeschriebenes Blatt mehr mit ihren zweiundzwanzig Jahren. Ihre Reife war in keine geruhsame Zeit gefallen, Krieg, Nachkrieg, Inflation. Sie wußte schon, was es hieß, wenn die Herren im Schuhgeschäft der Verkäuferin den Schuh so bedeutungsvoll gegen den Schoß drückten. Manchmal nickte sie, traf den und jenen am Abend, nach Geschäftsschluß; und sie steuerte ihr Schifflein ein ganzes Jahr recht mutig durch, ohne völlig zu sinken. Sie brachte es sogar fertig, eine gewisse Auswahl zu treffen, eine Auswahl, die nicht so sehr von ihrem Geschmack als von der Furcht vor Krankheit bestimmt war. Stieg der Dollar einmal ganz schlimm und entwertete sich alles für die Miete Zurückgelegte zu einem Nichts, so bummelte sie auch einmal durch die

Straßen, immer in Angst vor der "Sitte". Bei einem solchen Bummel hatte sie Wolfgang Pagel kennengelernt.

Wolfgang hatte seinen guten Abend gehabt. Er hatte ein wenig Geld, er hatte ein wenig getrunken. Dann war er immer vergnügt, zu tausenderlei Dingen aufgelegt. "Komm mit, kleine Dunkle, komm mit!" hatte er über die ganze Straße gerufen, und es hatte so etwas wie ein Wettrennen zwischen einem schnurrbärtigen Sittenpolizisten und ihr gegeben. Aber die Autotaxe, eine fürchterliche Karre, hatte sie doch entführt zu einem Abend, nett, aber doch eigentlich einem Abend wie alle solche Abende.

Dann war der Morgen gekommen, dieser graue, trostlose Morgen in dem Zimmer eines Absteigehotels, der immer so mutlos machte. Wo es einem wirklich einmal in den Kopf kommt zu fragen: Was soll das alles? Wozu lebst du?

Wie es sich gehörte, hatte sie sich noch schlafend gestellt, als der Herr sich eilig anzog, auch er recht leise, um sie nicht zu wecken. Denn Morgengespräche danach waren unbeliebt, unerquicklich, weil man entdeckte, daß man sich plötzlich nicht das geringste mehr zu sagen hatte, ja, meistens, daß man sich unausstehlich war. Sie hatte nur durch die Lider zu blinzeln, ob er ihr auch das Geld auf das Nachtkästchen legte. Nun, er hatte das Geld hingelegt. Es nahm alles seinen ordnungsgemäßen Verlauf, es war kein Wort von Wiedersehen gesagt worden, er war schon an der Tür.

Sie weiß nicht, wie es geschehen ist, was über sie gekommen ist, sie hat sich aufgesetzt im Bett und mit stockender Stimme leise gefragt: "Würdest du - würden Sie - ach, darf ich nicht mitkommen?"

Er hatte erst nicht verstanden, ganz verblüfft hatte er sich umgedreht. "Wie bitte -?!"

Dann hatte er gemeint, daß sie sich, neu in solcher Lage, vielleicht schämte, an Pensionsmutter und Portier vorbeizugehen. Er hatte sich bereit erklärt zu warten, wenn sie schnell machte. Aber, während sie sich hastig anzog, hatte es sich herausgestellt, daß es sich nicht um etwas so Einfaches, wie unbelästigt auf die Straße zu kommen, handelte. Das sei sie gewöhnt.(Sie war von der ersten Minute an völlig ehrlich zu ihm.) Nein, sie wollte ganz mit ihm mitkommen, überhaupt. Ob es denn nicht ginge? Oh, bitte, bitte!

Wer weiß, was er sich dachte. Plötzlich hatte er keine Eile mehr. Er stand in dem grauen Zimmer - es war grade die schreckliche Morgenstunde kurz vor fünf, die die Herren immer zum Weggehen wählen, weil sie dann die erste Elektrische in ihre Wohnung bekommen.

Sie können sich dann noch vor dem Büro frisch machen, und viele tun auch so, als hätten sie in ihren Betten gelegen, drehen sich schnell noch einmal darin um.

Er tippte mit den Fingern nachdenklich auf einen Tisch. Mit seinen hellen grünlichen Augen sah er sie überlegend unter der gesenkten Stirn hervor an. Sie erwarte doch wohl nicht, daß er Geld habe?

Nein. Sie habe nicht darüber nachgedacht. Es sei ihr auch gleich.

Er sei Fahnenjunker a. D., also ohne alle Bezüge. Ohne Stellung. Ohne festes Einkommen. Ja, eigentlich ohne Einkommen.

Ja, es sei recht, nicht darum habe sie gefragt.

Er erkundigte sich nicht, warum sie gefragt habe. Er fragte überhaupt nichts weiter. Später erst fiel ihr ein, daß er sehr viele Fragen hätte stellen können, sehr unangenehme. Etwa, ob sie mehr Männer schon so gebeten habe, ob sie ein Kind erwarte - tausend ekelhafte Dinge. Aber er stand nur da und sah sie an. Schon da war sie überzeugt, daß er ja sagen würde. Müßte. Es war etwas zu Geheimnisvolles, daß sie ihn hatte fragen müssen. Sie hatte nie vorher daran gedacht. Sie war auch - damals - nicht die Spur verliebt in ihn. Es war eine ganz gewöhnliche Nacht gewesen.

"Finden Sie, daß Konstanze sich richtig verhält?" hatte er den Titel eines damals vielgespielten Stückes zitiert. Zum erstenmal sah sie sein Zwinkern mit dem einen Auge, wenn er scherzte, und die Fältchen im Augenwinkel.

"Doch!" sagte sie.

"Na schön", sagte er gedehnt, "wo einer nicht satt wird, können zwei kaum verhungern. Also los! Bist du fertig?"

Es war ein seltsames Gefühl gewesen, neben ihm die Treppe hinabzusteigen, in einem ekligen Mietshause, neben einem Mann, zu dem man nun gehörte. Einmal, als sie über einen schlecht gelegten Läufer stolperte, hatte er "Hoppla!" gesagt, aber ganz gedankenlos, wahrscheinlich war er sich ihrer Nähe gar nicht recht bewußt.

Plötzlich blieb er dann stehen. Sie erinnerte sich genau. Sie waren unten angelangt, es war in der falschen Marmorpracht und dem gipsernen Stuck des Eingangs. "Übrigens heiße ich Wolfgang Pagel", sagte er mit einer leise angedeuteten Verbeugung.

"Sehr angenehm", antwortete sie, ganz wie es sich gehörte. "Petra Ledig."

"Ob es angenehm ist, wird sich weisen", hatte er gelacht. "Komm, Kleines. Ich werde dich Peter nennen. Petra ist mir einesteils zu biblisch,

andernteils zu steinig. Aber Ledig ist gut und kann so bleiben."

3

Als Wolfgang Pagel so zu ihr geredet hatte, war Petra noch viel zu erfüllt von dem Geschehenen gewesen, um groß auf seine Worte zu achten. Später lernte sie von ihm, daß der Name Petra soviel wie Fels bedeute und daß ihn zuerst jener Jünger Petrus getragen hatte, auf dem Christus wie auf einem Felsen seine Kirche bauen wollte.

Sie lernte überhaupt in dem einen Jahre gemeinsamen Zusammenlebens viel von Wolfgang. Nicht, daß er etwas Lehrhaftes gehabt hätte. Aber es war unvermeidlich, daß er in den langen Stunden ihres Beisammenseins - denn er war ja ohne rechte Beschäftigung - viel mit ihr sprach, bloß, weil sie nicht immer schweigend in ihrer Höhle beieinander hocken konnten. Und als Petra erst Zutrauen gewonnen hatte, fragte sie ihn oft etwas, bloß, um ihn vom Grübeln abzuhalten oder weil es ihr Spaß machte, ihn reden zu hören. So etwa: "Wolf, wie wird eigentlich Käse gemacht?" Oder: "Wolf, ist es wirklich wahr, daß ein Mann im Monde wohnt?"

Er lachte sie nie aus, auch wies er ihre Fragen nie zurück. Er antwortete ihr langsam, überlegend, ernst - denn auch mit seiner Wissenschaft aus der Kadettenanstalt sah es nicht berühmt aus. Und wußte er nicht Bescheid, so nahm er sie mit und ging mit ihr in eine der großen Bibliotheken und schlug und las nach. Sie saß dann ganz stille da, irgendein Büchlein vor sich, in dem sie doch nicht las, und sah feierlich-beklommen in den großen Raum, in dem die Leute so still saßen und sachte die Blätter umwandten, so still, als rührten sie sich im Schlaf. Es kam ihr immer wie ein Märchen vor, daß sie, eine kleine Verkäuferin, ein uneheliches Kind, das grade am Versacken gewesen war, nun in solche Häuser gehen durfte, in denen die gebildeten Menschen saßen, die sicher nie etwas erfahren hatten von all dem Schmutz, den sie so genau hatte kennenlernen müssen. Allein hätte sie sich nie hierhergewagt, obwohl ihr die - stumm geduldeten - Elendsgestalten an den Wänden bewiesen, daß hier nicht nur Weisheit gesucht wurde, sondern auch Wärme, Licht, Sauberkeit und eben das, was auch ihr aus den Büchern aufstieg: feierliche Ruhe.

Wußte dann Wolfgang genug, so gingen sie wieder hinaus, und er erzählte ihr, was er erkundet. Sie hörte ihm zu und vergaß es wieder oder behielt es auch, aber nicht das Richtige - doch darauf kam es auch gar nicht an. Worauf es ankam, das war, daß er sie so ernst nahm, daß

sie für ihn noch etwas anderes war als ein Leib, den er gerne mochte und der ihm guttat.

Manchmal, wenn sie irgend etwas ganz gedankenlos hingesagt hatte, konnte sie, von sich selbst überwältigt, ausrufen: "Ach, Wolf, ich bin so schrecklich dumm! Ich lerne und ich lerne auch gar nichts! Ich werde ewig dumm bleiben!"

Aber auch dann wieder lachte er nicht über solchen Ausruf, sondern ging freundlich ernst darauf ein und meinte, im Grunde sei es natürlich ganz egal, ob man wisse, wie Käse gemacht werde. Denn so gut wie der Käsmacher werde man es doch nie wissen. Dummheit sei, wie er glaube, etwas ganz anderes. Wenn man sich nämlich sein Leben nicht einzurichten wisse, wenn man nichts aus seinen Fehlern lerne, wenn man sich immer wieder unnötig über jeden Dreck ärgere und wisse doch ganz genau, in zwei Wochen sei er schon vergessen, wenn man mit seinen Mitmenschen nicht umgehen könne - ja, all dies, das scheine ihm rechte Dummheit. Ein wahres Musterbeispiel sei da seine Mutter, die, soviel sie auch gelesen und erfahren habe und so klug sie auch sei, ihn nun glücklich mit lauter Liebe und Besserwissen und Gängelei aus dem Hause getrieben habe, und er sei doch wirklich ein geduldiger, umgänglicher Mensch.(Sagte er.) Sie, Petra, dumm -? Nun, sie hätten sich noch nicht einmal gestritten, und wenn sie auch oft kein Geld gehabt hätten, schlechte Tage hätten sie darum doch nicht gehabt und grimmige Zornesmienen auch nicht. Dumm -?! Was Peter denn meine -?

Natürlich genau das, was Wolf auch meinte! Schlechte Tage? Grimmige Mienen? Sie hatten die allerherrlichste Zeit von der Welt miteinander gehabt, die schönste Zeit ihres ganzen Lebens - schöner konnte es nun überhaupt nicht mehr werden! Im Grunde war es ihr ja auch ganz egal, ob sie dumm oder ob sie nicht dumm war(klug kam trotz all seiner Erklärungen nicht in Frage), solange er sie nur gerne hatte und ernst nahm.

Schlechte Tage - wahrhaftig! Sie hatte es in ihrem Leben und vornehmlich im letzten Jahre gut genug gelernt, daß Tage ohne Geld wahrhaftig keine schlechten Tage zu sein brauchten. Genau in dieser Zeit, da alles täglich dem Dollarkurs entgegenfieberte, da fast aller Gedanken sich um Geld, Geld drehten, um Zahlen, um bedrucktes Papier, um mit immer mehr Nullen bedrucktes Papier - genau in dieser Zeit hatte dieses kleine, törichte Mädchen die Entdeckung gemacht, daß Geld gar nichts ist. Daß es unsinnig ist, sich um Geld - nämlich um das fehlende - auch nur eine Minute Gedanken zu machen - es war ganz gleichgültig!

(Nur heute morgen nicht, weil sie solch übel machenden Hunger hatte und weil doch um ein Uhr dreißig die Gebühren bezahlt werden mußten.)

Wie hätte sie, zitternd um das Auskommen des nächsten Tages, auch nur eine ruhige Glücksminute an der Seite des Fahnenjunkers a. D. Wolfgang Pagel leben können, der es nun schon ein reichliches Jahr fertiggebracht hatte, ihren ganzen Lebensunterhalt - bei dem kleinsten Betriebskapital von der Welt - Abend für Abend vom Spieltisch zu holen -? Abend für Abend, um elf herum, gab er ihr einen Kuß und sagte: "Also denn, Kleines!" und ging, während sie ihm nur lächelnd zunickte. Denn sie durfte kein Wort sagen, weil jedes Wort eine Unglück bringende Bedeutung haben konnte.

In der ersten Zeit, nachdem sie erfahren hatte, daß diese ewigen nächtlichen Wege kein "Fremdgehen" bedeuteten, sondern "Arbeit" für ihrer beider Auskommen, hatte sie aufgesessen bis drei, vier ... Um ihn dann ankommen zu sehen: bleich, mit nervösen Bewegungen, die Schläfen eingefallen, das Haar noch feucht, der Blick flackernd. Sie hatte seine fieberischen Berichte angehört, sein Triumphieren, wenn es gut gegangen war, seine Verzweiflung, wenn er verloren. Stumm hatte sie sein Schelten über die und jene Frau angehört, die ihm seinen Einsatz weggenommen, oder seine grübelnde Verwunderung, warum an diesem Abend grade Schwarz siebzehnmal hintereinander gekommen war und sie, die schon an der Schwelle des Reichtums gestanden, in die völlige Armut zurückgeschleudert hatte.

Sie verstand nichts vom Spiel, seinem Spiel, dem Roulett, soviel er ihr auch davon erzählte(er hatte ihr rundweg abgeschlagen, sie einmal "dorthin" mitzunehmen). Aber sie verstand sehr wohl, daß dies sein Zoll war, den er an ihr Leben zahlte, daß er darum so freundlich, so unbekümmert, so ruhig mit ihr sein konnte, weil er in den Stunden am Spieltisch all seine Kraft, all seine Verzweiflung über dies sein verblasenes, zielloses und doch so einmaliges Leben verströmen konnte.

Oh, sie verstand noch weit mehr! Sie verstand, daß er sich selbst täuschte, zum mindesten sich dann selbst täuschte, wenn er immer wieder leidenschaftlich versicherte, er sei kein Spieler ...

"Sage doch selbst, was kann ich Besseres tun!?! Soll ich als Buchhalter Zahlen in ein Buch kritzeln, um zu Ultimo ein Gehalt zu kriegen, mit dem wir verhungern? Soll ich Schuhe verkaufen, Artikelchen schreiben, Chauffeur werden? Peter, das Geheimnis ist: Habe wenig Bedürfnisse, und du hast Zeit für dein Leben. Drei, vier, ach, oft nur eine halbe Stunde am Roulett, und wir können eine Woche, einen Monat lang leben! Ich ein Spieler? Aber es ist eine Hundearbeit, ich würde lieber

Mauersteine tragen, statt dazustehen und zu warten und mich nicht fortreißen zu lassen, lockt das Glück einmal. Ich bin eiskalt und berechnend, du weißt, sie nennen mich den Pari-Panther. Sie hassen mich, sie ziehen schon saure Mienen, wenn sie mich nur sehen. Weil ich eben kein Spieler bin, weil sie wissen, es ist nichts bei mir zu holen, weil ich mir jeden Tag meinen kleinen Gewinn abhole und, habe ich ihn, Schluß mache, mich nie verleiten lasse, weiterzuspielen ..."

Und mit einer wunderbaren Inkonsequenz, indem er völlig vergaß, was er eben erst gesagt: Warte nur - laß mich erst einmal den großen Schlag tun! Eine wirkliche Summe, die sich lohnt! Dann sollst du sehen, was wir anfangen! Dann sollst du sehen, daß ich kein Spieler bin! Nie wieder gehe ich denen auf den Leim! Warum denn auch - es ist die gemeinste Viecherei, die es gibt - wer wird denn freiwillig zu so was hingehen, wenn er kein Spieler ist -?!"

Derweilen sah sie ihn heimkommen, nachtaus, nachtein, mit hohlen Schläfen, feuchtem Haar, glänzenden Augen.

"Beinahe war es soweit, Peter!" rief er.

Aber seine Taschen waren leer. Dann versetzte er alles, was sie hatten, behielt nur, was er auf dem Leibe trug(sie war in solchen Tagen zu Bettruhe verurteilt), ging fort, grade genug Geld in der Tasche, um das Minimum an Spielmarken kaufen zu können. Kam wieder, mit einem ganz kleinen Gewinn oder auch einmal - sehr selten - die Taschen gestopft voll Geld. Wenn alles zu Ende schien, das mußte sie zugeben, brachte er immer Geld, wenig oder viel, aber er brachte Geld.

Er hatte da irgendein "System" über das Rollen der Roulettkugel, ein System der Systemlosigkeit, ein System, das darauf aufgebaut war, daß die Kugel oft nicht das tat, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach hätte tun müssen. Er hatte ihr dies System hundertmal erklärt, aber da sie nie ein Roulett gesehen hatte, konnte sie sich von alldem, was er erzählte, kein rechtes Bild machen. Sie bezweifelte auch, daß er sich immer an sein eigenes System hielt.

Aber wie dem auch war, er hatte es noch stets geschafft. Längst brachte sie es - im Vertrauen darauf - fertig, sich ruhig schlafen zu legen, nicht auf sein Kommen zu warten. Ja, es war sogar besser, sich schlafend zu stellen, wenn sie zufällig einmal wach war. Denn kam er, heimkehrend vom Spiel, heiß vom Spiel, erst einmal ins Reden, gab es die Nacht keinen Schlaf.

"Wie de det nur aushältst, Mächen", konnte manchmal die Thumann, die Pottmadamm, kopfschütteln. "Imma alle Nächte wech und imma alle eure Pinke in de Tasche! Und es soll ja da von Edelnutten nur so

wimmeln! Ick ließe meinen nich!"

"Aber Sie lassen Ihren doch auch auf den Bau, Frau Thumann! Eine Leiter kann auch mal abrutschen oder ein Brett durchknacken. Und Nutten gibt es überall."

"Gott, verred es nur mit meinem Willem, wo se jrade in't fünfte Stock mauern! Wo ick mir so schon ängstje! Aba es is doch ein Schiedunta, Mächen! Bauen muß sein, aber Spielen muß nich sein."

"Wenn er's doch aber braucht, Frau Thumann!"

"Braucht, braucht! Ick hör imma braucht! Meiner erzählt mir ooch imma ville, wat er braucht. Skat und 'ne Zigarre und Molle kräftig und womöglich noch kleene Mächen(aber det erzählt er mir nich!). Aber ick sare ihm: Wat du brauchen tust, is een festet Kommando und freitags die Lohntüte vorm Baubüro in meine Hand! Det brauchste! - Du bist ebent zu jut, Mächen. Aber jut kommt von schwach, und wenn ick dir so ansehe, morjens, wenn ick euch den Kaffee hinserviere, und ick sehe, wie du ihm die Oogen zurollst, bloß, er merkt es jar nich, denn weeß ick ooch, wie dies ausjeht. Spielen als Arbeit - wenn ick det bloß höre! Spielen is nich arbeeten und arbeeten is nich spielen. Und wenn du es wirklich jut mit ihm meinst, Mächen, nimmst de ihm det Jeld wech, und er geht mit Willem uffn Bau. Steine tragen wird er ja wohl noch können."

"Gott, Frau Thumann, nun reden Sie ja schon genau wie seine Mutter! Die meinte auch, ich sei zu gut und unterstütze ihn noch in seinem Laster, und hat mir deswegen sogar eine Knallschote gegeben."

"Knallschote is ooch wieda nich richtig! Denn bist du die Schwiejatochta? Nee, du machst es gewissermaßen nur zu deinem Vajniejen, und wenn es dir zu dumm wird, denn türmste. Nee, Knallschote war ooch nich fein, auf Knallschote kannste sojar klagen!"

"Aber es hat ja gar nicht weh getan, Frau Thumann. Solche Fingerchen, wie seine Mutter hat. Da war meine Mutter anders. Und überhaupt ..."

4

Es teilt eine Holzbarriere den Raum der Berliner Schnitter-Vermittlung in zwei Hälften, zwei sehr ungleiche Hälften. Der vordere Teil, in dem jetzt der Rittmeister von Prackwitz steht, ist ganz klein, und die Eingangstür schlägt auch noch hinein. Prackwitz kann sich kaum rühren.

Die hintere, größere Hälfte hat ein kleiner, fetter, schwärzlicher Mann inne - der Rittmeister kann nicht genau sagen, wirkt der Mann so schwärzlich wegen seines dunklen Haarwuchses oder wegen

Unsauberkeit? Der schwärzliche Fette im dunklen Tuchanzug redet heftig, wild gestikulierend, mit drei Männern in Manchesteranzügen, die graue Hüte auf dem Kopf und Zigarren im Mundwinkel haben. Die Männer antworten ebenso heftig, und obwohl sie nicht laut reden, wirkt es doch wie Geschrei.

Der Rittmeister versteht kein Wort, natürlich sprechen sie polnisch. Wenn der Neuloher Gutspächter auch jedes Jahr ein halbes Hundert Polen beschäftigt, Polnisch hat er darum doch, von ein paar Kommandos abgesehen, nicht gelernt.

"Ich gebe dir zu", konnte er zu Eva, seiner Frau, sagen, die Polnisch radebrechte, "ich gebe dir zu, daß ich es schon aus praktischen Erwägungen lernen müßte. Trotzdem, ich weigere mich, für heute und immer, diese Sprache zu lernen. Ich lehne das ab. Wir sitzen hier zu nahe der Grenze. Polnisch lernen - ah bah!"

"Aber die Leute machen die unverschämtesten Bemerkungen dir grade ins Gesicht, Achim!"

"Nun - und? Soll ich Polnisch lernen, damit ich ihre Unverschämtheiten auch noch verstehe -?! Ich denke gar nicht daran!" Was also diese vier da im Winkel so heftig verhandelten, verstand der Rittmeister nicht, es interessierte ihn auch nicht. Aber er war kein sehr geduldiger Warter; was getan werden mußte, sollte rasch getan werden. Er wollte mittags nach Neulohe zurück, mit fünfzig oder sechzig Leuten, eine Bombenernte stand draußen auf den Feldern, und die Sonne schien, daß er das Prasseln des Weizens im Ohr zu hören meinte. - "Kundschaft! Wirtschaft!" rief der Rittmeister.

Die redeten weiter, es sah genau so aus, als stritten sie auf Leben und Tod, gleich würden sie sich wohl an die Hälse gehen.

"He! Sie da!" rief der Rittmeister scharf. "Guten Tag hab ich gesagt".(Er hatte nicht guten Tag gesagt.) Grade die richtige Gesellschaft! Vor acht Jahren noch, ach, vor fünf Jahren noch hatte das vor ihm gewinselt und sklavisch versucht, ihm die Hand zu küssen -! Verdammte Zeiten, verfluchte Stadt - wartet nur! Wenn ich euch erst draußen habe!

"Herhören, ihr da!" schrie er mit seiner schärfsten Kommandostimme und schlug mit der Faust auf die Barre.

Jawohl - und wie sie herhörten! Diese Art Stimme kannten sie! Für diese Generation bedeutete solche Stimme noch etwas, der Klang rief Erinnerungen wach. Sofort hatten sie aufgehört mit Reden. Innerlich lächelte der Rittmeister. Jawohl, das alte Ruck-Zuck, es tat doch und noch immer seine Wirkung - bei solchen Verlotterten am meisten. Fuhr

ihnen vermutlich wie eine Vorposaune des Jüngsten Gerichts ins liederliche Gebein! Hatten eben immer ein schlechtes Gewissen.

"Ich brauche Schnitter!" sagte er zu dem dicken Schwärzlichen. "Fünfzig bis sechzig. Zwanzig Männer, zwanzig Frauen, der Rest Mädchen und Burschen."

"Jawohl, Panje", verbeugte sich der Dicke, höflich grinsend.

"Ein tüchtiger Vorschnitter - muß Kaution im Werte von zwanzig Zentner Roggen stellen können. Die Frau hat für Frauenlohn die Leute zu bekochen."

"Jawohl, Panje", grinste der andere.

"Hinreisegeld und Ihre Provision zahle ich; bleiben die Leute bis nach der Rübenernte, wird ihnen das Reisegeld nicht abgezogen. Sonst ..."

"Jawohl, jawohl, Panje ..."

"So - und nun ein bißchen dalli! Um zwölf Uhr dreißig geht der Zug. Dalli! Printgo! Verstehen?" Der Rittmeister nickte, eine Last vom Herzen, sogar den drei Gestalten im Hintergrund zu. "Machen Sie jetzt die Verträge fertig. In einer halben Stunde bin ich wieder hier. Will nur mal frühstücken."

"Jawohl, Panje!"

"Dann wäre also alles in Ordnung?" sagte der Rittmeister abschließend. Irgend etwas in der Haltung des andern machte ihn doch stutzig, das ergebene Lächeln erschien ihm plötzlich nicht so ergeben, mehr hinterhältig. "Alles in Ordnung - oder -?"

"Alles in Ordnung!" beruhigte der Dicke, mit einem raschen Aufleuchten des Blicks zu den andern. "Alles nach den Befehlen vom Panje. Fünfzig Leut - gut, sind sie da! Eisenbahn - zwölf Uhr dreißig - gut, fährt sie ab! Ordentlich, pünktlich, nach Befehl - aber ohne Leut!" Er grinste.

"Was?!" schrie der Rittmeister fast und verzog sein Gesicht zu tausend Falten. "Was sagen Sie da? Reden Sie deutsch, Mann! Wieso ohne Leute -?!"

"Und der Herr, der doch so gut kann befehlen, wird er auch befehlen, woher ich nehme die Leut? Fünfzig Leut - gutt, gutt, find sie, mach sie, schnell, fix, printgo, was?!"

Jetzt sah der Rittmeister sich den Mann doch genauer an. Seine erste Verblüffung war vorüber, auch schon der erste Zorn, da er merkte, er sollte gereizt werden. Der kann ganz gut Deutsch, dachte er, da der andere immer grotesker, überstürzter redete. Der will bloß nicht.

"Und die dahinten?" fragte er und zeigte auf die drei im Manchester, denen die Zigarre noch immer wie erloschen im Mundwinkel hing. "Sie sind doch Vorschnitter? Kommen Sie doch zu mir! Neue Schnitterkaserne, anständige Betten, keine Wanzenfallen."

Einen Augenblick lang kam es ihm jämmerlich vor, daß er sich so anpries. Aber es ging um die Ernte, eines Tages, eines sehr nahen Tages konnte es Regen geben. Ja, es war heute eigentlich schon hier in Berlin wie Gewitter in der Luft. Auf den dicken Schwärzlichen war nicht mehr zu rechnen, mit dem hatte er es verdorben, wohl durch seine Befehlsstimme. "Nun, wie ist es?" fragte er ermunternd.

Die drei standen bewegungslos, als hätten sie kein Wort gehört. Es waren Vorschnitter, der Rittmeister war seiner Sache sicher. Er kannte diese vorgestoßenen Kinnladen, diese entschlossenen, etwas wilden und doch trüben Blicke der Antreiber von Beruf.

Der Schwärzliche stand grinsend da, er sah den Rittmeister von der Seite an, sah überhaupt nicht nach den Leuten hin, so sicher war er seiner Sache.(Da ist die Straße und der Punkt, auf den ich sehe. Ich muß entlang!) Laut: "Gute Arbeit -guter Lohn, guter Akkord - gutes Deputat! Wie ist es -?" Sie hörten nichts. "Und für den Vorschnitter dreißig, ich sage, dreißig gute, echte Papierdollars in die Hand!"

"Ich vermittle die Leute!" schrie der Schwärzliche.

Aber schon zu spät. Die Vorschnitter standen an der Barriere.

"Nimm meine, Panje! Leute wie Ochsen, stark, fromm ..."

"Nein, nicht die vom Josef. Alles faule Gauner, früh nicht aus den Betten, bei Maruschka stark, bei Arbeit schlapp ..."

"Was redest du, Panje, mit Jablonski?! Ist grade gekommen aus Kittchen, hat mit Messer gestochen Panje Inspektor ..."

"Psia krew, pierunna -!"

Der eine auf den andern, polnischer Wortsturz - soll es auch hier eine Messerstecherei geben? Der Dicke dazwischen, ununterbrochen redend, gestikulierend, schreiend, zurückdrängend, auch den Rittmeister anfunkelnd - während sich der dritte unvermerkt an den Rittmeister heranpirscht.

"Gute Papierdollar, wie, was? Dreißig? Bei Abfahrt in die Hand? Sei der Herr um zwölf auf dem Schlesischen, ich auch da, mit Leute. Nichts sagen! Schnell weggehen! Schlechte Leute hier!"

Und schon ist er wieder bei den andern, die Stimmen schreien, vier Gestalten wanken hin und her, sich zerrend ...

Der Rittmeister ist froh, die Tür nah und unverstellt zu finden. Er tritt erlöst zurück auf die Straße.

5

Wolfgang Pagel sitzt noch immer am Wachstuchtisch seiner Höhle, wippt mit dem Stuhl, flötet gedankenlos sein ganzes Repertoire an Soldatenliedern und wartet auf den Thumannschen Emaillekaffeepott.

Seine Mutter unterdessen, in der wohleingerichteten Wohnung an der Tannenstraße, sitzt vor einem schönen, dunklen Renaissancetisch. Auf einer gelblichen Klöppelspitzendecke steht ein silbernes Kaffeegeschirr, frische Butter, Honig, echt englische Jams - es ist alles da. Nur vor dem zweiten Gedeck sitzt noch niemand. Frau Pagel sieht auf den Platz, die Uhr. Dann greift sie zur Serviette, zieht sie aus dem Silberring und sagt: "Minna, ich fange an."

Minna, das ältliche, gelbliche, verstaubte Wesen an der Tür, seit über zwanzig Jahren bei Frau Pagel, nickt mit dem Kopf, sieht auch auf die Uhr und sagt: "Gewiß doch. Wer nicht kommt zur rechten Zeit ..."

"Er weiß, wann unsere Frühstückszeit ist ..."

"Gewiß doch - das kann der junge Herr ja gar nicht vergessen!"

Die alte Dame mit dem energischen Gesicht, dem klaren, blauen Auge, der das Alter nichts von ihrer straffen Haltung, nichts von ihren festen Grundsätzen hat nehmen können, sagt nach einer Pause: "Ich dachte eigentlich, ich würde ihn heute zum Frühstück sehen."

Minna hat seit jenem Streit, an dessen Ende die am wenigsten beteiligte Petra eine Ohrfeige bekam, tagtäglich das Gedeck für den einzigen Sohn auflegen müssen, tagtäglich hat sie es unbenützt wieder forträumen müssen, und tagtäglich hat die Gnädige diese Erwartung ausgesprochen. Aber Minna hat auch gesehen, daß die tägliche Enttäuschung der alten Dame nichts von der Sicherheit genommen hat, mit der sie den Sohn immer neu erwartet(ohne ihm einen Schritt entgegen zu tun). Minna weiß längst, alles Reden hilft nichts, also schweigt Minna.

Frau Pagel schlägt ihr Ei an. "Nun, er kann noch im Lauf des Tages kommen, Minna. Was haben wir heute zum Essen?"

Minna berichtet, und die gnädige Frau ist zufrieden: alles Dinge, die er mag.

Jedenfalls wird er nun sehr bald kommen. Einmal muß er mit dieser verdammten Spielerei scheitern. Ein Ende mit Schrecken ...

Nun, von mir soll er kein Wort des Vorwurfs hören ...

Minna weiß es besser, aber das muß sie ja nicht sagen, also schweigt sie. Doch Frau Pagel ist auch nicht ohne Verstand und nicht ohne Witterung. Sie dreht den Kopf scharf zu der alten Getreuen unter der Tür und fragt: "Sie hatten ja gestern Ihren freien Nachmittag, Minna. Sie waren wohl wieder - da -?"

"Wohin soll ein alter Mensch gehen?" versetzt Minna mürrisch. "Er ist doch auch wie mein Junge!"

Die gnädige Frau schlägt ärgerlich mit dem Löffel gegen die Tasse. "Er ist ein ganz dummer Junge, Minna!" sagt sie scharf.

"Jugend hat keine Tugend", antwortet Minna völlig ungerührt. "Wenn ich bedenke, gnädige Frau, was ich für Dummheiten in meiner Jugend gemacht habe -!"

"Was haben Sie denn für Dummheiten gemacht, Minna?!" ruft die Gnädige empört. "Gar keine haben Sie gemacht! Nein, wenn Sie von Dummheiten reden, dann meinen Sie natürlich bloß mich - und das verbitte ich mir, Minna!"

Minna schweigt darauf. Aber ist man mit sich unzufrieden, kann auch das Schweigen des andern Öl ins Feuer sein - grade das Schweigen.

"Natürlich hätte ich ihr keine Ohrfeige geben sollen", fährt Frau Pagel noch hitziger fort. "Sie ist nur ein kleines, dummes Mädchen, und sie liebt ihn. Ich will nicht sagen, wie ein Hund seinen Herrn liebt, trotzdem sie genau das tut, jawohl, Minna, schütteln Sie nicht mit dem Kopf, genau das "...(Frau Pagel hat sich nicht nach Minna umgedreht, aber Minna hat wirklich mit dem Kopf geschüttelt.) "... sie liebt ihn, wie Frauen einen Mann eben nicht lieben sollten!"

Frau Pagel starrt wütend ihr Brot mit Jam an. Aus einer naheliegenden Erwägung heraus steckt sie den Löffel in die Jamdose und macht den Aufstrich fingerdick. "Sich opfern!" sagt sie empört. "Das glaub ich! Das möchten alle! Weil's bequem ist, weil's dann keinen Ärger gibt! Aber Unangenehmes sagen: ›Wolfgang, mein Sohn, mit der Spielerei ist es aus, keinen Pfennig kriegst du mehr von mir‹, ihm so was zu sagen, das wäre rechte Liebe ..."

"Aber, gnädige Frau", sagt Minna recht nölig, "die Kleine hat ja gar kein Geld, das sie ihm geben kann, und ihr Sohn ist er doch auch nicht ..."

"Da!" ruft Frau Pagel zornentbrannt. "Da!! Machen Sie, daß Sie rauskommen, Sie undankbare Person, Sie! Mein ganzes Frühstück haben Sie mir verdorben mit Ihrem ewigen Besserwissen und Widersprechen! - Minna! Wo laufen Sie denn hin? Decken Sie auf der Stelle ab! Denken

Sie, ich kann noch essen, wenn Sie mich so ärgern?! Sie wissen doch, wie empfindlich ich mit meiner Galle bin! - Ja, den Kaffee auch weg. Ich werde jetzt noch Kaffee trinken - ich bin schon aufgeregt genug! Für Sie mag dies Mädchen meinethalben auch sein wie eine Tochter; ich bin altmodisch, ich glaube nicht daran, daß man seelisch sauber sein kann, wenn man vor der Ehe ..."

"Sie haben grad gesagt "..., meint Minna, ganz ungerührt von dem Ausbruch. Denn solche Ausbrüche sind tägliche Kost für sie, und die Gnädige ist ebenso schnell friedlich, wie sie wütend wird ... "Sie haben grade gesagt, wenn man jemanden gerne hat, sagt man ihm auch mal was Unangenehmes. Da durfte ich Ihnen auch sagen, daß der Wolf nicht der Sohn von der Petra ist!"

Und damit entschreitet Minna, das klirrende Tablett in den Händen, und zum Zeichen, daß sie nun erst einmal Ruhe "in ihrer Küche" haben will, schlägt sie die Tür fest zu.

Frau Pagel versteht das auch, und sie respektiert dies altgewohnte Zeichen der Getreuen. Sie ruft nur noch schnell hinterdrein: "Schafskopf! Immer gleich beleidigt! Immer gleich wütend!" Sie lacht vor sich hin, ihr Zorn ist verflogen. So eine alte Eule, bildet sich jetzt ein, Liebe besteht darin, dem andern Unangenehmes zu sagen!

Sie geht einmal im Zimmer hin und her, sie ist satt, denn der Zornausbruch kam erst, als sie schon genug gegessen hatte, und sie ist bester Stimmung, denn der kleine Streit hat sie erfrischt. Jetzt bleibt sie vor einem Schränkchen stehen, wählt bedachtsam eine lange, schwarze Brasil, brennt sie lange und sorgfältig an und geht dann hinüber in ihres Mannes Zimmer.

6

An der Wohnungstür über dem bronzenen Klingelring(Löwenmaul) hängt ein angeschlagenes Namensschild aus Porzellan: "Edmund Pagel - Gesandtschaftsattaché". Frau Pagel marschiert bereits auf die Siebzig zu, es sieht danach nicht so aus, als hätte es ihr Mann im Leben sehr weit gebracht. Betagte Gesandtschaftsattachés sind ein rarer Artikel.

Übrigens hatte es Edmund Pagel so weit gebracht, wie es der tüchtigste Botschaftsrat und bevollmächtigte Gesandte nur bringen kann - nämlich auf den Friedhof. Wenn Frau Pagel in ihres Mannes Zimmer geht, so besucht sie nicht ihn, sondern was von ihm auf dieser Welt zurückblieb - und das hat seinen Ruf in der Welt, weit über die Wände des kleinen Heims hinaus.

Frau Pagel stößt die Fenster des Zimmers weit auf: Licht und Luft dringen aus Gärten herein. Hier in dieser kleinen Straße, so nahe dem Verkehr, daß man abends die Hochbahn in den Bahnhof Nollendorfplatz einfahren und tags wie nachts die Autobusse rumpeln hört - hier ist ein weitläufiges Ineinandergeschiebe alter Gärten mit hohen Bäumen, verschollener Gärten, die sich seit den achtziger, neunziger Jahren kaum geändert haben. Es ist gut, hier zu wohnen - für alternde Leute. Die Hochbahn mag donnern und der Dollar klettern - geruhig schaut die verwitwete Frau Pagel in die Gärten. Das Weinlaub ist emporgestiegen bis zu ihren Fenstern, drunten wächst alles immer weiter, blüht weiter, sät sich aus - die Rasenden, Hastigen, Ruhelosen drüben mit ihrem Gepolter und Betrieb wissen es nur nicht. Sie kann zuschauen und sich erinnern, sie braucht nicht zu hetzen, der Garten darf sie erinnern. Aber daß sie hier immer noch wohnen kann, daß sie nicht mit zu hasten braucht - das hat er gemacht, dessen Werk hier in diesem Zimmer ist.

Vor fünfundvierzig Jahren sahen sie sich zum erstenmal, liebten sich, heirateten sich später. Es gab nichts Strahlenderes, Fröhlicheres, Rascheres als ihn. Wenn sie zurückdenkt, ist ihr immer, als sei sie mit ihm bei hellem Wind durch Blütenstraßen gelaufen. Von den Mauern senkten sich die Zweige auf sie. Sie liefen schneller. Über der Spitze des häuserbestandenen Hügels wehte - zwischen zwei Zypressen - der Himmel wie ein Zelt ...

Wenn sie nur liefen, gleich würde sich der blauseidene Vorhang vor ihnen öffnen.

Ja, was so recht seines Wesens Zeichen war, das war seine Schnelle, die nichts von Hast hatte, die aus der Kraft kam, dem Wohlgefühl, der völligen Gesundheit.

Sie kamen zu einer Wiese mit Herbstzeitlosen. Einen Augenblick hielten sie still auf dem festlichen, grünen, lilagestirnten Teppich. Dann bückte sie sich zum Pflücken - doch sie hatte kaum zwanzig Blüten in der Hand, da kam er mit dem Strauß, leicht, rasch, ohne Eile, mit dem großen, fröhlichen Strauß.

"Wie machst du das?" fragte sie atemlos.

"Ich weiß nicht", sagte er. "Es ist mir immer, als sei ich ganz leicht, wehe mit dem Wind."

Der Vorhang rauscht. Ein halbes Jahr ist vorbei, sie sind nun schon eine Weile verheiratet, die junge Frau hört in ihrem Schlaf einen klagenden Ruf. Sie wacht auf. Ihr junger Mann sitzt im Bett, er sieht völlig verändert aus, dies Gesicht kennt sie noch nicht.

"Bist du es -?" fragt sie so leise, als fürchte sie, durch ihre Worte könne der Traum Wahrheit werden.

Der fremdvertraute Mann neben ihr versucht zu lächeln, ein verlegenes, um Verzeihung bittendes Lächeln. "Entschuldige, wenn ich dich gestört habe. Es ist so seltsam, ich verstehe es nicht. Mir ist wirklich angst". Und nach einer langen Pause, während er sie zweifelnd ansieht: "Ich kann nicht aufstehen ..."

"Du kannst nicht aufstehen?" fragt sie ungläubig. Es ist so unwirklich, ein Scherz, Unsinn von ihm, schlechter Unsinn natürlich. So etwas gibt es ja gar nicht, daß man plötzlich nicht aufstehen kann.

"Ja", sagt er langsam und scheint es auch nicht zu glauben. "Mir ist so, als hätte ich keine Beine mehr. Jedenfalls fühle ich sie nicht mehr."

"Unsinn!" ruft sie und springt auf. "Du hast dich erkältet, oder sie sind dir eingeschlafen. Warte nur, ich helfe dir ..."

Aber noch während sie dies sagt, noch während sie um die Betten zu ihm geht, dringt ein eisiges Gefühl in sie ... Noch während sie spricht, fühlt sie: Es ist wahr, es ist wahr, es ist wahr ...

Fühlt sie -? Noch die alte Frau am Fenster macht eine wütende Schulterbewegung. Wie kann sie das Unmögliche fühlen?! Der Schnellste, der Fröhlichste, der Lebendigste - und nicht gehen können, nicht einmal stehen können! Unmöglich, das zu fühlen.

Aber die Eiseskälte bleibt in ihr, es ist, als atme sie die Kälte mit der Lebensluft immer tiefer in sich ein. Das Herz will sich wehren, aber es wird auch schon kalt, der Eisespanzer legt sich enger darum.

"Edmund!" ruft sie beschwörend. "Wach auf! Steh auf!"

"Ich kann nicht", murmelt er.

Er konnte es wirklich nicht. So wie er an jenem Morgen im Bett gesessen, so saß er nun tagaus, tagein, Jahr um Jahr da - im Bett, im Rollstuhl, in einem Liegestuhl ... saß da, völlig gesund, ganz ohne Schmerzen, nur: er konnte nicht gehen. Das Leben, das so flammend begonnen, das hurtige, rasche, leuchtende Leben, das lachende Glücksleben, blaue Seidenzelte und Blüten - vorbei! Vorbei! Einmal und nicht wieder. Warum nicht wieder -? Keine Antwort. Ach, Herre, Herre, warum denn -? Wenn es aber sein mußte, warum dann so plötzlich -? Warum ohne alle Warnung, ohne Übergang -? Glücklich in den Schlaf geglitten - und elend erwacht, unermeßlich elend!

Oh, sie fand sich nicht damit ab, keinesfalls fand sie sich damit ab! Alle zwanzig Jahre, die dies dauerte, fand sie sich nicht darein. Als er schon längst jede Hoffnung aufgegeben hatte, schleppte sie ihn immer noch

von Arzt zu Arzt. An Meldungen von einer Wunderheilung, an einer Zeitungsnotiz entzündete sich ihr Hoffen. Nacheinander glaubte sie an Bäder, Bestrahlungen, Packungen, Massagen, Medikamente - wundertätige Heilige. Sie wollte daran glauben, sie tat es.

"Laß es doch", lächelte er. "Vielleicht ist es grade gut so."

"Das möchtest du!" rief sie zornig. "Dich darein finden - demütig, was?! Das wäre bequem! Demut mag für die Übermütigen, die Glücklichen gut sein, die einen Zügel brauchen. Ich halte es mit den Alten, die um ihr Glück mit den Göttern kämpften."

"Aber ich bin glücklich", sagte er freundlich.

Doch sie wollte dies Glück nicht. Sie verachtete es, es erfüllte sie mit Zorn. Sie hatte einen Gesandtschaftsattaché geheiratet, einen tätigen Mann, Mensch im Umgang mit Menschen, einen künftigen Botschafter. An der Tür aber hing ein Schild: "Edmund Pagel - Gesandtschaftsattaché" - und dabei blieb es! Sie ließ kein neues machen: "Pagel - Kunstmaler"? Nein, sie hatte keinen Farbenreiber und Kleckser geheiratet.

Ja, da saß er nun und malte. Er saß in seinem Rollstuhl und lächelte und pfiff und malte. Eine zornige Ungeduld erfüllte sie. Begriff er denn nicht, daß er sein Leben vertat mit diesen komischen Schildereien, über die alle nur lächelten -?

"Laß ihn doch, Mathilde", sagte die Verwandtschaft. "Für einen Kranken ist das sehr gut. Er hat doch seine Beschäftigung und Ablenkung."

Nein, sie ließ ihn nicht. Als sie ihn heiratete, war nicht von Malen die Rede gewesen. Ihr war nichts davon bekannt, daß er je einen Pinsel in der Hand gehabt hatte. Sie haßte das alles, schon den Geruch der Ölfarben. Sie stieß ständig gegen die Keilrahmen, die Staffelei war ihr immer im Wege. Sie fand sich nie mit ihr ab. In den Gastzimmern der Badeorte, auf den Böden der Mietswohnungen vergaß sie seine Bilder, die Kohlezeichnungen lagen herum, verkamen.

Manchmal, mitten aus einer Arbeit heraus, aus den Sorgen heraus, aus dem sehr engen Gefängnis ihres eigenen Ich heraus, konnte sie hochsehen und solch Bild an der Wand betrachten, als sähe sie es zum erstenmal. Irgend etwas wollte sie dann leise anrühren, als rege sich etwas im Schlaf - dem Erwachen zu. Halte ein! Halte doch ein! Es war sehr hell, ein Baum etwa, in der Sonne, in der Luft, gegen einen klaren Sommerhimmel. Halte doch ein! Aber der Baum schien sich zu heben, Wind wehte sachte, der Baum bewegte sich - flog er? Doch, die ganze Erde flog, die Sonne, Spiele von Licht und Luft, leise, eilig, zart - halte doch ein, grimmige, dunkle Erde!

Sie trat näher heran. Der Vorhang vor dem Geheimnisvollen wehte. Es war Leinwand, riechende Ölfarbe, Erdenstoff, fester, fester Erdenstoff. Aber Wirbel erklangen, Wind wehte, der Baum bewegte die Äste, das Leben floß, wehte - fliege, halte nicht ein, fliehe und fliege, wie wir armen Irdischen fliehen und fliegen. Umsonst hängen wir die Bleigewichte der Sorgen, der Hoffnungen, der Entwürfe an unsere Sohlen, uns der Stunde zu verhaften. Wir fliehen dahin, wir rinnen ins Meer ...

Von einem Gelähmten gemalt, erschaffen aus dem Nichts. Freilich von einem Manne, der Bewegung kannte und liebte, der jetzt nichts mehr ist als ein schwerfälliger Leib, den man aus dem Bett in den Stuhl wälzt - nein, halte nicht ein, wir fliehen, wir fliegen.

Ja, es rührt sich sachte in der betrachtenden Frau. Eine Ahnung will sie überkommen, als hätte sie hier ihren Mann unvergänglicher, strahlender, rascher als je zuvor - doch sie schüttelt es ab, sie sinkt wieder in Schlaf. Leinwand und Farbe, eine plane Fläche nach bestimmten Regeln bunt gemacht, nichts von Bewegung, nichts von dem Manne!

Weiter in die Bäder! Zu noch mehr Ärzten! Was sagt denn die Welt? Es hat zwei oder drei kleine Ausstellungen gegeben - man hörte nichts darüber, man sah nichts davon - nie wurde ein Bild verkauft. Gottlob, daß man das wenigstens nicht nötig hatte! Und wer sie dann und wann auf den ruhelosen Reisen durch die Heilstätten der Erde doch zu finden wußte: irgendein junger Mensch, schweigsam, ungelenk, düster, oder ein anderer, plötzlich in einen Wortstrom ausbrechend, mit fahrigen Bewegungen, eine neue Zeit kündend - der machte ihr nicht grade Mut, seine Schildereien wichtig zu nehmen!

"Komm, der Tag ist so schön, laß uns ausfahren!"

"Das Licht ist gut. Laß mich noch malen, eine Stunde."

"Ich weiß gar nicht mehr, wie es draußen ist. Ich komme um vor Lufthunger!"

"Gut, setze dich ans Fenster, mach es auf - ich wollte schon lange dich einmal malen ..."

So war er, freundlich, heiter, nie böse - aber nicht zu erschüttern. Sie redete, sie bat, wurde zornig, wieder gut, hinterhältig, um Verzeihung bittend - er war wie ein Feld, über das Wind, Gewitter, Sonnenschein, Nachtfrost, Regen dahingehen. Es nimmt alles auf, es scheint sich nicht zu ändern, am Ende ist eine Ernte da.

Ja, eine Ernte war da. Aber bis sie reifte, geschah noch etwas anderes, etwas, um das sie zwanzig Jahre gekämpft, gehadert, gerungen, gefleht

hatte: eines Tages stand er da! Er ging ein paar Schritte, zögernd zuerst, mit demselben ein wenig beklommenen, um Verzeihung bittenden Gesicht wie vor zwanzig Jahren. "Ich glaube wirklich, es geht!"

Wie sie gekommen, war die Krankheit geschwunden, unbegreiflich, warum. All ihr Eifer, all ihr Sorgen hatten diesem Fortgang nichts dazutun können; menschlichem Einwirken, ihrem Einwirken war dies alles entrückt - es war zum Verzweifeln!

Inzwischen war ein halbes Leben - und der bessere Lebensteil - verronnen. Sie stand Anfang der Vierzig, einen fünfundvierzigjährigen Gesandtschaftsattaché neben sich - verronnen, verwelkt, vorbei! Ein tätiges Leben, ein eiferndes Leben, ohne Rast, voller Pläne, voller Hoffnungen ... Nun sind die Hoffnungen erfüllt, und es bleibt nichts mehr zu hoffen. Alle Pläne, alle Sorgen sind gestaltlos geworden. Ein ganzes Leben zerrann zu Staub in dem Augenblick, da Edmund aufstand und ging!

Unbegreifliches Frauenherz: "Da steht dein Bild, Edmund. Du hast nur noch ein paar Striche zu tun - willst du nicht -?"

"Bilder, ja, Bilder "..., sagte er gedankenlos, sah es flüchtig an und ging hinaus, schon ganz draußen.

Nein, er hatte keine Zeit, eine halbe Stunde zu malen. Er hatte zwanzig Jahre Zeit gehabt, geduldig, ohne Klage krank zu sein, nun hatte er nicht eine Minute mehr Zeit! Das ganze Leben wartete draußen auf ihn, mit einem Wirbel von Festlichkeiten, eine strahlender als die andere, mit Hunderten von Menschen, mit denen es herrlich war zu reden - mit schönen Frauen, mit jungen Mädchen, die so betörend jung waren, daß es einen über den Rücken rieselte, sah man sie nur an ...

Und war er selbst etwa nicht jung -? Er war fünfundzwanzig; was dann gekommen war, zählte nicht, es war nur Warten gewesen. Er war jung, das Leben war jung, fasse, halte, koste die Frucht - halte ein, halte doch ein! Weiter ...

Malen -? Jawohl, ja, es hatte ihm geholfen, es war ein angenehmer Zeitvertreib gewesen. Jetzt brauchte nichts mehr die zähe, lastende Zeit zu vertreiben - funkelnd, aus tausend Augen strahlend, Millionen Lieder jauchzend, jagte der Strom dahin - mit ihm, noch mit ihm, endlich wieder mit ihm!

Manchmal, nachts, fuhr er auf, todmüde, kaum in den ersten, fieberischen Schlaf der Überwachen gesunken. Er stützte die glühende Schläfe in die heiße Hand. Er meinte die Zeit rauschen zu hören. Sie entrauschte. Er durfte nicht schlafen; wer durfte schlafen, da Zeit so

rasch floß -? Schlaf hieß Versäumnis. Und leise, leise, sie nicht zu wecken, stand er auf, ging in die Stadt, ging noch einmal in die Stadt, wo die Lichter brannten. Er saß an einem Tisch, er sah atemlos in die Gesichter. Dieses dort -? Oder du -? Oh, entrausche nicht - halte doch ein!

Sie ließ ihn gehen. Sie hörte ihn, aber sie ließ ihn gehen, tags wie nachts. Zu Anfang war sie mitgegangen, sie, deren Hoffnung nun erfüllt, deren Kampf noch siegreich geworden war. Sie sah ihn auf dem Gartenfest einer befreundeten Familie, auf einem Diner - untadelig gekleidet, schlank, rasch, fröhlich - mit grauem Haar, zwei messerscharfen, tiefen Falten von den Nasenflügeln über die Mundwinkel bis zum Kinn. Er tanzte, untadelig, mit einer Sicherheit, einer spielenden Vollendung - fünfundvierzig, sprach es in ihr. Er scherzte, plauderte, sprach - immer mit den Jüngsten, sah sie. Fast kam sie ein Schaudern an. War es nicht beinahe, als sei ein Toter lebendig geworden, als fordere ein Abgeschiedener Lebensspeise, in dessen Mund der Staub schon knirscht -? Halte doch ein! Das, was ihr eifersüchtiges, zorniges Herz am innigsten festgehalten, das, was ihr zwanzig Jahre hindurch Glücksbrot und Lebensspeise gewesen: die Erinnerung an ihre erste, festliche Zeit - zerging ihr nun. Sie konnte es nicht mehr halten.

Die Nacht steht wie eine Wand um sie, ein enges Gefängnis, ohne Ausweg. Die Uhr auf dem Nachttisch tickt nutzlose Zeit weg, die durchwartet werden muß. Die zitternde Hand läßt das Licht aufleuchten - und von den Wänden grüßen sie seine hellen, eiligen Bilder.

Sie blickt sie an, als sähe sie diese Bilder zum erstenmal. Sie ist wie die Welt draußen, die in dieser Zeit auch anfängt vor seinen Bildern stillezustehen, sie zu sehen. Plötzlich ist die Zeit dieser Bilder gekommen - aber für ihren Schöpfer ist die Zeit vorüber. Widerspiel, Widerpart, Unsinn der Zeit, Widersinn - da er sein Werk schuf, zwanzig Jahre, unablässig, geduldig, milde, war er der einzige, der es sah. Nun kommt die Welt, mit Briefen und Abbildungen, mit Kunsthändlern und Ausstellungen, mit Geld, mit goldenem Lorbeer - aber seine Zeit verrann, er hat sie ausgeschöpft, der Brunnen ist leer ...

"Ja, Bilder "..., sagt er und geht.

Die Frau, die sein Kind erwartet, liegt im Bett, und nun ist sie es, die auf die Bilder starrt. Nun ist sie es, die sein wahres Abbild in ihnen sieht. Seine Schnelle, seine Fröhlichkeit, sein milder Ernst - dahin! Dahin! Dahin -? Hier sind sie, gesteigert, mit einem Strahlenglanz, den die Ewigkeit dem Leben leiht.

Da ist eines, kurz vor seiner "Genesung" gemalt, das letzte

fertiggestellte, ehe er den Pinsel fortlegte. Er ließ sie sich an ein Fenster setzen, das Fenster war offen, sie saß starr und still da wie kaum je in ihrem tätigen Leben. Es ist ihr Bild, sie ist es, da sie noch bei ihm war, von ihm gemalt, als sie ihm noch etwas galt. Nichts weiter: eine junge Frau am Fenster, wartend, vielleicht wartend, draußen rauscht die Welt. Junge Frau am Fenster, sie - sein schönstes Bild!

Von ihm gemalt, da er noch bei dir war. Wo ist er jetzt? Der Morgen ist in der rauschenden Welt, strahlend, voller Sonnenglanz(aber dir wird die Sonne fahl), da sie den Mann heimtragen, beschmutzt, die klugen Hände gekrümmt, das Kinn schlaff, an der Schläfe ein Blutgerinnsel. Oh, sie sind sehr achtsam mit ihr, die Herren Polizisten und die Herren Kriminalisten, es ist in einer Straße geschehen, deren Name ihr natürlich nichts sagt. Ein Unglücksfall - ja, ein Fall. Schweig!

Fliehe dahin, Zeit, eile dich doch! Hier kommt der Sohn. Der Vater stieg auf als ein strahlendes Gestirn, leuchtete dann lange mild und erlosch jäh. Er ist erloschen, wir warten auf den Sohn!

Ein kleines Licht in der Nacht, ein Nichts, wärmeloses Feuer. Aber wir sind nicht so allein.

Die Frau im Fenster, die alte Frau, wendet sich um. Da ist das Bild. Jawohl, es ist alles richtig: Junge Frau am Fenster, wartend.

Die alte Frau legt den Rest ihrer Zigarre in den Aschenbecher.

Mir ist wirklich so, als könnte der dumme Junge heute kommen.

Zeit wird's!

7

Die Thumannsche, Eheliebste des Maurers Wilhelm Thumann, schwammig, wabblig, in fließenden Gewändern, mit einem schwammig-wabbligen Gesicht, in dem doch ein Zug säuerlicher Strenge vorherrscht - die Thumannsche schlurrt mit dem unvermeidlichen Pott über den Gang, zum Klo, abwärts, eine halbe Treppe tiefer, Klo von drei Parteien. Die Thumannsche, völlig bedenkenlos in der Beherbergung übelst beleumundeter Mädchen mit Anhang(zur Zeit bewohnt die rassige Ida vom Alex das Zimmer vis-à-vis von Pagels), ist voller sanitärer Bedenken, was das Klo anlangt:

"Da hamm se ja nu diese Baktzillen entdeckt, Liebecken. Sie hätten es können ja ooch sein lassen, aber wo se's nu mal jetan haben, und die feinsten Leute haben wir hier ooch nich, und manchmal, wenn ick uff den Klosett komme, ick denke doch, mir jeht die Puste wech, und wer

weeß, wat da allens drin rumwirbelt, und eenmal war ooch een schwarzer Käfer da, und er sah mir soo jefährlich an ... Nee, wie denn, wat denn, ick wer keene Wanzen kennen, keene Hausbienen! Mir dürfen Se doch so wat nich erzählen, Liebecken, wo ick und de Wanzen, wir sind doch zusammen jroß jeworden. Aber seitdem se die entdeckt haben, sare ick zu meinem Willem: Pott bleibt Pott, und: Gesundheit ist das halbe Leben! Willem, sare ick zu ihm, paß uff, wo de dir hinstellst. Die Biester springen dir an wie de Tiger, und eh de dir umsiehst, bringst de eene janze Mikrokosmetik int Haus! Aber wat soll ick Sie sagen, Liebecken, komisch is der Mensch ja doch injerichtet, seit ick mit dem Pott jehe, loof ick immerzu. Nich, daß ick mir beklage, nur: es ist wunderbar! Ick weeß, unser junger Herr, der de kleene, blasse Dunkle hat, sie is aber nich seine Frau, bloß, sie bildt sich ein, sie wird's, und manchen schmeckt ja so 'ne Inbildung wie uns Kuchen von Hilbrichen, der nennt mich imma Pottmadamm. Nur, sie verbietet's ihm, was ich wieder hochreell finde. Aber soll er's ruhig saren, von meinswejen! Denn warum sagt er es? Weil er seinen Jokus haben will! Und warum will er seinen Jokus haben? Weil er jung is! Denn wenn man jung is, jloobt man jar nischt, nich an de Pfaffen, was ick ooch nich tue, un nich an de Baktzillen. Aber wie kommt es? Wie ick mit 'em Pott, so loofen die nachher uff de Beratungsstelle, aber mit wat, det sare ick nich, weil wir's nämlich beede wissen, Liebecken, un manche nennen's ja ooch bloß 'en Schnuppen. Und da sind se, so dumm se sind, plötzlich klug geworden, und wat den Schnuppen anjeht, so möchten se plötzlich niesen können und einen haben, der ihnen Jesundheit sagt. Aber die is perdü, und darum loofe ick lieba mit 'em Pott ..."

Also diese Sorte Thumannsche, wabblig-schwabbelig, aber von zuviel Magensäure im Gesicht gezeichnet, schlurrt mit ihrem Pott den Gang entlang.

Die Tür zum Pagelschen Zimmer geht auf, und in ihr steht der junge Wolfgang Pagel, groß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, dem hellen, fröhlichen Gesicht, in seiner feldgrauen Litewka mit den schmalen, roten Streifen - es ist ein Stoff, der selbst jetzt, nach fünfjährigem Gebrauch, noch gut aussieht, sanftsilbrig glänzend wie manche Lindenblätter ...

"Guten Morgen, Frau Thumann", sagt er ganz vergnügt. "Wie ist es denn mit einem kleinen Palaver wegen Kaffee?"

"Sie! Sie!" sagt die Thumann entrüstet und schiebt mit halb abgewandtem Gesicht vorbei. "Sie sehen doch, ich bin beschäftigt!"

"Aber selbstverständlich, entschuldigen Sie bloß, Frau Thumann. Es

war ja nur 'ne eilige Anfrage wegen Kohldampf. Wir warten gerne. Es geht ja erst auf elfe."

"Verwarten Sie man nich bloß noch de Zwölfe", sagt die Thumann wie eine warnende Schicksalsgöttin in der Eingangstür, und der Topf schwankt in ihrer Hand. "Um zwölf kommt der neue Dollar, und wie der Olle im Jemüsekeller jesacht hat, wird er kräftig kommen, und Berlin macht sich wieder mal schwach. Denn können Se mir ohne Wimpernklimpern so an 'ne Million Mark mehr auf den Tisch des Hauses lejen. Und Kaffee ohne Jeld is überhaupt nich!"

Damit fällt die Tür hinter ihr zu, das Urteil ist gesprochen, und Wolfgang wendet sich zum Zimmer zurück und sagt nachdenklich-unentschlossen: "Eigentlich hat sie ja recht, Peter. Ehe ich sie wegen des Kaffees rumgeschmust habe, ist es sicher zwölf, und wenn der Dollar wirklich steigt - was meinst du?!"

Er wartet aber ihre Antwort nicht ab, sondern sagt halb verlegen: "Leg dich gemütlich ins Bett, ich trag die Sachen gleich zum Onkel. Und in zwanzig Minuten, spätestens in einer halben Stunde bin ich wieder hier, und wir frühstücken gemütlich Schrippen und Leberwurst - du im Bett und ich auf der Bettkante, was meinst du, Peter?"

"Ach, Wolfi", sagt sie schwach, und ihre Augen werden sehr groß. "Grade heute ..."

Obwohl sie heute morgen noch nicht einen Ton von dieser Sache gesprochen hatten, tat er doch nicht einen Augenblick so, als ob er sie nicht verstünde. Ein wenig schuldbewußt sagte er: "Ja, ich weiß, es ist dumm. Aber es ist wahrhaftig nicht meine Schuld. Oder fast nicht meine Schuld. Alles ging verquer heute nacht. Ich hatte schon ganz schön gewonnen, aber dann hatte ich plötzlich die wahnsinnige Idee, Null müsse gewinnen. Ich verstehe mich selbst nicht mehr ..."

Er hielt inne. Er sah den Spieltisch vor sich, weiter nichts als ein abgegriffenes, grünes Tuch, über den Eßzimmertisch eines gutbürgerlichen Zimmers gebreitet. In der Ecke stand klobig, mit Türmen, geschnitzten Rittern und Edeldamen, Knäufen und Löwenmäulern, das Büfett. Denn die Spielklubs, Spielhöllen jener Tage führten - auf der ständigen Flucht vor dem Spielerdezernat der Kripo - ein unstetes Dasein. Von einer Nacht zur andern - roch es sauer am alten Ort - mieteten sie bei irgendeinem verarmten Angestellten das Eßzimmer, den Salon. "Nur für die paar Nachtstunden - da brauchen Sie es ja doch nicht. Und Sie liegen im Bett und schlafen; was wir tun, geht Sie nichts an!"

So kam es, daß bei jenem Oberbuchhalter, bei diesem

Abteilungsvorsteher das Vorkriegszimmer, das Schwiegermutter noch ausgesucht hatte, Versammlungsort von Smokings und Jackettanzügen, Blusen und Abendkleidern wurde - ab nachts elf Uhr. In der stillen, geruhig-anständigen Straße trieben Schlepper und Spanner ihr Unwesen, sie holten das Publikum zusammen, auf das es ankam: Provinzonkels, angesäuselte Herren, unentschlossen, wohin nun; Börsenjobber, die von dem täglichen Valutataumel noch nicht genug hatten. Der Portier hatte sein Geld und schlief fest, die Haustür mochte gehen, sooft sie wollte. In der nüchternen Flurgarderobe mit den angegrünten Messinghaken stand ein Tischchen mit dem großen Spielmarkenkasten, den ein bärtiger, traurig aussehender Hüne vom Wachtmeistertyp verwaltete. An der Tür des WC hing ein Pappschild "Hier!". Es wurde nur geflüstert, jeder hatte ein Interesse, daß niemand im Haus "etwas" merkte. Es gab auch nichts zu trinken. Betrunkene konnte man wegen etwaigen Lärms nicht gebrauchen. Es gab nur das Spiel, Rausch genug.

So still war es, daß man schon vom Vorplatz das Schnurren der Kugel hörte. Hinter dem Croupier standen zwei Männer in Jackettanzügen, jederzeit bereit, einzugreifen und jeden Streit durch die gefürchtete Verweisung auf die Straße, durch Ausschluß vom Spiel zu schlichten. Der Croupier trägt Frack. Aber sie sehen sich alle drei ähnlich, er und seine beiden hinter ihm stehenden Helfershelfer, diese drei Männer, ob mager oder fett, dunkel oder hell. Alle haben kalte, rasche Augen, krumme, böse Nasen wie Habichtschnäbel, dünne Lippen. Sie sprechen kaum miteinander, sie verständigen sich durch Blicke, allenfalls ein Deuten mit der Schulter. Sie sind böse, gierig, kalt - Abenteurer, Raubritter, Beutelschneider, Zuchthäusler - wer weiß das! Man kann sich unmöglich vorstellen, daß sie ein Privatleben haben, eine Frau, Kinder, die ihnen die Hand geben und "guten Morgen" sagen. Man kann sich nicht ausmalen, wie sie sind, wenn sie mit sich allein sind, aus dem Bett aufstehen, sich beim Rasieren im Spiegel anschauen. Sie scheinen dafür bestimmt, hinter dem Spieltisch zu stehen, böse, gierig, kalt. Vor drei Jahren gab es sie noch nicht, und in einem Jahre wird es sie nicht mehr geben. Das Leben hat sie emporgespült, da sie gebraucht wurden; es trägt sie wieder mit sich fort, unfaßlich, wohin, wenn ihre Zeit vorüber ist, aber das Leben hat sie, das Leben hat alles, was gebraucht wird.

Um den Tisch sitzt eine Reihe Spieler, die Reichen, die Leute mit der dicken, schwellenden Brieftasche, die ausgenommen werden sollen, die Neulinge, die grünen Heringe. Daß sie stets einen Sitzplatz finden, dafür sorgen die drei schweigsamen, gesträubten Raubvögel schon. Hinter ihnen stehen in zwei, drei Reihen die andern Spieler, dicht aneinandergedrängt. Sie machen ihre Einsätze über die Schultern der

Vordermänner weg, unter den Armen durch, auf ein Fleckchen Spielfeld, das sie grade erspähen können. Oder sie reichen die Spielmarken, hoch über die Köpfe der andern fort, einem der drei Männer, mit einer gemurmelten Weisung.

Aber trotz dieser Unübersichtlichkeit, dieses Gedränges gibt es kaum je Streit, denn die Spieler sind viel zu versunken in das eigene Spiel, in das Rollen der Kugel, um auf die andern groß zu achten. Und zudem gibt es so viele Sorten verschiedenfarbiger Spielmarken, daß selbst bei stärkstem Andrang höchstens zwei, drei Spieler dieselbe Farbe spielen. Eng aneinandergedrängt stehen sie: schöne Frauen, gut aussehende Männer sind dabei. Sie lehnen sich aneinander, Hand berührt Brust, Hand streift seidige Hüfte: sie spüren nichts. Wie eine große Glut den Glanz des kleinen Feuers bleich macht und dunkel, hören die eng Gedrängten nur noch das Schnurren der Kugel, das Klappern der beinernen Jetons. Still steht die Welt, die Brust kann nicht atmen, die Zeit steht, während die Kugel läuft, klappert, läuft, in ein Loch lenkt, sich besinnt, weiterspringt, klappert ...

Da! Rot! Ungleich! Einundzwanzig! Und plötzlich atmet die Brust wieder, das Gesicht entspannt sich - ja, dies Mädchen ist schön ... "Der Einsatz, meine Damen und Herren! Der Einsatz! Der Einsatz! - Nichts mehr!" Und die Kugel läuft, schnurrt, klappert ... still steht die Welt ...

Wolfgang Pagel hat sich in die zweite Reihe der stehenden Spieler gedrängt. Weiter nach vorn kommt er nie, darauf achten die drei Raubvögel schon, die unzufriedene Blicke miteinander tauschen, sehen sie ihn nur eintreten. Er ist der allerunerwünschteste Spieler, er ist der Pari-Panther, der Mann, der vorsichtig spielend sich nicht hinreißen läßt; der Mann mit dem kleinsten Betriebskapital in der Tasche, das nicht einmal das Ansehen lohnt, geschweige denn das Wegnehmen; der Mann, der Abend für Abend mit dem festen Vorsatz kommt, der Bank grade so viel abzunehmen, daß er den nächsten Tag das Leben hat - und dem das meistens gelingt.

Es ist ganz unnütz für Pagel, den Klub zu wechseln(denn es gibt in diesen Tagen Spielklubs wie Sand am Meer, wie es überall Heroin und Koks gibt, Schnee; wie es überall Nackttänze, französischen Sekt und amerikanische Zigaretten gibt; wie es überall Grippe, Hunger, Verzweiflung, Unzucht, Verbrechen gibt). Nein, die Raubvögel am Kopfende des Tisches erkennen ihn immer gleich. Sie erkennen ihn an der Art des Eintretens, dem prüfenden Blick, der fremd alle Gesichter streift, um an dem Spielfeld haftenzubleiben. Sie erkennen ihn an seiner übertriebenen Ruhe, seiner gespielten Gleichgültigkeit, der Art seines

Setzens, an den langen Pausen, die er macht, die Sprünge der Chancen auszulassen, um eine Serie zu fassen: sie erkennen den gleichen Vogel im anderen Gefieder!

An diesem Abend war Wolfgang nervös. Zweimal hatten ihm die Schlepper die Haustür vor der Nase zugeschlossen, um den unerwünschten Spieler zu verscheuchen, bis es ihm gelang, sich mit einer Gesellschaft einzuschmuggeln. Der Mann mit dem traurigen Wachtmeistergesicht hatte getan, als höre er seine Bitte um Spielmarken nicht; Wolfgang hatte sich sehr zusammennehmen müssen, um nicht laut zu werden. Schließlich hatte er seine Jetons doch bekommen.

Im Spielraum hatte er sofort gesehen, daß eine gewisse Halbweltdame, von Kennern der Valutenvamp genannt, anwesend war. Er hatte schon einige Male an verschiedenen Orten mit diesem anspruchsvollen, lauten Mädchen Zusammenstöße gehabt, weil sie, in einer Pechsträhne und dem Ende ihrer Mittel nahe, unbedenklich über die Einsätze ihrer Mitspieler zu verfügen pflegte.

Am liebsten wäre er umgekehrt. Eine Spielmarke war ihm auf die Erde gefallen, was von unheilvoller Bedeutung war, denn es besagte, daß dieser Raum sein Geld zu behalten wünschte.(Es gab viele Vorzeichen solcher Art - bis auf eines oder zwei alle von schlimmer Vorbedeutung.)

Dann war er doch an den Tisch getreten, um zu spielen. Er konnte es immerhin - im Rahmen seiner Gewohnheiten - versuchen, da er nun einmal hier war. Wie alle Spieler war auch Wolfgang Pagel der unerschütterlichen Überzeugung, daß das, was er tat, gar kein richtiges Spiel war, daß es "nicht galt". Er glaubte fest daran, daß irgendwann einmal, blitzartig, in einer Sekunde, ihn das Gefühl überkommen würde: Jetzt ist deine Stunde! In dieser Stunde würde er wirklich Spieler sein, der Liebling des blinden Glücks. Die Kugel im Rade würde schnurren, wie er setzte, das Geld würde herbeiströmen -: Alles, alles werde ich gewinnen! - Wenn er an diese Stunde dachte, manchmal, nicht sehr häufig, wie man den Genuß eines großen Glückes nicht wertlos machen will dadurch, daß man es zu oft vorkostet - wenn Wolfgang daran dachte, fühlte er, wie sein Mund trocken, die Haut über seinen Schläfen pergamenten wurde.

Er meinte sich zu sehen, leicht vorgeneigt, mit glänzenden Augen - und zwischen die ein wenig auseinandergespreizten Hände glitt ihm das Papier, wie von einem Winde hineingeweht, all dies verschiedenartige Papier mit den ungeheuren Zahlen, Nullen über Nullen, ein betäubender, nie völlig zu verstehender Reichtum - astronomisch!

Bis diese Stunde kam, war er ein kleiner Freitischgänger des Glücks,

ein Hungerleider, der mit den mageren Gewinnchancen des Parispiels vorliebnehmen mußte. Gerne vorliebnahm, denn ihm winkte die Aussicht auf Großes!

An diesem Abend war er für seine Verhältnisse nicht schlecht bei Kasse. Spielte er ein wenig vorsichtig, mußte sich ein ausreichender Gewinn nach Haus tragen lassen. Wolfgang Pagel hatte sein bestimmtes, auf Grund sorgfältiger Beobachtungen erdachtes System beim Spiel. Von den sechsunddreißig Zahlen des Rouletts waren achtzehn rot, achtzehn schwarz. Zog man die siebenunddreißigste Chance, das Null, bei dem alle Einsätze der Bank verfielen, nicht in Betracht, so stand die Chance für Rot und für Schwarz gleich. In einem unendlich weitergespielten Roulett mußte nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung gleich oft Rot wie Schwarz kommen. Das tat es auch sicher. Aber wie sich im Laufe des Spieles Rot und Schwarz ablösten, darüber schien eine viel geheimnisvollere Regel zu walten, die man halb beobachten, halb im Gefühl haben mußte.

Stand Wolfgang - wie stets, ehe er zum ersten Male setzte - beobachtend am Spieltisch, so sah er etwa, daß Rot kam, und noch einmal Rot, und wieder Rot. Ein viertes, fünftes, sechstes Mal Rot, es konnte bis zum zehnten Male gehen, bis zum fünfzehnten Male, ja, in ganz seltenen Fällen noch höher: Rot, immer Rot. Es war gegen jeden Sinn und Verstand, es widersprach aller Wahrscheinlichkeitsrechnung, es war die Verzweiflung aller "Spieler mit System".

Dann kam auf einmal Schwarz, nach sechs-, achtmal Rot kam Schwarz! Kam zwei-, dreimal; nun kam wieder Rot, und nun ging es mit einem ermüdenden, immerwährenden Wechsel hin und her: Rot und Schwarz, Schwarz und Rot.

Wolfgang aber wartete noch immer. Nichts war zu sagen, kein Einsatz mit einiger Aussicht auf Gewinn zu wagen.

Aber plötzlich fühlte er, wie sich irgend etwas in ihm spannte. Er schaut auf das Fleckchen Spieltisch, das seinem Blicke frei ist. Ihm ist, als sei er eine Weile mit seinen Gedanken fortgewesen, ohne doch zu wissen, wo, als habe er das Spiel nicht verfolgt. Trotzdem weiß er, daß jetzt dreimal hintereinander Schwarz kam, er weiß, daß er nun setzen muß, daß jetzt eine Serie Schwarz begonnen hat - er setzt.

Er setzt drei-, viermal. Öfter getraut er sich nicht. Ach, zwölf-, fünfzehnmal Rot sind eine Ausnahme, da liegen die großen Gewinnchancen: Stehenlassen den Einsatz und Gewinn - verdoppelt! Stehenlassen - verdoppelt ... immer weiter, in märchenhafte Zahlen hinein. Aber sein Kapital ist zu klein, er kann keinen Fehlschlag riskieren,

er muß mit der hausbackenen Sicherheit vorliebnehmen. Aber einmal - einmal bestimmt wird die Nacht kommen, und er wird setzen, weiter setzen, immer weiter ... Er wird wissen, daß siebzehnmal Rot kommt, er wird es siebzehnmal setzen und keinmal mehr.

Und dann wird er nie wieder spielen. Dann werden sie mit dem Gelde etwas Geruhiges anfangen, ein Antiquitätengeschäft zum Beispiel. Er hat Sinn für so etwas, er geht gerne mit diesen Dingen um. Das Leben wird dann sanft und ruhig strömen, keine äußerste Anspannung mehr, nichts von tiefster Verzweiflung, keine Raubvogelgesichter mehr, die ihn gesträubt mustern, keine ganz unzweifelhaften Halbweltdamen mehr, die ihm seinen Einsatz stehlen ...

Er hat seinen Platz am andern Ende des Spieltischs gesucht, um nicht in der Nähe des Valutenvamps zu sein, aber es hilft ihm nichts. Er setzt grade, da hört er schon ihre Stimme: "Machen Sie doch Platz! Stehen Sie doch nicht so breit da! Andere möchten auch spielen."

Er macht eine Verbeugung, sieht sie nicht an und räumt ihr das Feld. Er findet einen andern Platz und fängt wieder an zu setzen. Er denkt daran, daß er heute besonders vorsichtig spielen, etwas mehr als sonst nach Haus bringen muß: morgen um halb eins wollen sie heiraten.

Nun gut. Nun gut. Sie ist ein ausgezeichnetes Mädel, es wird nie eine geben, die ihn selbstloser liebt, so wie er ist, ohne ihn mit einem lästigen Ideal zu vergleichen. Sie werden also morgen heiraten, warum eigentlich, ist im Augenblick nicht feststellbar. Es kommt nicht darauf an, es wird schon richtig sein. Aber er wünschte, er würde ein bißchen aufmerksamer spielen, eben hätte er keinesfalls Schwarz setzen dürfen. Dahin! Dahin! Also jetzt ...

Plötzlich hört er wieder die böse, gereizte Stimme hinter sich. Sie streitet jetzt mit einem andern Herrn, spricht sehr hoch und empört. Natürlich: ihre Nase ist ganz weiß, die schnupft Schnee, das Luder, kokst. Keinen Zweck, mit ihr anzubinden, die weiß schon nüchtern nicht, was sie will oder tut. Und jetzt erst recht -!

Er sucht sich wiederum einen andern Platz und fängt von neuem zu spielen an.

Diesmal geht alles gut. Er setzt vorsichtig und holt wieder auf, was er bisher zugesetzt, ja, er kann schon sein ganzes Betriebskapital zurückziehen und mit dem Gewinn operieren. Neben ihm steht ein Jüngling mit flackernden Augen und fahrigen Bewegungen, der todsicher sein Jungfernspiel macht. Solche bringen Glück. Es gelingt ihm, dem Jüngling, ohne daß er es merkt, über den Rücken zu streichen, mit der linken Hand, der linken Hand - so etwas steigert die Gewinnaussichten!

Daraufhin läßt er den Einsatz einmal länger stehen, als er sonst gewagt hätte. Er gewinnt wieder. Der Raubvogel schießt ihm einen kurzen, bösen Blick zu. Gut.

Er hat jetzt genug für morgen, für ein paar Tage länger noch(wenn der Dollar nicht gar zu sehr steigt), er könnte nach Haus gehen. Aber es ist noch ganz früh; er weiß, er würde nur Stunden wach im Bett liegen und über das Spiel nachdenken, er weiß, er würde von Reue gepackt sein, daß er diese Glückssträhne nicht ausgenützt hat ...

Er steht ruhig da, seine gewonnenen Jetons in der Hand, hört auf die Kugel, die Rufe des Croupiers, das leise, kratzige Scharren der Harken auf dem grünen Tisch. Es ist ihm wie halb im Traum. Er weiß, er ist hier, in diesem Spielsaal, aber vielleicht ist er ganz woanders. Das Klappern der Kugel erinnert an ein klapperndes Mühlrad. Ja, es ist einschläfernd; das Leben, wenn man es spürt, erinnert immer an Wasser, fließendes Wasser; panta rhei, alles fließt, hieß es auf der Penne, noch vor der Kadettenanstalt. Auch weggeflossen.

Er fühlt, daß er sehr müde ist, außerdem ist seine Mundhöhle ledrig vor Trockenheit. Eine Schweinerei, daß es hier nichts zu trinken gibt. Er müßte an den Wasserhahn auf der Toilette gehen. Aber dann weiß er nicht, wie das Spiel weitergeht. Rot - Schwarz - Schwarz - Rot - Rot - Rot - Schwarz ... Natürlich, etwas anderes gibt es nicht: rotes Leben und schwarzer Tod. Etwas anderes wird nicht gereicht und erfunden, sie mögen erfinden, soviel sie wollen, Leben und Tod, darüber hinaus gibt es nichts ...

Null!

Natürlich - Null hatte er vergessen, das gab es natürlich auch noch. Die Parispieler vergaßen immer Null, und plötzlich war ihr Geld fort. Aber wenn es Null gab, so war Null der Tod, und das war auch ganz richtig. Dann war Rot die Liebe, eine etwas übertriebene Sache, aber nun gut: angenehm, wenn man es hatte. Aber Schwarz - was war Schwarz dann? Nun, für Schwarz blieb noch das Leben, auch wieder übertrieben, aber nach der andern Seite hin. Nicht völlig schwarz, grau hätte auch gereicht. Oft ein lichtes, fast silbriges Grau. Gewiß, Peter ist ein gutes Mädchen.

Ich habe ja Fieber, dachte er plötzlich. Aber ich habe, glaube ich, jeden Abend Fieber. Ich müßte wirklich Wasser trinken. Jetzt gehe ich sofort.

Statt dessen schüttelte er die Spielmarken in der Hand, tat eilig die aus der Tasche dazu und setzte alles, grade als der Croupier rief: "Nichts mehr!", auf Null. Auf Null.

Das Herz blieb ihm stehen. Was tue ich da? fragte er sich verwirrt. Das Gefühl der Trockenheit in seinem Munde verstärkte sich zum Unerträglichen. Die Augen brannten, über den Schläfen spannte pergamenten die Haut. Unfaßbar lange schnurrte die Kugel, ihm war, als sähen ihn alle an.

Alle sehen mich an. Ich habe auf Null gesetzt. Alles, was wir haben, habe ich auf Null gesetzt - und Null bedeutet Tod. Morgen ist die Trauung ...

Die Kugel schnurrte noch immer; unmöglich war es, den Atem noch länger wartend anzuhalten. Er atmete tief auf - die Spannung ließ nach ...

"Sechsundzwanzig!" rief der Croupier. "Schwarz, ungleich, passe "... Pagel stieß durch die Nase die Luft, beinahe erleichtert. Es war richtig gewesen: der Spielsaal hatte sein Geld behalten. Der Valutenvamp hatte ihn nicht umsonst verwirrt. Grade sagte das Mädel halblaut: "Diese kleinen Nebbichs! Spielen wollen sie - in der Sandkiste sollten sie spielen!" Der raubvogelhafte Croupier schoß einen scharfen, triumphierenden Blick auf ihn ab.

Einen Augenblick stand Wolfgang noch wartend. Das Gefühl der Befreiung aus quälender Spannung verging. Hätte ich noch eine Spielmarke, dachte er. Nun, es ist egal. Einmal wird der Tag kommen.

Die Kugel schnurrte schon wieder. Langsam ging er hinaus, an dem traurigen Wachtmeister vorüber, die dunkle Treppe hinab. Lange stand er in dem Hauseingang, bis ihn ein Schlepper hinausließ.

8

Was konnte er von allen diesen Dingen seinem kleinen, guten Peter erzählen? Fast nichts. Es ließ sich auf den Satz zusammendrängen: Erst habe ich gewonnen, dann habe ich Pech gehabt. Es war also nichts Besonderes zu berichten, in letzter Zeit hatte er dies öfter sagen müssen. Natürlich konnte sie sich darunter kaum etwas vorstellen. Sie dachte vielleicht, es sei etwas Ähnliches, wie wenn jemand beim Skat verliert oder bei der Lotterie mit einer Niete herauskommt. Von dem Auf und Ab, dem Glück und der Verzweiflung war ihr nichts begreiflich zu machen. Nur das Ergebnis war mitzuteilen: eine leere Tasche - und das war dürftig.

Sie aber wußte von allen diesen Dingen viel mehr, als er glaubte. Zu oft hatte sie sein Gesicht gesehen, nachts, wenn er heimkam, noch halb erhitzt. Und das erschöpfte Gesicht im Schlaf. Und das böse, bewegliche

Gesicht, wenn er vom Spiel träumte.(Wußte er eigentlich gar nicht, daß er fast jede Nacht davon träumte, er, der sich und ihr einreden wollte, er sei kein Spieler -?) Und das ferne, dünne Gesicht, wenn er auf ihr Reden nicht hörte, gedankenlos "Wie?" fragte und doch nicht hörte, das Gesicht, auf dem seine Vision einen so starken Ausdruck fand, daß man meinte, sie abheben zu können wie etwas, das Gestalt gewonnen hat. Und das Gesicht beim Haarekämmen vor dem Spiegel, wenn er plötzlich sah, was er für ein Gesicht hatte.

Nein, sie wußte genug, er brauchte nichts zu sagen, sich nicht mit Erklärungen und Entschuldigungen zu quälen.

"Es ist ja ganz egal, Wolf", sagte sie rasch. "Uns ist doch Geld immer egal gewesen."

Er sah sie nur an, dankbar, daß sie ihm diese Erklärung abgenommen. "Natürlich", sagte er dann. "Das hole ich schon wieder nach. Vielleicht heute abend schon."

"Nur", sagte sie und war zum ersten Male beharrlich, "daß wir heute um halb eins aufs Standesamt müssen."

"Und ich", sagte er rasch, "will deine Kleider zum Onkel bringen. - Kann der Standesbeamte dich nicht als eine Schwerkranke im Bett trauen?"

"Auch für Schwerkranke wirst du zahlen müssen!" lachte sie. "Du weißt doch, nicht einmal der Tod ist umsonst."

"Aber vielleicht muß man bei Kranken erst nachher zahlen", sagte er, halb lachend, halb nachdenklich. "Und wenn dann nichts da ist: getraut ist getraut."

Eine Weile schwiegen sie beide. Die verbrauchte, mit dem Steigen der Sonne immer überhitztere Luft stand fast greifbar im Zimmer, machte sich trocken auf der Haut bemerkbar. In der Stille hörte man den Lärm der Blechstanzerei lauter, dann plötzlich die plärrende, weinerliche Stimme der Frau Thumann, die vor der Tür mit einer Nachbarin tratschte. Die überfüllte Menschenwabe des Hauses summte, schrie, sang, klapperte, rief, weinte mit vielen Stimmen darein.

"Du weißt, du mußt mich nicht heiraten", sagte das Mädchen mit einem plötzlichen Entschluß. Und nach einer Pause: "Kein Mensch hat so viel für mich getan wie du."

Er sah ein wenig verlegen zur Seite. Das in der Sonne glitzernde Fenster glühte in weißlicher Glut. Was habe ich denn eigentlich für sie getan? dachte er betreten. Ihr beigebracht, wie man Messer und Gabel hält - und richtiges Deutsch.

Er wandte den Kopf und sah sie an. Sie wollte noch etwas sagen, aber

ihre Lippen zuckten, als kämpfe sie mit einem Schluchzen. Er fühlte in dem dunklen Blick, der ihn ansah, solche Intensität, daß er lieber weggesehen hätte.

Da sprach sie schon. Sie sagte: "Wenn ich wüßte, du fühltest dich bloß verpflichtet, mich zu heiraten, nie wollte ich es."

Er schüttelte, langsam, verneinend, den Kopf.

"Oder aus Trotz gegen deine Mutter", fuhr sie fort. "Oder weil du denkst, es macht mir Freude."

Er verneinte weiter.

(Aber weiß sie es denn, warum wir heiraten? dachte er verwundert, verloren.)

"... aber ich glaube immer, du willst es auch, weil du spürst, wir beide gehören zusammen", sagte sie plötzlich. Sie stieß es hervor, nun standen in ihren Augen Tränen. Sie konnte freier sprechen, als sei das Schwerste gesagt. "Ach, Wolf, Lieber, wenn es nicht so ist, wenn du aus irgendeinem andern Grunde heiratest, laß es, ich bitte dich, laß es. Damit tust du mir nicht weh. Nicht so weh", sagte sie eilig, "wie wenn du mich heiratest und wir gehören gar nicht zusammen."

Sie sah ihn an, plötzlich fing sie an zu lächeln, in ihren Augen standen noch Tränen. "Du weißt doch, ich heiße ›Ledig‹, ich habe von je Ledig geheißen - du warst immer mit dem Namen einverstanden, nur Petra war dir zu steinig."

"Ach, Petra, Peter, Peter Ledig!" rief er, irgendwie überwältigt in seiner einsamen, eigensüchtigen Höhle von ihrer demütigen Lieblichkeit. "Wovon redest du denn?!" Er nahm sie, schloß sie in seine Arme, schaukelte sie wie ein Kind und sagte lachend: "Wir haben nicht das Geld für die Standesamtsgebühren, und du redest von den tiefsten Dingen?!"

"Und muß ich nicht davon reden?" sagte sie leiser und hielt den Kopf an seiner Brust geborgen, "muß ich nicht davon reden, da du selbst davon schweigst - immer und alle Tage, alle Stunden -?! Ich denke so oft, selbst wenn du mich in deinen Armen hältst wie jetzt und küßt wie jetzt, daß du ganz weit fort bist von mir - von allem -"

"Jetzt redest du aber vom Spiel", sagte er und hielt sie loser.

"Nein, ich rede nicht vom Spiel", widersprach sie eilig und lehnte sich fester an ihn. "Oder vielleicht rede ich auch davon. Das mußt du wissen, ich weiß ja nicht, wo du bist und was du denkst. Spiele, soviel du willst - aber wenn du nicht spielst, könntest du dann nicht ein bißchen hier sein -? Ach, Wolfi", sagte sie, und jetzt war sie von ihm fortgeglitten, hielt

aber seine beiden Arme über den Ellbogen gefaßt und sah ihn fest an. "Du denkst immer, du müßtest dich wegen des Geldes entschuldigen oder mir etwas erklären - nichts hast du zu erklären, und nichts mußt du entschuldigen. Wenn wir zusammengehören, ist alles richtig, und gehören wir nicht zusammen, ist doch alles falsch - mit und ohne Geld, mit und ohne Trauung."

Sie sah ihn erwartungsvoll an, sie hoffte auf ein Wort, ach, hätte er sie nur auf die rechte Art in seine Arme gezogen, sie hätte es schon gespürt -!

Was will sie eigentlich von mir? hatte er über ihrem Reden gedacht. Aber er wußte wohl, was sie wollte. Sie hatte sich ganz in seine Hand gegeben, von eh und je, von jenem ersten Morgen an, als sie ihn gefragt hatte, ob sie nicht mit ihm kommen dürfe. Ihr war nichts geblieben. Nun bat sie ihn, ihr einmal, doch nur einmal sein dunkles, fernes Herz zu öffnen ...

Aber wie soll ich das denn tun? fragte er sich. Wie mache ich das? Und blitzartig, erleichtert: Daß ich das nicht weiß, zeigt ja, sie hat recht: Ich liebe sie nicht. Ich will sie bloß so heiraten. Hätte ich gestern, dachte er eilig weiter, nur nicht auf Null gesetzt. Dann wäre das Geld dagewesen fürs Standesamt. Es hätte keine solche Auseinandersetzung gegeben. Natürlich wäre es jetzt, da ich dies weiß, richtiger, wir heirateten nicht. Aber wie soll ich ihr das sagen? Ich kann nicht mehr zurück. Sie sieht mich noch immer an. Was soll ich ihr sagen -?

Die Stille war schwer und drückend zwischen ihnen geworden, sie hielt noch seinen Arm, aber nur lose, als hätte sie vergessen, daß sie ihn hielt. Er räusperte sich. "Peter "..., fing er an.

Da ging die Flurtür, und das Schlurren der Thumannschen wurde hörbar.

"Schnell, Wolf, mach die Tür zu!" sagte Petra eilig. "Frau Thumann kommt, wir können sie jetzt nicht brauchen."

Sie hatte ihn losgelassen. Er ging gegen den Flur, aber ehe er noch die Zimmertür gefaßt hatte, kam die Vermieterin schon in Sicht.

"Warten Se noch imma?" fragte sie. "Ick hab doch schon jesacht: Kaffe is nich ohne Jeld."

Hören Sie, Frau Thumann", sagte Wolfgang eilig. "Ich will gar keinen Kaffee. Ich gehe jetzt sofort mit unsern Sachen zum Onkel. Und unterdes geben Sie der Petra Schrippen und Kaffee, sie ist ja halb verhungert."

Kein Laut in seinem Rücken.

"Und mit dem Gelde komme ich dann auf der Stelle zu Ihnen und

bezahle alles, behalte nur so viel für mich, daß ich in den Grunewald fahren kann. Da habe ich einen Freund, vom Militär her, Zecke heißt er, von Zecke, der pumpt mir sicher was ..."

Er wagte jetzt einen Blick ins Zimmer. Geräuschlos hatte sich Petra aufs Bett gesetzt, saß dort mit gesenktem Kopf, er sah ihr Gesicht nicht.

"So?!" antwortete die Thumann, halb fragend, halb drohend. "An det Frühstück for det Mächen soll es nich fehlen - heute nich un morgen ooch noch nich - aba wie is es denn mit de Trauung -?" Sie stand da, in fließendem Gewande, mit zerfließenden Formen, den Pott in der hängenden Hand - und wie sie so dastand, konnte sie nun freilich einem jeden die Lust an aller Trauung und Bürgerlichkeit für ein langes Leben austreiben.

"Oh!" sagte Wolfgang leichthin und war im Augenblick wieder obenauf. "Wenn es mit dem Frühstück für Peter in Ordnung ist, ist es auch mit der Trauung in Ordnung."

Er sah rasch nach dem Mädchen, aber Peter saß noch wie vorher. "In der Pfandleihe werden Se anstehen müssen, und Jrunewald is weit", sagte die Thumannsche. "Ick hör imma Trauung, aber ick trau nich!"

"Doch, doch!" sagte Petra plötzlich und stand auf. "Sie dürfen schon trauen, Frau Thumann, wegen des Geldes und wegen der Trauung, beides. - Komm, Wolf, ich helfe dir die Sachen einpacken. Wir nehmen wieder den Handkoffer, dann braucht er nur einen Blick hineinzutun und sieht, es ist alles wieder beisammen. Er kennt es ja nun schon". Und sie lächelte ihm zu.

Frau Thumann wandte den Kopf beobachtend von einem zum andern, langsam, wie ein alter, weiser Vogel. Wolfgang rief unendlich erleichtert: "Ach, Peter, du bist doch immer die Allerbeste, und vielleicht schaffe ich es wirklich noch bis halb eins. Wenn ich Zecke nur treffe, pumpt er mir sicher genug, daß ich mir ein Auto nehmen kann ..."

"Jewiß doch!" sagte statt Petra die Thumannsche. "Und denn raus mit det Mächen aus de Betten und rin mit ihr aufs Standesamt, wie sie jeht und steht, mit 'em Herrenpaletot, ohne alles drunter. Wir sind ja janz jroß!!!" Sie funkelte giftig. "Wenn ick so wat bloß höre! Und det Schlimme is, die Jänse wer'n nich alle, die euch Männern so 'nen Schmus jlooben tun, un wie ick det Mächen kenne, sitzt se de janze Zeit nachher bei mir in de Küche rum und tut, wie wenn se mir helfen will. Aber se will mir jar nich helfen, nich die Bohne, se will bloß een Ooje uff de Küchenuhr haben, un halb eens pünktlich sagt se: Ick fühle, er kommt, Frau Thumann! - Aba er kommt jar nich, und wahrscheinlich sitzt er denn jrade bei seinem hochjeborenen Freunde und se kümmeln eenen in aller

Jemütsruhe und paffen eene, und wenn er wirklich wat denkt, denkt er: Die trauen ja alle Tage! Und wat heute nich is, braucht morgen noch lange nich kommen ..."

Und damit schoß die Thumann einen vernichtenden Blick auf Wolfgang, einen verächtlich-mitleidigen auf Petra ab, machte mit dem Pott eine kleine Bewegung als Schlußpunkt, Ausrufe- und Fragezeichen in einem und zog die Tür zu. Die beiden aber standen in ziemlicher Verlegenheit und wagten kaum, sich anzusehen, denn man mochte von dem Erguß der Zimmerwirtin denken, was man wollte: angenehm war er nicht.

Schließlich aber sagte Petra: "Mach dir nichts draus, Wolfgang. Die und alle andern können sagen, was sie wollen, das ändert doch gar nichts. Und wenn ich vorhin so weinerlich war, vergiß das. Manchmal hat man so eine Stimmung, als wäre man ganz allein, und dann fürchtet man sich und möchte gerne einen Trost hören."

"Und jetzt bist du nicht mehr allein, Peter?" fragte Wolfgang seltsam bewegt. "Jetzt brauchst du keinen Trost mehr?"

"Ach", sagte sie und sah ihn verloren-verlegen an. "Du bist doch da ..."

"Aber", drängte er plötzlich, "vielleicht hat Pottmadamm ganz recht, daß ich um halb eins sitze und denke: Trauen tun sie alle Tage - was meinst du?"

"Daß ich trau!" rief sie, hob den Kopf und sah ihn mutig an. "Und wenn ich dir auch nicht trauen würde, ändert das denn was? Ich kann dich nicht binden. Trauung oder nicht - wenn du mich magst, ist alles gut, und wenn du mich nicht magst "... Sie brach ab und lächelte ihn an. "Und nun lauf, Wolf. Der Onkel macht um zwölf Mittagspause, und vielleicht stehen wirklich viele an". Sie gab ihm den Koffer in die Hand, sie gab ihm noch einen Kuß. "Mach's gut, Wolf!"

Er hätte ihr gerne noch etwas gesagt, aber es fiel ihm nichts ein. So nahm er den Koffer und ging.

DRITTES KAPITEL. Jäger und Gejagte

1

Auf Rittergut Neulohe ist der kleine Feldinspektor Meier, genannt Negermeier, zwischen der elften und zwölften Vormittagsstunde schon wieder so müde, daß er, wie er ist, in Joppe und Gamaschen, ins Bett fallen und bis zum andern Morgen schlafen könnte. Er sitzt aber nur am

Rande eines Roggenschlages, durch ein paar Kiefernkuscheln gut gegen Sicht gedeckt, im langen und trockenen Waldgras und döst so vor sich hin.

Um drei Uhr aufgestanden, in den warmen Dunst des Stalles(so müde, ach, so müde!), Futter ausgegeben, Füttern überwacht, Melken beaufsichtigt, nach dem Putzen gesehen. Ab vier Uhr Raps eingefahren, der im Morgentau eingefahren werden muß, damit er nicht ausfällt. Um drei Viertel sieben eine Tasse Kaffee im Stehen getrunken, hastig was runtergeschlungen(immer noch müde). Und ab sieben das gewohnte Tagewerk.

Dann kam vom Roggenschlag die Nachricht, daß beide Bindemaschinen kaputt seien. Hingejagt mit dem Schmied, rumgeflickt an den Dingern. Nun klappern sie wieder, klappern sie noch - ach, was ist er müde, nun ist er nicht nur noch müde von gestern, nun ist er auch schon müde von heute! Ach, wie gerne würde er jetzt hier, in der Sonne bratend, einschlafen -! Aber er muß vor zwölf noch einmal auf den Zuckerrübenschlag, nachsehen, ob der Leutevogt, der Kowalewski, mit seiner Kolonne auch ordentlich hackt, nicht pfuscht ...

Meiers Rad liegt ein paar Schritte um die Kiefernschonung herum im Straßengraben. Aber er ist jetzt zu faul, weiterzufahren, er kann einfach nicht. Wie eine dicke, wollige, ein wenig schmerzende Masse sitzt die Müdigkeit in all seinen Gliedern, besonders aber in der Kehle. Wenn er ganz still liegt, schläft sie gewissermaßen ein. Aber bewegt er nur ein Bein, kratzt und reibt es gleich wie mit Borsten.

Er brennt sich langsam eine Zigarette an, tut wohlig ein paar Züge und starrt dabei auf seine verstaubten, verbrauchten Schuhe. Neue täten auch nötig, jedoch der Rittmeister ist ein großer Mann, fünfhunderttausend Mark sind ein unerhörtes Gehalt für einen Feldinspektor. Warten wir aber nur ab, wie der Dollar zum Ersten kommt, dann können wir uns vielleicht nicht einmal die Schuhe besohlen! Es täte vieles not auf Rittergut Neulohe - zwei Beamte müßten mindestens noch her. Aber der Rittmeister ist ein großer Mann und hat entdeckt, daß er alles alleine machen kann - einen Dreck kann er! Heute ist er nach Berlin, Schnitter holen. So kann er jedenfalls einen armen Inspektor nicht aus seiner Vormittagsdöserei hochjagen. - Aber gespannt bin ich doch, was er für Leute anbringt. Wenn er überhaupt welche bringt. Ach, Scheiße -!

Meier legt sich zurück, die Zigarette rutscht ganz in den Mundwinkel, der Trillerbibi wird gegen den Sonnenbrand über die Augen geschoben ... Die Weiber in den Zuckerrüben können sich mit ihrem Kowalewski für

seinswegen sauer kochen lassen, eine freche Bande ist das! Aber eine schicke Tochter hat der Kowalewski, traut man ihm gar nicht zu. Die kann ruhig mal wieder auf Urlaub kommen aus Berlin, er würde das Kind schon schaukeln! Warm ist das, heiß ist das, ein Backofen ist das. Wenn bloß kein Gewitter kommt, dann wird das ganze Getreide naß, und er hat die Schweinerei -! Natürlich hätte man heute einfahren müssen, aber der Rittmeister ist ein großer Mann und nebenbei Wetterprophet: Es regnet nicht, wir fahren nicht ein, Sela!

Gottlob, die Bindemaschinen klappern noch, so kann man weiter hier liegen. Bloß nicht einschlafen, dann wird man vor Abend nicht wieder wach. Der Rittmeister erführe es gleich, und morgen säße man draußen. Es wäre auch noch so, wenigstens könnte man sich mal ausschlafen -!

Jawohl, die kleine Kowalewski ist nicht schlecht, die wird in Berlin auch keine schlechten Zicken machen - aber die Amanda, Amanda Backs ist erst recht nicht ohne! Der kleine Meier, Negermeier, wirft sich auf die Seite, er verdrängt endgültig den bohrenden Gedanken, daß der Rittmeister eigentlich nicht gesagt hat, man solle nicht einfahren, sondern vielmehr, der Meier solle das halten, wie es das Wetter eben treibe.

Nein, daran will Meier jetzt nicht denken, er denkt lieber an Amanda. Etwas Leben kommt in ihn, er zieht die Knie an und stößt vor Vergnügen einen grunzenden Laut aus. Dabei fällt die Zigarette aus seinem Mund, aber das ist egal - was braucht er 'ne Zigarette, er hat Amanda! Jawohl, sie nennen ihn den kleinen Meier, den Negermeier - und wenn er sich im Spiegel ansieht, muß er ihnen recht geben. Hinter den runden, großen, gewölbten Brillengläsern sitzen runde, große, gelbliche Eulenaugen, er hat eine eingedrückte Nase und Wulstlippen, eine Stirn, kaum zwei Finger hoch, die Ohren stehen ihm ab - und dazu ist der ganze Mann Meier einen Meter vierundfünfzig hoch!

Aber das ist es eben: er sieht so toll und verboten aus, so grotesk in seiner Häßlichkeit, und er hat dazu eine so freche süße Schnauze, daß die Mädels alle auf ihn fliegen. Als sie mit ihrer Freundin damals an ihm vorüberging - er war noch ganz frisch auf Neulohe -, da sagte die Freundin: "Amanda, da brauchst du ja 'nen Tritt, um anzulangen!" Doch Amanda sagte: "Das macht nischt, er hat so 'ne süße Kerbe!" - Das war ihre Art von Liebeserklärung, so waren die Mädchen hier: frech und von himmlischer Unbekümmertheit. Sie hatten Appetit auf einen oder nicht, aber jedenfalls machten sie kein Geschmus darum. Gut waren sie!

Wie die Amanda gestern abend zu ihm ins Fenster stieg - eigentlich hatte er keine Lust, er war zu müde - und die Gnädige fuhr aus den

Büschen.(Nicht die junge Gnädige vom Rittmeister, die hätte bloß gelacht, die war selber nicht ohne. Nein, die alte Gnädige, die Schwiegermutter, vom Schloß.) Jede andere hätte gekreischt oder sich versteckt oder seine Hilfe angerufen, nicht so die Amanda. Er konnte ganz unbeteiligt bleiben und sich amüsieren. "Ja, gnädige Frau", hatte die Amanda ganz unschuldig gesagt. "Ich gehe mit dem Inspektor bloß noch die Geflügelrechnungen durch, am Tag hat er doch nie Zeit."

"Und da steigen Sie durchs Fenster?!" hatte die alte Gnädige gekreischt, die sehr fromm war. "Sie schamlose Person!"

"Wenn's Haus doch schon zu ist", antwortete die Amanda.

Und als die Gnädige noch immer nicht die Nase voll hatte und nicht einsehen wollte, daß sie gegen die jungen Dinger von heute nicht mehr aufkam, nicht mit Frömmigkeit und nicht mit Strenge, da hatte sie gesagt: "Und jetzt ist übrigens Feierabend, gnädige Frau. Und was ich nach Feierabend tue, das ist meine Sache. Und wenn Sie 'ne bessere Geflügelmamsell finden als mich(für solchen Schandlohn) - aber Sie finden keine -, dann kann ich ja auch gehen, aber erst morgen!"

Und partout hatte sie gewollt, daß er das Fenster nicht zumachte. "Wenn sie stehen will und lauschen, laß sie doch stehen, Hänseken! Uns ist's egal, und ihr macht's vielleicht Spaß - vom Beten hat sie ihre Tochter ooch nicht!"

Der kleine Meier gniggerte höchst vergnügt vor sich hin und drückte die Backe fester gegen den Arm, als fühle er den weichen und doch festen Leib seiner Amanda. Solche war grade richtig für einen Habenichts und Junggesellen wie ihn! Kein Schmus von Liebe, Treue, Heirat, aber immer obenauf, fix bei der Arbeit und fix mit dem Maule. Und keß! Keß, daß einen manchmal das Schaudern ankam! Aber am Ende auch kein Wunder, wie sie aufgewachsen war, mit vier Jahren Krieg und fünf Jahren Nachkrieg, und:

"Wenn ich mir nischt zu fressen nehme, kriege ich nischt. Und wenn ich dir keine latsche, latschst du mir eine. Immer die Zähne zeigen, junger Mann, auch gegen 'ne olle Frau, spielt gar keine Rolle. Sie hat ihr Gutes gehabt - und ich soll mein Gutes nicht haben, bloß weil sie 'nen dußligen Krieg und 'ne Inflation machen -?! Daß ich nicht lache! Ich bin ich, und wenn ich nicht mehr bin, ist keiner mehr da! Und für die Tränen, die sie mir als braves Mädchen ins Grab weint(es sind aber bloß Drücketränen), und für den Blechkranz, den sie mir auf meine Madenkiste packt, kann ich mir ooch nischt koofen, und darum wollen wir lieber heute vergnügt sein, was, Hänseken? Mitleid mit der ollen Frau und ein bißchen sachte -? Na, weißte, wer hat denn mit mir Mitleid

gehabt? Immer übern Kopp, und wenn die Neese blutete, war's grade schön. Und wenn ich bloß mal ein bißken heulen wollte, hieß es gleich: Halt den Rand, oder es gibt noch mehr aus derselben Tüte! Nee, Hänseken, ich sagte nischt, wenn es einen Sinn hätte. Aber es hat keinen Sinn, und so doof wie meine Hühner, die die Eier zu unserem Vergnügen legen, und denn zum Schluß noch rin in den Kochpott - ich nicht, nee, danke! Wenn du magst, bitte, ich nich!"

"Richtig, das Mädchen!" lacht der kleine Meier noch einmal und ist schon im tiefen Schlaf und hätte nun wohl wirklich bis in den Abendtau - Wirtschaft hin, Rittmeister her - weitergeschlafen, wenn es ihm nicht plötzlich doch zu heiß und vor allem zu stickig geworden wäre.

Auffahrend - aber mit einem gar nicht mehr ermüdeten Ruck und gleich auf beide Beine - sah er, daß er mitten im schönsten beginnenden Waldbrande lag. Er sah durch den weißlichen, tief ziehenden, beißenden Qualm eine Gestalt springen und trampeln und schlagen, und schon sprang er selbst mit, trampelte auch in die Flammen und schlug mit einem Fichtenast hinein und schrie dem andern zu: "Das brennt ja lieblich!"

"Zigarette!" sagte der bloß und löschte weiter.

"Fast wär ich mit verbrannt", lachte Meier.

"Auch nicht schade!" sagte der andere.

"Sagen Sie!" rief Meier, vor Qualm hustend.

"Halte den Rand, Mensch", befahl der andere. "Rauchvergiftung ist auch nicht ohne."

Und nun löschten sie beide aus Leibeskräften weiter, und Negermeier lauschte dabei gespannt nach seinen beiden Bindemaschinen hinüber, ob die auch weiterklapperten. Denn es wäre ihm doch gar nicht angenehm gewesen, wenn die Leute was gemerkt und dem Rittmeister erzählt hätten.

Aber die schnitten ganz wider Erwartung geruhig weiter ihre Bahn runter, und eigentlich hätte das den Inspektor wieder ärgern müssen, denn es bewies, daß die Kerls auf ihren Sitzen dösten und den Pferden nicht nur die Arbeit, sondern auch den Verstand überließen und daß ihretwegen ganz Rittergut Neulohe mit allen Gebäuden und achttausend Morgen Forst hätte wegbrennen können - sie hätten ihre eingeäscherten Pferdeställe bei der Heimkunft von der Arbeit angestarrt, als wäre Hexerei im Spiele. Doch für dieses Mal ärgerte sich Meier nicht, sondern war über das Weiterklappern froh und auch über den abnehmenden Qualm. Schließlich standen er und sein Retter sich auf einem

zimmergroßen schwarzen Fleck gegenüber, ein wenig atemlos und angerußt, und schauten einander an. Der Retter aber sah ein bißchen wild aus, jung zwar noch, aber mit einem Geflatter und Geweh von rötlichen Haaren um Nase und Kinn, recht stark blickenden blauen Augen, einem alten grauen Waffenrock und ebensolchen Hosen, aber mit einem schönen gelben Ledergurt um den Bauch und einer ebenso schönen gelbledernen Pistolentasche. Es mußte auch etwas darin sein, in der Pistolentasche nämlich, und nicht nur Zuckerbonbons, so schwer hing sie herunter.

"Zigarette gefällig?" fragte der unverbesserliche Windhund Meier den andern und hielt ihm sein Etui hin, denn er fand, er müsse für seinen Retter auch etwas tun.

"Gib schon her, Kamerad", sagte der andere. "Meine Flossen sind schwarz."

"Meine auch!" lachte Meier. Aber er griff doch zu mit zwei spitzen Fingern, und sofort brannten auch die Zigaretten, und die beiden setzten sich ein wenig entfernt von der verkohlten Stelle in den spärlichen Kiefernschatten, schön hinein in das trockene Gras. So viel hatten sie aber doch aus dem Erlebnis eben gelernt, daß der eine einen alten Kiefernstubben, der andere einen flachen Stein zum Aschenbecher nahm.

Der Feldgraue tat ein paar tiefe Lungenzüge, dehnte und reckte sich, gähnte ungeniert mit ein paar tiefen A-Lauten und sprach tiefsinnig: "Ja ... ja ..."

"Bescheiden, was?" stimmte Inspektor Meier zu.

"Bescheiden -? Beschissen!" sprach der andere, musterte mit zusammengekniffenen Augen noch einmal die hitzeglühende Landschaft und ließ sich rücklings ins Gras fallen, scheinbar grenzenlos gelangweilt.

Eigentlich hatte Meier weder Zeit noch Lust, Partner einer weiteren Vormittagsdöserei zu werden, aber er fühlte sich doch verpflichtet, neben diesem Manne ein Weilchen auszuhalten. So bemerkte er, um die Unterhaltung nicht ganz versickern zu lassen: "Heiß, was?"

Der grunzte bloß.

Meier sah ihn prüfend von der Seite an und riet: "Baltikumer, was?"

Aber diesmal bekam er nicht einmal ein Grunzen zur Antwort. Dafür rauschte es in den Kiefern. Es erschien, das Meiersche Rad führend, der Förster Kniebusch, weißbärtig, aber kahlköpfig, warf Meier das Rad vor die Füße und sprach schweißtrocknend: "Mensch, Meier, läßt du dein Rad wieder an der offenen Straße liegen?! Und dabei ist es nicht mal deines,

sondern Dienstrad - und wenn es reisen geht, tobt der Rittmeister, und du ..."

Darüber aber hatte der Förster den schwarzgebrannten Fleck gesehen, entzündete sich auf der Stelle zornrot(denn bei einem Beamtenkollegen konnte er sich leisten, was er bei Holzdieben wegen Lebensgefahr nicht wagen durfte) und fing an zu schimpfen: "Hast du verdammter Lauselümmel wieder deine verfluchten Stinkadores geraucht und mir meinen Wald angekokelt?! Na warte, Freundchen, da kann von Freundschaft und abendlichem Skatkloppen keine Rede mehr sein - Dienst ist Dienst, und heute abend noch erfährt der Rittmeister ..."

Aber es stand geschrieben, daß für dieses Mal der Förster Kniebusch keinen Satz zu Ende bringen sollte. Denn nun entdeckte er das scheinbar schlafende, höchst verdächtige, liederlich feldgraue Subjekt im Grase und sprach: "Hast du einen Penner und Waldbrandstifter erwischt, Meier? Großartig, das gibt ein Lob vom Rittmeister; und eine Weile muß er die Klappe halten von wegen Schlappheit und Nicht-Durchgreifen und Angst vor den Leuten. - Wach auf, du Schwein!" schrie der Förster und stieß dem Kerl den Fuß kräftig in die Rippen. "Los! Hoch und ab zu Vater Philipp -!"

Doch der Getretene schob nur die Feldmütze aus dem Gesicht, schoß einen scharfen Blick auf den Wütenden und sprach mit noch schärferer Stimme: "Förster Kniebusch -!"

Es war für Negermeier sehr überraschend und noch mehr vergnüglich anzusehen, welche Wirkung dieser bloße Namensruf auf seinen Skatbruder, den Sachtegänger und Angsthasen Kniebusch hatte. Der fuhr förmlich zusammen, wie vom Donner gerührt, alles Geschimpfe verging ihm, und er sagte ersterbend im Strammstehen: "Herr Leutnant -!"

Der andere rekelte sich langsam hoch, strich die trockenen Halme und Zweiglein von Rock und Hose und sagte: "Heute abend um zehn beim Schulzen Versammlung. Sie benachrichtigen die Leute. Den kleinen Kerl da kannst du mitbringen". Er stand, rückte an seinem Koppel und sagte noch: "Sie können auch melden, wieviel Waffen auf Neulohe greifbar sind, brauchbare Waffen und Munition, verstanden -?!"

"Zu Befehl, Herr Leutnant!" stammelte der alte Rauschebart, aber Meier merkte, wie es ihm einen Puff versetzt hatte.

Das unbestimmte Individuum aber nickte Meier kurz zu, sprach: "Geht in Ordnung, Kamerad!" und verschwand in den Büschen, Kiefernkuscheln, Kiefernstangen, Wald - weg war er wie ein Traum!

"Donnerwetter!" sprach Meier ein wenig atemlos und starrte ins Grüne. Aber das war schon wieder regungslos und flimmerte im Mittagsglast.

"Ja, Donnerwetter sagst du, Meier", schimpfte der Förster los. "Aber ich habe die Rennerei heute nachmittag durchs Dorf. Und ob es allen recht ist, ist noch lange nicht raus. Manche ziehen so komische Gesichter und sagen, es ist alles Quatsch und sie haben von Kapp genug. - Aber "..., fuhr der Förster womöglich noch kläglicher fort, "du hast ihn ja gesehen, wie er ist, ins Gesicht zu sagen wagt es ihm keiner, und wenn er pfeift, kommen sie alle. Nur ich höre immer die Widerreden."

"Wer ist er denn?" fragte Meier neugierig. "So großmächtig sieht er doch gar nicht aus!"

"Wer soll er sein?!" rief der Förster ärgerlich dagegen. "Es ist doch ganz egal, wie er sich nennt, seinen richtigen Namen wird er uns schon nicht sagen. Er ist eben der Leutnant ..."

"Na, Leutnant ist heutzutage nun nicht mehr so besonders viel", meinte Meier, aber imponiert hatte es ihm doch, wie der den Förster gestaucht hatte.

"Weiß ich, ob Leutnant viel oder wenig ist!" murrte der Förster. "Jedenfalls parieren ihm die Leute. Und "..., fuhr er geheimnisvoll fort, "bestimmt haben sie eine große Sache vor, und wenn es gelingt, ist es mit Ebert und der ganzen roten Blase alle!"

"Na, na!" sagte Meier. "Das hat schon mancher gedacht. Rot scheint 'ne waschechte Farbe, die kratzt ihr nicht so leicht ab!"

"Diesmal doch!" flüsterte der Förster. "Sie sollen doch die Reichswehr hinter sich haben, und sie nennen sich selbst die Schwarze Reichswehr. Die ganze Gegend liegt ja voll mit ihnen, aus dem Baltikum und aus Oberschlesien und von der Ruhr auch. Arbeitskommandos werden sie genannt, und entwaffnet sind sie auch. Aber du hast ja selbst gesehen und gehört ..."

"Also ein Putsch!" sagte Meier. "Und ich soll mitmachen? Das muß ich mir erst noch mal gewaltig überlegen. Bloß weil einer sagt: ›Geht in Ordnung, Kamerad!‹ - nee, darum noch lange nicht!"

Der Förster war schon weiter. Er grübelte sorgenvoll: "Vier Jagdflinten hat der alte Herr und zwei Drillinge. Dann die Büchse. Der Rittmeister ..."

"Richtig!" sagte Meier, plötzlich erleichtert. "Wie steht denn der Rittmeister dazu? Oder weiß er etwa gar nichts davon -?"

"Ja, wenn ich das wüßte!" sprach der Förster klagend. "Aber ich weiß es eben nicht! Ich habe schon überall rumgefragt. Nach Ostade fährt der Rittmeister und pichelt manchmal mit den Reichswehroffizieren.

Vielleicht setzen wir uns böse in die Nesseln, und ich verliere, geht die Sache schief, womöglich meine Stellung und ende auf meine alten Tage im Kittchen ..."

"Na, nu weine bloß nicht, altes Walroß!" lachte Meier. "Die Sache ist doch ganz einfach: warum sollen wir denn den Rittmeister nicht einfach fragen, ob er wünscht, daß wir mitmachen oder nicht?"

"O Gott! O Gott!" rief der Förster und schlug nun wirklich die Hände verzweifelt über dem Kopf zusammen. "Du bist doch wirklich der größte Windhund von der Welt, Meier! Nachher weiß der Rittmeister von der ganzen Sache nichts, und wir haben sie ihm verraten. Und das müßtest du doch aus den Zeitungen wissen: Verräter verfallen der Feme! - Und ich "..., fiel ihm plötzlich ein, und der Himmel wurde ganz schwarz, alle Felle schwammen rauschend davon, der Arm ging ihm mit Grundeis ... "Und ich Schafskopf habe dir alles verraten! Ach, Meier, tu mir den Gefallen, gib mir auf der Stelle dein Ehrenwort, daß du keinem Menschen was verrätst! Ich werde auch dem Rittmeister nicht sagen, daß du den Wald angebrannt hast ..."

"Erstens einmal", sagte Meier, "habe ich den Wald nicht angekokelt, sondern das hat dein Leutnant getan - und wenn du den verrätst, weißt du ja Bescheid. Und wenn ich zweitens den Wald wirklich angezündet hätte, ich gehe heute abend um zehn auch zum Schulzen und gehöre also auch zur Schwarzen Reichswehr. Und wenn du mich dann verrätst, Kniebusch, du weißt doch: Verräter verfallen der Feme ..."

Da stand Meier, grinsend, mitten auf der Waldschneise und sah die Klatschbase und den Angsthasen Kniebusch frech und herausfordernd an. Und wenn diese ganze Putschgeschichte zu gar nichts weiter gut ist, dachte er, diesen elenden Ohrwurm erledigt sie - der soll mir nicht noch einmal beim alten Herrn oder beim Rittmeister einen Ton über mich riskieren -!

Ihm gegenüber aber stand der alte Förster Kniebusch, und Röte und Blässe stiegen abwechselnd in sein Gesicht. Da hat man sich nun, dachte er etwa, durch vierzig Dienstjahre mit Hängen und Würgen hindurchgewunden und denkt: es wird ruhiger. Aber nein, es wird immer schlimmer, und wie ich jetzt nachts aus dem Schlaf hochfahre vor Angst, es ist was passiert, so ist es noch nie gewesen. Früher waren es nur die Holzrechnungen und die Angst, ob ich auch richtig addiert hatte, und mal ein Bock, ob er auch auf seinem Wechsel ging, wenn der alte Herr auf Anstand saß.

Aber jetzt liegt man die Nacht im Dunkeln, und das Herz klopft immer schlimmer, und es sind Holzdiebe und Leutnants, und dies Aas wird jetzt

auch noch frech, und es soll geputscht werden ... Und schließlich sitze ich drin, wo ich doch gar nichts gegen den Herrn Reichspräsidenten habe ...

Laut aber sagte er: "Wir sind doch Kollegen, Meier, und haben manchen schönen Skat gekloppt. Ich hab noch nie ein Wort gegen dich beim Herrn Rittmeister gesagt, und das mit dem Waldbrand, das ist mir auch nur so im Zorn herausgefahren. Ich hätte dich nie verraten, natürlich nicht!"

"Natürlich nicht!" sagte Meier und grinste frech. "Jetzt ist es bald zwölf, und zu den Zuckerrüben komme ich doch nicht mehr. Aber zum Füttern muß ich, und darum setze ich mich aufs Rad. Du kannst ja hinterherlaufen, Kniebusch, dir macht das nichts aus, was?!"

Und dabei saß Meier schon auf dem Rade und trat an. Im Losfahren aber schrie er noch einmal: "Geht in Ordnung, Kamerad!", und weg war er.

Der Förster aber starrte ihm nach, schüttelte trübsinnig den Kopf und bedachte, daß er lieber den Schleichpfad statt der großen Straße zur Försterei nehmen wollte. Auf der Straße hätte er vielleicht noch Holzdiebe getroffen, und das wäre doch peinlich gewesen - für den Förster!

2

Der Pfandleiher, der Onkel, saß auf einem hohen Kontorbock und schrieb in seinen Büchern. Ein Angestellter verhandelte halblaut mit zwei Frauen, von denen die eine ein Bündel Betten, in ein Laken geschlagen, hielt. Die andere aber hatte eine schwarze Modellpuppe, wie sie die Schneiderinnen benutzen, umgefaßt. Beide Frauen hatten scharfe Gesichter und den betont unbekümmerten Blick seltener Pfandhausbesucherinnen.

Die Leihe selbst, im Hochparterre eines übergeschäftigen Hauses gelegen, sah wie immer schmierig, staubig, unordentlich aus, obwohl sie peinlich aufgeräumt war. Das durch die weißen Milchglasscheiben der Fenster gefilterte Licht war grau und tot. Wie immer stand der riesige Geldschrank weit offen und eröffnete den Ausblick auf kleine Haufen in weißes Papier geschlagener Päckchen, bei deren Anblick man von kostbaren Juwelen träumen konnte. Wie immer steckten die Schlüssel in dem kleinen eingemauerten Safe, der den Barbestand der Leihe enthielt.

Wolf sah das alles mit einem Blick. Aus Dutzenden von Gängen war es ihm so vertraut, daß er es sah, ohne es recht zu sehen. Es war auch das

übliche, daß der Onkel über seine schmale Goldbrille fort einen raschen Blick auf ihn schoß und dann weiterschrieb.

Wolfgang Pagel wandte sich an den Angestellten, der anscheinend mit der Frau, die ihre Modellpuppe versetzen wollte, nicht einig werden konnte, hob den Koffer auf den Tisch und sagte halblaut-leicht: "Ich bringe mal wieder das Übliche. Bitte, wenn Sie nachsehen wollen ..."

Und er knipste die Schlösser des Handkoffers auf.

Es war wirklich alles da wie sonst; alles, was sie besaßen: eine zweite, im Boden schon dünne Hose von ihm; zwei weiße Herrenhemden; drei Kleider von ihr; ihre Wäsche(spärlich genug) und - das Glanzstück - ein echtes Silbertäschchen, wohl das Geschenk eines Verehrers an Petra, er hatte nie danach gefragt.

"Nicht wahr, drei Dollar wie üblich?" sagte er noch, nur um etwas zu sagen, da der Angestellte, wie ihm schien, etwas zögernd auf die Sachen blickte.

Da sagte der aber auch schon: "Jawohl, Herr Leutnant!"

Und nun, da alles geordnet schien, rief ganz überraschend die hohe Stimme vom Kontorbock: "Nein!"

Wolfgang, der hier nur der Leutnant hieß, und der Angestellte sahen überrascht hoch.

"Nein!" sagte der Onkel noch einmal und schüttelte energisch den Kopf. "Tut mir leid, Herr Leutnant, aber wir können Ihnen diesmal nicht gefällig sein. Es lohnt sich nicht für uns. Sie holen es immer schon den nächsten Tag wieder, all die Schererei - und, wissen Sie, diese Kleider kommen ja auch aus der Mode! - Vielleicht ein anderes Mal wieder, wenn Sie etwas - Modischeres haben."

Der Onkel sah Pagel noch einmal an, hob die Feder, mit der Spitze gegen ihn, so kam es Wolf vor, und schrieb schon weiter. Der Angestellte schloß langsam, ohne hochzusehen, den Kofferdeckel und ließ die Schlösser einschnappen. Die beiden Frauen blickten Wolfgang verlegen und doch ein wenig schadenfroh an, wie Schüler den Mitschüler von der Seite ansehen, wenn er vom Lehrer wegen eines Fehlers getadelt wird.

"Hören Sie einmal, Herr Feld", sagte Pagel lebhaft und ging quer durch die Leihe auf den ruhig Weiterschreibenden zu. "Ich habe da einen reichen Freund im Westen, der mir bestimmt aushilft. Geben Sie mir das Fahrgeld. Ich lasse die Sachen hier, komme heute abend noch vor Geschäftsschluß vorbei, gebe Ihnen das Geld wieder, meinethalben das Fünffache. Oder das Zehnfache."

Der Onkel sah Wolfgang durch die Brille nachdenklich an, runzelte die

Stirn und sagte: "Tut mir leid, Herr Leutnant. Wir geben hier keine Darlehen, wir leihen nur auf Pfänder."

"Aber es sind ja nur die lumpigen paar Tausend Fahrgeld", beharrte Wolf. "Und ich lasse Ihnen die Sachen hier."

"Ohne Pfandschein darf ich die Sachen nicht behalten", sagte der Verleiher. "Und ich will sie nicht in Pfand. Tut mir leid, Herr Leutnant."

Er sah Wolfgang noch einmal mit gerunzelter Stirn aufmerksam an, als wolle er die Wirkung seiner Worte ihm vom Gesicht ablesen, dann nickte er leicht und kehrte zu seinen Büchern zurück. Auch Wolfgang hatte die Stirn gerunzelt, auch er nickte dem Schreibenden leicht zu, wie zum Zeichen, daß er die Weigerung nicht übel aufnehme, und wandte sich zur Tür. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er drehte sich rasch um, ging noch einmal auf Herrn Feld zu und sagte: "Wissen Sie was, Herr Feld?! Kaufen Sie mir den ganzen Kitt ab. Für drei Dollar. Dann hat die liebe Seele Ruh". Ihm war eingefallen, daß der reiche Zecke ihm sicher mit einer größeren Summe aushelfen würde. Es würde ein Riesenspaß sein, Peter mit einer völlig neuen Ausstattung zu überraschen. Was sollte sie da noch mit dem alten Plunder? Nein, weg mit dem Kram!

Herr Feld schrieb noch eine Weile weiter. Dann steckte er die Feder ins Faß, lehnte sich etwas zurück und sagte: "Ein Dollar, mit dem Koffer, Herr Leutnant. Wie gesagt, die Sachen sind - nicht modern". Sein Blick fiel auf die Wanduhr. Es war zehn Minuten vor zwölf. "Und zum gestrigen Dollarkurs."

Einen Augenblick wollte sich Wolfgang ärgern. Es war die frechste Beutelschneiderei von der Welt! Einen Augenblick überkam es Wolfgang leise, leise, als müsse er auch an den Peter denken - Waschzeug und sein uralter Sommerpaletot waren zur Zeit ihr einziger Besitz. Aber ebenso rasch kam der Gedanke: Zecke gibt Geld. Und wenn nicht er, ich habe noch immer Geld geschafft! - Und er sagte mit einer raschen Handbewegung, die zeigen sollte, wie wenig es darauf ankam: "Also, in Ordnung! Her mit dem Zaster! Vierhundertvierzehntausend!"

Es war wirklich ein Dreck, wenn er bedachte, daß er gestern abend nahezu dreißig Millionen auf Null verspielt hatte. Und man mußte lachen über solche Mikrobe wie den Feld, der sich um diesen Dreck abmühte, um diese lächerlichen Beträge!

Der Onkel, der böse, zähe Onkel, die Mikrobe, kletterte langsam von seinem Kontorbock herunter, ging zum Safe, wühlte eine Weile darin und zählte Wolfgang dann vierhunderttausend Mark auf.

"Fehlen noch vierzehn", sagte Wolfgang.

"Vier Prozent Skonto gehen wie handelsüblich für Barzahlung ab", sagte Herr Feld. "Macht eigentlich dreihundertachtundneunzigtausend. Zweitausend schenke ich Ihnen, weil Sie alter Kunde sind."

Wolfgang lachte: "Tüchtig sind Sie nun einmal, Onkelchen! Sie kommen zu was, passen Sie auf! Ich werde dann Chauffeur bei Ihnen, ja?"

Herr Feld nahm es ernst. Er protestierte: "Von Ihnen mich fahren lassen, Herr Leutnant! Nein, nicht für umsonst! Wo es Ihnen doch auf gar nichts ankommt, nicht einmal auf Ihre Sachen. Nein, nein "... Und wieder ganz der Pfandleiher: "Also, wenn wieder einmal etwas ist, Herr Leutnant. Bis dahin!"

Pagel ließ die Scheine mit dem schönen Holbeinischen Bild des Kaufmanns Georg Giße - der sich auch nicht gegen den Mißbrauch seiner Person wehren konnte - in der Hand knistern und sagte lachend: "Wer weiß, vielleicht verhilft mir dies zu einem eigenen Auto!"

Die Miene des Pfandleihers blieb sorgenvoll, er schrieb. Lachend trat Wolfgang auf die Straße.

3

Nach der ekelhaften Verhandlung in der Schnitter-Vermittlung, fand Rittmeister von Prackwitz, hatte er ein wenig Ausspannung verdient. Aber wo ging man hin, so am frühen Vormittag? Dies war eine Zeit, um die der Rittmeister bisher noch nicht oft unterwegs gewesen war in Berlin. Schließlich fiel ihm ein Hotel-Café in der Friedrichstadt ein, wo man angenehm sitzen und vielleicht ein paar gut angezogene Frauen sehen konnte.

Der erste Mensch, den der Rittmeister in der Hotelhalle sah, war natürlich ein Bekannter.(Prackwitz traf in "seiner" Gegend - natürlich nicht am Schlesischen Bahnhof - immer Bekannte. Oder Bekannte von Bekannten. Oder Verwandte. Oder Bekannte von Verwandten. Oder Kameraden vom Regiment. Oder Kameraden aus dem Krieg. Oder Baltikumer. Oder "Schnöffels", wie man im Rrr'ment die Muschkoten früher genannt hatte. Er kannte in aller Welt alle Welt.)

Diesmal war es sogar ein Regimentskamerad, Oberleutnant von Studmann.

Herr von Studmann stand in der Halle, tadelloser Gehrock, spiegelnde Schuhe(zu so früher Stunde!), und schien einen Augenblick über das Wiedersehen etwas verlegen. Aber der Rittmeister merkte in seiner Freude, einen Gefährten für die zwei Stunden Wartezeit gefunden zu

haben, nichts davon.

"Studmann, Alter - großartig, daß ich dich mal wiedersehe! Ich habe zwei Stunden Zeit für dich. Hast du schon Kaffee getrunken -? Ich will grade - zum zweiten Male, heißt das. Aber der erste auf dem Schlesischen rechnet nicht, er war schauerlich. Wann haben wir uns eigentlich das letztemal gesehen? In Frankfurt - zum Offizierstreffen? Na, egal, jedenfalls bin ich froh, dich mal wiederzusehen. Aber komm doch, da drinnen sitzt man ganz gemütlich, wenn ich mich recht erinnere ..."

Oberleutnant von Studmann sagte sehr leise und deutlich, aber etwas mühsam: "Gerne, Prackwitz - sobald es meine Zeit erlaubt. Ich bin nämlich - äh - Empfangschef in diesem Laden. Ich will nur erst mal die Gäste vom Neun-Uhr-vierzig-Zug ..."

"Au verdammt!" sagte der Rittmeister plötzlich ebenso leise und ganz verdüstert. "Die Inflation, was -? Diese Gauner! Na, ich kann auch ein Lied singen!"

Von Studmann nickte trübe, als sei ihm selbst das Liedsingen schon längst vergangen. Angesichts des langen, glatten, energischen Gesichts wollte Prackwitz sich eines gewissen Abends erinnern, da man das E. K. Erster dieses selben Studmann gefeiert hatte - es war Anfang fünfzehn gewesen, tatsächlich das erste E. K. Erster, das an das Regiment gefallen war ... Er wollte sich an das lachende, frohe, übermütige, allerdings rund acht Jahre jüngere Gesicht dieses selben Studmann erinnern, aber da sagte der grade: "Jawohl, Portier, sofort "... Er wendete sich mit einer bedauernden, vertröstenden Bewegung an von Prackwitz und ging dann auf eine ziemlich umfangreiche Dame im staubgrauen Seidenmantel zu: "Bitte sehr, gnädige Frau -?"

Einen Augenblick sah der Rittmeister zu, wie der Freund dort stand, leicht vorgeneigt, und mit ernstem, doch freundlichem Gesicht den heftig vorgebrachten Wünschen oder Beschwerden der Dame lauschte. Dabei stieg ein Gefühl tiefer Trauer in ihm auf, gestaltloser, alles durchdringender Trauer: Zu nichts Besserem gut? fragte es in ihm. Etwas wie Scham überkam ihn, als habe er den Kameraden bei etwas Entwürdigendem, Entehrendem beobachtet. Er wandte sich rasch ab und trat in das Café.

Im Hotel-Café war die frühe, vormittägliche Stille, die dort immer herrscht, wenn nur erst die Hausgäste da sind, das Straßenpublikum noch nicht seinen Einzug gehalten hat. Wenige Gäste saßen paarweise oder einzeln an weit voneinander gelegenen Tischen. Eine Zeitung raschelte, ein Paar sprach halblaut, die Kaffeekännchen aus Neusilber glänzten matt, ein Löffel klirrte an einer Tasse. Die wenig beschäftigten

Kellner standen still an ihren Plätzen; einer zählte behutsam Bestecke, wobei er jeden unnötigen Lärm vermied.

Der Rittmeister hatte rasch einen zusagenden Platz gefunden. Der sofort auf die Bestellung folgende Kaffee war so gut, daß er sich vornahm, Studmann ein paar anerkennende Worte zu sagen.

Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Das könnte ihn ja beschämen, dachte er. Oberleutnant von Studmann und ein wirklich frisch gebrühter Hotelkaffee!

Der Rittmeister versuchte zu ergründen, warum ihn denn schon wieder dieses Gefühl der Beschämung überkam, als tue Studmann etwas Verbotenes, ja, Unanständiges.

Es ist doch Arbeit wie jede andere, dachte er verwundert. So beschränkt sind wir doch alle nicht mehr, daß wir eine Arbeit geringer achten als die andere. Schließlich sitze ich ja auch nur von Schwiegervaters Gnaden auf Neulohe und kratze ihm seine Pacht zusammen - mit vielen Sorgen. Woran liegt es also -?

Plötzlich überkam es ihn, daß es vielleicht daran liegen mochte, daß Studmann diese Arbeit nur gezwungen tat. Ein Mann muß arbeiten, gewiß, wenn er vor sich ein Recht haben will, zu sein. Aber es gibt einen freien Willen in der Wahl der Arbeit; verhaßte Arbeit, nur um des Geldes willen, schändet. - Er würde sich ja nie diese Arbeit gewählt haben, dachte er. Es gab keine Wahl für ihn.

Und ein Gefühl hilflosen Hasses überfiel den Rittmeister Joachim von Prackwitz. Irgendwo in dieser Stadt stand eine Maschine - natürlich eine Maschine, Menschen würden sich nie zu so etwas mißbrauchen lassen! - und erbrach Tag und Nacht Papier über die Stadt, das Volk. "Geld" nannten sie es, sie druckten Zahlen darauf, wunderbare, glatte Zahlen mit vielen Nullen, die immer runder wurden. Und wenn du gearbeitet hast, wenn du dich geschunden hast, wenn du dir etwas erspart hast auf deine alten Tage - es ist schon alles wertlos geworden, Papier, Papier - Dreck!

Und um dieses Drecks willen stand Kamerad Studmann in der Hotelhalle und machte Dienerchen. Gut, sollte er dort stehen, sollte er Dienerchen machen - aber nicht wegen Dreck. Schmerzhaft deutlich sah der Rittmeister wieder das freundlich-ernste Gesicht des Freundes, wie er es eben gesehen.

Plötzlich wurde es dunkel, langsam dann heller. Eine kleine Rüböllaterne baumelte von dem rohen, nicht zugehauenen Deckbalken. Sie warf ihren warmen, rötlichen Schein direkt in das Studmannsche

Gesicht - und dieses Gesicht lachte, lachte! Die Augen funkelten vor Freude, hundert Fältchen sprangen und zuckten in ihren Winkeln.

Auch das wiedergeschenkte Leben ist in diesem Lachen, sprach eine Stimme im Rittmeister.

Es war nichts, nur eine Erinnerung an eine Nacht in einem Unterstand - wo war es gewesen -? Irgendwo in der Ukraine. Es war ein reiches Land, Kürbisse und Melonen wuchsen zu Hunderten auf den Feldern. Sie hatten sich von dem Überfluß in den Unterstand geholt, auf Wandbretter gelegt. Sie schliefen, eine Ratte(es gab Tausende von Ratten), eine Ratte stieß einen Kürbis vom Brett. Er fiel einem Schläfer auf den Kopf, in das schlafende Gesicht. Der Schläfer schrie gräßlich auf, der weiterrollende Kürbis tat Schlag um Schlag. Sie lagen, alle erwacht, atemlos, flach in ihre Decken gedrückt, in Erwartung der Sprengstücke des Einschlages. Sekunden der Todesangst - das Leben verrauscht, jetzt lebe ich noch, ich will etwas denken, was sich lohnt, die Frau, das Kind, das Mädchen Weio, ich habe noch hundertfünfzig Mark in der Tasche, besser, hätte ich meine Weinrechnung bezahlt, die sind nun auch futsch ...

Und nun das Lachen von Studmann: Kürbis! Kürbis!

Sie lachen, lachen! Auch das wiedergeschenkte Leben ist in diesem Lachen. Der kleine Geyer wischt sich die blutende Nase und lacht auch. Richtig, Geyer hieß er. Er fiel wenig später, Kürbisse waren im Kriege Ausnahmen.

Aber das war es gewesen: echte Furcht und echte Gefahr und echter Mut! Zittern - aber dann aufspringen, entdecken, daß es nur ein Kürbis war, und wieder lachen! Über sich, über die Furcht, über dies närrische Leben - weitergehen, die Straße hinunter, auf den nicht existenten Punkt zu. Aber von etwas bedroht zu werden, das Papier kotzte, von etwas gezwungen zu werden, das die Welt um Nullen bereicherte - das war schändlich! Es schmerzte den Mann, der es tat; es schmerzte den Mann, der es den andern tun sah.

Prackwitz sieht aufmerksam den Freund an. Von Studmann ist schon vor einer Weile eingetreten und hört dem Kellner zu, der vor einer Weile so achtsam die Bestecke zählte und der jetzt aufgeregt irgend etwas vorbringt. Sicher eine Beschwerde über irgendeinen Kollegen. Prackwitz kennt aus eigener Erfahrung dieses zänkische, hitzige Reden.(Mit seinen Beamten auf Neulohe ist es ihm nicht anders ergangen. Ewige Zänkerei, ewiger Klatsch. Am liebsten würde er ja weiter mit nur einem Beamten wirtschaften, damit ihm wenigstens dieser Ärger erspart bleibt. Aber er muß wirklich sehen, daß er noch jemanden kriegt. Die Diebstähle nehmen überhand, Meier schafft es nicht, und Kniebusch ist alt und

verbraucht. Nun, das nächste Mal. Dieses Mal ist keine Zeit mehr, um zwölf muß er auf dem Schlesischen Bahnhof sein.)

Der Kellner redet noch immer, redet sich in Brand und Flammen. Von Studmann hört ihm zu, freundlich, aufmerksam, ab und an sagt er ein spärliches Wort, nickt auch mal, schüttelt mit dem Kopfe. Es ist kein Leben mehr in ihm, entscheidet der Rittmeister. Ausgebrannt. Erloschen. - Aber, denkt er mit plötzlichem Erschrecken, vielleicht bin auch ich ausgebrannt und erloschen - merke es bloß nicht?

Dann plötzlich - ganz überraschend - sagt Studmann einen einzigen Satz. Der Kellner, völlig aus dem Konzept gebracht, bricht jäh ab. Studmann nickt ihm noch einmal zu und geht an den Tisch des Freundes.

"So", sagt er und setzt sich - und sofort wird sein Gesicht lebendiger. "Nun, denke ich, habe ich eine halbe Stunde Zeit. Wenn nichts dazwischenkommt". Er lächelt Prackwitz aufmunternd zu. "Aber es kommt eigentlich immer was dazwischen."

"Du hast viel zu tun?" fragt Prackwitz, ein wenig verlegen.

"Gott, zu tun!" Studmann lacht kurz. "Wenn du die andern fragst, hier die Liftboys oder die Kellner oder die Portiers, die werden dir erzählen, daß ich gar nichts zu tun habe, nur so rumstehe. Und doch bin ich abends so hundemüde wie nur damals, wenn wir Schwadronsexerzieren hatten und der Alte schliff uns."

"So etwas wie einen Alten gibt es hier vermutlich auch?"

"Einen -? Zehn, zwölf! Generaldirektor, drei Direktoren, vier Subdirektoren, drei Geschäftsführer, zwei Prokuristen -"

"Bitte, höre auf!"

"Aber am Ende ist es nicht so schlimm. Es hat viel Ähnlichkeit mit dem Militär. Befehlen, gehorchen - tadellose Organisation ..."

"Aber doch immerhin Zivilisten "..., meinte von Prackwitz bedenklich und dachte dabei an Neulohe, wo Gehorchen lange nicht immer auf Befehlen folgte.

"Natürlich", bestätigte Studmann auch. "Es ist etwas loser als damals, zwangloser. Darum schwieriger für den einzelnen, möchte ich sagen. Der ordnet etwas an, und du weißt nicht genau, ob er ein Recht hat, es anzuordnen. Keine ganz klar abgegrenzten Befugnisse, verstehst du?"

"Das gab es aber auch bei uns", meinte Prackwitz. "Irgendein Offizier mit einem Sonderauftrag, weißt du?"

"Gewiß, gewiß. Aber im ganzen kann man sagen, es ist eine staunenswerte Organisation, ein musterhafter Riesenbetrieb. So etwas

wie unsere Wäscheschränke solltest du einmal sehen. Oder die Küche. Oder die Einkaufskontrolle. Staunenswert, sage ich dir!"

"Es macht dir also ein bißchen Spaß?" fragte der Rittmeister vorsichtig.

Die Lebhaftigkeit von Studmann erlosch. "Gott, Spaß! Nun ja, vielleicht. Aber darauf kommt es doch nicht an, nicht wahr? Wir müssen leben - wie? - weiterleben, nach alledem. Ganz einfach weiterleben. Trotzdem man es sich mal anders dachte."

Prackwitz sah prüfend in das umschattete Gesicht des andern. Ja, wieso müssen? dachte er flüchtig, ein wenig geärgert. Und er fand die einzig mögliche Erklärung, fragte laut: "Du bist verheiratet? Hast Kinder?"

"Ich?" fragte Studmann sehr erstaunt. "Aber nein! Kein Gedanke!"

"Nein, nein, natürlich nicht", sagte der Rittmeister, ein wenig schuldbewußt.

"Schließlich, warum nicht? Aber es hat sich nicht so gemacht", sagte von Studmann nachdenklich. "Und heute? Nein! Wo die Mark täglich wertloser wird, wo man zu tun hat, das bißchen Geld für sich zusammenzukratzen ..."

"Geld -? Dreck!" sagte der Rittmeister scharf.

"Ja, natürlich", antwortete Studmann leise. "Dreck, ich verstehe dich schon. Ich habe deine Frage vorhin auch ganz richtig verstanden, oder vielmehr deine Gedanken. Warum ich für solchen ›Dreck‹ dies hier tue, ungern tue, meinst du "... Prackwitz wollte bestürzt protestieren. "Ach, red nicht, Prackwitz!" sagte von Studmann zum ersten Male wärmer. "Ich kenne dich doch! Geld - Dreck, das ist keine bloße Inflationsweisheit von dir, ein bißchen dachtest du früher schon so. Du -? Wir alle! Geld war jedenfalls etwas, was sich von selbst verstand. Man hatte seinen Wechsel von Haus und seine paar Groschen vom Rrr'ment, man sprach nicht davon. Und wenn man einmal etwas nicht gleich bezahlen konnte, mußte der Mann eben warten. So war es doch? Geld war etwas, das Nachdenken nicht verlohnte "... Prackwitz wiegte zweiflerisch den Kopf und wollte etwas einwenden. Aber Studmann sagte eiliger: "Ich bitte dich, Prackwitz, so ungefähr war es. Aber heute frage ich mich - nicht doch, ich bin meiner Sache ganz sicher, daß wir alle ganz falsch davor waren, keine Ahnung von der Welt hatten. Geld, das habe ich mittlerweile entdeckt, ist etwas sehr Wichtiges, etwas, das alles Nachdenken verlohnt ..."

"Geld!" sagte von Prackwitz empört. "Wenn es wenigstens noch richtiges Geld wäre! Aber dieses Papierzeug ..."

"Prackwitz!" sagte Studmann vorwurfsvoll. "Was heißt denn richtiges Geld?! So etwas gibt es ja gar nicht, wie es auch kein unrichtiges Geld gibt. Geld, das ist einfach das, was man zum Leben braucht, die Basis des Da-Seins, das Brot, das wir jeden Tag essen müssen, um da zu sein, der Anzug, den wir tragen müssen, um nicht zu erfrieren ..."

"Aber das ist ja Mystik!" rief von Prackwitz ärgerlich. "Geld ist doch eine sehr einfache Sache! Geld ist eben - früher jedenfalls, meine ich - wenn du da einen Goldfuchs hattest, aber Papier ging auch, Papier war damals was anderes, weil man Gold dafür bekam ... Also Geld, ich meine, ganz egal welches Geld - du verstehst doch "... Nun wurde er über sich selbst wütend, über dieses blödsinnige Gestammel. Sollte man denn das nicht richtig und klar sagen können, was man so richtig und klar empfand -? "Also", schloß er, "wenn ich Geld habe, will ich wissen, was ich mir dafür kaufen kann."

"Ja, natürlich", sagte Studmann und hatte nichts von der Verwirrung des Freundes gemerkt, sondern spann munter seinen eigenen Gedankenfaden fort. "Natürlich waren wir falsch davor. Ich habe entdeckt, daß neunundneunzig Prozent der Menschen sich sehr um das Geld quälen müssen, daß sie Tag und Nacht daran denken, davon reden, es einteilen, sparen, wieder anfangen - kurz, daß Geld das ist, worum sich die Welt dreht. Daß es einfach lächerlich lebensfremd ist, nicht an das Geld zu denken, nicht davon reden zu wollen - das Wichtigste, was es gibt!"

"Aber ist das denn richtig?!" rief Prackwitz aus, verzweifelt über den neuen Geisteszustand des Freundes. "Ist das denn etwa schön -? Bloß leben, um das bißchen Hunger satt zu kriegen?!"

"Gewiß ist es nicht richtig. Gewiß ist es nicht schön", stimmte Studmann zu. "Aber danach wird nicht gefragt, vorläufig ist es so. Und wenn es so ist, darf man nicht die Augen zukneifen, sondern muß sich damit beschäftigen. Und wenn man es nicht schön findet, muß man sich fragen, wie ändert man es?"

"Studmann", fragte von Prackwitz ganz bestürzt und verzweifelt, "Studmann, du bist doch nicht etwa Sozi geworden -?"

Der ehemalige Oberleutnant sah einen Augenblick so bestürzt und verblüfft aus, als habe man ihn eines Meuchelmordes verdächtigt. "Prackwitz", sagte er, "alter Kriegsgenosse, die Sozis denken doch über das Geld genauso - wie du! Nur möchten sie es dir wegnehmen, damit sie es haben. Nein, Prackwitz, ein Sozi bin ich gewiß nicht. Und werde es auch nicht."

"Aber was bist du denn?" fragte von Prackwitz. "Zu irgendeiner Gruppe

oder Partei mußt du doch schließlich gehören."

"Wieso?" fragte von Studmann. "Warum muß ich das eigentlich?"

"Ja, ich weiß nicht", sagte von Prackwitz, ein wenig verblüfft. "Zu irgendwas gehört doch schließlich jeder von uns, das ist doch schon wegen der Wahlen. Irgendwie muß man sich doch einordnen, ins Glied treten. Es ist gewissermaßen - ordentlich!"

"Wenn es für mich aber noch keine Ordnung gibt?" fragte von Studmann.

"Ja "..., sagte Prackwitz nachdenklich. "Ich weiß noch", erinnerte er sich, "ich hatte da mal so einen Kerl in der Schwadron, einen Schnöffel, sagten wir ja immer, einen Sektierer, wie hieß er doch? Grigoleit, jawohl, Grigoleit! Ein ganz proprer, ordentlicher Mann. Aber er weigerte sich, einen Karabiner oder ein Seitengewehr anzufassen. Bitten half nichts, Stauchen half nichts, Strafen half nichts. ›Zu Befehl, Herr Leutnant‹, sagte er - ich war Leutnant, es war noch im Frieden -, ›aber ich darf es nicht. Sie haben Ihre Ordnung, und ich habe meine Ordnung. Und weil ich meine Ordnung habe, darf ich mich nicht an ihr versündigen. Einmal wird ja doch meine Ordnung Ihre Ordnung sein ...‹ Und solches Zeug, irgendein Sektierer, Pazifist, aber von der anständigen Sorte, nicht diese Drückeberger, die ›Nie wieder Krieg!‹ schreien, weil sie feige sind ... Nun, man hätte ihm natürlich das Leben zur Hölle machen können. Aber der Alte war auch vernünftig und sagte: ›Er ist ja bloß ein armer Idiot!‹ Und so wurde er d. u. 15 geschrieben, weißt du, wegen bestehender Geisteskrankheit ..."

Der Rittmeister schwieg nachdenklich, vielleicht sah er den dicken, rundköpfigen Grigoleit mit dem weißblonden Haar vor sich, der so gar nicht nach einem Märtyrer aussah.

Studmann aber lachte hell heraus. "O Prackwitz!" rief er. "Du bist doch noch immer der alte! Und wie du mir hier eben in aller Unschuld Idiotie und bestehende Geisteskrankheit bescheinigt hast - ohne es auch nur zu merken -, das erinnert mich doch sehr lebhaft daran, wie du damals nach dem Manöver unserm Alten, der wahnsinnig schlecht abgeschnitten hatte, zum Trost von einem Major erzähltest, der sogar bei der Manöverkritik vor der versammelten Generalität vom Gaul gefallen war und doch nicht den blauen Brief bekommen hatte! Und weißt du noch -?"

Damit verloren sich die beiden Freunde in gemeinsame Erinnerungen, ihre Stimmen wurden lebhafter. Aber das machte nichts. Jetzt fing das Café an sich zu füllen. Geschäftig liefen die Kellner, trugen schon die ersten Biergläser, Stimmen schwirrten. Das Gespräch der beiden war nur

eines von vielen.

Nach einer Weile aber, als sie sich genug erinnert und genug gelacht hatten, sagte der Rittmeister: "Ich möchte dich auch noch was fragen, Studmann. Ich sitze da so allein auf meiner Klitsche und höre und sehe immer nur dieselben Leute. Aber du bist hier in der Großstadt und noch dazu in solchem Betriebe, und sicher hörst und weißt du mehr als wir alle."

"Ach, wer weiß denn heute was?!" fragte Studmann und lächelte. "Glaub mir, selbst Herr Ministerpräsident Cuno hat keine Ahnung, was morgen wird."

Aber Prackwitz ließ sich nicht beirren. Er saß ein wenig zurückgelehnt, die langen Beine übereinandergeschlagen, rauchte mit Wohlbehagen und sprach: "Du denkst vielleicht, der Prackwitz ist fein raus, er hat ein Rittergut und ist ein großer Mann. Aber ich sitze nicht fest, ich muß sehr vorsichtig sein. Neulohe gehört nicht mir, es gehört meinem Schwiegervater, dem alten Herrn von Teschow - ich habe ja schon lange vor dem Kriege die kleine Eva Teschow geheiratet - ach, verzeih, du kennst ja meine Frau! Nun, ich habe Neulohe gepachtet von meinem Schwiegervater - und der alte Knabe hat den Pachtzins nicht billig gemacht, das kann ich dir sagen. Manchmal habe ich ekelhafte Sorgen. - Jedenfalls muß ich sehr vorsichtig sein. Neulohe ist unsere einzige Existenz, und wenn mir was passiert - der alte Mann liebt mich nicht, der nimmt mir die Klitsche bei dem kleinsten Anlaß sofort wieder ab."

"Und was kann dir passieren?" fragte Studmann.

"Ja, sieh mal, ich bin ja kein Einsiedler und die Eva erst recht nicht, und so haben wir unser bißchen Verkehr in der Gegend, und natürlich auch mit den Kameraden von der Reichswehr. Und da hört man denn so allerlei. Und geflüstert wird auch, direkt und indirekt."

"Und was hört man und was sieht man?"

"Daß etwas losgehen soll, Studmann, wieder einmal. Man ist ja auch nicht blind. Das ganze Land steckt voll bei uns von Leuten, Arbeitskommandos nennen sie sich, aber du mußt sie nur sehen. ›Schwarze Reichswehr‹, wird geflüstert."

"Das kann wegen Entente und Kontrollkommission sein, Schnüffelkommission", sagte von Studmann.

"Natürlich - und daß sie Waffen vergraben und wieder ausgraben und wegholen, das kann auch darum sein. Aber es ist nicht nur darum, Studmann, es wird mehr geflüstert, es ist mehr zu sehen. Kein Zweifel: es wird auch in der Zivilbevölkerung geworben, vielleicht schon in

meinem eigenen Dorf. Der Besitzer erfährt ja immer zuletzt davon, daß der Hof brennt. An Neulohe grenzt Altlohe, und da sind viele Industriearbeiter, und das bedeutet natürlich Feindschaft bis aufs Messer mit uns vom Hof und mit den Bauern in Neulohe. Denn wo die einen zu essen haben und die andern haben Hunger, da ist es wie in einem Pulverfaß - und geht es in die Luft, fliege ich mit."

"Ich sehe noch nicht recht, wie du da etwas hindern kannst", sagte von Studmann.

"Hindern ... Aber vielleicht werde ich mich entscheiden müssen, ob ich mitmache oder nicht? Man will doch nicht unkameradschaftlich sein. Es sind doch die alten Kameraden bei der Reichswehr, Studmann, und wenn die was riskieren wollen und die Karre aus dem Dreck holen, und man wäre dann nicht dabeigewesen - man müßte sich ja zu Tode schämen! Ja, und vielleicht ist doch alles nur Gequatsche, Gemache von ein paar Abenteurern, aussichtsloser Putsch - und darum Hof und Auskommen und Familie riskieren ..."

Der Rittmeister sah Studmann fragend an. Der meinte: "Hast du denn niemanden bei der Reichswehr, den du beiseite nehmen und auf Ehre und Gewissen fragen kannst -?"

"Gott, fragen, Studmann! Natürlich kann ich fragen, aber wer weiß denn was? Bei so was wissen doch nur drei, vier wirklich Bescheid, und die antworten dir bestimmt nicht. - Hast du mal von einem Major Rückert gehört?"

"Nein", sagte Studmann. "Von der Reichswehr?"

"Ja, siehst du, Studmann, das ist es ja gerade! Dieser Rückert soll der Mann sein, welcher ... Aber ich kann nicht einmal rausbringen, ob er zur Reichswehr gehört oder nicht. Die einen sagen ja, die andern sagen nein, und die ganz Schlauen zucken die Achseln und sagen: ›Das weiß er vielleicht selber nicht!‹ Und das klingt dann wieder so, als stünden andere hinter ihm - es ist wirklich zum Verzweifeln, Studmann!"

"Ja", sagte Studmann. "Ich verstehe schon. Wenn es nötig ist, sofort -, aber für irre Abenteuer - danke!"

"Richtig!" sagte Prackwitz.

Dann schwiegen beide. Aber Prackwitz sah weiter erwartungsvoll auf Studmann, den gewesenen Oberleutnant und jetzigen Hotelempfangschef.(Trug beim Rrr'ment den Spitznamen "das Kindermädchen".) Schließlich ein Mann mit neuerdings sehr merkwürdigen, eigentlich schon verdächtigen Ansichten über Geld und gottgewollte Armut. Sah auf ihn, als erwarte er von seiner Antwort

Befreiung aus allen Zweifeln.

Und schließlich sagte dieser Studmann auch langsam: "Ich glaube, du solltest dir nicht solche Sorgen machen, Prackwitz. Du solltest einfach warten. Wir kennen das doch eigentlich aus dem Felde. Sorge und auch mal Angst hatte man nur, wenn man in Ruhe oder still im Graben lag. Aber wenn es dann hieß: Raus und vorwärts! - dann war man da und ging los, und alles war vergessen. Du wirst das Signal schon nicht überhören, Prackwitz. Wir haben es im Felde doch schließlich gelernt, das ruhige Warten ohne Grübeln - warum soll man es jetzt nicht können?"

"Recht hast du!" sagte der Rittmeister dankbar, "und ich will auch daran denken! Es ist komisch, daß man jetzt nicht mehr warten kann! Ich glaube, es macht dieser blöde Dollar. Laufe, renne, schnell noch was einkaufen, hetze, jage ..."

"Ja", sagte Studmann. "Jagen und gejagt werden, Jäger und Wild zugleich, das macht so böse und ungeduldig. Aber man braucht beides nicht. Ja "..., lächelte er, "aber nun muß ich wieder los, ganz bin ich ja auch nicht frei davon. Ich sehe da den Portier winken. Vielleicht jagt schon ein Direktor nach mir, wieso und warum ich denn eigentlich nirgendwo zu sehen bin. Und ich werde die Stubenmädchen wieder ein wenig jagen, damit die Zimmer der Abreisen um zwölf fertig sind. Also Weidmanns Heil, Prackwitz! Und wenn du heute um sieben noch in der Stadt sein solltest und hast nichts vor ..."

"Dann bin ich schon längst wieder in Neulohe, Studmann", sagte von Prackwitz. "Aber ich habe mich wirklich unsinnig gefreut, direkt unsinnig gefreut, dich wiederzusehen, Studmann, und wenn ich mal wieder in die Stadt komme ..."

4

Das Mädchen saß allein, unbeweglich, beschäftigungslos, immer noch auf dem Bett in der Stube. Der Kopf war ein wenig gesenkt, die Linie, die aus dem Rücken über den Nacken zum Kopf führte, war nachgiebig, weich. Das kleine, klare, reinlinige Gesicht stand weich in der Luft, die Lippen waren halb geöffnet, der auf die verschabten Dielen gerichtete Blick sah nichts. Unter dem auseinandergeglittenen Mantel schimmerte das nackte Fleisch, leicht bräunlich, sehr fest. Die Luft war stickig, voller Gerüche ...

Das voll erwachte Haus marschierte schreiend, rufend, weinend, Türen schlagend und Treppen polternd durch seinen Tag. Das Leben äußerte

sich hier vor allem durch Geräusche, und weiter noch durch Zersetzung, durch Gestank. In der Blechstanzerei im Erdgeschoß schrie zerschnittenes Blech auf, es klang, als schrien Katzen oder gequälte Kinder. Dann war es wieder fast still, nur die Treibriemen schnurrten und surrten auf den Transmissionen. Das Mädchen hörte eine Uhr zwölf schlagen.

Unwillkürlich hob es den Kopf und sah nach der Tür. Wenn er nach dem "Onkel" noch einmal zu ihr hereinsah, etwa, um ihr etwas zu essen zu bringen, mußte er jetzt kommen. Er hatte so etwas von gemeinsamem Frühstück gesagt. Aber er kam nicht, sie hatte das bestimmte Gefühl, er kam nicht. Er fuhr sicher direkt zu seinem Freund. Wenn er dort Geld bekam, ging er vielleicht noch zu ihr, vielleicht aber auch direkt zum Spielen, und sie sah ihn erst gegen Morgen wieder, ausgebeutelt oder mit Geld in den Taschen. Gleichviel, sie sah ihn wieder.

Ja, überfiel es sie plötzlich, war es denn so sicher, daß sie ihn wiedersah -? Sie hatte sich daran gewöhnt: er war immer fortgegangen, und er war immer wiedergekommen. Was er auch getrieben hatte, wo er auch gewesen war, stets hatte sein Weg hier bei ihr in der Georgenkirchstraße geendet. Er war über den Hof gegangen, die Treppen hinaufgestiegen - und er war bei ihr angelangt, freudig erregt oder völlig erschöpft.

Aber, dachte sie zum ersten Male, zutiefst erschreckt, aber ist es denn sicher, daß er immer wiederkommt -?! Es war doch möglich, daß er einmal nicht wiederkam, vielleicht heute schon. Nein, heute kam er natürlich noch wieder, er wußte doch, wie sie dasaß, sehr hungrig, nackt in seinem schäbigen Sommerpaletotchen, ohne die einfachsten Lebensbedürfnisse, mit Schulden bei der Wirtin. Heute kam er bestimmt noch wieder - aber morgen vielleicht schon -?

Ich habe nie etwas von ihm verlangt, denkt sie. Warum soll er nicht wiederkommen? Ich war nie eine Last für ihn!

Dann fällt ihr ein, daß sie doch etwas von ihm verlangt hat, daß sie es immer weiter verlangt, nicht mit Worten, aber sie verlangt es darum nicht weniger: daß er nämlich zurückkommt zu ihr.

Auch das kann einmal eine Last für ihn sein, denkt sie, von einer grenzenlosen Traurigkeit erfüllt. Auch meine Liebe kann einmal eine Last für ihn sein, und dann kehrt er nicht heim.

Es wird heiß und heißer. Sie steht mit einem Ruck von der Bettkante auf, geht zum Spiegel und bleibt vor ihm stehen. Ja, das ist sie - Petra Ledig -, aber auch das kann ihn nicht halten. Haar und Fleisch, ein eiliger Ruch, Begehren, Erfüllen - aber die Welt ist voll davon. Flüchtig fallen ihr

die tausend Zimmer ein, in die um diese Stunde schon wieder das Vormittagsbegehren einkehrt: Küsse werden getauscht, Frauen langsam entkleidet, Bettstätten knarren, der flüchtige Seufzer der Lust wird laut und entflieht. Es wird angeknüpft und vollendet, man trennt sich - zu jeder Stunde, in jeder Minute - in tausend Zimmern.

Hat sie geglaubt, sie sei sicher davor? Es könne so weitergehen? Zutiefst weiß sie, hat sie immer gewußt, es würde nicht dauern. Sie rannten so auf den Straßen, sie hatten alle Eile, liefen, den Zug noch zu fassen, das Mädchen zu treffen, diesen Schein noch vor seiner völligen Entwertung auszugeben. Was dauerte denn -? Und Liebe sollte dauern -?!

Plötzlich begreift sie, daß alles Unsinn ist, woran sie ihr Herz gehängt. Diese standesamtliche Trauung, die ihr heute früh noch so wichtig erschien, daß sie ihm darum eine Szene machte - was änderte die schon? Vorbei! Dahin! Und daß sie hier ohne alles, halbnackt sitzt, überhungrig, mit Schulden - deswegen sollte er heute wiederkommen?! Aber wenn er nicht wiederkommt, ist es doch ganz gleich, wie sie sitzenbleibt - meinethalben mit einem Auto und einer Villa im Grunewald -, er kommt nicht wieder, das ist das einzig Wichtige! Und was sie dann anfängt, ob sie aus dem Fenster springt oder wieder Schuhe verkauft oder auf den Strich geht - das ist dann auch gleich, er kommt nicht wieder!

Sie steht noch immer vor dem Spiegel und sieht sich an, als stehe dort eine gefährliche Fremde, auf die man gut aufpassen muß. Die dort im Spiegel ist sehr blaß, ein von innen verzehrtes, bräunliches Blaß, die dunklen Augen brennen, das Haar hängt mit ein paar losen Strähnen in die Stirn. Sie sieht sich atemlos an. Es ist, als halte alles den Atem an - das Haus seufzt noch einmal schläfrig auf und verstummt. Sie atmet noch. Sie schließt die Augen, ein fast schmerzender Glücksschauer überrieselt sie. Sie fühlt, wie Wärme ihr in die Wangen steigt, sie wird heiß. Eine gute Wärme, eine schöne Hitze! O Leben, Lust zu leben! Es hat mich geführt, von da über dort hierher. Häuser, Gesichter, Schläge, Gezänk, Schmutz, Geld, Angst. Hier stehe ich - süßes, süßes Leben! Er kann nie wieder von mir gehen. Ich habe ihn in mir.

Es schnurrt, es saust. Es läuft unermüdlich treppauf, treppab. Es regt sich in jedem Steinwürfel. Es quillt aus den Fenstern. Es schielt und es schilt. Es lacht, ja, es lacht auch. Leben, süßes, herrliches, unvergängliches Leben! Er kann nicht wieder von mir gehen. Ich habe ihn in mir. Nie gedacht, nie gehofft, nie gewünscht. Ich habe ihn in mir. In der hohlen Hand lagen wir, und das Leben lief, lief mit uns. Nie kamen

wir irgend an. Alles entglitt. Alles vorbei. Alles dahin. Aber es blieb etwas. Nicht über alle Fußstapfen wächst Gras, nicht jeder Seufzer verweht. Ich bleibe. Und er bleibt. Wir.

Sie sieht sich an. Sie hat die Augen wieder geöffnet und sieht sich an. Das bin ich! denkt sie zum ersten Male in ihrem Leben, ja, sie zeigt mit dem Finger auf sich. Sie ist ohne jede Angst. Er wird schon wiederkommen. Auch er wird eines Tages begreifen, daß sie "Ich" ist, wie sie es begriff. Sie begriff es, seit sie nicht mehr "Ich", sondern "Wir" ist.

5

Sooft der Rittmeister von Prackwitz auch nach Berlin kam, zu seinen Hauptvergnügungen gehörte es, einmal die Friedrichstraße und ein Stück Leipziger entlangzuschlendern und in die Läden zu schauen. Nicht etwa, daß er große Einkäufe machte oder auch nur beabsichtigte, nein, die Schaufenster freuten ihn. Sie waren so herrlich für einen Provinzler zurechtgemacht. In manchen gab es entzückende Sächelchen zu sehen, Dinge, die einen reizten, einfach in den Laden zu gehen, mit den Fingern auf sie zu zeigen, zu sagen: Dies! Und in andern standen wieder so schauerliche Greuel und Scheuel, daß man womöglich noch länger davor stehenblieb, immer von neuem zum Lachen gereizt. Und wiederum kam man in die Versuchung, solch Stück nach Haus zu bringen, nur um einmal zu sehen, wie Eva und Weio sich über diesen gläsernen Mannskopf, dessen Mund als Aschenbecher diente, amüsieren würden.(Man konnte den Kopf auch an die Lichtleitung anschließen, dann glühte er schaurig rot und grün.)

Aber die Erfahrung, daß diese Dinge schon nach einem Tage ganz unbeachtet im Hause herumstanden, hatte den Rittmeister vorsichtig gemacht - er begnügte sich mit dem eigenen Lachen. Wenn etwas mitgebracht werden sollte, und man mag ein noch so verabschiedeter, weiß gewordener Reiteroffizier sein, man bringt den Frauen eine Kleinigkeit mit, so blieb er lieber vor einem Wäschegeschäft stehen und suchte etwas Seidenes oder eine Bagatelle mit Spitzen aus. Es war eine Wonne, so etwas zu kaufen. Jedesmal, wenn er in einen solchen Laden trat, war alles noch leichter und duftiger geworden, noch zarter in der Farbe. Man konnte solch Höschen in einer Hand zu einem leichten, winzigen Ball zusammenpressen, und dann breitete es sich, leicht knisternd, wieder aus. Das Leben mochte noch so grau und trostlos geworden sein, Frauenschönheit schien immer leichter, zärtlicher, unirdischer zu werden. Solch ein Büstenhalter nur aus Spitzen - der Rittmeister konnte sich noch sehr gut an die grauen Drillichkorsetts der

Vorkriegszeit erinnern, in die der Gatte die Gattin einzuschnüren hatte, als zügle er ein widerspenstiges Pferd!

Oder aber der Rittmeister ging in ein Delikatessengeschäft - und das Geld mochte noch so wertlos geworden sein, hier standen alle Fächer brechend voll: grüner Spargel aus Italien, Artischocken aus Frankreich, Mastgänschen aus Polen, Helgoländer Hummer, Kukuruz aus Ungarn, englische Jams - die ganze Welt gab sich hier ein Stelldichein. Selbst der Kaviar aus Rußland war wieder da - und die seltenen, knappen Devisen, die man nur aus "Freundschaft" und sinnlos teuer bekam, hier konnte man sie zentnerweise aufessen - vollkommen rätselhaft!

Der Rittmeister hatte nach seiner Aussprache mit Studmann noch reichlich Zeit, so bummelte er wieder einmal den alten Weg. Aber die Freude wurde ihm diesmal vergällt: es ging auf der Friedrichstraße zu, wie man sich etwa einen morgenländischen Basar vorstellte. Fast Mann an Mann standen sie an den Hauswänden und auf dem Rande des Gehsteigs: Händler, Bettler, Dirnen. Junge Leute klappten Handkoffer auf, in denen geschliffene Parfümflaschen sanft glänzten. Hosenträger schwenkte ein anderer, johlend, schreiend. Eine Frau, zottig und schmierig, hantierte mit endlos langen, schimmernden Seidenstrümpfen, die sie den Herren mit einem frechen Lächeln anbot: "Wat for de Kleene, Herr Jraf. Ziehen Sie se ihr bloß an, und Sie werden schon sehen, wat Sie for Spaß haben for dat lumpije bißken Papier, Herr Jraf -!"

Ein Schupo kam in Sicht, verdrossen ausschauend unter seinem lackierten Landwehrtschako. Pro forma wurden die Koffer zugeklappt und waren schon wieder offen, kaum war er zwei Schritte weiter. An den Hauswänden saßen, hockten, lagen Bettler, alles Kriegsverletzte, glaubte man den Schildern, die sie trugen. Doch waren so junge darunter, daß sie im Kriege noch zur Schule gegangen sein mußten, und Greise, die sicher schon vor dem Kriege invalide gewesen waren. Blinde plärrten trostlos monoton, Schüttler schüttelten Kopf oder Arme, Wunden waren zur Schau gestellt, schreckliche Narben leuchteten feurig aus einem grauen, schuppigen Fleisch.

Aber am schlimmsten waren die Mädchen. Überall strichen sie herum, riefen, flüsterten, hängten sich bei jedem ein, liefen mit, lachten. Manche waren schon jetzt angetrunken, und alle - wegen Hitze und Geschäft - waren so weit entblößt, daß es kaum erträglich war. Ein Markt von Fleisch - fettem, weißem, von Likören aufgeschwemmt; und hagerem, dunklem, das die scharfen Schnäpse verbrannt zu haben schienen. Aber am schlimmsten waren die völlig Schamlosen, die fast Geschlechtslosen: die Morphinistinnen mit dem scharfen Stecknadelkopf

der Pupille, die Schnupferinnen mit der weißen Nase und die Kokainspritzerinnen mit den Schreistimmen aus hemmungslos zuckenden Gesichtern.

Sie wippten umher, sie schlenkerten ihr Fleisch in den weit ausgeschnittenen oder raffiniert durchbrochenen Blusen. Wenn sie auswichen oder um eine Ecke gingen, rafften sie die Röcke, die an sich nicht bis zum Knie reichten, und zeigten den Streifen fahlweißen Fleisches zwischen Strumpf und Hose, unter dem das grüne oder rosa Strumpfband lief. Sie tauschten ungeniert ihre Bemerkungen über die vorübergehenden Männer, warfen sich Zoten über die Straße zu, und ihre gierigen Augen suchten in der langsam an ihnen vorübertreibenden Menge die Ausländer, in deren Taschen Devisen zu erhoffen waren.

Und zwischen Laster, Elend und Bettelei, zwischen Hunger, Betrug und Gift liefen die jungen, kaum schulentlassenen Mädchen aus den Geschäften mit ihren Kartons und Briefstapeln. Ihren raschen, sicheren Blicken entging nichts, und ihr Ehrgeiz war es, ebenso frech zu sein wie jene, sich von nichts imponieren zu lassen, vor nichts sich zu scheuen, ebenso kurze Röcke zu tragen, ebensoviel Devisen zu raffen.

Uns imponiert nichts! sagten ihre Blicke. Uns macht ihr Alten nichts mehr vor. Jawohl, sagten sie und schwenkten Mappen oder Schachteln, jetzt sind wir noch Ladenmädchen, Verkäuferinnen, Kontoristinnen. Aber es braucht nur einer ein Auge auf uns zu werfen, der kleine Japs da oder dieser Dicke mit den Koteletten, der seinen Bauch in einer karierten Flanellhose schwenkt - und wir lassen unsern Karton fallen, hier auf der Straße, jawohl, und heute abend sitzen wir schon in einer Bar, und morgen haben wir ein Auto!

Dem Rittmeister war es, als höre er sie alle rufen, schreien, jagen: Nichts gilt außer Geld! Geld!! Aber auch das Geld galt nichts, in jeder Minute mußte der größtmögliche Genuß aus ihm herausgepreßt werden! Für was sich bewahren - für morgen? Wer weiß, wie morgen der Dollar steht, wer weiß, ob wir morgen noch leben, morgen drängen schon wieder Jüngere, Frischere an den Start - komm schon, alter Herr, du hast zwar schon weißes Haar - um so mehr mußt du dich daranhalten! Komm, Süßer!

Der Rittmeister erspähte den Eingang der Passage von den Linden zur Friedrichstraße. Er hatte sich immer gerne einmal das Panoptikum angesehen, er floh in den Ladengang. Aber es war, als sei er aus der Vorhölle in die Hölle geraten. Eine dichtgedrängte Menge schob sich unendlich langsam durch den strahlend erleuchteten Tunnel. In den Läden prangten riesige Ölschinken mit nackten Frauen, widerlich nackt,

mit widerlich süßen, rosigen Brüsten. Unanständige Postkarten hingen in langen Wimpelketten überall. Es gab Scherzartikel, die einen alten Lüstling hätten erröten lassen, und die Schamlosigkeit der Aktfotos, die einem feucht flüsternde Männer in die Hand drückten, war nicht mehr zu überbieten.

Aber am schlimmsten waren die Jungens. In ihren Matrosenanzügen mit der glatten, bloßen Brust, die Zigarette frech im Munde, glitten sie überall herum, sprachen nicht, aber sie sahen an oder berührten.

Eine große, hellblonde Frau in tief ausgeschnittenem Kleid, sehr elegant, drängte sich, von einer ganzen Schar solcher Kerle geleitet, durch die Menge. Sie lachte überlaut, sprach heftig. Der Rittmeister sah sie ganz nahe, sein Blick fiel auf die schamlos entblößte, dick gepuderte Brust. Die Dame sah ihn lachend mit ihren unnatürlich erweiterten Pupillen an, die Augen waren blauschwarz untermalt - und plötzlich überfiel ihn ein körperschüttelnder Ekel bei der Erkenntnis, daß dieses aufgedonnerte Weib ein Mann war, das Weib all dieser widerlichen Bengels, und doch ein Mann -!

Der Rittmeister drängte sich rücksichtslos durch die Menge. Eine Hure schrie: "Bei dem Alten piept's ja! Emil, lang ihm mal eine! Er hat mir jebufft!" Aber der Rittmeister war schon draußen, erwischte eine Taxe, "Schlesischer Bahnhof!" sagte er und lehnte sich völlig erschöpft in die Kissen zurück. Dann zog er ein weißes, noch ganz unbenutztes Taschentuch aus dem Rock und wischte sich langsam Gesicht und Hände ab.

Jawohl, zwang er sich, intensiv an anderes zu denken - und an was denn intensiver als an seine Sorgen? Jawohl, es ist wirklich nicht leicht, in dieser Zeit Neulohe zu bewirtschaften.

Ganz abgesehen davon, daß der Schwiegervater ein Aas war(und erst die Schwiegermutter mit ihrer Frömmigkeit!), war die Pacht wirklich zu hoch. Entweder wuchs nichts, wie im vorigen Jahre, oder wenn etwas wuchs, hatte man keine Leute, wie in diesem Sommer!

Aber nach der Unterredung mit dem armen Studmann, den es auch schon angesteckt hatte und der sich wirklich reichlich verdrehte Ideen zurechtmachte, und nach diesem kleinen Spaziergang durch Friedrichstraße und Passage dachte der Rittmeister an Neulohe wie an eine reine, unberührte Insel. Gewiß, es gab ewig Ärger: Leuteärger, Steuerärger, Geldärger, Handwerkerärger(und der schlimmste von allen war der Schwiegerärger!), aber da waren nun Eva und Violet, die seit ihren Kindertagen nur Weio hieß.

Gewiß, Eva war ein bißchen sehr lebenslustig, die Art, wie sie tanzte

und mit den Offizieren in Ostade flirtete, wäre früher ganz unschicklich gewesen, und Weio hatte sich auch einen reichlich rüden Ton angewöhnt(ihrer Großmutter kam wohl manchmal eine Ohnmacht an!) - aber was war das gegen dieses Elend, diese Schamlosigkeit, diese Sittenverderbnis, die sich am hellerlichten Tage in Berlin breitmachten?! Der Rittmeister Joachim von Prackwitz war so, und er blieb auch so, er hatte gar nicht die Absicht, in dieser Hinsicht sich zu ändern: eine Frau war aus feinerem Stoffe gemacht als ein Mann, etwas Zartes, zu Verwöhnendes. Diese Mädchen da auf der Friedrichstraße - ach, das waren doch keine Frauen mehr. Ein wirklicher Mann konnte nur mit Schaudern an sie denken!

In Neulohe hatten sie einen Garten, sie saßen abends in diesem Garten. Der Diener Hubert brachte Windlichter und eine Flasche Mosel, allenfalls sandte noch das Grammophon mit "Bananen, ausgerechnet Bananen!" eine großstädtische Welle in das Blättergeriesel und Blütengedufte. Aber die Frauen waren bewahrt. Rein, sauber.

Man konnte doch wahrhaftig nicht mehr mit einer Dame über die Friedrichstraße gehen, besonders dann nicht, wenn die Dame die eigene Tochter war! Und zu denken, daß ein herrlicher Kerl wie Studmann dieses Pack da von der Straße irgendwie beglücken wollte, sich irgendwie mit ihnen gleichstellen, und sei es nur, weil er wie die Geld verdienen mußte! Nein, danke schön. Daheim in Neulohe konnte man es vielleicht übertrieben finden, wenn die "Deutsche Tageszeitung" Berlin ein Sündenbabel, einen Asphaltsumpf, ein Sodom und Gomorrha nannte. Aber roch man nur einmal hinein, fand man, alles war noch viel zu schwach. Nein, danke! -

Und der Rittmeister hatte sich so weit beruhigt, daß er sich eine Zigarette ansteckte und zufrieden über das vollbrachte Geschäft und die baldige Heimkehr dem Bahnhof zufuhr.

Freilich trank er dort erst einmal im Wartesaal ein paar kräftige Kognaks, denn er hatte das ziemlich sichere Gefühl, daß die Besichtigung seiner neugeworbenen Schnitter kein reines Vergnügen sein werde. Aber dann war es gar nicht so schlimm. Eigentlich das übliche, die Gesichter vielleicht noch ein bißchen frecher, roher, schamloser als sonst - aber was hieß das! Wenn sie nur arbeiteten, die Ernte reinbrachten! Sie sollten es nicht schlecht bei ihm haben, anständiges Deputat, alle Woche einen Schlachthammel, einmal im Monat ein Fettschwein!

Nur der Vorschnitter war genau die Sorte Mensch, die dem Rittmeister völlig verhaßt war - Marke Radler: unten treten, oben buckeln. Er

schwänzelte um den Rittmeister, sprudelte einen Schwall halb deutscher, halb polnischer Worte heraus, die Kraft und Tüchtigkeit seiner Leute priesen, und trat dabei unversehens ein Mädchen in den Hintern, das nicht schnell genug mit seinem Packen durch die Tür kam.

Übrigens stellte es sich, als der Rittmeister den Sammelfahrschein lösen wollte, heraus, daß der Vorschnitter nicht fünfzig, sondern nur siebenunddreißig Leute gebracht hatte. Aber auf eine Frage des Rittmeisters schüttete er wieder eimerweise wirre Redensarten aus, die immer polnischer und unverständlicher wurden.(Natürlich hat Eva ganz recht, ich hätte Polnisch lernen sollen, aber ich denke gar nicht daran -!) Der Vorschnitter schien etwas zu beteuern, er spannte den Oberarmmuskel und funkelte den Rittmeister lachend, schmeichlerisch mit kleinen, mäuseflinken, schwarzen Augen an. Schließlich zuckte Prackwitz die Achseln und löste den Schein. Siebenunddreißig waren besser als nichts, und jedenfalls waren es gelernte Landarbeiter.

Dann kam der lärmende, schreiende Auszug auf den Bahnsteig; die Verfrachtung in den schon bereitstehenden Zug; der schimpfende Schaffner, der ein die Tür sperrendes Bündel in den Wagen stopfen wollte, während es samt seiner Trägerin von drinnen wieder herausgeschoben wurde; der Streit zweier Burschen; die wilden Gestikulationen und Rufe des Vorschnitters, der dazwischen ununterbrochen auf den Rittmeister einredete, um seine dreißig Dollar bat, forderte, bettelte ...

Der Rittmeister meinte zuerst, zwanzig genügten, da ja ein Viertel der Leute fehle. Sie fingen an, hitzig zu rechnen, und schließlich zählte, müde der Streiterei, der Rittmeister dem Vorschnitter drei Zehndollarscheine in die Hand, nachdem auch der letzte Mann seinen Platz gefunden hatte. Jetzt floß der Vorschnitter über vor Dank, verbeugte sich, trat hin und her und brachte es schließlich wirklich fertig, die Hand des Rittmeisters zu erhaschen und inbrünstig zu küssen: "Marjosef! Heiliger Wohltäter!"

Etwas angeekelt suchte sich der Rittmeister einen Platz ganz vorne im Zug in einem Raucherabteil Zweiter, er setzte sich bequem in eine Ecke und brannte sich eine neue Zigarette an. Alles in allem: es war ein gutes Tagewerk, das er vollbracht hatte. Morgen konnte die Ernte richtig anfangen.

Rumpelnd und pustend kam der Zug endlich in Gang, fuhr aus der traurigen, verrußten, verlotterten Halle mit ihren zerschlagenen Scheiben. Der Rittmeister wartete nur, daß der Schaffner vorbei war, dann wollte er ein Schläfchen machen.

Schließlich kam der Schaffner, knipste die Karte und gab sie dem Rittmeister zurück. Aber er ging noch nicht, wie wartend blieb er stehen.

"Nun?" fragte der Rittmeister schläfrig. "Ein bißchen heiß draußen, was?"

"Sind Sie nicht der Herr", fragte der Schaffner, "mit den polnischen Schnittern?"

"Jawohl", sagte der Rittmeister und richtete sich grader auf.

"Dann wollte ich Ihnen nur melden", sagte der Schaffner(eine Spur schadenfroh), "daß die Leute alle gleich wieder auf dem Schlesischen Bahnhof ausgestiegen sind. Ganz klammheimlich."

"Was?!" schrie der Rittmeister und sprang an die Abteiltür.

6

Der Zug fuhr schneller und schneller. Er tauchte in den Tunnel, der erleuchtete Bahnsteig blieb hinten.

Wolf Pagel saß auf dem Löschkasten des überfüllten Raucherwagens, brannte sich eine Lucky strike aus dem Päckchen an, das er eben aus dem Erlös für ihr ganzes Hab und Gut erstanden. Er tat einen tiefen Zug.

"Oh, schön, schön!" Die letzte Zigarette hatte er in der vergangenen Nacht auf dem Heimweg vom Spiel geraucht, um so besser schmeckte diese, fast zwölf Stunden später. Lucky strike hieß ja wohl, wenn ihn sein Schulenglisch nicht ganz im Stich ließ, soviel wie Glücksschlag, Glückstreffer - diese glückverheißende Zigarette sollte für den ganzen Tag von prophetischer Bedeutung sein!

Der Dicke da schnauft cholerisch, raschelt mit der Zeitung, schießt unruhige Blicke - das hilft dir alles nichts, wir wissen es allbereits auch schon: Der Dollar kommt heute mit siebenhundertsechzigtausend, über fünfzig Prozent Aufschlag. Der Zigarettenonkel wußte es gottlob noch nicht, sonst hätten wir uns diese Zigarette nicht leisten können. Du hast auch falsch gelegen, Dicker, dein Schnaufen verrät dich, du bist empört! Aber das hilft dir nichts. Dies ist eine ganz großartige, völlig moderne Nachkriegserfindung: man stiehlt dir die Hälfte des Geldes, das du in der Tasche hast - und rührt die Tasche und das Geld doch nicht an - ja, Köpfchen! Köpfchen!

Nun fragte sich, ob Freund Zecke richtig oder falsch gelegen hatte. Hatte er falsch gelegen, würde er etwas schwer hören(obwohl nicht einmal das sicher war); kam ihm die neue Entwertung aber zupaß, würde es ihm auf eine Handvoll Millionenscheine nicht ankommen. Seit ein paar

Tagen gab es sogar Zweimillionenscheine - Pagel hatte sie im Spielklub gesehen. Sie waren mal wieder richtig auf beiden Seiten bedruckt, sahen aus wie Geld, nicht diese einseitig bedruckten, weißen Fetzen - die Leute sagten schon, das solle nun für ewig der höchste Schein bleiben. Sagten - wegen solcher Sage schnauft der Dicke, hatte an Sagen geglaubt.

Es war kaum anzunehmen, daß Zecke falsch gelegen hatte. Solange Pagel denken konnte, hatte Zecke stets richtig gelegen. Nie hatte er sich in der Beurteilung eines Lehrers geirrt. Er hatte gradezu eine Vorahnung dafür gehabt, was für Fragen gestellt werden würden, welche Themen bei der Examenarbeit "dran" kamen. Im Kriege war er der erste gewesen, der ein großartiges Urlaubersystem zur Verteilung von Salvarsan auf dem Balkan, in der Türkei eingerichtet hatte. Und als dies Geschäft faul zu werden anfing, war er wiederum der erste gewesen, der, ehe er es ganz aufgab, die Salvarsanpackungen mit irgendeinem Dreckzeug füllte, einer Mischung aus Sand und Scheibenhonig vermutlich. Dann hatte er Chanteusen und Diseusen achter Güte an den Bosporus exportiert. Eine liebliche Pflanze also, alles in allem, einerseits horndumm, andrerseits von einer messerscharfen Schlauheit. Nach dem Kriege hatte er sich auf Garn gelegt - weiß der Himmel, was er jetzt handelte! Es kam ihm nicht darauf an - er würde mit Elefantenbullen schieben, wenn damit Geld zu verdienen war!

Eigentlich, dachte man über diesen Mann und sogenannten guten Freund Zecke genau nach, war nicht einzusehen, warum er einem Geld geben sollte - Pagel gab es sich plötzlich zu. Er hatte bisher auch noch nie den Versuch gemacht, ihn anzupumpen. Aber da war nun eben das andere Gefühl in der Wolfgang Pagelschen Brust, das Gefühl, daß Zecke jetzt "reif" war, daß er es unbedingt tun würde. Ein Spielerkompaß gewissermaßen, ein Signal, das plötzlich gezogen wurde, der Henker wußte, warum. Unbedingt würde er Geld geben. Es gab solche Augenblicke im Leben. Plötzlich tat man, was man gestern noch um keinen Preis getan hätte. Und aus dem, was man getan hatte, folgte ganz von selbst wieder etwas anderes - zum Beispiel gewann man heute abend eine Riesensumme - und nun veränderte sich plötzlich alles! Das Leben lief in einem Winkel zu der bisherigen Bahn weiter. Man konnte sich zwanzig Mietshäuser in der City kaufen(die Buden waren für einen Dreck zu haben) oder eine Riesenbar aufmachen(achtzig Mädchen hinter dem Bartisch) - noch gar keine schlechte Idee! -, oder man brauchte auch einmal gar nichts zu tun, konnte sich auch einmal hinsetzen und die Daumen drehen, sich richtig ausruhen, gut essen und trinken und sich an Peter freuen. Oder, besser noch, ein Auto kaufen und mit Peter durch die Welt fahren! Ihr alles zeigen, Kirchen, Bilder, eben alles, das

Mädchen hatte Entwicklungsmöglichkeiten - aber selbstverständlich. Bestritt das etwa jemand -?! Er jedenfalls nicht, ein großartiges Mädchen, nie unbequem.(Oder fast nie.)

Fahnenjunker a. D. Wolfgang Pagel ist an der Podbielskiallee ausgestiegen und die paar Straßen bis zur Zeckeschen Villa hinuntergeschlendert. So richtig faul und gemächlich in der Hitze. Nun steht er vor dem Haus, das heißt vor dem Vorgarten natürlich, dem Garten, der Anlage, dem Park. Und nicht direkt davor, natürlich ist ein geschmiedetes Gitter da und irgendwelcher behauene Stein, in Säulenform aufgesetzt, sagen wir Muschelkalk. Ein ganz kleines Messingschild ist auch da, auf dem nichts weiter steht als "von Zecke", und ein messingner Klingelknopf. Gut geputzt. Von dem Haus sieht man nicht viel, es steckt hinter Büschen und Bäumen, man hat nur so eine Ahnung von großen, spiegelnden Scheiben und einer nicht zu hohen, leicht gegliederten Fassade.

Pagel sieht sich die Bescherung an, er hat Zeit. Dann dreht er sich um und sieht die Villen auf der andern Straßenseite an. Pompös - hier also wohnen die Herrschaften, die um keinen Preis an einem Hinterhof beim Alexanderplatz wohnen könnten. Wolfgang Pagel hält sich für befähigt, beides zu tun, mal Dahlem, mal Alex, es kommt ihm nicht darauf an. Aber vielleicht, weil es ihm nicht darauf ankommt, wohnt er nicht in Dahlem, sondern in der Georgenkirchstraße.

Er macht wieder kehrt und betrachtet Schild, Knopf, Blumenbeete, Grün, Fassade. Rätselhaft bleibt, warum Zecke sich mit solchem Kram belastet. Denn so was ist eine Last. Ein Haus haben, eine Riesenvilla, einen halben Palast, der ewig was von einem verlangt: Steuern zahlen, rein machen lassen, elektrische Lichtleitung versagt, Koks muß gekauft werden - jedenfalls muß Zecke sich geändert haben. Früher hätte er auch gedacht: es ist eine Last. Als er ihn zum letzten Male sah, hatte Zecke zwei höchst elegante Junggesellenzimmer am Kurfürstendamm(mit Freundin, Telefonanschluß und Bad) - das paßte zu Zecke.

Dies nicht. Aber wahrscheinlich war er verheiratet. Jeder Quatsch, den man mit einem Manne erlebte, erklärte sich dadurch, daß er verheiratet war. Daß eine Frau da war. Nun ja, man würde sie ja wahrscheinlich zu sehen kriegen, und sie würde natürlich sofort erraten, daß dieser alte Freund ihres Mannes Geld pumpen wollte. Daraufhin würde sie ihn halb gereizt, halb verächtlich behandeln. Aber das konnte sie seinetwegen gerne tun, wer abends als Pari-Panther auf Raub ausging, war gegen Weiberlaunen völlig gefeit.

Pagel ist schon im Begriff, auf den Klingelknopf zu drücken - einmal muß man es ja tun, so angenehm es auch ist, hier faul in der Sonne zu stehen und an das viele schöne Geld zu denken, das er dem Zecke gleich abnehmen wird. Aber er erinnert sich grade rechtzeitig, daß er noch fast hunderttausend Mark in der Tasche trägt. Nun gibt es zwar den Satz, daß Geld zum Gelde will, aber in dieser Form ist der Satz nicht richtig. Er müßte heißen: viel Geld will zu viel Geld. Dafür aber kommt das, was Pagel in der Tasche trägt, nicht in Frage. Unter diesen Umständen ist es viel besser, er steht völlig blank vor Zecke. Unbedingt vertritt man ein Darlehnsgesuch überzeugender, wenn man nicht einmal das Fahrgeld nach Haus in der Tasche hat. Für diese hunderttausend wird man etwa zwei Kognaks kriegen, und diese zwei Kognaks werden seinem Darlehnsgesuch weiteres Gewicht verleihen!

Pagel hat umgedreht und schlendert wieder die Straße hinunter. Er geht rechts, dann links, wieder rechts, hin und her - aber es erweist sich als schwierig, das Geld in Alkohol umzusetzen. In dieser piekfeinen Villengegend scheint es weder Läden noch Kneipen zu geben. Natürlich, solchen Leuten wird alles ins Haus gebracht, Wein und Schnaps halten sie kellerweise.

Pagel findet nur einen Zeitungsmann, aber in Zeitungen mag er das Geld nicht anlegen. Nein, danke, mit so was hat er nichts zu tun. Wenn er schon die Schlagzeile liest: "Aufhebung der Grenzsperre zum besetzten Gebiet" - geht ihn nichts an, macht, was ihr wollt, Scheibe ist es doch!

Als nächstes trifft er eine Blumenfrau, sie steht an einer Autobushaltestelle und hökert mit Rosen. Der Gedanke, Herrn von Zecke, der einen ganzen Garten voller Rosen hat, mit einem Pofel von Rosenstrauß unter die Nase zu gehen, ist so schön, daß Pagel beinahe kauft. Aber dann zuckt er die Achseln und geht weiter. Er ist nicht ganz sicher, daß Zecke seinen Pumpversuch nur leicht und humoristisch nimmt.

Aber raus aus der Tasche muß das Geld - soviel ist sicher. Am liebsten würde Pagel es einem Bettler schenken, das bringt immer Glück. Aber es gibt hier in Dahlem nicht einmal Bettler. Die setzen sich lieber an den Alexanderplatz zu den armen Leuten. Die haben immer noch eher mal ein bißchen Geld über.

Eine Weile ging Wolfgang dann hinter einer älteren, dürren Dame her, die in ihrem grau aussehenden Jäckchen mit verschossenem lila Aufschlag und irgendeinem Gebammel von schwarzen Schmelzperlen ihm den Eindruck einer "verschämten Armen" machte. Aber dann

verzichtete er darauf, ihr das Geld in die Hand zu drücken. Denn von allerschlechtester Vorbedeutung wäre es gewesen, das Geld nicht gleich auf Anhieb loszuwerden, sondern es erst einmal wieder zurückzubekommen.

Schließlich geriet Pagel auf den Hund. Stillvergnügt saß er auf einer Bank und pfiff und schmeichelte einen stromernden, weißen, braungefleckten Fox an sich heran. Das Tier war von einer phantastischen Lebenslust erfüllt, es bellte den Schmeichler trotzig, herausfordernd an, war dann plötzlich liebevoll, legte den Kopf prüfend auf die Seite und wackelte mit dem Schwanzstummel. Beinahe hatte Wolf ihn fest, da jagte er schon wieder, fröhlich aufbellend, drüben in den Anlagen, während man ein Dienstmädchen mit geschwungener Leine, verzweifelt "Schnaps! Schnaps!" rufend, ihm nacheilen sah.

Vor die Wahl zwischen dem geruhig rauchenden Mann und dem aufgeregten Mädchen gestellt, entschied sich der Fox für den Mann. Er stieß mit der Schnauze auffordernd gegen Pagels Bein, und in seinen Augen stand die klare Bitte, ein neues Spiel zu beginnen. Grade hatte Wolf ihm die Scheine fest unter das Halsband geschoben, da kam schon das Mädchen, erhitzt und empört, und stieß atemlos hervor: "Lassen Sie unsern Hund los!"

"Ach, Fräulein", sagte Wolfgang. "Für Schnaps sind wir Männer nun mal alle: - Und "..., setzte er hinzu, denn in dem frisch gewaschenen Kleid steckte ein erfreuliches Mädchen, "und für die Liebe."

"Ach Sie!" sagte das Mädchen, und ihr verärgertes Gesicht verwandelte sich so plötzlich, daß auch Wolfgang lächeln mußte. "Sie ahnen ja nicht", sagt sie und versuchte, den tänzelnden und jaulenden Fox an die Leine zu hängen, "was ich für Ärger mit dem Hund habe. Und immer sprechen einen Herren an. - Was ist denn das?" fragte sie erstaunt, denn sie hatte das Papier unter dem Halsband gefühlt.

"Ein Brief", sagte Pagel im Abgehen. "Ein Brief für Sie. Sie müssen ja gemerkt haben, ich gehe Ihnen schon eine Woche lang jeden Morgen nach. Aber lesen Sie ihn erst nachher, wenn Sie allein sind, es steht alles drin. Auf Wiedersehen!"

Und er ging eilig um die Ecke, denn ihr Gesicht glänzte ihm zu hell, als daß er die Entdeckung der Wahrheit noch hätte miterleben mögen. Wieder um eine Ecke, und jetzt konnte er wohl langsamer gehen, jetzt war er vor ihr sicher. Auch schwitzte er schon wieder; eigentlich hatte er die ganze Zeit geschwitzt, seit er auf der Podbielskiallee ausgestiegen war. So langsam er auch gegangen war. Und plötzlich überkam es ihn, daß es nicht der Sonnenbrand war, der ihm so warm machte, nicht nur

der Sonnenbrand. Nein, nein, es war etwas anderes, noch etwas anderes: er war aufgeregt, er hatte Angst!

Mit einem Ruck blieb er stehen und sah um sich. Schweigend standen in der Mittagsglut die Villen zwischen den Schirmen der Kiefern. Irgendwo summte ein Staubsauger. Alles, was er bis jetzt getan hatte, um das Drücken auf den Klingelknopf zu verzögern, war ihm von der Angst eingegeben worden. Und es hatte noch viel früher angefangen: er hätte keine Lucky strike gekauft, sondern ein Frühstück für sie beide - hätte er keine Angst gehabt. Ohne die Angst hätte er auch die Sachen dem Onkel nicht gelassen.

"Ja", sagte er und ging langsam weiter, "es treibt auf das Ende zu". Er sah ihrer beider Lage plötzlich, wie sie wirklich war: in Schulden, ohne jede Aussicht für den nächsten Tag, Petra fast nackt in der stinkenden Höhle, ihn hier im Viertel der Reichen mit seinem abgeschabten, feldgrauen Rock, nicht einmal das Fahrgeld in der Tasche.

Ich muß ihn überreden, uns Geld zu geben, dachte er. Und wenn es auch nur ganz wenig ist.

Aber es war Idiotie, es war völliger Wahnsinn, von Zecke ein Darlehen zu erwarten! Nichts von dem, was ihm über Zecke bekannt war, berechtigte zu der Erwartung, daß er Geld verlieh - mit einem Minimum an Aussicht, es wiederzubekommen. Aber was dann, wenn er nein sagte -?(Und er würde natürlich nein sagen, Wolfgang konnte sich jede Frage ruhig sparen.)

Die lange, ziemlich breite Allee, an deren Ende Zeckes Villa liegt, tut sich vor Pagel auf. Er beginnt, sie hinunterzugehen, ziemlich langsam zuerst. Dann schneller und schneller, als treibe es ihn einen Berghang hinunter, seinem Schicksal entgegen.

Er muß ja sagen, denkt Wolfgang Pagel wieder einmal, und wenn er auch noch so wenig gibt. Dann mache ich Schluß mit dem Spielen. Ich kann immer noch Taxichauffeur werden - Gottschalk hat mir seinen zweiten Wagen fest zugesagt. Dann bekommt Petra es auch leichter.

Nun ist er der Villa schon ganz nahe. Er sieht schon wieder Muschelkalk und Eisengitter, Messingschild und Klingelknopf. Von neuem zögernd, überquert er die Straße.

Aber er sagt natürlich nein. - Oh, verdammt, verdammt!!! Denn beim Umsehen sieht er am Straßenende ein Mädchen kommen; der an der Leine zerrende, kläffende Fox verrät schon, was das für ein Mädchen ist. Und zwischen Auseinandersetzung hier und Bitte dort, gejagt und Jäger, drückt er auf den Klingelknopf und atmet erst erleichtert auf, als der

Türverschluß leise surrt. Ohne einen Blick auf die Heraneilende tritt er ein, zieht sorgfältig die Tür zu und atmet auf, als eine Biegung des Weges ihn zwischen deckende Büsche führt.

Zecke kann schließlich bloß nein sagen, dieser Dienstbolzen da aber unmenschlichen Krach schlagen - Wolfgang haßt Krach mit Frauen. Das wird immer gleich so uferlos.

7

"Also, da bist du wirklich, Pagel", sagte Herr von Zecke. "Halb und halb hatte ich dich erwartet". Und als Wolfgang eine Bewegung machte: "Nicht grade heute - aber du warst fällig, nicht wahr?"

Und Zecke lächelt überlegen, Wolfgang Pagel aber ärgert sich. Ihm fällt ein, daß Zecke schon immer diese wichtigtuerische Geheimniskrämerei liebte, daß er schon immer dieses überlegene Lächeln gehabt hat und daß er, Pagel, sich schon immer darüber geärgert hat. Zecke lächelte so, wenn er sich besonders schlau vorkam.

"Na, ich meine ja bloß", grinst Zecke also. "Schließlich sitzt du ja wirklich hier bei mir - das wirst du wohl nicht bestreiten wollen. Na, laß man. Ich weiß, was ich weiß. Trinken wir einen Schnabus, nimm 'ne Zigarette und schauen wir uns meine Bilder an, was?"

Pagel hat die Bilder längst gesehen. Sie sitzen in einem großen, sehr anständig eingerichteten Gartenzimmer. Ein paar Türen zu der sonnenüberglühten Terrasse stehen offen, man sieht Sonne und Grün, aber es ist doch angenehm kühl hier drinnen. Ein schönes Licht, das durch die grünlichen Jalousien vor den Fenstern kommt, hell und dunkel zugleich und vor allem kühl.

Sie sitzen in schönen Sesseln, nicht in diesen schrecklichen, glatten, kalten Ledersesseln, die man jetzt überall sieht, sondern in tiefen, geräumigen Gehäusen, die mit irgendeinem blumigen, englischen Stoff bespannt sind - Chintz vermutlich. Bücher bis zu einem Drittel Höhe der Wand, darüber Bilder, gute moderne Bilder, Pagel hat es gleich gesehen. Aber er reagiert nicht auf Zeckes Frage, er hat schon gemerkt, daß die Atmosphäre ihm gar nicht ungünstig ist, daß dem Herrn von Zecke sein Besuch irgendwie zupaß kommt. Natürlich will Zecke was von ihm, und so kann man geruhig abwarten und ein bißchen pampig sein.(Mein Geld kriege ich schon!)

Pagel zeigt auf die Bücher. "Feine Bücher. Du liest viel -?"

Aber so dumm ist von Zecke nun auch wieder nicht. Er lacht herzhaft.

"Ich und lesen -?! Immer noch der kleine Schäker? Das möchtest du wohl, daß ich ja sage, und du ödest mich dann an, was in dem Nietzsche da steht!" Plötzlich ändert sich sein Gesicht, es wird nachdenklich. "Ich glaube, das ist 'ne ganz gute Kapitalsanlage. Volledereinband. Man muß ja sehen, daß man sein Geld irgendwie wertbeständig anlegt. Ich verstehe nichts von Büchern - Salvarsan ist einfacher. Aber ich habe da so einen kleinen Studenten, der berät mich "... Er denkt einen Augenblick nach, wahrscheinlich darüber, ob der kleine Student das Geld wert ist, was er ihm zahlt. Dann fragt er wieder: "Na - und die Bilder?"

Aber Pagel will einfach nicht. Er zeigt auf ein paar Plastiken, die da stehen: Apostelfiguren, eine Madonna mit dem Kind, ein Kruzifix, zwei Beweinungen. "Mittelalterliche Holzplastik sammelst du auch?"

Zecke macht ein kummervolles Gesicht. "Nicht sammeln, nein. Geld anlegen. Aber ich weiß nicht, wie es kommt, es macht mir plötzlich auch Spaß. Guck mal hier, den Burschen hier mit dem Schlüssel, Petrus, richtig. Den habe ich aus Würzburg. Ich weiß nicht, ich verstehe nichts davon, es macht ja wirklich nicht viel her, gar nicht pompös und so - aber es gefällt mir. Und dieser Leuchterengel - der Arm ist ja sicher ergänzt, glaubst du, daß ich angeschwindelt bin -?"

Wolfgang Pagel sieht von Zecke prüfend an. Zecke ist ein kleiner Mann, trotz seiner vier- oder fünfundzwanzig Jahre wird er schon rundlich und die Stirn infolge Haarschwund hoch. Auch ist er dunkel - und all dies mißfällt Wolfgang. Es mißfällt ihm auch, daß von Zecke an Holzplastiken Gefallen findet und daß ihm seine Bilder anscheinend wirklich anteilvolle Sorge bereiten. Zecke ist ein roher Schieber, weiter nichts, und so hat er zu bleiben. Interesse an Kunst bei ihm wirkt lächerlich und empörend. Am meisten aber empört es Wolf, daß er diesen verwandelten Zecke um Geld angehen soll. Der ist imstande und gibt es aus Anstand -! Nein, Zecke hat ein Schieber zu sein und zu bleiben, und wenn er Geld verleiht, hat er Wucherzinsen zu nehmen, sonst mag Wolfgang nichts mit ihm zu tun haben. Von einem Zecke will er kein Geld geschenkt.

So sagt denn Pagel und sieht den Leuchterengel mißbilligend an: "Also jetzt sind es Leuchterengel - mit Varieténutten handelst du nicht mehr -?"

Pagel sieht sofort aus der Reaktion Zeckes, daß er es zu weit getrieben, daß er einen entscheidenden Fehler gemacht hat. Sie sind nicht mehr auf der Schule, wo man plumpe Vertraulichkeiten ertragen mußte, wo sie gradezu Sport waren. Zeckes Nase wird weiß, das kennt Pagel noch von früher, während das Gesicht stark gerötet bleibt.

Aber wenn von Zecke auch immer noch nicht gelernt hat, Bücher zu

lesen, sich zu beherrschen hat er gelernt(und ist in diesem Punkte Pagel weit voraus). Er scheint nichts gehört zu haben. Langsam setzt er den Leuchterengel wieder hin, streichelt noch einmal nachdenklich über den wohl ergänzten Arm und sagt: "Jaja, die Bilder. Ihr müßt auch noch ganz schöne zu Haus haben - von deinem Vater."

Aha! Das möchtest du also! denkt Pagel tief befriedigt. Und laut sagt er: "Ja, doch, einiges sehr Gutes ist noch da."

"Weiß ich", sagt Zecke, gießt noch einen Schnaps ein, erst in Pagels Glas, dann in sein Glas. Er setzt sich gemütlich. "Wenn du also einmal Geld brauchst - du siehst, ich kaufe Bilder ..."

Das war ein Hieb, erste Antwort auf die Frechheit eben, aber Pagel läßt sich nichts merken. "Ich glaube nicht, daß wir jetzt verkaufen."

"Da bist du nicht ganz unterrichtet", lächelt Zecke ihm liebenswürdig zu. "Letzten Monat erst hat deine Mutter ›Bäume im Herbst‹ nach England an die Galerie in Glasgow verkauft. Na, denn prost!" Er trinkt, lehnt sich dann zufrieden zurück und sagt harmlos: "Na ja, wovon soll denn die alte Frau schließlich leben? Was sie an Papieren hatte, ist heute doch nur Dreck."

Zecke grinst zwar nicht, aber Pagel hat doch sehr stark das Gefühl, daß die Bezeichnung "guter Freund", die er heute früh noch für ihn gebraucht hat, reichlich übertrieben ist. Zwei Hiebe hat Pagel weg, und der dritte wird kaum auf sich warten lassen. Richtig, eine Giftkröte war von Zecke immer gewesen, ein schlimmer Feind. Also ist es schon besser, ihm auf halbem Wege entgegenzukommen - dann ist die Sache wenigstens erledigt und vorbei. Er sagt und versucht, es so leicht wie nur möglich zu sagen: "Ich bin ein bißchen in der Klemme, Zecke. Könntest du mir mit ein wenig Geld aushelfen?"

"Was nennst du ein wenig Geld?" fragt Zecke und betrachtet sich seinen Pagel.

"Nun, wirklich nicht viel, eine Kleinigkeit für dich", sagt Pagel. "Was meinst du zu hundert Millionen?"

"Hundert Millionen", sagt Zecke träumerisch. "So viel habe ich an den ganzen Varieténutten nicht verdient ..."

Dritter Schlag, und diesmal scheint es Knockout gewesen zu sein. Aber so leicht läßt sich Wolfgang Pagel nicht niederschlagen. Er fängt an zu lachen, ganz herzhaft und unbekümmert zu lachen. Dann sagt er: "Recht hast du, Zecke! Großartig! Und ich bin das Kamel. Quatsche große Töne, und will mir doch Geld von dir pumpen. Werde pampig. Aber weißt du, irgendwie hat es mich gleich geärgert, wie ich hier reinkam ... Ich weiß

nicht, ob du das verstehst ... Ich hause da in so 'ner Höhle am Alex "... Zecke nickt, als wisse er es. "... habe gar nichts ... und dann hier so rin in die Pracht! Gar nicht wie bei Neureichs und Raffkes, wirklich schön - und ich glaube auch nicht einmal, daß der Arm ergänzt ist ..."

Er bricht ab und sieht prüfend auf Zecke. Mehr kann er nicht tun, mehr bringt er einfach nicht über sich. Aber als sich Zecke auch jetzt nicht rührt, sagt er: "Na schön, gib mir auch kein Geld, Zecke. Verdient habe ich das, blöd, wie ich war."

"Ich sage ja nicht nein", erklärt Zecke. "Ich möchte bloß mal so hören. Geld ist Geld, und du willst es doch nicht geschenkt -?"

"Nein, sobald ich kann, kriegst du es wieder."

"Und wann kannst du?"

"Unter Umständen, wenn es gut geht, schon morgen."

"So", sagt Zecke, nicht sonderlich begeistert. "So. - Na, trinken wir noch einen Schnabus. - Und wozu brauchst du das Geld -?"

"Ach", sagt Pagel, wird verlegen und fängt an, sich zu ärgern. "Ich habe da so ein paar Schulden bei meiner Wirtin, Kleinigkeiten eigentlich - weißt du, hundert Millionen klingt gewaltig viel, aber am Ende ist es doch nicht viel mehr als hundert Dollar, nichts so Überragendes ..."

"Also Schulden bei der Wirtin", sagt Zecke ganz ungerührt und sieht den Freund aus dunklen Augen aufmerksam an. "Und was sonst noch?"

"Ja", sagt Pagel verdrießlich, "ich habe auch noch was versetzt beim Onkel ..."

Im gleichen Augenblick fällt ihm ein, daß dies nun wirklich nicht wahr ist. Aber er hat im Moment nicht daran gedacht, daß verkauft nicht versetzt ist, und so läßt er es dabei. Es kommt ja wirklich nicht so genau darauf an ...

"So, versetzt beim Onkel", sagt von Zecke und sieht weiter dunkel und prüfend aus. "Weißt du, Pagel", sagt er dann, "ich muß dich noch was fragen - entschuldige bitte. Geld ist ja schließlich Geld, und selbst sehr wenig Geld(hundert Dollar zum Beispiel) ist für manchen sehr viel Geld - zum Beispiel für dich."

Pagel hat beschlossen, diese Stiche nicht mehr zu beachten, schließlich ist ja die Hauptsache, daß er sein Geld bekommt. Er sagt mürrisch: "Also frag schon."

"Und was tust du?" fragt Zecke. "Ich meine, wovon lebst du? Hast du 'ne Stellung, die dir was einbringt? Vertreter gegen Provision? Angestellter mit Gehalt?"

"Im Moment habe ich nichts", sagt Pagel. "Aber ich kann jeden Augenblick als Taxichauffeur eintreten."

"Ja so, dann natürlich!" sagt Zecke und scheint ganz befriedigt. "Wenn du noch einen Schnabus magst, bitte! Ich habe für den Vormittag genug. - Also Taxichauffeur "..., fängt er wieder an zu bohren, dieses Aas, dieser Schieber, dieser Menschenschinder, dieser Verbrecher.(Sand statt Salvarsan!) "Taxichauffeur - sicher ein schönes Brot, auskömmlicher Verdienst "...(Wie er höhnt, dieser bösartige Affe!) "... aber doch sicher nicht so auskömmlich, daß du mir morgen mein Geld zurückgeben könntest. Du erinnerst dich doch, du sagtest, wenn es gut geht, schon morgen?! So gut geht Taxifahren doch nicht?"

"Mein lieber Zecke", sagt Wolfgang und steht auf. "Du möchtest mich ein bißchen quälen, was? Aber so wichtig ist mir das Geld nun doch wieder nicht -"

Er zittert beinahe vor Zorn.

"Aber Pagel -!" ruft Zecke und ist ganz erschrocken. "Ich dich quälen -?! Wie komme ich denn dazu? Sieh mal, du hast mich doch ausdrücklich nicht um ein Geschenk gebeten - dann hättest du die paar Scheine längst. Du willst doch ein Darlehen, hast Angaben wegen der Rückzahlung gemacht - ich frage also danach, erkundige mich, wie du dir das denkst - und du schimpfst?!! Ich verstehe das nicht."

"Ich kann", sagt Pagel, "das vorhin nur so hingesagt haben. In Wirklichkeit könnte ich dir das Geld nur in Wochenraten zurückzahlen, etwa zwei Millionen wöchentlich ..."

"Spielt keine Rolle, alter Junge!" ruft von Zecke fröhlich. "Spielt gar keine Rolle unter uns alten Freunden, nicht wahr? Die Hauptsache ist doch, daß du das Geld nicht wieder verspielst, nicht wahr, Pagel?"

Die beiden sehen sich an.

"Es hat keinen Zweck, Pagel", sagt Zecke dann eilig und leise, "daß du schreist. Ich werde so oft angeschrien, es stört mich gar nicht. Wenn du tätlich werden willst, mußt du es sehr schnell tun - sieh mal, jetzt habe ich schon auf den Klingelknopf gedrückt - ach ja, Reimers, dieser Herr wünscht zu gehen. Sie zeigen ihm den Weg, ja? Auf Wiedersehen, Pagel, alter Freund, und wenn du einmal ein Bild von deinem Herrn Vater verkaufen möchtest, ich bin für dich immer zu sprechen, immer ... Nanu, bist du verrückt geworden?!" unterbricht Zecke sich plötzlich.

Denn Pagel hat zu lachen angefangen, leicht und völlig vergnügt lacht er.

"Gott, was bist du für ein wunderbares Schwein geworden, Zecke!" ruft

Pagel lachend. "Das muß dich doch verdammt geschmerzt haben, was ich von den Varieténutten gesagt habe, daß du daraufhin all deinen Dreck von dir gibst. - Er hat nämlich früher mit Varieténutten gehandelt, Ihr Chef", sagt er zu dem Manne hinter sich.(Eine Kreuzung von Mann und Herr.) "Er will's nicht mehr wissen, aber es tut ihm noch weh, wenn man davon spricht. Aber, Zecke", sagt Pagel plötzlich ganz fachmännisch ernst, "ich neige jetzt doch dazu, daß der Arm von diesem Leuchterengel ergänzt ist, und zwar schlecht. Ich würde es so machen ..."

Und ehe Zecke und sein Mann ihn noch haben hindern können, ist der Engel ohne Arm. Von Zecke schreit, als fühle er den Schmerz der Amputation. Der Mann Reimers will auf Pagel eindringen, aber der ist, trotz mangelhafter Ernährung, noch ein kräftiger junger Mann. Mit einer Hand wehrt er den Mann ab, in der andern hält er den amputierten Arm mit der Lichttülle. "Diese grobe Fälschung möchte ich zum Andenken an dich behalten, alter Freund Zecke", sagt Wolfgang vergnügt. "Weißt du: das Licht erlosch - und so. Auf Wiedersehen und ein gedeihliches Mittagessen allerseits."

Pagel geht ab, vergnügt und zufrieden, denn wenn von Zecke sich wirklich einmal freuen will, daß er ihm kein Geld gegeben hat, wird er an den Arm des Leuchterengels denken müssen, der in der Pagelschen Tasche steckt. Und der Schmerz wird überwiegen.

8

Unangefochten erreicht Pagel das Tor der Zeckeschen Villa. Als er es aufzieht, steht ein Mädchen davor, ein Mädchen mit einem drängenden Fox an der Leine, mit sehr rotem Gesicht.

"Gott, stehen Sie noch immer da, Fräulein?!" ruft er entsetzt. "An Sie hatte ich gar nicht mehr gedacht."

"Hören Sie!" sagt sie, und ihr Zorn hat durch das Warten in der Sonne nichts von seiner Hitze verloren. "Hören Sie!" sagt sie und hält ihm die Scheine hin. "Wenn Sie denken, daß ich so eine bin, danke, pfui Deibel! Nehmen Sie Ihr Geld!"

"Und noch dazu so wenig!" sagt Pagel, völlig unbekümmert. "Nicht einmal ein Paar Seidenstrümpfe können Sie sich dafür kaufen ... Nein", sagt er rasch. "Ich will Sie nicht mehr auf den Arm nehmen, hören Sie mal zu, ich möchte Sie sogar um Rat fragen ..."

Sie steht da und starrt ihn an, die Scheine in der einen, die Leine mit dem zerrenden Fox in der andern Hand, völlig verblüfft über seinen veränderten Ton. "Hören Sie -!" sagt sie noch einmal, aber die Drohung

ist nur schwach.

"Gehen wir hier lang?" schlägt Pagel vor. "Also los! Seien Sie nicht albern, kommen Sie ein Stück mit, Lina, Trina, Stina. Ich kann Ihnen hier auf offener Straße doch nichts tun, und verrückt bin ich auch nicht ..."

"Ich habe keine Zeit", sagt sie. "Ich müßte längst zu Hause sein. Die gnädige Frau ..."

"Erzählen Sie der Gnädigen, Schnaps ist ausgerissen, und hören Sie jetzt zu. Ich war da eben drin bei dem feinen Kerl in der Villa, Schulkamerad von mir, wollte mir Geld pumpen ..."

"Und da stecken Sie Ihr Geld meinem Hund ..."

"Seien Sie keine Gans, Miezi!"

"Liesbeth!"

"Hören Sie zu, Liesbeth! Natürlich habe ich nichts gekriegt - weil Sie mit meinem Geld vor der Türe standen! Man kriegt nämlich kein Geld, solange man noch was hat, und darum hatte ich es Ihrem Hund in das Halsband gesteckt. Kapiert -?"

Aber bei ihr geht es erheblich langsamer. "Da sind Sie mir also gar nicht schon eine Woche lang nachgelaufen, und einen Brief haben Sie auch nicht reingesteckt? Ich dachte, der Hund hätte ihn verloren ..."

"Nee, nee, Liesbeth", grinst Pagel zwar frech, aber jämmerlich ist ihm doch zumute. "Kein Brief - und mit dem Geld wollte ich Ihnen auch nicht Ihre Reinheit abkaufen. Aber die Frage, die Sie mir nun beantworten sollen, ist die: Was soll ich jetzt tun? Keinen Pfennig mehr. Eine Bude am Alex, für die die Miete nicht bezahlt ist. Meine Kleine sitzt als Pfand drin, nur mit meinem Sommerpaletot bekleidet. Alle Sachen habe ich verkauft, um hierherzukommen."

"Ernst?" fragt das Mädchen Liesbeth. "Kein Quatsch mehr?"

"Kein Quatsch mehr! Völliger Ernst!"

Sie sieht ihn an. Sie wirkt unglaublich frisch gewaschen und sauber - trotz der Hitze -, es riecht gewissermaßen nach Sunlichtseife um sie. Vielleicht ist sie nicht mehr ganz so jung, wie er zuerst dachte, außerdem hat sie ein recht energisches Kinn.

Sie weiß jetzt, daß es wirklich Ernst ist. Sie sieht ihn an, dann auf das Geld in der Hand.

Gibt sie es mir jetzt wieder? überlegt er. Dann muß ich zu Peter und muß etwas tun. Aber was ich tun soll, weiß ich wirklich nicht. Ich habe zu nichts mehr Lust. Nein, sie soll mir sagen, was ich tun soll ...

Sie hat das Geld glattgestrichen und in die Tasche gesteckt.

"So", sagt sie, "nun kommen Sie erst mal mit mir. Nach Haus muß ich jetzt - und Sie sehen mir auch so aus, als könnten Sie ein Mittagessen in unserer Küche gebrauchen. Ganz grün und gelb sehen Sie aus. Die Köchin sagt nichts, und die gnädige Frau ist auch einverstanden. Aber zu denken, daß Ihre Freundin in Ihrem Sommerüberzieher auf Ihrer Bude sitzt, und 'ne knuffige Wirtin womöglich dazu, und vielleicht nichts im Magen - und so was steckt Hunden Geld in das Halsband und möchte gleich wieder von frischem anbändeln - Scheißkerle seid ihr Männer doch!"

Sie hat immer rascher geredet, den Hund gezerrt, ist eiliger gegangen, aber keinen Augenblick war sie unsicher, ob er auch mit ihr ging.

Und er ging wirklich mit, Wolfgang Pagel, Sohn eines nicht unbekannten Malers, Fahnenjunker a. D. und Spieler am Ende.

9

Mit dem zweiten Bestellgange um elf hatte der Postbote schon den Brief gebracht. Aber um diese Zeit war Frau Pagel noch unterwegs, machte Besorgungen. So hatte Minna ihn auf den Konsoltisch unter dem Spiegel im Vorplatz gelegt. Da lag er nun, ein grauer Umschlag, irgendein gehämmertes, ziemlich pompöses Büttenpapier, die Adresse mit einer recht ausgeschriebenen Hand steil und sehr groß aufgemalt, und jeder freie Raum vorne wie hinten war vollgeklebt mit den Tausenderwerten der Briefmarken, obwohl es nur ein Stadtbrief war.

Als Frau Pagel etwas verspätet und recht erhitzt aus der Stadt zurückkam, warf sie nur einen flüchtigen Blick auf den Brief. Ach, von Kusine Betty! dachte sie. Jetzt muß ich mich erst um mein Essen kümmern. Was die alte Klatsche will, höre ich noch früh genug.

Erst als sie bei Tisch saß, fiel ihr der Brief wieder ein. Sie schickte Minna danach, Minna, die wie stets hinter ihr in der Tür stand, während wie stets das Gedeck für Wolfgang am andern Tischende unbenützt dalag. "Von Frau von Anklam", sagte sie über die Schulter zu Minna, indem sie den Brief aufriß.

"Gott, das wäre auch nicht so eilig gewesen, gnädige Frau, daß Ihr Essen deswegen kalt werden muß."

Aber aus der Stille, der starren Haltung der gnädigen Frau, aus der Reglosigkeit, mit der sie auf den Brief starrte, erriet sie, daß es doch wichtig gewesen war.

Minna wartete lange, still, ohne Bewegung. Dann räusperte sie sich,

schließlich sagte sie mahnend: "Das Essen wird kalt, gnädige Frau!"

"Wie -?!" schrie Frau Pagel fast, fuhr herum und starrte Minna an, als sei die ihr völlig unbekannt. "Ach so "..., besann sie sich. "Es ist nur ... Minna, Frau von Anklam schreibt es mir ... Es ist nur - unser junger Herr heiratet heute!"

Und da war es vorbei. Der Kopf mit den weißen Haaren lag auf der Tischkante; der grade Rücken, den der Wille immer wieder gestrafft hatte, war krumm - die alte Frau weinte.

"Gott!" sagte Minna. "Gott!"

Sie trat näher. Zwar fand sie in dieser Heirat gar nicht so viel Schlimmes, aber sie verstand doch Kränkung, Schmerz, Verlassenheit der Herrin. Vorsichtig legte sie ihr die verarbeitete Hand auf den Rücken und sagte: "Es braucht ja noch nicht wahr zu sein, gnädige Frau. Es ist noch lange nicht alles wahr gewesen, was Frau von Anklam erzählt hat."

"Diesmal ist es wahr", flüsterte Frau Pagel. "Irgend jemand hat das Aufgebot gelesen, als es aushing, und hat ihr davon erzählt. Heute um halb eins."

Sie hob den Kopf, sah suchend die Wände entlang. Dann besann sie sich, und der Blick fand die Uhr, die sie suchte, an ihrem Arm. "Schon halb zwei!" rief sie. "Und der Brief hat so lange draußen gelegen, ich hätte es rechtzeitig wissen können ..."

Wahres Leid findet in allem Nahrung, selbst im Widersinnigen. Daß sie es nicht rechtzeitig gewußt hatte, daß sie nicht um halb eins hatte denken können: Jetzt werden sie getraut - das verstärkte Frau Pagels Kummer noch. Mit rinnenden Tränen, bebender Lippe saß sie da, sah ihre Minna an und sprach: "Jetzt brauchen wir kein Gedeck mehr aufzulegen, jetzt ist Wolf ganz fort, Minna. Ach, dieses schreckliche Frauenzimmer - und nun heißt sie Frau Pagel, ganz wie ich!"

Sie bedachte den Weg, den sie gegangen war unter diesem Namen; den stürmenden, eiligen Blütenweg zuerst. Dann die langen, die endlos langen Jahre an der Seite des gelähmten Mannes, der, immer fremder werdend, ruhig und freundlich Bilderchen pinselte, indes sie für ihn nach einer Gesundheit jagte, nach der er doch nichts mehr zu fragen schien. Schließlich erinnerte sie sich an das Erwachen, an den wieder Auferstandenen mit den weißen Schläfen, der, in die albernsten Geckereien verstrickt, ihr schändlich gestorben ins Haus getragen wurde ...

Jeder Schritt dieses weiten Weges war so mühsam gegangen worden von ihr, kein Jahr ohne Sorge; Leid war ihr Bettgenoß gewesen, und ihr

Schatten hieß Kummer. Aber darüber war sie eine Pagel geworden, aus den holden Täuschungen jungen Fleisches war die feste Frau erstanden, die nun und für ewig Frau Pagel hieß. Noch im Himmel würde sie eine Pagel sein; es war völlig unmöglich, daß Gott sie je etwas anderes sein ließ als eine Pagel. Aber all dies schwer Erkämpfte, diese Verwandlung, die ein schmerzliches Wachsen gewesen war in ihre Bestimmung hinein, das fiel diesem jungen Ding in den Schoß, als sei es nichts. Liederlich, wie sie zusammengekommen waren, banden sie sich aneinander. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch; da will ich auch begraben sein. Der Herr tue mir dies und das; der Tod muß mich und dich scheiden! - Ja, so hieß es, aber davon wußten sie nichts. Frau Pagel, das war kein Name, das war ein Schicksal! Sie aber machten einen Aushang, ließen halb eins hineinschreiben - und damit war es gut!

Minna sagte es auch grade, ihr zum Trost, aber es war richtig: "Es wird bloß Standesamt sein, gnädige Frau, keine Kirche."

Die Gnädige richtete sich ein wenig auf, sie fragte eifriger: "Nicht wahr, Minna, Sie denken das auch? Wolfgang hat es sich nicht recht überlegt, er macht es nur, weil ihn dies Mädchen zwingt. Standesamt sieht er auch nicht für voll an. Den Kummer macht er mir nicht."

"Es ist wohl", erklärte die unbestechliche Minna, "weil Standesamt sein muß, Kirche nicht. Er wird mit Geld knapp sein, der junge Herr."

"Ja", sagte Frau Pagel und hörte nur, was ihr recht war. "Und was so zusammengelaufen ist, läuft auch ebenso leicht wieder auseinander."

"Der junge Herr", meinte Minna, "hat es immer zu leicht gehabt. Er hat keine Ahnung, wie ein armer Mensch Geld verdient. Erst haben Sie ihm alles leicht gemacht, gnädige Frau - und jetzt tut es das Mädchen. Manche Männer sind so - das ganze Leben brauchen sie ein Kindermädchen - und es ist komisch, sie finden auch immer eins."

"Geld", wiederholte die alte Frau. Sie werden kaum Geld haben. Ein junges Ding ist eitel, zieht sich gerne hübsch an - wenn wir ihr Geld gäben, Minna?"

"Sie würde es doch nur ihm geben, gnädige Frau. Und er würde es verspielen."

"Minna!" rief Frau Pagel entsetzt. "Was Sie bloß denken! Er wird doch nicht mehr spielen, jetzt, wo er verheiratet ist! Es können doch Kinder kommen -"

"Die konnten vorher auch kommen, gnädige Frau, das hat doch mit

dem Spielen nichts zu tun."

Die gnädige Frau wollte es nicht hören, sie starrte über den Tisch nach dem leeren Platz hinüber. "Decken Sie bloß ab, Minna!" rief sie. "Ich kann das Zeugs nicht mehr sehen. Ich esse hier Täubchen - und er hat geheiratet!" Das Schluchzen kam wieder. "Ach, Minna, was tun wir bloß?! Ich kann doch hier nicht weiter sitzen, in meinen Zimmern, als sei nichts geschehen! Wir müssen doch irgend etwas tun!"

"Wenn wir einmal hingingen?" fragte Minna vorsichtig.

"Hingehen? Wir? Und er kommt nicht zu uns?! Und er schreibt mir nicht einmal, daß er heiratet? Nein, das ist ganz unmöglich!"

"Man muß ja nicht tun, als wenn man etwas wüßte!"

"Ich den Wolf belügen -?! Nein, Minna, damit fange ich nun nicht mehr an! Es ist schon schlimm genug, daß ich merke, ihm kommt es nicht darauf an, mich zu belügen - nein!"

"Und wenn ich nun allein hinginge?" fragt Minna wieder behutsam. "Mich sind sie gewöhnt, und mit ein bißchen Schwindeln nehme ich es auch nicht so genau!"

"Schlimm genug, Minna", sagt Frau Pagel scharf. Sehr häßlich von Ihnen! - Nun, ich lege mich jetzt ein wenig hin, ich habe gräßliche Kopfschmerzen. Bringen Sie mir doch noch ein Glas Wasser für die Tabletten."

Und sie ging in das Zimmer ihres Mannes. Eine Weile stand sie still vor dem Bilde der jungen Frau, sie dachte vielleicht: So wie ich den Edmund, kann sie ihn nie lieben. Sie können auch wieder auseinandergehen, sehr, sehr rasch.

Sie hört Minna drüben beim Abräumen hin und her gehen, sie überlegt ärgerlich: Sie ist ein alter Querkopf. Sie sollte mir doch ein Glas Wasser bringen, nein, sie muß erst abräumen. Ich denke gar nicht daran, ihr den Willen zu tun. Übermorgen hat sie ihren freien Nachmittag, da kann sie machen, was sie will. Geht sie heute, merkt das junge Ding gleich, sie kommt nur darum. Man weiß doch, wie berechnend diese jungen Mädchen sind! Wolf ist ein Schaf, das werde ich ihm auch sagen. Er denkt, sie nimmt ihn seinetwegen. Aber sie hat die Wohnung und die Bilder gesehen, über die Preise weiß sie natürlich längst Bescheid. Auch, daß dies Bild eigentlich ihm gehört. Komisch, daß er es noch nie von mir verlangt hat, aber so ist Wolf eben, nie berechnend ...

Sie hört die Wasserleitung in der Küche laufen. Minna will ihr wohl recht kaltes Wasser bringen. Rasch geht sie zum Sofa und legt sich hin. Sie zieht eine Decke über sich.

"Das Wasser hätten Sie mir auch schon vor fünf Minuten bringen können, Minna! Sie wissen doch, ich liege hier mit meinen gräßlichen Kopfschmerzen ..."

Sie sieht Minna böse an. Aber Minna hat ihr altes, faltiges Holzgesicht, ihr ist nichts anzusehen, wenn sie nicht will.

"Also dann gut, Minna! Und seien Sie recht leise in der Küche - ich will ein bißchen schlafen. Wenn Sie alles abgewaschen haben, können Sie gehen. Nehmen Sie heute Ihren freien Nachmittag. Das Fensterputzen lassen Sie für morgen, Sie können sich doch nicht zusammennehmen und leise sein! Sie rumpeln dann immer so mit den Eimern, dann wird doch nichts aus meinem Schlaf. Also adieu, Minna."

"Adieu, gnädige Frau", sagt Minna und geht. Sie macht die Tür sehr sachte, gar nicht rumpelig zu.

Dämliches Frauenzimmer! denkt Frau Pagel. Wie sie mich bloß wieder angestarrt hat - wie 'ne alte Eule! Ich will aufpassen, wenn sie geht. Dann laufe ich rasch zu Betty. Vielleicht war sie auf dem Standesamt oder hat jemanden geschickt - keiner ist neugieriger als Betty. Und ich bin noch vor Minna wieder zurück - alles braucht sie nun auch nicht zu wissen!

Frau Pagel sieht noch einmal das Bild an der Wand an. Die Frau im Fenster sieht von ihr fort. Von hier aus gesehen, schieben sich die dunklen Schatten hinter dem Frauenkopf auseinander, lichten sich auf - es sieht beinahe so aus, als nähere ein Männerkopf seinen Mund dem Frauennacken. Frau Pagel hat es schon oft gesehen, diesmal ärgert es sie.

Diese verdammte Sinnlichkeit! denkt sie. Alles verdirbt sie den jungen Leuten. Ewig fallen sie darauf rein.

Dann überlegt sie, daß nun, wo die beiden geheiratet haben, das Bild der jungen Frau eigentlich zur Hälfte mitgehört. So ist das doch?

Aber sie soll mir nur kommen! Sie soll nur kommen! Einen Backs hat sie schon weg - aber ich habe noch mehr ...

Fast lächelnd dreht sie sich um und ist in einer Minute eingeschlafen.

VIERTES KAPITEL. Nachmittagsschwüle über Stadt und Land

1

"Hören Sie zu", sagte Direktor Doktor Klotzsche zu dem Reporter Kastner, der ausgerechnet heute auf seiner Fahrt durch Preußens feste Häuser in das Zuchthaus Meienburg gekommen war. "Hören Sie zu! Man muß nichts darauf geben, was die im Städtchen unten über uns klatschen. Wenn zehn Gefangene ein wenig laut sind, schallt es in diesem Haus aus Zement und Eisen, als brüllten tausend."

"Immerhin haben Sie nach Reichswehr telefoniert", stellte Reporter Kastner fest.

"Es ist unerhört "..., wollte Direktor Klotzsche losbrechen und sich über Pressespionage, die sich bis auf seine Ferngespräche erstreckte, ereifern. Aber zu rechten Zeit fiel ihm noch ein, daß dieser Herr Kastner eine Empfehlung des Herrn Justizministers in der Tasche trug. Zudem hieß der Herr Reichskanzler wohl Cuno, aber er sollte ja schon wieder wackeln, und mit der SPD, deren Presse Herr Kastner vertrat, durfte man es also nicht verderben. "Es ist unerhört", fuhr er darum wesentlich gemäßigter fort, "wie in diesem Klatschnest aus der einfachen Erfüllung einer dienstlichen Vorschrift eine große Sache gemacht wird. Droht Unruhe im Zuchthaus, habe ich vorsorglich Polizei und Reichswehr zu benachrichtigen. Nach fünf Minuten konnte ich den Alarm schon wieder rückgängig machen. Sie sehen, Herr Doktor -!"

Aber auch der Doktor zog bei diesem Manne nicht. Er fragte: immerhin drohte auch Ihrer Ansicht nach Unruhe. Warum -?"

Der Direktor ärgerte sich schändlich - aber was half es? - "Es war wegen des Brotes", sagte er langsam. "Es war einem nicht gut genug, er schrie. Und als sie das Schreien hörten, schrien gleich zwanzig mit ..."

"Zwanzig, nicht zehn", sagte der Reporter.

"Meinethalben hundert", rief der Direktor, dem die Galle überlief. "Meinethalben, mein Herr, tausend, alle -! Ich kann es nicht ändern, das Brot ist nicht gut - aber was soll ich machen?! Unsere Verpflegungssätze hinken um vier Wochen hinter der Geldentwertung drein. Ich kann kein vollwertiges Mehl kaufen - was soll ich tun?!"

"Anständiges Brot liefern. Schlagen Sie doch Krach im Ministerium. Machen Sie Schulden für die Justizverwaltung, alles gleich - die Leute sind nach Vorschrift ausreichend zu beköstigen."

"Jawohl", sagte der Direktor bitter. "Ich riskiere Kopp und Kragen, damit meine Herren nur gut zu essen haben. Und draußen hungert das unbestrafte Volk, was?!"

Aber Herr Kastner war für Ironie und Bitterkeit nicht zugänglich. Er hatte einen Mann in Zuchthauskleidung gesehen, der den Gang

bohnerte; er rief, plötzlich recht freundlich: "Sie, hören Sie mal, Sie da! Ihr Name bitte?"

"Liebschner."

"Hören Sie mal, Herr Liebschner, sagen Sie mir mal ganz ehrlich: Wie ist das Essen? Besonders das Brot?"

Der Gefangene sah mit raschen Augen von dem Direktor zu dem dunklen Herrn in Zivil, noch unsicher, was man hören wollte. Man konnte nicht wissen, der Fremde konnte von der Staatsanwaltschaft sein, und wenn man die Klappe aufriß, saß man drin. Er entschied sich für Vorsicht: "Das Essen? Mir schmeckt es."

"Ach, Herr Liebschner", sagte der Reporter, der nicht zum ersten Male mit einem Gefangenen sprach, "ich bin Presse, vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren. Sie werden keine Nachteile haben, wenn Sie offen sprechen. Wir werden ein Auge auf Sie haben. Also was war das heute früh mit dem Brot?"

"Ich bitte doch sehr!" rief der Direktor, bleich vor Wut. "Das grenzt an Aufwiegelei ..."

"Machen Sie sich doch nicht lächerlich!" bellte Herr Kastner. "Wenn ich den Mann auffordere, die Wahrheit zu sagen, heißt das Aufwiegeln? Reden Sie ruhig frei von der Leber weg - ich bin Kastner vom Sozialdemokratischen Pressekonzern, Sie können mir immer schreiben ..."

Doch der Gefangene hatte sich schon entschieden. "Manche müssen immer meckern", sagte er und sah dem Reporter treu ins Auge. "Das Brot ist, wie es ist, und ich mag's essen. Die hier drinnen am lautesten schreien, schieben draußen meistens Kohldampf und haben keine heile Hose auf dem Hintern."

"So", sagte der Reporter Kastner mit gerunzelter Braue, sichtlich unzufrieden, indes der Direktor leichter atmete. "So! - Wegen was sind Sie denn bestraft?"

"Hochstapelei", antwortete Herr Liebschner. "Und dann sollen ja jetzt Erntekommandos rausgehen, Tabak und Fleisch, soviel man will ..."

"Danke!" sagte der Reporter kurz, und zum Direktor gewandt: "Gehen wir weiter? Ich hätte gerne noch eine Zelle gesehen. Man weiß auch, was man vom Geschwätz der Kalfaktoren zu halten hat, die haben alle Angst um ihren Posten. Und dann Hochstapelei - Hochstapler und Zuhälter, das ist das unglaubwürdigste Gesindel von der Welt!"

"Zuerst schien Ihnen an der Aussage dieses Hochstaplers aber viel zu liegen, Herr Kastner". - Der Direktor lächelte hinter seinem blonden Bart.

Der Reporter sah und hörte nicht. "Und dann Erntekommandos! Den Großagrariern ihre Dreckarbeit machen, für die sich sogar die Pollacken zu schade sind! Und für Schandlöhne! Ist das eine Erfindung von Ihnen?"

"Nicht doch", sagte der Direktor freundlich. "Nicht doch. Eine Verfügung Ihres Parteigenossen im Preußischen Justizministerium, Herr Kastner ..."

2

"Frau Thumann", sagte Petra in der Küche ihrer Wirtin, hatte den schäbigen Sommerpaletot fest von oben bis unten zugeknöpft und kümmerte sich gar nicht um ihr Zimmervisavis, die rassige, aber versoffene Ida vom Alex, die am Küchentisch saß und schöne, glasierte Schnecken in Milchkaffee tauchte - "Frau Thumann, haben Sie nicht ein bißchen was zu tun für mich?"

"Jotte doch, Mächen!" ächzte die Pottmadamm am Spülstein. "Wat meenst du nu wieder mit wat zu tun? Willste uff de Uhr kieken, ob er kommt, oder haste Kohldampf?"

"Allet beedet", sagte die Ida mit ihrer tiefen, vom Schnaps kratzigen Stimme und zog schlürfend über ein Stück Zucker im Munde ihren Kaffee.

"De jrünen Heringe ha 'ck schon ausjenommen und jeschuppt, und den Kartoffelsalat machste doch nicht, wie Willem ihn will - und sonst?"

Sie sah sich um, aber es fiel ihr nichts ein.

"Da ha 'ck nu jespannt und jejachtert, dat ick noch rechtzeitig zu de piekfeine Trauung unter de Kirchentür stehe, und nu is es ein Uhr vierzig, und wat de Braut is, die läuft noch in 'nem Herrenpaletot mit nackje Beene. Imma wird man belämmert!"

Petra setzte sich auf einen Stuhl. Ihr war wirklich ein wenig sehr schwach im Magen, ein ziehendes Gefühl mit einer leisen Andeutung von kommendem Schmerz, Schwäche in den Knien und immer wieder ein Schweißausbruch, der nicht allein von der stickenden Schwüle kommen konnte. Aber ihre Stimmung war trotzdem recht gut. Eine große, glücklich machende Gewißheit war in ihr. Sie konnte die beiden ruhig reden lassen, es gab den Stolz nicht mehr und nicht mehr die Scham von früher. Sie wußte, wohin der Weg ging. Daß er ans Ziel führte, darauf kam es an, nicht darauf, daß er beschwerlich war.

"Setzen Se sich bloß langsam uff den Stuhl nieda, meine Dame!" höhnte die rassige Ida wieder. "Sonst hält er nich, bis der Bräutjam

kommt Sie holen zur Trauung."

"Mach es nich zu schlimm mit ihr in meine Küche, Ida", mahnte die Pottmadamm am Spülstein. "Bislang hat er ja noch imma allens bezahlt, und mit zahlende Jäste soll man lieblich sind."

"Eenmal is es aba alle, Thumann", sagte die Ida weise. "Ick hab en Blick for die Männers, ick weeß, wenn die Marie dünne wird und er möchte rücken - ihrer is heute jerückt."

"Saren Se det bloß nich, Ida!" klagte Frau Thumann weinerlich. "Wat soll mir denn det Mächen mit nischt als en Paletot und nackje Beene?! - O Jott!" schrie sie laut und warf mit einem Topf, daß es schepperte, "mir jeht doch allens schief, ick kann ihr womöchlich noch ein Kleid koofen, bloß, det ick ihr loswerde!"

"Ein Kleed koofen!" sagte die Ida verächtlich. "Zu dumm kleid't ooch nich hübsch, Thumann! Da saren Se dem nächsten Sipo so und so - et wohnt ja jleich eener in't Vorderhaus - und vastehnse und Betrug, und ab mit ihr zur Wache und uff den Alex. Die ziehen Ihnen da schon wat an, Fräulein, wat Sie denken, blauer Husar und Kopftuch, vastehn Se?!"

"Mir müssen Sie nicht angst machen", sagte Petra friedlich und ein wenig schwach. "Sie hat wohl auch schon einmal einer sitzenlassen". Sie hatte es nicht sagen wollen, aber wes das Herz voll ist, des geht der Mund über - und so hatte sie es gesagt!

Der Ida blieb die Luft fort, als habe sie einer derb vor die Brust gestoßen.

"Den haste wech, Mächen!" kicherte die Thumann.

"Eener, Fräulein?!" sagte da die Ida mit erhobener Stimme. "Eener - saren Se?! Hundert, sollten Se saren! Da reichen keene hundert Male, det ick mir Eisbeene und dicke Knie stehe, und der Seejer uff de Normaluhr jeht und jeht, bis ick dußlijet Aas endlich merke: mir hat wieda eena vasetzt! Aber", ging sie aus den wehmütigen Erinnerungen zum Angriff über, "desderwejen brauch mir so eene, die nich mal am Hochzeitstag was uff 'en Leib zu ziehen hat, det noch lange nich vorzuhalten! Eene, die mir nur mit Jieroojen die Schnecken ins Maul kiekt und de Kaffeeschlucker zählt. So eene wie ..."

"Feste, feste!" freute sich die Thumann.

"Und überhaupt! Is det denn 'ne Sache für 'n anständijet Mächen, det se in so 'ne bedrängte Laje hochnäsig in 'ne fremde Küche kommt und fracht wie Jräfin Hochkotz: Hamm Se wat for mir zu tun?! Wer nischt hat, muß betteln jehn, det hat mein Vata mir schon mit 'em Scheit auf 'en Buckel jeschrieben, und hätten Se jesacht: ›Ida, ick schiebe Kohldampf,

jib mir 'ne Schnecke‹, du hättst längst eene jehabt! Und überhaupt, Frau Thumann! Ick zahle Sie einen Doller täglich für Ihren Wanzenstall und nich mal Nachtlicht uff de Treppe, wo die Herren imma üba meckern - da hamm Se jar nischt zu lachen und zu schreien: ›Den haste wech, Mächen!‹ Da hamm Se mir jefälligst in Schutz zu nehmen, und wenn so eene keß wird, die janz for umsonst mit ihrem Louis schläft, zum Vajniejen, und de Thumann kann ja sehn, wo se de Pinke herkriegt, wir arbeeten nich, wir jehn doch nich uff den Strich und schaffen nich an - dafor sind wir doch zu fein -, nee, Thumann, ich muß mir doch sehr über Sie wundern, und wenn Se det freche Aas, det mir vorwirft, det ick nich imma Jlück mit die Herren habe, wenn Se die nich uff de Stelle rausschmeißen - denn zieh ick!"

Die rassige Ida stand zornrot da, eine Schnecke hatte sie noch in der Hand, hochrot war sie, und immer röter wurde sie noch, je mehr ihr klar wurde, wie schwer sie beleidigt worden war. Die Thumannsche und Petra sahen ganz fassungslos auf diesen Sturm, der entstanden war, kein Mensch wußte, woher und warum.(Und die rassige Ida, hätte sie nur nachdenken können, war sicher über den Schluß ihrer Rede genauso überrascht wie die beiden andern.)

Petra wäre ja am liebsten aufgestanden und in ihr Zimmer geschlüpft, hätte abgeschlossen und sich aufs Bett geworfen - oh, das gute Bett! Aber es wurde ihr immer schwächer und schwächer, es brauste manchmal in ihren Ohren, und vor ihren Augen drehte es sich, dann sprach die zornige Stimme ganz ferne. Aber plötzlich kam sie wieder nahe, sie schrie direkt in ihre Ohren, und vor ihren Augen drehte es sich von neuem. Dann lief Feuer über ihren Nacken, den Rücken hinab, schwächender Schweiß brach aus ... Wenn sie es genauer rechnete, hatte sie ja lange Tage nichts Rechtes mehr gegessen; immer nur, wenn Wolf grade Geld hatte, eine Bockwurst mit Salat oder Schrippen und Leberwurst auf der Bettkante. Und seit gestern früh überhaupt nichts mehr, wo es so darauf ankam, daß sie sich gut nährte -! Sie mußte versuchen, schnell in ihr Zimmer zu kommen, und dann abschließen, vor allem fest zuschließen; selbst wenn sie mit Polizei anklopften, nicht öffnen; erst wieder aufmachen, wenn Wolfgang kam ...

"Jotte doch!" hörte sie ganz in der Ferne die Thumann jammern, "wat machste mir doch for Stunk mit deine freche Schnauze, Mächen! Solche, die nischt haben, müssen andern ooch nicht det Brot vom Tische quasseln, und de Ida is eene prima Dame, die jeden Tach mit ihrem Doller kommt - so eener haste gar nischt vorzuwerfen, vastanden?! Und nu mach, daß de aus meine Küche kommst, und een bißken dalli, sonst wackelt was ..."

"Nee!" schrie die Ida unerträglich scharf. "Det jilt nich, Thumann! Entweder jeht die oder entweder ick! Beleidijen lasse ick mir nich von so einer - raus mit ihr aus de Wohnung, oder ick ziehe noch diese Minute ..."

"Aber, Mächen, Ida, Herzenskindting!" jammerte die Thumann. "Du siehst doch, wie se is: Spucke an 'ne Kalkwand, und nischt uff 'en Leib und nischt im Leib - so kann ick se doch nich türmen lassen ..."

"Können Se nich, Thumann? Nee, det können Se nich? So - det wollen wir sehen - da können Se mir jleich in Ihre Entreetüre sehen, Frau Thumann -!"

"Mächen, Ida", bat die Thumann, "warte doch bloß, bis ihr Kerl wiedakommt, tu mir die Liebe! - Dann sollen se ooch jleich beide dieselbe Minute noch jehn müssen! - Mache doch, dat de ihr aus de Ojen kommst, du dußlije Jans du!" flüsterte sie aufgeregt zu Petra. "Wenn se dir bloß nich mehr sieht, wird se schon ruhich!"

"Ich gehe ja schon", flüsterte Petra und stand auf. Plötzlich konnte sie stehen, und sie sah auch gut das schwarze Loch der offenstehenden Küchentür in den dunklen Flur hinein, aber die Gesichter der Frauen sah sie nicht. Sie ging langsam, die sagten noch etwas, immer schneller, immer lauter, aber sie hörte es nicht genau, konnte es darum auch nicht verstehen ...

Dafür konnte sie aber gehen, und sie ging langsam aus der hellen, heißen Schwüle auf das schwarze Loch zu. Dahinter kam der fast dunkle Flur mit "ihrer" Tür, sie brauchte nur einzutreten, zuzuschließen - und dann das Bett ...

Aber sie ging vorüber, es war wie in einem Traum, ihre Glieder gingen anders, als der Kopf es ausdachte. Sie warf im Vorübergehen noch einen Blick in das Zimmer - das Bett hätte ich doch noch machen müssen, dachte sie, und schon war sie vorüber. Schon war die Eingangstür da, und sie machte sie auf, tat einen Schritt über die Schwelle und zog sie hinter sich wieder zu.

Das Helle rechts und links waren Gesichter von Nachbarinnen.

"Wat ist denn det for Krach bei Ihnen?" fragte die eine.

"Die haben Sie woll rausjeschmissen, Fräulein?"

"Jotte doch! Wie 'ne aufjewärmte Leiche!"

Aber Petra bewegte nur leise verneinend den Kopf. Sie durfte nicht sprechen, sonst wachte sie auf und saß wieder in der Küche, und sie stritten und schrien sie an ... Leise, nur leise, sonst schwindet der Traum ... Sie faßte vorsichtig das Geländer, sie trat eine Stufe tiefer - und sie kam wirklich tiefer. Es war eine richtige Traumtreppe, man kam auf ihr

tiefer, nicht höher.

Dann stieg sie weiter hinab.

Sie mußte sich eilen. Oben hatten sie die Tür wieder aufgemacht, sie riefen irgend etwas hinter ihr her: "Mächen, mach doch keene Zicken! Wo willste denn hin, so nackig? Komm wieda ruff, de Ida vazeiht dir ooch ..."

Petra machte eine verneinende Bewegung mit der Hand und stieg tiefer. Sie stieg und stieg - auf den Grund eines Brunnens. Aber unten war ein helles Tor - wie im Märchen. Es gab so ein Märchen, Wolfgang hatte es ihr erzählt. Und nun ging sie durch das helle Tor in die Sonne hinaus, durch Gänge, über sonnige Höfe ... und nun war da die Straße, eine fast leere, sehr sonnige Straße -

Petra sah sie hinauf und hinunter - wo war Wolf?

3

Feldinspektor Meier - Negermeier - ist nun doch gleich nach dem Arbeitsanfang um eins draußen auf dem Zuckerrübenschlag gewesen. Es war genau, wie er es sich gedacht hatte: der Vogt Kowalewski hatte in seiner Schlappheit die Weiber nur so obenhin kratzen lassen, die Hälfte des Unkrauts saß noch fest in der Erde.

Sofort hatte sich der kleine Meier aufgepustet, war rot angelaufen und hatte zu schimpfen angefangen: "Verfluchte Schweinerei, rumstehen und mit den Weibern poussieren, statt die Augen aufzumachen, elender Schlappschwanz -" und so weiter, die ganze schon bekannte und bei jeder Unregelmäßigkeit wiederholte Tonleiter rauf und runter.

Leutevogt Kowalewski hatte den wütenden Sturzbach ohne ein Widerwort über sich ergehen lassen, den grauen, schon fast weißen Kopf gesenkt, und hatte dabei das eine oder andere jämmerliche Unkraut mit den eigenen Pfoten aus der staubigen, festen Erde gepult.

"Nicht grabbeln sollen Sie, sondern aufpassen!" hatte Meier geschrien. "Aber Sie grabbeln natürlich lieber!"

Eine völlig grundlose Verdächtigung des alten Mannes. Aber Meier hatte seinen Lacherfolg bei den Leuten und schlug sich in die Fichten. Dort änderte sich seine Truthahnröte sofort in die gewöhnliche Gesichtsfarbe - ein gesundes Rotbraun -, und er lachte, daß ihm der Bauch wackelte. Dem hatte er es gegeben, dem alten Trottel! Mindestens die drei nächsten Tage würde diese Abreibung mal wieder vorhalten! Das mußte man gelernt haben, vor Wut zu brüllen, ohne auch

nur die Spur wütend zu sein, sonst machte man sich tot mit den Leuten.

Der Rittmeister, obwohl alter Offizier und Rekrutenabrichter, konnte das nicht. Der ärgerte sich, daß er schneeweiß wurde, daß er puterrot anlief, und war nach jedem solchen Ausbruch für vierundzwanzig Stunden völlig erledigt. Komische Nuß, großer Mann, wirklich!

Man durfte gespannt sein, mit was für Leuten er heute wiederkam, wenn er überhaupt welche brachte. Brachte er welche, waren sie natürlich ausgezeichnet, weil er, der Herr Rittmeister, sie verpflichtet hatte - und er, Meier, mußte sehen, wie er mit ihnen zurechtkam. Klagen ausgeschlossen.

Nun, es würde schon gehen. Er, der kleine Meier, war noch immer mit allen großen Männern zurechtgekommen, die Hauptsache blieb, daß ein paar nette Mädchen dabei waren. Amanda war ja soweit ganz gut, aber so 'ne Polenmatka hatte doch noch immer ganz andere Rasse und Feuer, und - vor allem - sie setzte sich nie was in den Kopf. Negermeier sang selbstvergessen vor sich hin: "Denn die Rose und das Mädchen will beschissen sein!"

"Junger Mann - Sie sind nicht allein!" sprach eine dröhnende Stimme - und zusammenfahrend sah Feldinspektor Meier unter einer Fichte am Wege den Schwiegervater seines Brötchengebers, den Geheimen Ökonomierat von Teschow, stehen.

Unterwärts war der alte Herr, zumal für solch drückend heißen Sommertag, völlig ausreichend bekleidet, nämlich mit hohen Stulpenstiefeln und grünlodener Büx. Von der Taille an aber, die jedoch ein ungeheurer Schmerbauch war, trug er nur ein Jägerhemd mit farbigem Pikee-Einsatz, das weit offenstand und die grauzottige, mit Schweißperlen bedeckte Brust sehen ließ. Dann kam weiter nach oben wieder Wolle, nämlich ein rötlich-, gräulich-, weißlich-gelblicher, wolliger Vollbart. Eine rote Knollennase, zwei listig und vergnügt funkelnde kleine Augen, und obenauf ein grüner Lodenhut mit einem Gamsbart. Das Ganze der Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow, Besitzer von zwei Rittergütern und achttausend Morgen Wald, kurz genannt "der alte Herr".

Und natürlich hatte der alte Herr wieder ein paar kräftige Knüppel in der Pfote - sein Jagdwagen hielt sicher irgendwo um die Ecke. Feldinspektor Meier wußte, der alte Herr war dem Beamten seines Schwiegersohnes nicht abgeneigt, denn er haßte alle Duckmäuserei und Feinheit. Darum sagte Meier recht unverzagt: "Nach ein bißchen Feuerholz gesehen, Herr Geheimrat?"

Herr von Teschow hatte auf seine alten Tage die beiden Güter verpachtet - Neulohe an den Schwiegersohn, Birnbaum an den Sohn. Für sich hatte er nur die "paar Fichten" behalten, wie er seine achttausend Morgen Wald nannte. Und wie er Sohn und Schwiegersohn die höchste nur mögliche Pacht abknöpfte(dämliche Bande, wenn sie sich von mir übers Ohr hauen läßt), so war er auch, wie der Teufel hinter der armen Seele, hinter der Nutzung seines Waldes her. Nichts durfte umkommen; bei jeder Ausfahrt packte er seinen Jagdwagen eigenhändig mit abgestorbenem Brennholz voll. "Bin kein so feiner Knochen wie mein Herr Schwiegersohn. Kaufe mir kein Brennholz, nich mal aus den eigenen Fichten, such es mir, Armeleuterecht - hä-hä-hä!"

Für dieses Mal aber war er nicht geneigt, seine Ansichten über Brennholzerwerb kundzutun. Die Knüppel in der Hand, betrachtete er nachdenklich den jungen Mann, der dem bärtigen Greis bis zur Achselhöhle reichte. Fast besorgt fragte er: "Wieder Zicken jemacht, was, Jüngling? Meine Gnädige ist auf Touren! Ist die beschissene Rose nun wenigstens die Backs -?"

Artig und höflich wie ein braver Sohn antwortete der kleine Meier: "Herr Geheimrat, wir sind wirklich nur die Geflügelrechnungen durchgegangen."

Urplötzlich lief der alte Herr violett an: "Was geht Sie meine Geflügelrechnung an, Herr?!! Was geht Sie meine Mamsell an, was?!! Sie sind bei meinem Schwiegersohn Beamter, nicht bei meiner Mamsell, verstanden?! Auch nicht bei mir!!"

"Jawohl, Herr Geheimrat!" sagte der kleine Meier gehorsam und friedlich.

"Muß es denn grade die Mamsell von meiner Frau sein, Meier, Jüngling, Apoll!!" klagte der alte Herr wieder. "Es gibt doch so viele Mädchen -!! Nehmen Sie Rücksicht auf einen alten Mann! Und wenn's denn sein muß - müssen Sie es denn gerade so machen, daß sie es sieht?! Ich versteh alles, ich bin auch mal jung gewesen, ich hab mir's auch nicht durch die Rippen geschwitzt - aber muß ich denn nun den Ärger haben, weil Sie so ein Casanova sind?! Ich soll Sie rausschmeißen! Geht nicht, sage ich ihr, ist nicht mein Beamter, ich kann ihn nicht rausschmeißen. Schmeiß du deine Mamsell raus. - ›Nein, geht nicht, die ist bloß verführt‹, sagt sie, ›und außerdem ist sie so tüchtig. Gute Geflügelmamsells sind knapp, Feldbeamte gibt's wie Sand am Meer.‹ - Nun muckscht sie mit mir, und sobald mein Schwiegersohn zurück ist, wird sie ihm die Ohren volltuten - da sehen Sie!"

"Wir sind nur die Geflügelrechnungen durchgegangen", beharrt der

kleine Meier für alle Fälle, denn "Bloß nichts gestehen" ist die Losung aller kleinen Verbrecher. "Fräulein Backs kann so schlecht zusammenzählen - da hab ich ihr geholfen."

"Na ja", lachte der Greis, "sie wird es ja schon lernen von dir, mein Sohn, die Rechnerei, was?" Und er lachte schallend. "Übrigens, mein Schwiegersohn hat angerufen, er hat Leute gekriegt."

"Gott sei Dank!" sagte Meier hoffnungsvoll.

"Bloß, sie sind ihm schon wieder durch die Lappen gegangen, wird wohl wieder mal ein bißchen zuviel kommandiert haben! Weiß ich nicht, versteh ich auch nicht, meine Enkelin, die Violet, war am Apparat. Er sitzt in Fürstenwalde fest - verstehen Sie das!?! Seit wann ist denn Fürstenwalde Berlin geworden?"

"Dürfte ich mir die Frage erlauben, Herr Geheimrat", sagte der kleine Meier mit all der Höflichkeit, die er für Vorgesetzte und Höhergestellte stets bereithielt, "soll ich nun heute abend Wagen zur Bahn schicken oder nicht?"

"Keine Ahnung!" sagte der Alte. "Ich werde euch in eure Wirtschaft reinreden, das möchtest du wohl, mein Sohn. Daß ihr nachher bei euren Fehlern sagt, ich hab das angeordnet! Nee - fragen Sie man die Violet! Die weiß es. Oder weiß es auch nicht. Bei eurer Wirtschaft weiß man das nie!"

"Jawohl, Herr Geheimrat!" sagte der artige Meier.

(Mit dem Alten muß man sich gutstellen. Wer weiß, wie lange es der Rittmeister bei der Pacht noch macht - und vielleicht übernimmt mich der Alte dann als Beamter.)

Der alte Herr pfiff gellend auf zwei Fingern nach seinem Wagen. "Sie können mir noch die Knüppel auf die Karre geben", sagte er gnädig. "Und wie stehen eigentlich eure Zuckerrüben? Ihr hackt wohl jetzt erst? Wachsen nicht, wie? Da habt ihr Helden wohl das schwefelsaure Ammoniak ganz vergessen, wie, was? Ich wart und wart, keiner streut Dünger, ich denk, na laß sie, ein kluges Kind weiß alles von allein. Und lach mir einen Ast. Morgen, mein Herr!"

4

Die schwüle Hitze im Polizeipräsidium Alexanderplatz konnte einen umwerfen. In den Gängen stank es nach gegorenem Urin, fauligem Obst, ungelüfteten, feuchten Kleidern. Überall standen Leute herum, graue Gestalten mit grauen, faltigen Gesichtern, erloschenen oder wild

flackernden Augen. Die ermüdeten Polizisten waren stumpf oder gereizt. Rittmeister von Prackwitz, flammend vor Wut, hatte zwanzig Menschen fragen, Dutzende von Gängen laufen, endlose Treppen hinauf- und wieder hinuntersteigen müssen, bis er nun endlich, eine halbe Stunde später, in einem großen, unsauberen, riechenden Amtszimmer saß. Drüben, kaum ein paar Meter entfernt, rasselte die Stadtbahn vor dem Fenster, man hörte es mehr, als daß man es durch die grau verstaubten Scheiben sah.

Von Prackwitz war nicht allein mit dem Beamten. An einem Nebentisch wurde von einem andern Beamten in Zivil ein bleichgesichtiger, großnasiger Bengel wegen irgendeines Taschendiebstahls befragt. An einem andern Tisch, im Hintergrund, steckten vier Männer die Köpfe zusammen und murmelten pausenlos miteinander. Es war nicht auszumachen, ob auch darunter "Verbrecher" waren, denn alle waren in Hemdsärmeln.

Der Rittmeister hatte seinen Bericht gemacht, zuerst kurz, präzis, unter Zurückdrängung seines Ärgers, dann recht lebhaft und fast laut, als die Wut über seinen Hereinfall ihn doch wieder überwältigt hatte. Der Beamte, ein blasser, abgespannt aussehender Zivilist, hatte mit gesenkten Augen, ohne eine Zwischenfrage zugehört. Oder auch nicht zugehört, jedenfalls war er die ganze Zeit eifrig bemüht gewesen, drei Streichhölzer so aneinanderzustellen, daß sie nicht umfielen.

Nun, da der Rittmeister fertig war, sah der Mann hoch. Farblose Augen, farbloses Gesicht, kurzer Schnurrbart, alles ein bißchen traurig, fast verstaubt, aber nicht unsympathisch.

"Und was sollen wir dabei tun?" fragte er.

Dem Rittmeister gab es einen Stoß. "Die Kerle fassen!" rief er.

"Weswegen?"

"Weil er seinen Vertrag nicht eingehalten hat."

"Aber Sie hatten ja keinen Vertrag mit ihm geschlossen, nicht wahr?"

"Doch! Mündlich!"

"Das wird er leugnen. Haben Sie Zeugen? Der Herr aus der Vermittlungsstelle wird Ihre Behauptungen kaum bestätigen, nicht wahr?"

"Nein. Aber der Kerl, der Vorschnitter, hat mich um dreißig Dollar betrogen!"

"Das höre ich lieber nicht", sagte der Beamte leise.

"Wie -?!"

"Haben Sie eine Bankbescheinigung über den rechtmäßigen Erwerb der Devisen? Durften Sie sie kaufen? Durften Sie sie weitergeben?"

Der Rittmeister saß da, ziemlich weiß, kaute an den Lippen. Dies war also die Hilfe, die ihm der Staat angedeihen ließ! Er war betrogen worden - und ihn bedrohte man! Alle hatten sie Devisen statt des Dreckgeldes - er hätte wetten mögen, der graue Mann da vor ihm trug auch welche in seiner Tasche!

"Lassen Sie den Mann laufen, Herr von Prackwitz", sagte der Beamte begütigend. "Was ist Ihnen denn damit gedient, daß wir den Mann kriegen und einstecken? Das Geld ist dann längst nicht mehr da, und Leute kriegen Sie dadurch auch nicht! Fälle über Fälle, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Ein Fahndungsblatt täglich sooo lang - es hat keinen Sinn, glauben Sie mir!" Plötzlich aber ganz dienstlich: "Natürlich, wenn Sie es wünschen, da ist die Sache mit dem Fahrgeld ... Sie stellen Strafantrag - ich lege dann einen Akt an ..."

Von Prackwitz zuckte die Achseln, er sagte schließlich: "Und ich habe meine Ernte draußen stehen. Verstehen Sie, Brot über Brot! Ausreichend Brot für Hunderte! Ich habe ihm die Devisen ja nicht zu meinem Vergnügen gegeben, einfach, weil keine Leute zu kriegen sind ..."

"Ja, natürlich", sagte der andere. "Ich verstehe schon. Also lassen wir die Sache fallen. Um den Schlesischen Bahnhof herum gibt es genug Vermittler - sicher kriegen Sie Leute. Und nichts im voraus zahlen. Auch dem Vermittler nicht."

"Schön", sagte der Rittmeister. "Ich will's also noch mal versuchen."

Am Nebentisch, der großnasige Dieb weinte jetzt. Er sah abstoßend aus, er weinte bestimmt nur, weil er keine Lügen mehr wußte.

"Also, danke schön", sagte von Prackwitz, fast gegen seinen Willen. Und plötzlich halblaut zu dem andern, fast kameradschaftlich, wie zu einem Leidensgefährten: "Finden Sie noch durch - hier - so mit allem?" Er machte eine vage Handbewegung.

Der andere hob die Achseln und ließ sie hoffnungslos wieder fallen. Er setzte an, zögerte, schließlich sagte er: "Seit Mittag steht der Dollar siebenhundertsechzigtausend. Was sollen die Leute da machen? Hunger tut weh."

Der Rittmeister ließ ebenfalls hoffnungslos die Achseln fallen und ging wortlos zur Tür.

5

In einer oder der andern Stunde seines Lebens läßt auch der tätige Mensch, an einer Daseinswende angelangt, vom Gefühl seiner Ohnmacht überwältigt, die Hände sinken. Wehrlos, ohne den Gedanken auch nur an Gegenwehr, läßt er sich treiben und schieben - nicht einmal den Nacken zieht er ein vor dem Schlag, der ihm droht. Treibe hin, Mensch, Blatt auf dem Strome des Lebens! Auf eiligen Wellen trägt es dich unter einer Uferböschung in stilleres Wasser; aber schon faßt dich ein neuer Wirbel, und dir bleibt nichts, als dich wirbeln zu lassen, zu Untergang oder neuem Verweilen - weißt du es?

Petra Ledig, die halbnackt Ausgetriebene, hätte mit ein paar Worten den Sturm der beiden Frauen in der Küche beschworen - es war alles gar nicht so schlimm, hätte sie nur gesprochen. Worte verändern alles, sie schleifen die scharfen Ränder ab - schon ist alles ganz anders; wie war es eben? Nur nicht dieses starre Schweigen, das Hochmut wie Verzweiflung, Hunger wie Verachtung verbergen konnte.

Nichts zwang Petra Ledig, an der offenen Tür ihres Zimmers vorüberzugehen. Eintreten und den Schlüssel umdrehen, sie konnte es, doch sie tat es nicht. Die Lebenswoge hob das Blatt, hob es, hob es. Zu lange schon hatte es in dem stillen Uferwasserwinkel gelegen, nur manchmal leise zitternd unter den letzten Ausläufern von Wirbeln. Nun schwemmte die Woge das Willenlose hinaus, in die völlige Ungewißheit hinein - auf die Straße hinaus.

Es war Nachmittag, vielleicht drei, vielleicht schon halb vier - die Arbeiter waren noch nicht zurück aus den Fabriken, die Frauen gingen noch nicht zu ihren Besorgungen. Hinter den Ladenfenstern, auch in den dunklen, muffig riechenden Hinterstuben der Läden saßen die Ladenbesitzer, nickten und dösten. Kein Kunde in Sicht. Es war so heiß -!

Eine Katze lag blinzelnd auf einem Treppenstein; von gegenüber, von der andern Straßenseite her, spähte ein Hund. Aber dann lohnte es sich ihm nicht, er öffnete weit den sanft rosenfarbenen Rachen und gähnte.

Die Sonne, deren Licht wohl noch blendete, war nur hinter Dunst zu sehen wie ein rötlich über seine Ränder kochender Glutball. Was es auch sein mochte, Hauswände oder Baumrinde, Schaufensterscheibe oder Pflaster, Wäschestück auf dem Balkongitter oder Uringerinnsel eines Pferdes auf dem Fahrdamm - alles atmete, ächzte, schwitzte, roch. Heiß. Glutheiß. Dem stillestehenden Mädchen war es, als höre es ein Summen durch die Stadt, ein leises, eintöniges, immer vor sich hin summendes Geräusch - als koche die ganze Stadt.

Petra Ledig wartete, mit den Augen müde gegen das Licht blinzelnd, wartete auf irgendeinen Anstoß, der das Blatt weitertreiben sollte,

gleichviel wohin, irgendwohin. Die Stadt summte vor Hitze. Eine Weile starrte sie angestrengt zu dem Hund hinüber, als könne von ihm irgendein Anstoß ausgehen. Der Hund starrte zurück - dann ließ er sich hinfallen, streckte, vor Hitze ächzend, alle viere von sich und schlief ein. Petra Ledig stand, stand; nein, sie zog nicht den Nacken ein, auch ein Schlag wäre jetzt Erlösung gewesen - aber nichts geschah. Die Stadt summte vor Hitze. -

Und wie sie wartend auf irgend etwas an der überhitzten Georgenkirchstraße stand, saß ihr Liebster, Wolfgang Pagel, wartend in einem fremden Haus, in einer fremden Küche - wartend auf was? Seine Führerin, die so frisch gewaschene Liesbeth, war im Innern des Hauses verschwunden. An dem schneeweißen Herd mit den verchromten Beschlägen hantierte ein anderes junges Mädchen, dem Liesbeth mit einigen Flüsterworten Bescheid gesagt hatte. Ein Topf klapperte auf der Platte, emsig kochend. Wolfgang saß, wartend, kaum noch wartend, den Ellbogen auf ein Knie gestützt, das Kinn in der Hand.

Solche Küche hatte er noch nicht gesehen. Groß wie ein Tanzsaal, weiß, silbern, kupferrot, das matte, körnige Schwarz der Elektrotöpfe - und mitten durch sie lief ein Geländer, hüfthoch, aus weißem Holz, eine Art Podium begrenzend, und trennte den Arbeits- von dem Aufenthaltsraum. Zwei Stufen gab es; unten waren Herd, Küchentisch, Töpfe, Schränke. Oben aber, wo Pagel saß, stand ein langer Eßtisch, schneeweiß, bequeme weiße Stühle. Ja, sogar ein Kamin war hier, aus schönen rotgebrannten Steinen mit sauberen weißen Fugen.

Oben saß Wolfgang, unten wirtschaftete am Herd das fremde Mädchen.

Er sah gleichmütig, stumpf durch die hohen, hellen Scheiben, vor denen Weinlaub hing, in den sonnenglänzenden Garten - freilich waren Gitter vor den Scheiben. Und, mußte er zerfahren denken, wie man das Verbrechen hinter Gittern verwahrt, so flüchtet sich auch der Reichtum hinter Gitter, fühlt sich dort erst sicher - hinter den Gittern der Banken, den Stahlwänden der Safes, den schmiedeeisernen Zieraten, die doch auch Gitter sind, den stählernen Rolljalousien und Alarmvorrichtungen seiner Villen. Seltsame Ähnlichkeit - nicht so seltsam eigentlich, aber ich bin so müde ...

Er gähnte. Grade sah das Mädchen vom Herd zu ihm hin. Es nickte, leise lächelnd, nicht ohne betonten Ernst. Also noch ein Mädchen mehr, auch nicht unsympathisch - ach, Mädchen genug, und überall Nicken, Mitgefühl! - Aber was in aller Welt soll ich tun?! Ich kann doch nicht hier so sitzen ... Worauf warte ich eigentlich? Doch nicht auf diese Liesbeth,

was soll die mir sagen?! Bete und arbeite, Morgenstunde hat Gold im Munde, Arbeit und Fleiß, das sind die Flügel, Arbeit ist des Bürgers Zierde, Arbeit macht das Leben süß. Aber Arbeit schändet auch nicht, und jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, darum soll er auch ein Arbeiter im Weinberg sein, arbeiten und nicht verzweifeln ...

Ach, dachte Wolfgang wieder und lächelte sehr schwach, fast als sei er ein wenig angeekelt, was haben sich die Menschen doch alles für Sprüche zurechtgemacht, bloß um sich einzureden, daß sie arbeiten müssen und daß Arbeit etwas Gutes ist. Am liebsten säßen sie doch alle hier wie ich, nichts tuend, und warteten auf irgend etwas, ich weiß ja selbst nicht, was. Nur abends am Spieltisch weiß ich es, wenn die Kugel schnurrt und klappert und gleich ins Loch fallen wird - da weiß ich, auf was ich warte. Aber wenn sie dann in das Loch gefallen ist, ob nun in das erwünschte oder ein anderes, gleichviel - dann weiß ich es schon wieder nicht mehr.

Er starrt vor sich hin, er hat keinen schlechten Kopf, nein, es regen sich Gedanken darin. Aber er ist verlottert und faul, er mag nichts zu Ende denken. Warum auch -? So bin ich und so bleibe ich. Wolfgang Pagel for ever! Er hat ganz sinnlos ihr letztes Hab und Gut verkauft, bloß um Zecke zu besuchen, Geld zu borgen. Aber bei Zecke angelangt, hat er ebenso sinnlos, nur um eines boshaften Wortes willen, alle Aussichten auf Geld zerstört. Und - wiederum sinnlos - ist er mit dem ersten Menschen, der ihm dann über den Weg lief, mitgegangen und sitzt nun da - im trüben, seichten, toten Wasser, das willenlose Blatt, Inbegriff aller willenlosen Blätter. Schlapp, nicht ohne Gaben, nicht einmal ohne Güte, auch nicht lieblos - aber wirklich so, wie es die alte Minna gesagt hat: jetzt müßte nun wieder ein Kindermädchen kommen, ihn bei der Hand nehmen und ihm sagen, was er zu tun hat. Wirklich weiter nichts als ein Fahnenjunker a. D. seit nunmehr etwa fünf Jahren.

Die Kunde seines Hierseins ist wohl durch Liesbeth im Haus verbreitet. Jetzt kommt eine dickliche Frau herein, keine Dame, eine Frau. Sie wirft einen raschen, fast verlegenen Blick auf Wolf und sagt dann laut am Küchenherd: "Der Herr hat eben angerufen. Wir essen pünktlich um halb vier."

"Gut!" sagt das Mädchen am Herd, und die Frau geht wieder, nicht ohne einen zweiten prüfenden Blick auf Wolfgang geworfen zu haben.

Alberne Gafferei! Ich haue gleich ab!

Von neuem geht die Tür. Ein Diener in Livree kommt herein, der Diener. Er braucht nicht wie die dicke Frau irgendeinen Vorwand, er geht quer durch die Küche, steigt die beiden Stufen hinauf und tritt zu Wolfgang an

den Tisch. Der Diener ist schon ein älterer Mann, aber mit einem frischfarbigen, freundlichen Gesicht.

Er reicht Wolfgang die Hand, ohne jede Verlegenheit, und sagt: "Ich heiße Hoffmann."

"Pagel", sagt Wolfgang, nach kurzem Zögern.

"Es ist sehr schwül heute", sagt der Diener freundlich, mit einer leisen, aber sehr deutlichen, geschulten Stimme. "Darf ich Ihnen vielleicht etwas Kühles bringen - eine Flasche Bier?"

Wolfgang überlegt einen Augenblick, dann: "Wenn ich um ein Glas Wasser bitten dürfte?"

"Bier macht schlaff", sagt der andere beistimmend. Und holt ein Glas Wasser. Das Glas steht auf einem Teller, und in dem Wasser schwimmt sogar Eis, alles, wie es sich gehört.

"Ja, das tut gut", sagt Wolfgang, gierig trinkend.

"Lassen Sie sich Zeit", sagt der andere, immer mit dem gleichen freundlichen Ernst. "Sie trinken uns das Wasser nicht alle. - Auch nicht das Eis", setzt er nach einer Pause hinzu, und in seinen Augenwinkeln entstehen Fältchen. Er holt aber noch ein zweites Glas.

"Danke sehr", sagt Wolfgang.

"Fräulein Liesbeth hat im Augenblick zu tun", sagt der Diener. "Aber sie kommt bald."

"Ja", sagt Wolfgang langsam. Und, indem er sich einen Ruck gibt: "Ich gehe jetzt lieber, ich bin wieder ganz frisch."

"Fräulein Liesbeth", sagt der andere freundlich, "ist ein sehr gutes Mädchen, sehr gut und sehr tüchtig."

"Sicher", stimmt Wolfgang höflich zu. Nur der Gedanke an sein Geld in der Kleidertasche dieses Fräulein Liesbeth hält ihn noch hier. Diese paar eben noch so verachteten Scheine brächten ihn rasch zum Alexanderplatz. "Es gibt viele gute Mädchen", sagt er beistimmend.

"Nein", sagt der andere entschieden. "Verzeihen Sie, daß ich Ihnen widerspreche: die Art gute Mädchen, die ich meine, ist selten."

"Ja?" fragt Wolfgang.

"Ja", sagt der andere. "Man muß das Gute nämlich nicht grade mal tun, weil es einem Spaß macht, sondern immer, weil man das Gute liebt". Er sieht Wolfgang noch einmal an, nicht mehr ganz so freundlich wie bisher.(Putzige Kruke, denkt Wolfgang.) Der Diener sagt abschließend: "Also es dauert nicht mehr lange."

Er geht wieder aus der Küche, ebenso sachte, ebenso besonnen wie

vorher. Wolfgang hat das Gefühl, dieser Diener nimmt keinen guten Eindruck von ihm mit, obwohl er kaum etwas gesagt hat.

Jetzt muß er etwas rücken: das Mädchen vom Herd kommt mit einem Tischtuch, dann mit einem Tablett und fängt an, den Tisch zu decken. "Bleiben Sie ruhig sitzen", sagt sie. "Sie stören nicht."

Auch sie hat eine angenehme Stimme, die Leute in diesem Haus haben eine gute Art zu sprechen, es fällt Wolfgang auf. Sie sprechen sehr rein, sehr deutlich.

"Das ist Ihr Gedeck", sagt das Mädchen, als Wolfgang gedankenlos auf die Papierserviette vor sich starrt. "Heute mittag essen Sie hier."

Wolfgang macht eine gedankenlose, aber abwehrende Bewegung. Irgend etwas fängt an, ihn zu stören. Es ist ein Haus gar nicht weitab von Zeckes Palazzo, doch sehr weit entfernt. Aber sie sollten nicht mit ihm reden, als sei er ein Kranker, nein, als sei er jemand, der im Wahn eine schlimme Tat getan hat, mit dem man noch behutsam spricht, um ihn nicht rasch aufzuwecken.

Das Mädchen sagt: "Sie werden doch Liesbeth nicht enttäuschen". Und nach einer Pause: "Die gnädige Frau ist einverstanden."

Sie deckt, klimpert ein wenig mit den Bestecken - sehr wenig, es geht ihr alles rasch und leise von der Hand. Wolfgang sitzt regungslos, es muß eine Art Lähmung sein, das macht natürlich die Hitze. Also eine Art Bettler, von der Straße hereingekommen, hat Hunger, mit Bewilligung der Herrschaft wird eine Mittagsmahlzeit gereicht. Seine Mutter ließ durch Minna ein paar Stullen schmieren, der Bettler durfte nicht in die Küche. Im höchsten Fall wurde ein Teller Suppe durch die Tür gereicht, der auf dem Treppenabsatz ausgelöffelt werden mußte.

Nun, hier in Dahlem war man feiner, aber für den Bettler machte es wenig aus, Bettler war Bettler, vor der Tür wie in der Küche, von nun an bis in alle Ewigkeit. Amen!

Er haßte sich, daß er nicht ging. Er wollte kein Essen, was lag ihm am Essen? Er konnte bei seiner Mutter essen, Minna hatte erzählt, immer lag ein Gedeck für ihn auf. Nicht, daß er sich geschämt hätte, aber sie sollten nicht zu ihm reden, als sei er ein Kranker, den man schonen muß - er war nicht krank! Nur dieses verfluchte Geld! Warum hatte er ihr vorhin diese jämmerlichen Lappen nicht aus der Hand genommen?! Er säße jetzt schon in der Untergrundbahn ...

In seiner Nervosität hat er eine Zigarette vorgezogen, er ist schon im Begriff, sie anzubrennen, als das Mädchen sagt: "Bitte, wenn Sie es irgend aushalten, jetzt nicht. Sofort, wenn ich das Essen raufgeschickt

habe. Der Herr schmeckt so empfindlich ..."

Die Tür geht auf, und herein kommt ein kleines Mädchen, Tochter des Hauses, zehn Jahre oder zwölf, hell, fröhlich, leicht. Die weiß von der bösen, grauen, riechenden Stadt draußen bestimmt nichts! Will sich den Bettler mal anschauen, Bettler scheinen in Dahlem wirklich ein rarer Artikel!

"Papa ist schon unterwegs, Trudchen", sagt das Kind zu dem Mädchen am Herd. "In einer Viertelstunde können wir essen. - Was gibt es, Trudchen?"

"Topfriecher!" lacht das Mädchen und hebt einen Deckel. Dampf steigt auf, das Kind schnuppert eifrig. Dann sagt es: "Och, bloß olle Schoten! Nein, sag wirklich, Trudchen."

"Suppe, Fleisch und Schoten", sagt Trudchen scheinheilig.

"Und -?" fragt das Kind drängend.

"Und, sagt Herr Rund - da biß ihn der Hund!" lacht das Mädchen halb singend.

Das gibt es noch, denkt Wolfgang halb lächelnd, halb verzweifelt. All das gibt es also noch. Ich habe es bloß nicht mehr zu sehen bekommen, in meiner Höhle Georgenkirchstraße, habe es darum vergessen. Aber richtige Kinder, Unschuld, unverdorbene, unwissende Unschuld gibt es auch noch. Die Frage nach der süßen Speise eine Wichtigkeit, da hunderttausend die Frage nach dem täglichen Brot überhaupt nicht mehr stellen mögen! Plünderungen in Gleiwitz und Breslau, Lebensmittelkrawalle in Frankfurt am Main und Neuruppin, Eisleben und Dramburg ...

Er betrachtet das Kind ablehnend. Es ist ja Schwindel, denkt er weiter, eine künstliche Unschuld, eine ängstlich geschützte Unschuld - genau wie sie Gitter vor ihren Fenstern haben. Das Leben kommt doch - was wird in zwei, drei Jahren von dieser Unschuld noch dasein?

"Guten Tag!" sagt das Kind zu ihm. Es hat ihn erst jetzt bemerkt, vielleicht, weil er mit dem Stuhl rückte, um aufzustehen und fortzugehen. Er nimmt die Hand, die das Kind ihm hinhält. Es hat dunkle Augen unter einer klaren, schönen Stirn, es sieht ihn ernst an. "Sie sind der Herr, der mit unserer Liesbeth gekommen ist?" fragt es eindringlich.

"Ja", sagt er und versucht, gegen soviel Ernst anzulächeln. "Wie alt bist du denn?"

"Elf Jahre", sagt sie höflich. "Und Ihre Frau hat nichts als einen Paletot?"

"Richtig", sagt er und versucht noch immer zu lächeln und leicht zu

tun. Aber es ist eine verfluchte Sache, seinen Taten im Munde anderer, und nun gar schon von Kindern, zu begegnen. "Und gegessen hat sie auch nichts - und wird wohl kaum etwas kriegen, nicht einmal Speise mit Makronen."

Aber sie merkt gar nicht, daß er ihr weh tun wollte. "Mama hat so viele Sachen", sagt sie nachdenklich. "Das meiste zieht sie gar nicht an."

"Richtig, vollkommen in Ordnung", sagt er wiederum und kommt sich doch so schäbig vor mit seiner billigen Schnoddrigkeit. "So ist eben das Leben. Das hast du noch nicht in der Schule gehabt? Wie?"

Immer jämmerlicher, immer kläglicher, vor allem vor diesen ernsten Augen, die ihn ansehen - fast traurig.

"Ich gehe nicht in die Schule", sagt das Kind mit einem kleinen, ein wenig wichtigtuerischen Ernst. "Ich bin nämlich blind". Wieder der Blick, dann: "Papa ist auch blind. Aber Papa hat früher noch sehen können. Ich habe nie sehen können."

Sie steht vor ihm - und der für seinen billigen Spott so rasch Gestrafte hat immer stärker das Gefühl, als sähe sie ihn an. Nein, nicht mit den Augen, aber vielleicht mit der klaren Stirn, dem kühn geschwungenen, ein wenig blassen Mund. Als sähe dies blinde Kind mehr von ihm als seine sehende Petra.

Da erzählt sie: "Mama kann sehen. Aber sie sagt, sie möchte lieber auch nicht sehen, sie weiß nie, wie Papa und mir zumute ist. Aber wir erlauben es ihr nicht."

"Nein", stimmt Wolfgang zu. "Das wollt ihr wohl nicht."

"Fräulein und Liesbeth und Trudchen und Herr Hoffmann können uns auch erzählen, was sie sehen. Aber wenn Mama es erzählt, ist es doch anders."

"Weil es eben die Mama ist, nicht wahr?" fragt Wolfgang vorsichtig.

"Ja", sagt das Kind. "Papa und ich, wir sind beide Mamas Kinder. Papa auch."

Er schweigt, aber das Kind erwartet keine Antwort, diese Dinge, von denen es spricht, sind ihm wohl selbstverständlich, es ist auch nichts dazu zu sagen. Nun meint es: "Hat Ihre Frau auch noch eine Mama - oder hat sie niemanden?"

Wolfgang steht da, ein sehr dünnes Lächeln um seinen Mund. "Nein, niemanden", sagt er entschlossen. Und denkt: Fort! Nur fort! Knockout geschlagen in seiner Lieblosigkeit, in seiner Halbheit von einem Kind.

"Papa gibt Ihnen bestimmt Geld", meint das Kind. "Und Mama will

heute nachmittag zu Ihrer Frau fahren. Wo ist es denn?"

"Georgenkirchstraße 17", sagt er. "Zweiter Hof", sagt er. "Bei Frau Thumann", sagt er.

Etwas wallt in ihm auf: Wenn nur ihr geholfen wird! Ihr soll geholfen werden! Sie ist jeder Hilfe wert!

Entgleitende Welt, in der du triebest, Armer, verstrickt und verstrickend. Plötzlich, da du fühlst, wie sie sich von dir löst, merkst du, wie wert sie dir war. Ausgetrieben ins Dunkel, in der Ferne noch das klare Licht - und nun erlischt es. Du bist allein - und ob du zurückkehren kannst und wirst - du weißt es nicht! Wir hatten gute Stunden, aber sie sind in den Sand geronnen. Manchmal noch ein Geschmack auf der Lippe, flüchtig, süß - und vorbei! Und dahin! Arme Petra ...! Bettler wahrhaftig, da jetzt die Wendung kommt, vielleicht Hilfe, da spürt er, daß Hilfe ihm nichts helfen kann, weil er hohl, ausgebrannt, leer ist. Vorbei! Vorbei!

"Ich gehe jetzt", sagte er durch die Küche. Er gab dem Kinde die Hand, nickte, fragte: "Die Adresse weißt du?" und ging. Ging hinein in die Schwüle, hinein in die enge, tobende, jagende Stadt, wieder einmal den Streit um Geld und Brot zu bestehen, für was, für wen -?

Er wußte es nicht, noch immer nicht, noch lange nicht.

6

Das, was die Leute "das Schloß" in Neulohe nannten, war das Haus des alten Herrn. Der Rittmeister von Prackwitz wohnte gut fünfhundert Meter weiter, schon zwischen den Feldern, außerhalb des Gutshofs, in einer kleinen Villa. Sechs Zimmer, moderner Maurermeisterstil, ein schlampiger, schon abblätternder Bau aus der ersten Inflationszeit. Das Schloß, aus dem der alte Herr nicht hatte wegziehen mögen, schon, um in der Nähe seiner geliebten Fichten zu bleiben und - nebenbei - dem Schwiegersohn ein wenig auf die Finger zu sehen, das Schloß war auch nur ein gelber Kasten, aber mit dreimal soviel Zimmern wie bei den jungen Leuten, und immerhin mit einer richtigen Freitreppe, einem Gartenzimmer mit Türen aus Glas bis an die Erde, der "Saal" genannt, und einem Park.

Am Schloß ging Negermeier vorüber. Dort hatte er nichts zu suchen und wollte er für dieses Mal auch nichts suchen - der erbosten Gnädigen wegen. Gleich kam, unbequem nahe, da zu sehr unter Aufsicht gelegen, das Beamtenhaus, in dem das Büro war und sein Zimmer(alles andere stand wegen der rittmeisterlichen Sparmethoden leer - aber der

Rittmeister ist ein großer Mann). Da Meier sich beim gnädigen Fräulein wegen des Telefongesprächs mit dem Vater erkundigen wollte, ging er erst einmal auf sein Zimmer und wusch sich Hände und Gesicht. Dann goß er sich ein Parfüm "Russisch Juchten" ausgiebig auf die Brust - es war unbedingt das richtige Parfüm fürs Land. Wie die Annonce gesagt hatte: "herb, männlich, rassig".

Hinterher besah er sich im Spiegel. Die Zeit, da er seine Kleinheit, die Wulstlippen, die eingedrückte Nase, die vorstehenden Augen als Schmach empfunden hatte, war natürlich längst vorbei. Seine Erfolge bei den Weibern hatten ihn belehrt, daß es auf Schönheit nicht ankam. Im Gegenteil: ein bißchen apartes Aussehen lockte die Mädchen wie die Salzlecke das Wild.

Freilich war es mit der Violet natürlich nicht so einfach wie mit irgendeiner Amanda Backs oder Sophie Kowalewski. Für sicher aber hielt es der kleine Meier - wieder einmal abweichend von seinem Arbeitgeber, dem Rittmeister -, daß die kleine Weio trotz ihrer fünfzehn Jahre schon ein Luder war. Diese Blicke, diese junge, eifrig markierte Brust, diese Redensarten, frech, und die Sekunde darauf blaueste Unschuld - das war für einen so erfahrenen Frauenjäger wie ihn nicht zu verkennen! Es war ja auch klar: schon aus dem Schlafzimmer der damals noch unverheirateten Mutter sollte der alte Herr von Teschow einen Liebhaber hinausgesetzt haben, mit der Peitsche, die nachher auch die Mama zu kosten bekam. Erzählten die Leute - na ja, die Welt war groß, und möglich war in ihr alles. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Es wäre etwas übertrieben, den kleinen Feldinspektor Meier wegen seiner Gedanken vor dem Spiegel einen Intriganten und schurkischen Verführer zu nennen. Dies waren keine Pläne, es war jugendliches Gefasel, Eitelkeit - Wunschträume. Wie ein junger Hund hatte er ungeheuren Appetit, am liebsten hätte er alles benagt - und die Violet war wirklich sehr hübsch!

Aber genau wie bei einem jungen Hund war seine Angst mindestens ebenso groß wie sein Appetit - bloß keine Prügel bekommen! So frech wie zu der Amanda ohne Anhang würde er zu dieser Weio nie sein können, hinter der ein jähzorniger Vater stand. Wenn er in seinen Träumen alles bis zur Entführung und heimlichen Trauung bestens erledigt hatte - vor der Heimkehr zum Schwiegervater graulte ihm doch. Nicht einmal die Heimkehrunterhaltung mit ihm konnte er sich ausdenken, am besten erledigte das die junge Frau. Vor ihr brauchte man weder Angst noch Respekt zu haben: wer einmal mit einem geschlafen hat, ist nichts Besseres mehr als der, mit dem sie schlief, und selbst die adlige Abstammung - geheimnisvoll, doch Ehrfurcht heischend - war dann abgegangen wie die Politur von einem Fabrikmöbelstück -

alles bloß gemeines Fichtenholz!

Negermeier grinst sich im Spiegel an. Dolle Marke bist du doch! heißt das etwa, und wie zur Bestätigung seiner Eigenbewertung fällt ihm ein, daß der "Leutnant" heute früh in einem ganz anderen, viel kameradschaftlicheren Ton mit ihm gesprochen hat als mit dem ollen Schleicher, Förster Kniebusch.

Meier grüßt sich mit der Hand im Spiegel, er winkt sich freundlich zu: Glück auf den Weg, Sohn des Glücks! Und marschiert ab zu Violet von Prackwitz.

Im Büro räumt Frau Hartig auf, Kutscherfrau, noch ganz gut imstande; möchte auch wohl, aber ab fünfundzwanzig sind die Frauen uralt. Die gute Hartig, etwa siebenundzwanzig, nicht weniger als acht Kinder, hat heute den Mund fest zusammengepreßt. Die Augen funkeln böse, die Stirn ist voller Falten. Meier schiert das nicht, aber grade, als er an ihr vorbei will, fällt die gußeiserne Stehlampe mit dröhnendem Krach vom Schreibtisch, und der grüne Lampenschirm zerklirrt in hundert Scherben.

Da muß Meier doch stehenbleiben und seinen Senf dazugeben.

"Na ja", sagt er grinsend. "Scherben bringen Glück - gilt das nun Ihnen, oder gilt das mir?" Und als sie ihn nur stumm, aber böse funkelnd ansieht: "Was ist denn mit Ihnen los? Gewitter? Schwül genug ist es dafür."

Und er schaut ganz automatisch auf das Barometer, das seit Mittag langsam, aber ständig fällt.

"Mit mir lassen Sie Ihre Schweinereien!" sagt die Hartig schrill und böse. "Denken Sie, ich räume euch länger euern Dreck nach!" Und sie fährt in die Schürzentasche, öffnet die Hand - drei Haarnadeln hat sie in ihr.(1923 hatte der Bubikopf noch nicht das flache Land erobert.) "In Ihrem Bett haben die gelegen!" kreischt sie fast. "Saukerl, elender! Aber ich räume das nicht mehr auf, ich zeig's der gnädigen Frau!"

"Welcher denn, Frau Hartig?" lacht Meier. "Die alte weiß es - und betet schon für mich; die junge aber denkt es sich auch so und lacht erst recht!"

Er sieht sie überlegen, spöttisch an.

"So ein gemeines Weibsbild!" kreischt die Hartig. "Kann doch nachsehen im Bett, ehe sie abhaut. Aber nee, ich soll ihr das nachräumen, ich der Geflügelmamsell! Keine Scham hat so 'n Biest!"

"Doch, doch, Frau Hartig, ganz bestimmt!" sagt Negermeier ernst. Und wieder grinst er: "Aber Ihr Jüngster hat ja so schöne rote Haare? Genau wie der Futtermeister. Soll der nun Kutscher werden wie der Vater oder

Futtermeister wie der Stiefvater?"

Und damit marschiert Meier ab, in sich hineinkichernd, herrlich zufrieden, während drinnen noch böse, aber doch halb schon besänftigt Frau Hartig auf die drei Haarnadeln in ihrer Hand starrt. Er ist ja ein Aas, aber mit einem Pfiff, so klein er ist!

Sie sieht die Haarnadeln noch einmal an, schüttelt sie, daß sie klappern, und steckt sie entschlossen in das eigene Haar.

Dich krieg ich doch noch, denkt sie. Amanda regiert auch nicht ewig!

Sie räumt die Scherben des Lampenschirms fort, sehr vergnügt plötzlich, denn sie ist fest davon überzeugt, daß sie ihr Glück bringen werden.

Meier denkt auch an die Scherben und an das Glück, das sie ihm nun gleich sofort auf der Stelle bringen werden. In allerbester Stimmung langt er bei der Villa des Rittmeisters an. Erst späht er in den Garten - denn am liebsten träfe er Weio nicht in Hörweite der Mutter -, aber im Garten ist sie nicht. Das ist unschwer festzustellen, denn obwohl der Garten nicht ganz klein ist, kann man ihn doch auf einen Blick übersehen, diese vor ein paar Jahren aus dem blanken Feld gestampfte und halb schon wieder vertrocknete Gelegenheitsschöpfung der gnädigen Frau.

Nichts kann im übrigen Festigkeit der Stellung in Neulohe und Abstand zwischen Besitzer und Pächter besser versinnbildlichen als die Betrachtung des Teschowschen Schloßparks und des Prackwitzschen Gartens: dort hundertjährige große Bäume, in aller Fülle, strotzend von Blättern und Saft, hier ein paar Dutzend kahle Stangen, mit wenigen, schon vergilbenden Blättern. Dort weite Rasenflächen, dunkelgrün; hier spärliches Gras, hart, gelb, im aussichtslosen Kampf mit den wieder vordringenden Feldstiefmütterchen, Quecken, Schachtelhalm. Dort ein nicht ganz kleiner Teich mit Ruderboot und Schwan; hier ein sogenanntes Planschbecken, wohl aus Solnhofer Platten, aber mit einer grünen Jauche gefüllt. Dort ererbtes Wachstum, aus der Zeit kommend für die Zeit; hier etwas kaum Geborenes, schon wieder Absterbendes - doch: der Rittmeister ist ein großer Mann.

Feldinspektor Meier war schon im Begriff, auf den Klingelknopf zu drücken, da wird er von der Seite her angerufen. Auf dem flachen Dach des Küchenanbaus(bloß Teerpappe) stehen ein Liegestuhl und ein großer Gartenschirm, eine Leiter lehnt am Anbau. Von dort oben hat es gerufen: "Herr Meier!"

Meier gibt sich den notwendigen dienstlichen Ruck: "Jawohl?"

Ungnädige Stimme von oben: "Was ist denn? Mama ist ganz kaputt von der Hitze, will schlafen - stören Sie sie bloß nicht!"

"Ich wollte nur fragen, gnädiges Fräulein ... Der Herr von Teschow hat mir gesagt, der Herr Rittmeister hätte telefoniert "... Ein wenig ärgerlich: "Es ist wegen der Wagen ... Soll ich heute abend zur Bahn schicken oder nicht?"

"Schreien Sie doch bloß nicht so!" schreit die Stimme von oben. "Ich bin doch keins von Ihren Hofgängermädchen! Mama will Ruhe, habe ich Ihnen gesagt!"

Meier guckt verzweifelt empor zu dem flachen Dach. Aber es ist zu hoch, und er steht zu tief: er kann nichts von der im Traum Entführten und Geheirateten sehen, sondern nur ein Stück Liegestuhl und ein etwas größeres Stück Pilzschirm. Er entschließt sich zu flüstern - so laut er kann: "Ob ich Wagen schicken soll - heute abend - zur Bahn -?"

Pause. Stille. Warten.

Dann von oben: "Haben Sie was gesagt? Ich versteh immer Bahnhof!"

"Hä-hä-hä!" Meier belacht pflichtschuldig die gängigste Redensart der Zeit. Dann wiederholt er etwas lauter seine Anfrage.

"Sie sollen doch nicht schreien!" hat er sofort seinen Tadel weg.

Er steht da, er weiß natürlich ganz genau, daß sie ihn nur zwiebeln will. Es ist eben nur der Feldbeamte von Papa. Hat zu tun, was ihm gesagt wird. Hat zu stehen und zu warten, bis das gnädige Fräulein geruhen. Na, warte nur, meine Liebe, eines Tages wirst du stehen und warten müssen - aber auf mich!

Jetzt allerdings scheint er lange genug gewartet zu haben, denn sie ruft von oben(übrigens für eine so rücksichtsvolle Tochter erstaunlich laut): "Herr Meier! Sie sagen ja gar nichts mehr?! Sind Sie überhaupt noch da -?!"

"Jawohl, gnädiges Fräulein."

"Ich dachte schon, Sie wären in der Sonne zerflossen. Butter müssen Sie dafür genug auf dem Kopf haben."

(Weiß natürlich auch schon Bescheid. Schadet aber gar nichts - macht ihr bloß Appetit.)

"Herr Meier!"

"Jawohl, gnädiges Fräulein -?"

"Wenn Sie also lange genug unten gestanden haben, merken Sie vielleicht, daß eine Leiter da ist, und sagen mir hier oben, was Sie eigentlich wollen."

Noch einmal: "Jawohl, gnädiges Fräulein!" und die Leiter hinauf.

"Jawohl, gnädiges Fräulein" ist immer gut, schmeichelt ihr, kostet nichts, betont den Abstand und erlaubt alles. Man kann ihr in den Ausschnitt gucken und dabei voller Demut "jawohl, gnädiges Fräulein" sagen, man kann es sogar sagen und ihr dabei einen Kuß geben - "jawohl, gnädiges Fräulein" ist ritterlich, kavaliermäßig, schneidig - wie die Offiziere in Ostade, denkt Negermeier.

Er steht jetzt am Fuß ihres Liegestuhls und sieht gehorsam und doch frech blinzelnd auf seine junge Herrin, die da mit nichts als einem sehr kurzen Badeanzug bekleidet vor ihm liegt. Violet von Prackwitz, fünfzehn Jahre, ist schon ein bißchen voll, zu voll mit der schweren Brust, den fleischigen Hüften, dem starken Gesäß, zieht man die Jahre in Betracht. Sie hat das weiche Fleisch, die zu weiße Haut der lymphatischen Mädchen, dazu ein wenig vorstehende Augen wie die Mutter. Sie sind blau, blaßblau, verschlafen blau. Die nackten Arme hat das gute unschuldige Kind erhoben, sie reckt sich ein wenig, es sieht gar nicht schlecht aus, hübsch ist das Luder, und - Donnerwetter - was für ein Körper! Das muß sich einem doch in den Arm schmiegen.

Schläfrig, genußsüchtig durch die fast geschlossenen Lider blinzelnd, betrachtet sie das Gesicht des Inspektors. "Na, was gucken Sie denn so?" fragt sie dann herausfordernd. "Im Familienbad habe ich auch nichts anderes an. Stellen Sie sich bloß nicht so an". Sie studiert sein Gesicht. Dann: "Na ja, Mama sollte uns hier beide mal so sehen ..."

Er kämpft mit sich. Die Sonne brennt irrsinnig heiß, es flimmert, jetzt streckt sie sich wieder. Er macht einen Schritt ...: "Ich ... Weio, o Weio ..."

"O wei! O wei!" lacht sie. "Nee, nee, Herr Meier, stellen Sie sich lieber wieder da bei der Leiter auf". Plötzlich ganz Herrin: "Sie sind ja komisch! Sie bilden sich wohl was ein? Ich brauche nur einmal zu rufen, und Mama ist an ihrem Fenster!"

Dann, als sie sieht, daß er wieder pariert: "Heute brauchen Sie nicht zur Bahn zu schicken. Wahrscheinlich morgen früh zum ersten Zug. Papa telefoniert noch mal."

Hat alles vorhin ganz gut verstanden, das freche Luder! Hat sich ihm nur vorführen, ihn quälen wollen! Aber warte, ich kriege dich doch noch!

"Warum lassen Sie denn nicht einfahren?" fragt jetzt das junge Mädchen, die zu Entführende, die heimlich zu Heiratende.

"Weil die Leute binden und aufsetzen müssen". - Ziemlich mürrisch.

"Und wenn es ein Gewitter gibt und alles wird naß, macht Papa Ihnen einen Riesenkrach."

"Und wenn es kein Gewitter gibt und ich hab einfahren lassen, macht er mir auch Krach."

"Es gibt aber ein Gewitter."

"Das kann man so genau nicht wissen."

"Ich weiß es aber."

"Gnädiges Fräulein wünschen also, daß ich einfahren lasse?"

"Ich denke gar nicht daran!" Sie lacht schallend, ihre starke Brust hüpft gradezu im Badeanzug. "Daß Sie mir nachher die Schuld geben, wenn es Papa nicht recht ist! Nein, machen Sie Ihre Dummheiten alleine!"

Sie sieht ihn wohlwollend-überlegen an. Dieses Gör von fünfzehn Jahren ist derart frech -! Warum frech -? Weil sie zufällig eine geborene von Prackwitz, Erbin von Neulohe ist - nur darum frech!

"Dann kann ich also gehen, gnädiges Fräulein?" fragt Negermeier.

"Ja. Kümmern Sie sich mal ein bißchen um die Wirtschaft". Sie hat sich auf die Seite gewälzt, sieht ihn noch einmal spöttisch an. Er geht schon.

"He, Herr Meier!" ruft sie.

"Jawohl, gnädiges Fräulein?" - Es hilft nichts, er muß.

"Wird eigentlich Dung gefahren?"

"Nein, gnädiges Fräulein ..."

"Warum riechen Sie denn so komisch?"

Es dauert eine ganze Weile, bis er kapiert hat, daß sie sein Parfüm meint. Dann macht er wortlos, aber wutrot kehrt und klettert, so schnell er kann, die Leiter hinunter.

So ein Aas! Mit so einem Aas soll man sich gar nicht abgeben! Die Roten haben ganz recht: an die Wand mit dieser ganzen frechen Bagage! Adel! Verdammt noch mal! Frechheit, unverschämte Frechheit ... Nichts wie großkotzige Manieren ...

Er ist von der Leiter, er ist im Abmarsch, seine kurzen Beine treten wütend die Erde. Da kommt wieder die Stimme von oben, die Stimme aus dem Himmel, die Stimme der Herrin: "Herr Meier!"

Er fährt zusammen. Voller Wut - und wiederum geht es doch nicht anders, voller Wut ruft er: "Jawohl, gnädiges Fräulein?"

Sehr ungnädig kommt es von oben: "Ich habe Ihnen schon dreimal gesagt, Sie sollen nicht so schreien, Mama schläft!" Und ungeduldig: "Kommen Sie noch mal rauf!"

Meier klettert wieder die Leiter hoch, den Bauch voller Wut: Jawohl, als dein Laubfrosch die Leiter rauf und runter, wie du das Wetter machst.

Na, warte mal, habe ich dich erst, dich lasse ich bestimmt sitzen, mit Kind, ohne einen Pfennig ...

Und doch wieder in strammer Haltung: "Bitte, gnädiges Fräulein ...?"

Sie denkt jetzt nicht mehr daran, ihm ihren Leib vorzuführen, sie überlegt, aber sie hat die Sache schon bei sich entschieden. Sie ist nur noch unsicher, wie sie es ihm sagen soll. Schließlich erklärt sie möglichst harmlos: "Sie müssen mir einen Brief besorgen, Herr Meier."

"Jawohl, gnädiges Fräulein."

Plötzlich hat sie ihn in den Händen, rätselhaft, woher, einen länglichen Umschlag aus bläulichem Papier, soweit man von Meiers Standpunkt aus erkennen kann, ohne jede Aufschrift ...

"Sie gehen heute abend noch ins Dorf -?"

Er ist völlig überrascht und ganz unsicher. Sagt sie das nur so oder weiß sie was? Aber das ist doch unmöglich!

"Ich weiß nicht, vielleicht. Wenn Sie es wünschen, gnädiges Fräulein, jedenfalls!"

"Sie werden nach dem Brief von einem Herrn gefragt werden. Händigen Sie ihn dann aus."

"Welcher Herr? Ich versteh nicht ..."

Sie wird plötzlich ärgerlich, gereizt. "Sie brauchen auch gar nichts zu verstehen. Sie sollen einfach tun, was ich Ihnen sage. Ein Herr wird nach dem Brief fragen, und dem geben Sie ihn. Das ist doch ganz einfach!"

"Jawohl, gnädiges Fräulein", sagt er. Es klingt aber etwas schwach, er ist zu sehr in Gedanken.

"Also", sagt sie. "Das wäre dann alles, Herr Meier."

Er bekommt den Brief in die Hand. Er will es noch nicht glauben, aber nun hat er den Brief in der Hand, diese Waffe gegen sie! Warte, mein Schäfchen! Komm du mir noch einmal dumm!

Er reißt sich zusammen. "Wird alles bestens erledigt, gnädiges Fräulein!"

Und er steigt wieder die Leiter hinunter.

"Das wollte ich auch meinen!" klingt ihm von oben ihre Stimme ziemlich herausfordernd nach. "Sonst erzähle ich Großpapa und Papa, wer den Wald angekokelt hat!"

Die Stimme verstummt. Meier ist mitten auf der Leiter haltengeblieben, um nur ja kein Wort zu verlieren.

So! Also! Da hab ich es! So ist das! Angekokelt, sagt sie. Genau ins

Herz getroffen. Bravo! Für fünfzehn Jahre vorzüglich. Du kannst was werden! Nee, du kannst so bleiben!

"Und der Herr Leutnant versteht auch schlecht Spaß", sagt die Stimme noch - und nun hört er, wie sie sich oben mit ihrem fetten, faulen Fleisch auf die Seite wälzt. Der Liegestuhl ächzt. Fräulein Violet von Prackwitz gähnt behaglich dort oben, und Herr Feldinspektor Meier darf unten an seine Arbeit gehen - stimmt, geht in Ordnung, der Kram.

Aber Meier, der kleine Meier, Negermeier, geht noch nicht an seine Arbeit. Ganz langsam, tief in Sinnen, trottet er den Weg zu seiner Bude. Den Brief hat er in der Außentasche seiner schilfleinenen Joppe, und über seine glatte Fläche hat er die Hand gelegt, damit er ihn auch immer fühlt. Er muß fühlen, daß er den Brief wirklich hat, daß er da ist. Diesen Brief, den er gleich lesen wird. Sie hat wenig genug gesagt, dieses kleine, durchtriebene Luder, aber für ihn hat sie genug gesagt. Längst genug! Sie kennt also den Leutnant, diesen rätselhaften, etwas abgerissenen, doch recht schneidig auftretenden Herrn, der nächtliche Versammlungen beim Schulzen einberuft und vor dem Förster Kniebusch strammsteht. Und sie hat diesen Herrn Leutnant heute zwischen zwölf und drei getroffen, sonst könnte sie von dem Brande nichts wissen.

Wenn aber dieser Herr Leutnant Herrn Feldinspektor Meier so kameradschaftlich zunickte, so nicht darum, weil er den Negermeier für soviel tüchtiger hielt als den alten Knochenfraß Kniebusch, sondern weil er bereits wußte: Meier war zum heimlichen Briefträger ausersehen! Wußte schon recht gut Bescheid, der Herr Leutnant, auf Neulohe! Längeres, heimliches Einverständnis.

Ihr seid schon reichlich weit gekommen, ihr zwei beide! Ich kann mir alles denken. Und wenn ich erst den Brief gelesen habe - dumm bist du ja doch, du hochmütige, alberne Gans! Denkst, ich geb den Brief weiter und seh mir nicht an, was drinsteht! Ich will Bescheid wissen, und dann werde ich schon sehen, was ich da tue. Vielleicht dem Rittmeister alles erzählen - was ist dagegen so ein bissel Waldbrand?! Damit habt ihr mich noch lange nicht an der Strippe. Aber ich denke, ich werde dem Rittmeister gar nichts sagen. Denn du bist ja auch noch so dumm, daß du nicht einmal merkst, daß so ein Kerl wie der Leutnant dich natürlich sitzenläßt. Da braucht man ihn ja nur einmal anzusehen, um das zu wissen. Aber dann bin ich da - nee, mein Kindchen, mir macht es nichts. An so was stoße ich mich nicht. Junge Pferde einfahren macht wenig Spaß und viel Mühe - besser schon, sie kennen jeden Schritt und Gang! Aber dann sollst du mir bezahlen, für jedes freche, hochmütige Wort, für jedes "Jawohl, gnädiges Fräulein" - und für diesen Brief vor allem! - Wie

macht man solchen Brief überhaupt auf? Ich hab gehört, mit Wasserdampf - aber wo krieg ich in der Eile Wasserdampf auf meiner Bude her? Ach was, ich versuch es einfach mit einem Messer, die Klappe loszumachen, und geht der Umschlag kaputt, nehme ich einen von meinen eigenen. Gelb oder blau - danach wird er wohl kaum sehen ...

Er ist angelangt auf dem Büro. Ohne auch nur die Mütze abzunehmen, sinkt er in den Schreibtischstuhl. Er legt den Brief vor sich auf den verbrauchten, tintenfleckigen, grünen Filz. Starrt ihn an. Er ist schweißnaß, seine Glieder hängen von ihm, dabei ist sein Mund trocken. Er ist völlig erschöpft. Er hört die Hühner auf dem Hof glucksen, die Schweizer klappern im Kuhstall mit Eimern und Milchkannen.(Wollte ich mir auch ausgebeten haben - höchste Zeit zum Melken!)

Der Brief liegt vor ihm. Die Fliegen surren und burren eintönig, es ist unerträglich schwül. Er will einen Blick auf das Barometer an der Wand tun(vielleicht kommt doch ein Gewitter?), aber er sieht nicht hoch: Es ist ja ganz egal!

Der Brief, das bläulichweiße, reine Rechteck auf dem fleckigen grünen Filz! Ihr Brief!

Lässig, halb spielend greift er nach dem Papiermesser, zieht den Brief näher und legt beides wieder hin. Er wischt sich erst an der Joppe die schweißnassen Hände trocken.

Dann nimmt er das Papiermesser, und langsam, genußreich führt er die stumpfe Spitze in die kleine Öffnung oben zwischen Deckelklappe und Umschlag ein. Seine Augen sind starr, um seine dicken Lippen spielt ein leichtes, befriedigtes Lächeln. Jawohl, er öffnet den Brief. Achtsam schiebend, hebend, stoßend, drückend, löst er die nachlässig festgeklebte Klappe. Nun sieht er schon eine Ecke vom Brief, da sind Fäserchen, die sich nicht fügen wollen, wie Härchen - aber zugleich sieht er sie, sieht er Weio, wie er sie oben gesehen hat, auf dem Liegestuhl ... Sie streckt ihren Leib, ihr weißes, volles Fleisch zittert ein wenig ... sie wirft die Arme hoch, und in den Achselhöhlen schimmert es hell, kräuselt sich ...

"Oh!" stöhnt Negermeier. "Oh!"

Er hat die ganze Zeit auf den Brief gestarrt, er hat ihn dabei geöffnet - aber er war fort unterdes, fünfhundert Meter von hier, auf einem flachen, sonnenschwitzenden Pappdach - Fleisch bei Fleisch, Haut bei Haut, Haar bei Haar -: O du! Du!

Die Welle wird flacher. Noch einmal in den Farben schönen, lebendigen Fleisches leuchtend, wie von einem Abendrot bestrahlt, verrinnt sie im

Sande. Ächzend atmet Negermeier auf. Nein so was! wundert er sich nun doch. Dies Biest muß mich ganz verrückt gemacht haben! Aber die Hitze tut auch was dazu!

Der Brief ist tadellos aufgegangen. Man braucht die Klappe nachher nicht einmal frisch zu gummieren, so nachlässig hat Fräulein Violet von Prackwitz zugeklebt. Also lesen wir ... Aber vorher wischt er noch einmal die Hände an der Joppe ab, sie sind schon wieder schweißnaß.

Dann zieht er das Blatt wirklich aus dem Umschlag, schlägt es auf. Er ist nicht sehr lang, der Brief, dafür aber hat er es in sich. Er liest:

Liebster! Allerliebster!! Einziger!!! Eben bist Du erst weg, und schon bin ich wieder ganz wild nach Dir! Ich fliege am ganzen Leibe, und es summt in mir, daß ich immerzu die Augen zumachen muß! Dann sehe ich Dich! Ich habe Dich ja sooo lieb!! Papa kommt heute bestimmt nicht, und so erwarte ich Dich zwischen elf und zwölf am Teich beim Schwanenhaus. Sieh, daß die dumme Versammlung bis dahin bestimmt alle ist. Ich sehne mich schrecklich nach Dir!

100000000 Küsse und noch viel mehr! Ich drücke Dich an mein Herz, das ganz doll klopft Deiner Violet.

"Gott!" sagt der kleine Meier und starrt auf das Briefblatt. "Die liebt ihn wirklich: so lieb mit drei o und Deine unterstrichen. So ein kleines Pimädchen - die wird er schön reinlegen. Na, um so besser!"

Er tippt sich den Brief auf der Schreibmaschine ab, zählt dabei sorgfältig die Nullen bei der Kußzahl.(Die reine Inflation - die macht mit!) Klebt wieder zu. Die Abschrift des Briefes legt er in den Band 1900 des amtlichen Kreisblattes, den Brief steckt er wieder in die Joppentasche. Und nun ist er völlig zufrieden. Und völlig fertig für die Wirtschaft. Er sieht auf das Barometer. Es ist wieder ein bißchen gefallen.

Ob es doch noch ein Gewitter gibt? Ob ich doch noch einfahren lasse? Ach Quatsch, die redet ja bloß Unsinn!

Er geht ab zu seiner Mähmaschine.

7

"Dachte ich es mir doch, daß du mich heute noch aufsuchen würdest, meine liebe, meine arme Mathilde!"

Frau von Anklam, verwitwete Generalmajor, über Siebzig, schneeweiß, unförmlich dick, ist aus ihrem tiefen Sessel, in dem sie ihren Nachmittagsschlaf hielt, mühsam emporgetaucht. Mit beiden Händen hält sie die Hand der Besucherin und sieht ihr teilnehmend-besorgt mit

den großen braunen, immer noch schönen Augen ins Gesicht. Vorläufig spricht sie nur getragen - wie bei einem Todesfall. Sie kennt aber auch noch eine andere Tonart, die der Regimentskommandeuse, die sämtliche Damen des Regiments in Zucht, Ordnung und Anstand hielt.

"Wir werden alt, aber unsere Last wird nicht leichter. Unsere Kinder, solange sie jung sind, treten sie auf unsern Schoß. Später dann auf unser Herz."

(Frau von Anklam hat nie Kinder gehabt. Sie konnte Kinder auch nie ausstehen.)

"Komm, setze dich hier auf das Sofa, Mathilde. Ich klingele - Fräulein bringt gleich Kaffee und Kuchen. Ich habe heute den Kuchen von Hilbrich holen lassen, er hat doch immer den besten. Nur lohnt es nicht recht für mich allein - vierzigtausend Mark Fahrgeld, verstehst du, vierzigtausend! Räuber sind das! - Ja, Fräulein, Gebäck und Kaffee, recht kräftig, meine Kusine hat eine traurige Nachricht bekommen. - Ja, liebe Mathilde, ich habe da eben in meinem Stuhl gesessen und nachgedacht. Fräulein glaubt, ich schlafe, aber ich schlafe natürlich nicht. Ich höre jedes Geräusch in der Küche, und wenn beim Abwaschen ein Teller zerbrochen wird, bin ich sofort da! Zerbricht deine Minna auch soviel -? Es ist noch das alte Nymphenburger Porzellan, das Großvater Kuno vom hochseligen Herrn zur diamantenen Hochzeit bekam - Gott, es ist ja genug für mich alte Frau da, aber trotzdem, man muß auch an seine Erben denken! Ich hatte es eigentlich Irene versprochen, aber ich bin in letzter Zeit doch wieder schwankend geworden, Irene hat solch seltsame Ansichten über Kindererziehung - direkt, wie soll ich sagen, revolutionär!"

"Und die Nachricht ist bestimmt richtig, Betty?" fragt Frau Pagel, grade aufgerichtet, dürr - und keine noch so teilnehmende nahe Verwandte konnte ihr ansehen, daß sie Tränen geweint hatte.

"Die Nachricht? Welche Nachricht? Ach so, die Nachricht! Aber liebe Mathilde, ich muß doch sagen, wo ich es dir extra geschrieben habe -!" Dies ziemlich als Kommandierende, aber nun wieder teilnahmsvoll: "Nein, natürlich richtig - der gute Junge, der Eitel-Fritz hatte dort zu tun. Er hat es mit eigenen Augen gelesen, das Aufgebot heißt es ja wohl. Ich weiß allerdings nicht, was er dort zu tun hatte. Ich war so aufgeregt, daß ich ihn nicht danach gefragt habe. Aber du kennst ja Eitel-Fritz, er ist so originell, er geht an die seltsamsten Plätze. - Attention! La servante!"

"Das Fräulein" erscheint mit dem Kaffeegeschirr, mit dem Tablett, mit dem Nymphenburger von dem diamantenen Großvater. Die Damen verstummen, und lautlos deckt Fräulein, ein ältliches, mausgraues Wesen, den Tisch.

Es ist immer nur "Fräulein" - alle diese häufig wechselnden Gestalten bei Frau Generalmajor von Anklam sind namenlos. Fräulein deckt und Fräulein stopft, Fräulein liest vor und Fräulein erzählt was, und vor allem: Fräulein hört zu! Fräulein hört zu von morgens bis abends, Geschichten von Regimentsdamen, längst verstorben und vergessen(Ich sage ihr: Liebes Kind, was Takt heißt, bestimme ich!); Geschichten von Kindern, längst im Besitz eigener Kinder(Und da sagt doch dieses süße Engelskind zu mir ...); Geschichten von Verwandten, längst verzankten; Geschichten von blauen Briefen und Beförderungen; Geschichten von Orden; Geschichten von Verwundungen; Geschichten von Eheirrungen und von Ehescheidungen - Wust und Gerümpel eines ganz in Klatsch und Tratsch verbrachten Lebens, Intima, Intimissima!

Fräulein, farblos, mausgrau, hört zu, sagt ja, ach nein!, so etwas!, himmlisch! - aber wenn Besuch bei Exzellenz ist, hört sie nichts, Frau Generalmajor flüstert mit dem letzten Rest ihres Lausanner Pensionsfranzösisch: "Attention! La servante!", und die Damen verstummen. Ist Besuch da - wird Fräulein zu Luft, so gehört es sich.(Erst wenn der Besuch wieder fort ist, wird ihr alles erzählt.)

Aber nach dem ersten Verstummen bleibt Frau von Anklam nun nicht etwa stumm, das gehörte sich auch wieder nicht. Sie redet vom Wetter, es ist so schwül heute, vielleicht gibt es ein Gewitter, vielleicht ja, vielleicht aber auch nein. Sie hatte einmal ein Fräulein, das bekam Reißen in der großen Zehe vor Gewitter - sehr seltsam, was? -

"Es stimmte immer, und einmal, als Fräulein grade auf Urlaub war, wir hatten damals noch das Gut, weißt du, bekamen wir doch das Gewitter mit dem schweren Hagelschlag, der die ganze Ernte zusammendrasch - wenn Fräulein nun keinen Urlaub gehabt hätte, hätten wir das doch vorher gewußt - und das wäre doch sooo gut gewesen, nicht wahr, liebe Mathilde? Aber natürlich, grade da mußte Fräulein auf Urlaub sein! -

Ja, es ist alles recht, Fräulein, danke. Sie können jetzt noch die Spitzenrüschen an meinem schwarzen Taftkleid plätten. Sie sind schon geplättet, ich weiß, Fräulein. Es ist nicht nötig, daß Sie mir das sagen. Aber sie sind nicht so geplättet, wie ich es gewöhnt bin, sie müssen sein wie ein Hauch ... Fräulein! Wie ein Hauch! Also tun Sie das, Fräulein!"

Und kaum ist hinter Fräulein die Tür zu, wendet sich Frau von Anklam wieder ganz teilnahmsvoll an Frau Pagel. "Ich habe es mir hin und her überlegt, liebe Mathilde, aber es bleibt dabei: sie ist einfach eine Person!"

Frau Pagel fährt zusammen, sieht ängstlich zur Tür. "Fräulein?"

"Aber, Mathilde, konzentriere dich doch ein bißchen! Von was reden

wir? Von der Heirat deines Sohnes! Wenn ich so unkonzentriert sein wollte! Ich habe stets meinen Damen gesagt ..."

Frau Pagel hat immer noch die Hoffnung, irgend etwas Positives zu erfahren, sie weiß eigentlich nicht, was. Es gelingt ihr einzuschieben: "Das Mädchen ist vielleicht doch nicht ganz schlecht ..."

"Mathilde! Eine Person! Nur eine Person!!"

"Sie liebt Wolfgang - in ihrer Art ..."

"Davon will ich nichts hören! Unanständigkeiten, nein, in meinem Heime nicht ..."

"Aber Wolfgang spielt, Betty, verspielt alles ..."

Frau von Anklam lacht. "Wenn man dein Gesicht sieht, beste Mathilde! Der Junge jeut ein bißchen - du mußt nicht ›spielen‹ sagen, ›spielen‹ klingt so gewöhnlich - alle jungen Menschen jeuen ein bißchen. Ich erinnere mich, wie wir damals das Regiment in Stolp hatten, wurde auch viel gejeut unter den jungen Leuten. Exzellenz von Bardenwiek sagte zu mir: ›Was machen wir bloß, gnädige Frau von Anklam? Wir müssen etwas dagegen tun.‹ Ich sagte: ›Exzellenz‹, sagte ich, ›wir werden gar nichts tun. Solange die jungen Leute jeuen, machen sie keine andern Dummheiten.‹ Und er pflichtete mir sofort bei ... Herein!"

Es hat leise und vorsichtig geklopft an der Tür. Nun steckt Fräulein den Kopf herein. "Ernst ist zurück, Exzellenz."

"Ernst -? Was will er denn -? Was sind denn das für neue Moden, Fräulein?! Sie wissen doch, ich habe Besuch! Ernst - unglaublich!"

Trotz dieses Gewitters wagt das Fräulein noch etwas zu sagen, sie piepst wie eine Maus in der Falle: "Er war auf dem Standesamt, Exzellenz."

Frau von Anklam verklärt sich: "Ach natürlich, er soll sofort hereinkommen, sobald er sich die Hände gewaschen hat. Was Sie für lange Geschichten aus allem machen, Fräulein! - Fräulein, einen Augenblick, rennen Sie doch nicht immer gleich so kopflos fort - warten Sie bitte meine Anordnungen ab. Geben Sie ihm erst noch ein paar Spritzer Eau de Cologne, jawohl, von der Wasch-Eau-de-Cologne! Man weiß nicht, mit wem er dort zusammengewesen ist."

Wieder allein mit der Kusine: "Ich wollte doch wissen, wie die Trauung verlaufen ist. Ich habe mir lange überlegt, wen ich zu so etwas schicken könnte. Ich habe unsern Ernst geschickt. Nun, jetzt werden wir ja hören ..."

Und ihr Auge leuchtet, sie rückt die schwere Leibesfülle im Sessel hin und her, ganz Erwartung. Sie wird etwas Neues hören, wieder etwas für

die Rumpelkammer - o Gott, großartig!

Der Diener Ernst tritt ein, ein älterer Mann, an die Sechzig, ein Männchen, lange schon, ein Leben schon bei Frau von Anklam.

"Unter der Tür!" ruft sie. "Unter der Tür bleibst du stehen, Ernst!"

"Ich weiß doch, Exzellenz!"

"Gleich nachher badest du, ziehst dich frisch um, wer weiß, was für Bakterien auf dir sitzen, Ernst! - Nun los, sage doch endlich: wie war die Trauung?"

"Gar nicht war sie, Exzellenz!"

"Siehst du, Mathilde - was sage ich dir immer? Um gar nichts regst du dich auf! Was habe ich dir noch vor drei Minuten gesagt: eine ganz gewöhnliche Person! Sie hat ihn sitzenlassen!"

Frau Pagel schwach: "Wenn ich Ernst befragen dürfte, liebe Betty -?"

"Aber natürlich, liebe Mathilde. - Ernst, ich verstehe dich nicht, du stehst wie ein Stock da, du hörst doch, Frau Pagel möchte alles wissen! Erzähle, rede - sie hat ihn natürlich sitzenlassen! Nun weiter - was hat er gesagt dazu?"

"Halten zu Gnaden, Exzellenz! Ich glaube, der junge Herr hat sie - ist nicht gekommen ..."

"Siehst du, Mathilde, genau, was ich dir gesagt habe! Der Junge ist ganz in Ordnung, das bißchen ›Jeu‹ tut ihm nichts, im Gegenteil - völlig vernünftig, solche Person heiratet man doch nicht!"

Endlich dringt Frau Pagel durch: "Ernst, ist es auch sicher? War bestimmt keine Trauung? Vielleicht sind Sie ein bißchen zu spät gekommen?"

"Nein, gnädige Frau, bestimmt nicht. Ich war rechtzeitig da und habe bis zum Schluß gewartet und auch den Beamten gefragt: sie sind beide nicht gekommen."

"Siehst du, Mathilde ..."

"Aber warum glauben Sie denn, Ernst, daß es mein Sohn gewesen ist, Sie verstehen schon ..."

"Ich wollte sichergehen, gnädige Frau, es konnte ja auch was passiert sein. Auf dem Standesamt erfuhr ich die Wohnung. Ich bin also hingegangen, gnädige Frau ..."

"Ernst, unbedingt sofort baden und völlig frische Wäsche!"

"Zu Befehl, Exzellenz! - Der junge Herr hat sich seit heute früh dort nicht mehr sehen lassen. Und das Mädchen hat man hinausgesetzt, weil die Miete nicht bezahlt war. Sie stand noch unter der Tür. Ich habe sie ..."

Frau Pagel steht mit einem Ruck auf. Plötzlich ist sie wieder ganz Entschlossenheit, dunkel, energisch, starrer Nacken.

"Ich danke Ihnen, Ernst. Sie haben mich sehr beruhigt. Entschuldige, liebe Betty, daß ich so formlos gehe, aber ich muß sofort nach Haus. Ich habe das bestimmte Gefühl, Wolfgang sitzt dort und wartet ganz verzweifelt auf mich. Irgend etwas muß vorgefallen sein. O Gott, und Minna ist auch weg! Nun, er hat ja noch seine Schlüssel zu der Wohnung. Entschuldige, ich bin ganz durcheinander, liebe Betty ..."

"Form! Form, Haltung, liebe Mathilde! Haltung in jeder Lebenslage. Natürlich hättest du an einem solchen Nachmittag zu Haus bleiben müssen, natürlich wartet er auf dich. Ich wäre natürlich an solchem Tage nicht aus dem Haus gegangen. Und vor allem eins - bitte, Mathilde, noch einen Augenblick, du kannst doch nicht so einfach loslaufen - sei hart mit ihm! Keine falsche Weichheit! Vor allem: gib ihm kein Geld, keinen Pfennig! Wohnung, Essen, Kleidung - gut! Aber kein Geld, er verjeut es bloß! Mathilde -! Mathilde! Weg! Keine Form! - Höre mal, Ernst ..."

Die Thumannsche der oberen Zehntausend spricht weiter, immer weiter ...

8

Der Hund schlief noch immer, auch die Katze schlief, noch schlief die Georgenkirchstraße.

Das Mädchen Petra Ledig stand in dem Torweg zu den Hinterhöfen des Hauses, im Schatten. Vor ihr flimmerte die Straße von weißer, erbarmungsloser Hitze; das grelle Licht tat in den Augen weh; was sie sah, verlor die Umrisse, schien zu zerfließen. Dann schloß sie die Lider, und nun kam Schwärze in ihren Kopf, Schwärze mit plötzlich aufflackerndem, schmerzendem Purpurrot.

Darein hörte sie Uhren schlagen - es war gut, so verging Zeit. Zuerst hatte sie gemeint, sie müsse irgendwohin gehen, etwas tun. Aber als sie fühlte, wie in den Augenblicken halben Dämmerns die Zeit verrann, wußte sie, daß sie nur hier zu stehen und zu warten hatte. Er mußte ja kommen, jeden Augenblick mußte er kommen, er brachte Geld mit. Dann würden sie losgehen, um die Ecke war ein Bäckerladen, daneben der Fleischer. Sie fühlt, wie sie hineinbeißt in die frische Schrippe: sie kracht, das gelblichbraune Äußere, ihre krosse Hülle zerbricht, kleine flache, spitze Splitter bleiben am Rande. Das Innere ist weißlich locker.

Nun schiebt sich wieder etwas Rötliches dazwischen, sie versucht es zu erkennen bei geschlossenen Augen, sie kann das auch, denn es ist ja

nicht außer ihr, es ist in ihr, in ihrem Hirn: kreisrunde, kleine, rötliche Flecke. Was kann das nur sein -? Und plötzlich weiß sie: es sind Erdbeeren! Natürlich, sie ist ja weitergegangen, sie steht gar nicht mehr in dem Bäckerladen, sie ist in einem Gemüsegeschäft. In einem Spankorb liegen die Erdbeeren. Sie duften frisch, sie riecht es - oh, wie sie es riecht! Die Erdbeeren liegen auf grünen Blättern, die auch frisch sind ... Es ist alles sehr milde und sehr frisch - nun läuft auch noch Wasser, ganz klar und kühl ...

Mühsam reißt sie sich von ihrem Traumbild los, aber das Wasser läuft so eindringlich, es plätschert so, als habe es ihr etwas zu sagen. Langsam öffnen sich ihre Augen, langsam erkennt sie wieder den Torweg, in dem sie noch immer steht, die gleißende Straße - endlich den Mann vor sich, der etwas zu ihr sagt, einen ältlichen Mann mit gelbem, dürrem Gesicht und gelbgrauen Koteletten, einen steifen schwarzen Hut auf dem Kopf.

"Wie -?" fragt sie mit Anstrengung und muß es noch einmal fragen, denn beim ersten Male gab es in dem dürren, vertrockneten Munde nur ein kleines, unverständliches Geräusch.

Mancher ist in der Zeit, da sie hier stand, an ihr vorübergegangen. Sah er wirklich die Gestalt im Torgang, beschattet vom offenstehenden Torflügel, ging er nur schneller. Es ist arme Gegend und blutarme Elendszeit, überall, zu jeder Tagesstunde stehen die Elendsgestalten von Frauen, Mädchen, Witwen, Hunger und Elend in den Gesichtern, die unmöglichsten Fetzen auf den Leib gezogen, der - allerletzte Rettung - noch einen Käufer finden soll. Die um ihre Rente gebrachten Kriegswitwen, die Arbeiterfrauen, denen der Wochenlohn auch des nüchternsten, des fleißigsten Mannes mit jeder Dollarentwertung aus der Hand gelistet wird, Mädchen, fast noch Kinder, die das Elend der kindlichen Geschwister nicht mehr ansehen können - jeden Tag, jede Stunde, jede Minute schlagen sie die Tür ihrer Höhlen, in denen Hunger ihr Geselle, Sorge ihr Bettgenosse war - schlagen sie die Tür endgültig hinter sich zu und sprechen: "Jetzt tue ich es! Für was denn aufbewahren? Für ein noch größeres Elend? Für die nächste Grippe? Für Armenarzt und Armensarg? Alles flieht, eilt, hastet, verändert sich - und ich soll mich bewahren?!"

Da stehen sie, in jedem Winkel, zu jeder Zeit, frech oder verängstigt, geschwätzig oder wortlos, bittend, bettelnd: "Ach, nur eine Tasse Kaffee und eine Schrippe ..."

Es ist arme Gegend, Georgenkirchstraße. Der Kassierer der Gasgesellschaft, der Zwischenmeister der Konfektion, der Briefträger -

sie gingen nur ein wenig schneller, als sie das Mädchen sahen. Sie verzogen nicht das Gesicht, kein freches Wort, kein Scherz, kein Gedanke an Mätzchen. Nur schnell weiter und vorbei, damit nicht ein Wort, ein Flehen, ein doch zu Herzen gehendes Flehen jenes Herz zu einem Geschenke verführt, das nicht gegeben werden darf. Denn auf jeden wartet zu Haus die gleiche Sorge, jedem im Nacken hockt der böse Gnom - wer weiß, wann meine Frau, meine Tochter, mein Mädchen so stehen wird, im Schatten des Torflügels den ersten Tag, bald aber auf heller Straße! Nichts gesehen haben und vorbei, kein Murmeln erreicht unsere Ohren. Allein bist du, allein bin ich, allein sterben wir alle - rette sich, wer kann!

Aber nun ist eben doch einer vor Petra stehengeblieben, ein älterer Herr mit Melone, gelblichem Eulengesicht und gelben Eulenaugen.

"Wie -?" hat sie schließlich ganz deutlich gefragt.

"Na, Fräulein!" Er schüttelt ein bißchen mißbilligend den Kopf. "Ob hier Pagels wohnen?"

"Pagels -?" Er will also nicht so etwas, er fragt nach Pagels. Pagels, mehrere Pagels, mindestens zwei. Sie möchte verstehen, wer das ist, was er will, vielleicht ist es für Wolfgang wichtig ... "Ja -?" Sie versucht, sich zusammenzunehmen, dieser Herr will etwas von ihnen. Er darf nicht erfahren, daß sie zu Wolfgang gehört, sie, die so im Torweg steht. "Pagels -?" fragt sie noch einmal, um Zeit zu gewinnen.

"Ja, Pagels! Na, Sie wissen es wohl nicht! Bißchen getrunken, was?" Er zwinkert mit den Augen, er scheint ein ganz gutmütiger Mann zu sein. "Müssen Sie nicht tun, Fräulein, am Tage. Abends meinethalben. Aber am Tage ist es ungesund."

"Doch, Pagels wohnen hier", sagt sie. "Aber sie sind nicht da. Sind beide weggegangen".(Denn er darf nicht hinauf zur Thumann - was würde er da alles zu hören bekommen, es könnte Wolfgang schaden!)

"So? Beide weggegangen? Wohl zur Trauung, wie? Dann müssen sie aber zu spät gekommen sein. Das Standesamt ist schon dicht gemacht."

Auch das weiß er! Wer kann es bloß sein? Wolfgang hat immer gesagt, er hat keine Bekannten mehr.

"Wann sind sie denn weggegangen?" fragt der Herr wieder.

"Vor einer halben Stunde. Nein, schon vor einer Stunde!" sagt sie hastig. "Und sie haben mir gesagt, sie kommen heute nicht wieder."

(Er darf nicht zur Thumann hinauf! Nur nicht!)

"So, haben sie Ihnen das gesagt, Fräulein?" fragt der Herr, plötzlich mißtrauisch. "Sie sind wohl befreundet mit Pagels?"

"Nein! Nein!" protestiert sie hastig. "Sie kennen mich nur vom Sehen. Es ist nur, weil ich hier immer stehe, daß sie es mir gesagt haben."

"So "..., sagt der Herr nachdenklich. "Na, dann danke ich auch schön". Und er geht langsam durch den Torweg auf den ersten Hof.

"Ach bitte!" ruft sie mit schwacher Stimme, geht sogar einige Schritte hinter ihm her.

"Was denn noch?" fragt er, dreht sich um, geht aber nicht wieder zurück.(Er will durchaus hinauf!)

"Bitte!" sagt sie flehentlich. "Das da oben sind so schlechte Leute! Glauben Sie nicht, was Ihnen die von Herrn Pagel sagen. Herr Pagel ist ein sehr feiner, ein sehr anständiger Mann - ich, ich habe nie etwas mit ihm zu tun gehabt, ich kenne ihn wirklich nur vom Sehen ..."

Der Mann steht mitten im grellen Sonnenschein auf dem Hof. Er sieht scharf zurück auf Petra, aber er kann sie sicher nicht genau erkennen, wie sie dasteht im dämmrigen Torweg, eine leichte, schwache Gestalt, den Kopf ein wenig vorgebeugt, die Lippen halb geöffnet, gespannt nach der Wirkung ihrer Worte ausschauend, die Hände flehentlich auf die Brust gelegt.

Er reibt den gelbgrauen Bart nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger; nach einem langen Überlegen sagt er: "Keine Angst, Fräulein. Ich glaube auch nicht alles, was mir die Leute erzählen."

Es klingt nicht bissig, vielleicht ist es gar nicht auf sie gemünzt, es klingt sogar freundlich.

"Ich kenne den jungen Herrn ganz gut. Ich habe ihn gekannt, als er noch so klein war ..."

Und er zeigt einen unwahrscheinlich winzigen Abstand von der Erde. Damit aber ist es genug - er nickt Petra noch einmal zu und verschwindet endgültig im Durchgang zum zweiten Hof.

Petra aber gleitet zurück in ihren Schutzwinkel hinter dem Torflügel. Sie weiß jetzt natürlich schon, sie hat alles falsch gemacht, sie hätte diesem alten Herrn, der Wolfgang schon als Kind gekannt hat, gar keine Auskunft geben müssen, nein, sie hätte sagen müssen: Ich weiß nicht, ob hier Pagels wohnen ...

Aber sie ist zu müde, zu zerschlagen, zu krank, um darüber weiter nachzudenken. Sie will hier nur stehenbleiben und warten, bis er wieder zurückkommt. Dann wird sie ihm die erhaltene Auskunft vom Gesicht ablesen. Sie wird ihm sagen, was für ein wundervoller Mensch Wolfgang ist, der nie etwas Böses tut, nie jemandem Übles zufügt ... Und während sie den Kopf an die kühle Wand legt, die Augen schließt und diesmal fast

unwillig die Schwärze kommen spürt, die Fernsein von ihrem Ich und ihren Sorgen bedeutet - währenddem versucht sie, den alten Herrn auf seinem Wege über den Hinterhof zu begleiten. Dann treppauf bis zur Tür der Frau Thumann. Sie meint ihn klingeln zu hören, und nun möchte sie über sein Gespräch mit Frau Thumann nachdenken ... Sie wird reden, die Frau, ach, sie wird reden, alles auskramen, sie beide mit Dreck bewerfen, über das verlorene Geld jammern ...

Doch plötzlich taucht ihrer beider Zimmer auf, diese häßliche Höhle ist übergoldet vom Schein ihrer Liebe ... Ferner und ferner verklingt die Stimme der Pottmadamm, hier haben sie beide gelacht, geschlafen, gesprochen, gelesen ... Er stand zähneputzend am Waschtisch, sie sagte etwas ...

"Jetzt versteh ich nichts!" schrie er. "Red lauter!"

Sie tat es.

Er putzte. "Lauter! - Verstehe kein Wort, noch lauter!"

Sie tat es, er putzte, schäumte. "Lauter, sag ich!"

Sie tat es, sie lachten ...

Hier waren sie gemeinsam gewesen, zusammen, sie hatte auf ihn warten dürfen, nie umsonst ...

Und plötzlich sah sie, in einem raschen, schmerzenden Blinzeln, die Straße, wußte, sie ging weiter ... Märchenbrunnen ... Hermannspark ... weiter, immer weiter, immer noch Stadt ... Und nun Land, endloses Land, mit Feldern und Wäldern, Brücken, Büschen ... Und wieder Städte voller Häuser mit Torwegen, und wieder Land und Wasser, ungeheure Meere ... und wieder Länder und Land und Stadt, unfaßbar ... Und die Möglichkeit, hinauszugehen, alles hinter sich zu lassen, die tausend Möglichkeiten des Lebens, an jeder Ecke, in jedem Dorf ... Alles dieses aber, verwirrte es sich in ihrem Hirn, will ich hingeben und dich anbeten, wenn du mir unser Zimmer wiederschenkst und das Warten auf ihn in ihm ...

Langsam wurde es schwarz. Alles löschte aus, die Welt wurde undeutlich. Die Schwärzefetzen flogen darüber hin, verdeckten sie ... Einen Augenblick meinte sie noch die Gardinen des Zimmers zu sehen, gelblichgrau, schlaff und reglos in der ungeheuren Schwüle hängend - dann verlöschte auch das zu Nacht.

Aber auch die Nacht barg keine Ruhe für sie, nun leuchtete es rot in ihr auf, mit einem glühenden, bösen Rot ... ach, der Hund von drüben war aufgestanden. Größer und größer werdend, kam er über die Straße auf sie zu. Sein gähnender Rachen mit den spitzen, scharfen Eckzähnen war schon über ihrem Kopf. Böse rot die Augen, böse rot die drohenden

Fänge, und nun legte er mit ungeheurem Gewicht seine Pfote auf ihre Schulter, sie schreit vor Angst, aber kein Ton drang bis an ihr Ohr. Sie sinkt hin ...

Der Diener Ernst, die Hand auf ihrer Schulter, sagt mahnend: "Fräulein, bitte! Fräulein!!"

Von weit her sah ihn Petra kommen und fragte doch gleich, als habe die Frage seit seinem Fortgehen dringend in ihr gewartet: "Was haben die gesagt?"

Der Diener bewegte zweifelnd die Schultern. Dann: "Wo ist der junge Herr hin?" Er sieht sie zögern, er sagt beruhigend: "Vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren, ich bin bloß der Diener von seiner Tante. Ich erzähl schon nichts, was ich nicht will."

Und sie, da er doch Schlimmeres nicht erfahren kann, als er oben schon gehört haben wird: "Fort. Geld besorgen."

"Und ist nicht wiedergekommen?"

"Nein. Noch nicht. Ich warte."

Sie standen beide eine Weile schweigend da, sie geduldig wartend, was das Schicksal und vielleicht dieser Mann für sie bereithielt, er unschlüssig, ob er so einfach fortgehen könne, seiner Herrin zu berichten. Unschwer war zu erraten, was Frau Generalmajor von Anklam über dieses Mädchen dachte, was sie zu tätiger Hilfe sagen würde. Immerhin ...

Der Diener Ernst trat langsam aus dem Torweg auf die Straße, sah unschlüssig auf und ab, der Erwartete war nicht zu sehen ... Einen Augenblick hatte er den Gedanken, einfach fortzugehen. Er glaubte genau zu wissen, daß dieses Mädchen ihn mit keinem Wort daran hindern würde. Es war die einfachste Lösung, jede andere konnte ihm Schwierigkeiten bei Exzellenz machen. Oder aber ihn Geld kosten - und je wertloser das vom Diener Ernst in einem Menschenalter ersparte kleine Kapital wurde, um so fester hing er an diesen Scheinen mit den unsinnigen Zahlen. Zu Haus in seiner kleinen Kammer füllte er eine blecherne Teepackung nach der andern mit ihnen ...

Trotzdem ...

Er sah noch einmal die Straße auf und ab: nichts. Zögernd, ein wenig unwillig über sein eigenes Tun, ging er in den Torweg zurück und fragte ebenso widerwillig: "Und wenn der junge Herr nun kein Geld bringt?"

Sie sah ihn nur an, mit einer leichten Bewegung des Kopfes - schon die vage Aussicht in diesen Worten, Wolfgang könne doch noch kommen, wenn auch ohne Geld, belebte sie.

"Und wenn er gar nicht wiederkommt, was tun Sie dann!"

Ihr Kopf sank ein wenig nach vorn, die Lider schlossen sich - ohne daß ein Wort laut wurde, war klar genug, wie gleichgültig ihr dann alles war.

"Fräulein", sagte er zögernd, "ein Diener verdient nicht viel. Und dann habe ich ja auch all mein Erspartes verloren, aber wenn Sie dies nehmen wollen ..."

Er versucht, ihr einen Schein in die Hand zu schieben. Er hat ihn aus der abgegriffenen, dünnen Brieftasche gewählt: "Fünfzigtausend". Und da sie ihre Hand zurückzieht, dringender: "Nein, nein, Sie können das ruhig nehmen. Es ist ja nur das Fahrgeld, damit Sie auch nach Haus kommen". Er stutzt, überlegt. "Sie können doch hier nicht so weiterstehen! Sicher haben Sie irgend jemand Verwandtes, zu dem Sie erst einmal fahren können."

Wieder bricht er ab. Ihm ist eingefallen, daß sie in diesem Aufzug, die Beine bis über die Knie nackt, nur in vertretenen Hausschuhen, mit einem jämmerlichen Herrenpaletot, der zuviel Brust sehen läßt, unmöglich auf eine Elektrische steigen kann.

Er steht da, betreten, verlegen, fast schon ärgerlich. Er möchte ja helfen, aber Herrgott! - wie hilft man denn da? Er kann sie doch nicht mit sich nehmen, einkleiden - und schließlich: was dann?!

"O Gott, Fräulein!" sagt er plötzlich traurig. "Wie hat es nur der junge Herr so weit kommen lassen können?!"

Petra aber hat nur eines verstanden. "Sie meinen also auch, daß er nicht wiederkommt?"

Der Diener bewegt die Schultern. "Wie kann ich das wissen? Haben Sie sich denn gezankt? Sie wollten doch heute heiraten?"

Heiraten - richtig! Das Wort erreicht sie noch, sie hat gar nicht mehr daran gedacht. "Wir heiraten heute, ja "..., sagt sie und lächelt vage. Sie erinnert sich, daß sie heute den Namen "Ledig" verlieren sollte, der immer etwas gewesen war wie ein Makel. Sie erinnert sich daran, wie sie erwachte und nicht nach seiner Geldtasche zu sehen wagte und doch noch sicher war: heute würde es sein! Dann waren die ersten Zweifel gekommen, seine unentschlossene Haltung, als sie ihn drängte, dann forderte, dann bat ... Und wie sie gefühlt hatte, beim Zuschlagen der Tür schon: heute wird es nun doch nicht sein!

Aber plötzlich dann(und unbegreiflich, doch geschehen: der Hunger hatte ihr brennendes Hirn selbst das vergessen lassen) - plötzlich war vor dem Spiegel die Erkenntnis über sie gekommen, das Wissen, daß er wohl gegangen, aber doch bei ihr geblieben war, ewig unverlierbar in ihr.

Was dann geschehen war: das bettelnde Hocken in der Thumannschen Küche mit dem Schielen nach Idas Schnecken, die Austreibung, das tatenlose Warten hier im Durchgang - das hatte nur der Hunger gemacht, arglistiger Feind im Leib und Hirn, der sie hatte vergessen lassen, was nie vergessen werden durfte: dies in ihr.

Was war denn los mit ihr? War sie denn verhext und verzaubert?! Sie hatte es doch immer noch geschafft in ihrem Leben, die Mutter hatte sein mögen mit ihr so roh, wie sie nur konnte - ein paar Tränchen, aber weiter! Die liebenswürdigen Kavaliere mit den messerscharfen Bügelfalten auf der Mädchenjagd mochten nachher noch so gemein und geizig sein - die Zähne zusammen, aber weiter! Wolfgang mochte wiederkommen oder nicht wiederkommen - schlimm, traurig, böse ... Aber zweiundzwanzig Jahre lang hatte sie nur um der eigenen Person willen jeden Dreck gefressen - und jetzt sollte sie hier stehen, tatenlos, bestellt und nicht abgeholt - da zum ersten Male im Leben ein anderes auf sie angewiesen ist, auf sie ganz allein, und keine andere Frau auf der Welt kann sie ersetzen - einfach lächerlich!

Eine Fülle von Gedanken strömt auf sie ein, sie kann es alles gar nicht so schnell erfassen. Nachdem der Hunger ihren armen Kopf eine Zeit in Schwärze und vage Träume versenkt hat, macht er ihn jetzt überlebendig, ganz wach und klar: Es ist aber alles ganz einfach. Sie hat für jemanden zu sorgen, und da dieser Jemand in ihr ist, muß sie zuerst für sich sorgen - nichts ist selbstverständlicher. Alles andere findet sich dann schon.

Und während sie dies denkt, denkt sie auch schon anderes in ihrem Kopf. Sie macht Pläne, was sie zu tun hat, später, aber auch jetzt gleich. Und darum sagt sie plötzlich ganz klar und bestimmt: "Ja, es ist nett von Ihnen, daß Sie mir das Geld geben wollen. Ich kann es sehr gut gebrauchen. Danke schön!"

Der Diener sieht sie verblüfft an. Es ist nur der Bruchteil einer Minute vergangen, seit er sie daran erinnert hat, daß sie heute heiraten wollte. Der Diener Ernst kann nicht ahnen, welche Gedanken dieser eine Satz in ihrem Hirn wachgerufen hat, was alles sie in diesen wenigen Sekunden erlebte und plante. Er sieht nur die Veränderung in ihrem Gesicht, das plötzlich nicht mehr schlaff, das voller Leben ist, sogar Farbe hat es bekommen. Er hört plötzlich statt der zögernden, halblauten Sprache einen energischen Ton, fast schon Befehl. Ohne auch nur zu überlegen, hat er ihr das Geld in die Hand gelegt.

"Na, Fräulein", sagt er überrascht und wieder leise geärgert, "plötzlich sind Sie ja so munter! Warum denn? Das Standesamt ist schon zu. Ich

glaube wirklich, Sie haben einen sitzen."

"Nein", antwortet sie. "Mir fiel nur plötzlich etwas Gutes ein. Und daß ich Ihnen so komisch vorkomme, liegt nicht am Trinken. Aber ich habe nichts gegessen, ziemlich lange schon, und davon wird einem so komisch im Kopf ..."

"Nichts gegessen!" empört sich nun wirklich der Diener Ernst, der all sein Lebtage stets zur bestimmten Stunde seine bestimmte Mahlzeit gegessen hat. "Nichts zu essen! Aber so etwas sollte der junge Herr nun wirklich nicht machen!"

Sie sieht ihn an, mit einem halben, verlorenen Lächeln. Sie weiß, was in seinem Kopf vorgeht, was er denkt und voller Empörung fühlt, und sie muß über ihn lächeln. Denn dieses Mal, da der brave, wohlerzogene Diener Ernst, ergraut im Umgang mit den ersten Kreisen, wirklich einmal für sie Stellung nimmt und gegen den jungen Herrn, dieses Mal spürt sie so recht, wie weit Menschen voneinander leben. Der junge Herr hätte sie schlecht behandeln dürfen, er hätte sie betrügen dürfen, er hätte sie sitzenlassen dürfen - das alles hätte den guten Diener Ernst(und seine meisten Mitmenschen) nicht gar so sehr empört. Aber daß er ihr nichts zu essen gab -! Nein, so etwas tat man nun wirklich nicht!!

Er betrachtet sie mit gerunzelter Stirn, sie kann ihm ansehen, vor wie großen Entschlüssen er steht, da macht sie es ihm leicht. "Wenn Sie mir bloß ein paar Schrippen holen wollten!" sagt sie. "Hier gleich um die Ecke ist ein Bäckerladen. Und dann brauchen Sie sich keine Sorgen mehr um mich zu machen. Sobald ich ein bißchen gegessen habe, komme ich schon zurecht. Ich habe einen Plan ..."

"Natürlich hole ich Schrippen", sagt er eifrig. "Und vielleicht sonst noch etwas, etwas zu trinken, Milch, ja?"

Er hastet davon, er geht in drei, vier Läden: Butter, Brot, Semmeln, Wurst, ein paar Tomaten ... Er denkt nicht mehr an sein Geld, die Ersparnisse ... Die Tatsache, daß ein Mensch Hunger hat, aber nichts zu essen, hat ihn ganz verwirrt. So etwas hätte der junge Herr nicht tun dürfen, denkt er immer wieder. Sie mag sein, wie sie will, aber hungern lassen - nein!

Er ist gelaufen, hat sich und die schläfrigen Ladeninhaber gehetzt, alles mußte eilig gehen, schnell. Am liebsten hätte er gesagt: Bitte, es ist nämlich für einen Menschen, der verhungert ... - Aber nun, da er zurückkommt, steht er noch verwirrter: sie ist nicht da. Nicht im Torweg, auf der Straße nicht, auch nicht auf dem Hof. Sie ist fort!

Zögernd entschließt er sich, noch einmal zu der Thumann

hinaufzusteigen, sicher nicht sehr gerne, denn diese hemmungslos Geschwätzige hatte für ihn eine gar zu fatale Ähnlichkeit mit Ihrer Exzellenz, Frau Generalmajor Bettina von Anklam. Aber er bekam nur die Ida zu sehen, halb schon gewerblich, halb noch häuslich bekleidet, was ihn ziemlich erschreckte. Und diese junge Dame erkundigte sich sehr ungnädig bei ihm, ob es wohl piepe in seinem Hirnkasten, denn: "Det Aas kommt mir nich wieder rin! Wenn die bloß schellt, hat se schon 'ne Schelle! Nee, wat sich solche Leute alles einbilden -!"

Diener Ernst steigt wieder treppab, geht wieder über die Höfe, kommt wieder in den Torgang.

Im Schatten des Torflügels steht niemand. Kopfschüttelnd geht er auf die Straße: nichts. Diese Tüten und Päckchen mit Lebensmitteln, diese Flasche voll Milch, das kann er doch nicht mit zu seiner Herrschaft nehmen. Fräulein sähe es sicher, und sicher erzählte Fräulein es Ihrer Exzellenz.

Er kehrt wieder um, baut seine Besorgungen im tiefsten, dunkelsten Winkel hinter dem Torflügel auf und geht endgültig ab, nicht ohne sich noch häufig umzusehen. Erst als er in der Untergrund sitzt, denkt er nicht mehr zurück, kann er wieder vorausdenken.

Was sage ich bloß Exzellenz -?!

Nach sorgfältiger Überlegung beschließt er, möglichst wenig zu sagen.

FÜNFTES KAPITEL. Das Gewitter bricht los

1

Der Oberwachtmeister der Schutzpolizei Leo Gubalke war erst gegen drei Uhr aus seinem Schrebergarten dicht beim Betriebsbahnhof Rummelsburg in die Wohnung Georgenkirchstraße zurückgekommen. Er hatte ausreichend Zeit, sich gründlich zu waschen und sich umzuziehen für den Dienst. Aber er hatte keine Zeit mehr, noch ein Schläfchen zu tun, wie er eigentlich gewollt hatte. Denn sein recht anstrengender Dienst ging von vier Uhr nachmittags bis morgens zwei Uhr, und es war immer gut, wenn man sich vorher ein wenig auf das Ohr legte. Es kam dem Dienst und vor allem den Nerven im Dienst zugute.

Oberwachtmeister Leo Gubalke ist ganz allein in seiner Zweizimmerwohnung. Die Frau ist schon seit dem Morgen im Schrebergarten(Kolonie Nordpol), die beiden Gören sind von der Schule direkt dorthin gefahren. Der Polizist hat sich die große Zinkwanne, die

von seiner Frau sonst für die Wäsche benutzt wird, in die Küche geholt und schrubbt sich langsam und sorgfältig von oben her ab.

Es ist ein alter Streit zwischen ihm und seiner Frau, wie man sich am besten ganz wäscht. Er tut es von oben her: Kopf, Hals, Schultern, Brust und so weiter, bis er unten bei den Füßen ist. Das ist wirklich ordentlich und sauber, denn nichts bereits Gesäubertes wird durch das Waschen des nächsten Körperteils wieder berührt. Außerdem ist es sparsam, denn das reichlich von oben rinnende, mit Seife versetzte Wasser weicht die später zu reinigenden Körperteile schon ein.

Frau Gubalke will das nicht einsehen, oder falls sie es doch eingesehen hat, tut sie es nicht. Sie wäscht sich ganz systemlos, jetzt den Rücken, dann die Füße, jetzt die Brust, nun die Schenkel. Oberwachtmeister Leo Gubalke, der dienstlich fast alle Tage mit aufgeregten Frauen zu tun hat, ist fest davon überzeugt, daß auch Frauen Verstand haben können. Aber jedenfalls eine ganz andere Art Verstand als die Männer, und es ist völlig unnütz, sie von etwas überzeugen zu wollen, von dem sie nicht überzeugt sein mögen.

Frau Gubalke ist eine fabelhaft ordentliche Frau, die Küche blitzt nur so, und Gubalke weiß, daß in jeder sorgfältig zugeschobenen Lade, hinter jeder zuverlässig abgeschlossenen Schranktür jedes Stück in völliger Ordnung liegt, aber System in ihre Körperpflege ist nicht zu bekommen. So etwas ist nun einmal bei Frauen so, und wenn es so ist, soll man es auch nicht zu ändern versuchen, sie werden sonst leicht böse. Aber immerhin hatte der Vater den Triumph, daß die beiden Kinder, zwei Mädchen, sich nach seiner Methode wuschen.

Oberwachtmeister Gubalke ist ein Mann Anfang der Vierzig, rotblond, schon ein bißchen fett, ein sehr ordentlicher Mann, nicht ohne Wohlwollen, wenn es nur irgend damit ging. Eine sonderliche Begeisterung empfand er nicht mehr für seinen Beruf, obwohl der eigentlich seiner Neigung zur Ordnung entsprach. Ob er Chauffeuren vorschriftswidriges Fahren verwies, ob er einen randalierenden Betrunkenen auf die Wache brachte oder ob er eine Prostituierte aus der verbotenen Königstraße wies - er hielt die Stadt Berlin in Ordnung, er sorgte dafür, daß alles auf der Straße seine Richtigkeit hatte. Natürlich konnte öffentliche Ordnung nie den Rang privater Ordnung wie etwa in seiner Wohnung erreichen. Vielleicht war es dies, was ihm die Freude an seinem Beruf vergällte.

Lieber hätte er in einer Schreibstube gesessen, Register geführt, Karteien in Ordnung gehalten. Dort war mit Papier, Feder und womöglich noch mit einer Schreibmaschine etwas zu erreichen, das seinem

Idealbild von der Welt am nächsten entsprach. Aber seine Vorgesetzten wollten ihn nicht von der Straße fortnehmen. Dieser ruhige, besonnene, vielleicht eine Spur langsame Mann war, zumal in dieser schwierigen, wirren Zeit, kaum zu ersetzen.

Während sich Leo Gubalke sein etwas rosiges Fett schrubbt, daß es rot wird, überlegt er wieder einmal, wie er der Sache einen Dreh geben soll, den sie nun einmal scheinbar haben muß, damit sein so oft geäußerter Wunsch auf Versetzung in den Innendienst erfüllt wird. Um diese Versetzung zu erreichen, auch wenn die Vorgesetzten es nicht wollen, gibt es mancherlei Mittel. Zum Beispiel Feigheit - aber Feigheit kommt natürlich nicht in Frage. Oder Aufgeregtheit, die Nerven verlieren - aber Oberwachtmeister Gubalke kann natürlich nicht die Nerven vor allen Leuten auf der Straße verlieren. Man könnte auch zu schneidig werden, jeden Dreck anzeigen, alles auf die Wache schleppen - aber das wäre wieder unkollegial. Oder man müßte einen Fehler begehen, einen groben, dicken Fehler, der die Polizei kompromittiert und über den sich manche Zeitungen so freuen - das würde ihn auf der Straße bestimmt unmöglich machen -, dafür aber ist ihm diese Uniform, ist ihm der Begriff "Polizei", zu der er nun schon so lange gehört, zu lieb.

Der Oberwachtmeister seufzt. Betrachtet man den Fall näher, ist es wirklich erstaunlich, wie sehr die Welt für einen Mann, der auf Ordnung sieht, verstellt ist. Hundert Dinge, die ein weniger Gewissenhafter alltäglich tut, sind für ihn unmöglich. Auf der andern Seite hat man dafür ständig das Gefühl, ohne das man nicht leben möchte, daß man nicht nur die Welt in Ordnung hält, nein, daß man auch mit ihr in Ordnung ist.

Gubalke wischt die Zinkwanne sorgfältig aus, bis auch der letzte Wassertropfen aufgesogen ist, und hängt sie dann auf ihren Haken im Klo. In der Küche wird noch einmal der Boden nachgewischt, obwohl die wenigen Spritzer auch ohnedies in der beängstigenden Schwüle trocknen würden. Nun wird noch umgeschnallt und zum Schluß der Tschako aufgesetzt. Wie immer versucht Leo Gubalke es zuerst vor dem kaum mehr als handgroßen Küchenspiegel, wie immer stellt er fest, daß man hier nicht genau sehen kann, ob der Tschako vorschriftsmäßig sitzt. Also auf den dunklen Flur vor den großen Spiegel. Es ist ärgerlich, das elektrische Licht für einen so kurzen Augenblick einschalten zu müssen(der Stromverbrauch soll im Augenblick des Einschaltens am höchsten sein), aber es hilft nichts.

Nun ist alles fertig, zwanzig Minuten vor vier - eine Minute vor vier wird Oberwachtmeister Leo Gubalke auf dem Revier sein. Er steigt die Treppen hinab, einen weißen Handschuh hat er angezogen, den andern

hält er lose in der Hand - so nähert er sich dem Torweg und dem Mädchen Petra Ledig.

Das Mädchen lehnt wieder mit geschlossenen Augen an der Wand. Als sie eben den Diener Ernst um Schrippen bat, als er fortging, sie zu holen, überfiel sie eine so lebhafte Vorstellung des jetzt ganz nahen Gebäcks ... Sie meinte es zu riechen, es war plötzlich etwas von dem frischen, nahrhaften Geschmack in dem verbrauchten, filzigen Munde eingekehrt - sie mußte schlucken. Dann würgte es sie.

Es wurde wieder schwarz in ihrem Kopf, die Glieder gaben nach, als wäre gar kein Halt mehr in ihnen, die Knie waren weich, und ein ständiges Zittern und Schlagen saß in Armen und Schultern.

"Oh, komm doch! Bitte, komm doch!" Aber sie weiß nicht, wen sie flüsternd, ganz allein in ihrer Hungerhölle, herbeiwünscht - den Diener oder den Geliebten.

Der Oberwachtmeister der Schupo Leo Gubalke hat natürlich stehenbleiben müssen, er sieht sich dies erst einmal an. Er kennt das Mädchen vom Sehen, da sie im gleichen Hause mit ihm wohnt, wenn auch hinten. Etwas Ungünstiges über sie ist ihm von Dienst wegen nicht bekannt. Immerhin wohnt sie bei einer Frau, die gelegentlich auch Prostituierte beherbergt, und lebt, ohne verheiratet zu sein, mit einem jungen Manne, der anscheinend nur spielt. Berufsmäßiger Spieler - wenn man etwas auf die Klatschereien der Frauen geben kann. Alles in allem liegt also weder zu besonderer Strenge noch zur Milde irgendein Grund vor - der Beamte beobachtet und überlegt.

Selbstverständlich hat sie zuviel getrunken - aber sie ist nahe bei ihrer Wohnung und wird die Treppen schon hinaufkommen. Außerdem beginnt sein Dienst erst um vier Uhr. Er braucht nichts gesehen zu haben, was um so eher geht, da dies nicht sein Bezirk ist und da sie ihn noch nicht bemerkt hat. Gubalke will schon fortgehen, da wirft ein neuer, heftiger Würgeanfall ihren Oberkörper nach vorn, Gubalke sieht direkt in den Mantelausschnitt hinein - und sieht fort.

Dies geht nun doch nicht. Dies kann er nicht übersehen, ein ganzes, säuberliches, ordentliches Leben steht dagegen auf. Der Oberwachtmeister geht auf das Mädchen zu, tippt die mit geschlossenen Augen Würgende mit dem behandschuhten Finger auf die Schulter und sagt: "Na - Fräulein?!"

Sein Beruf, der den Polizisten skeptisch gegen alle Mitmenschen macht, läßt auch das Vertrauen auf die eigenen Wahrnehmungen nicht intakt. Bis hierher hatte der Oberwachtmeister Leo Gubalke geglaubt, das Mädchen sei völlig betrunken, und ihr Anzug oder, richtiger, Auszug

konnte diesen Glauben nur bestätigen. Kein Mädchen, das nur ein bißchen auf Ordnung an sich und um sich hielt, ging so auf die Straße.

Aber dieser Blick, der ihn aus den Augen des Mädchens traf, als er ihr die Hand auf die Schulter legte, dieser flammende und doch klare Blick, gequälte Kreatur, doch mißachtend ihre Qual - dieser Blick zerstreute jeden Gedanken an Alkohol. In einem ganz andern Ton fragte er: "Sind Sie krank?"

Sie lehnte an der Wand. Undeutlich nur waren ihr die Uniform, der Tschako, das rosige, volle Gesicht mit dem rötlichblonden strubbligen Bart vor Augen. Undeutlich war ihr, wer sie fragte, wem sie antworten sollte, was sie zur Antwort sagen sollte. Doch versteht vielleicht keiner so gut wie ein ordentlicher Mensch, der alle Tage mit aller Unordnung der Welt zu kämpfen hat, welchen Umfang diese Unordnung annehmen kann. Aus wenigen Fragen, mühsamen Antworten hatte sich Oberwachtmeister Gubalke rasch ein Bild des Sachverhalts aufgebaut, er wußte auch schon, daß nur auf ein paar Schrippen gewartet werden sollte, daß das Mädchen dann vorhatte, um die Ecke zum "Onkel" zu gehen, der ihr bestimmt mit einem Kleid aushelfen würde, daß dann irgendwelche Freunde oder Verwandte des Mannes aufgesucht werden sollten(das Fahrgeld hatte sie in der Hand) - kurz, daß das Ärgernis aller Voraussicht nach in wenigen Minuten beseitigt sein würde ...

All dies erfuhr der Oberwachtmeister, wußte es nun, und schon war er im Begriff zu sagen: Also gut, Fräulein, dies eine Mal will ich es Ihnen noch durchlassen, und zu Wache und Dienst zu gehen, als ihn peinlich der Gedanke anfiel, wann er denn eigentlich auf der Wache eintreffen würde -? Ein Blick auf seine Armbanduhr belehrte ihn, daß es drei Minuten vor vier Uhr war. Vor vier Uhr fünfzehn würde er unter keinen Umständen auf der Wache sein können. Fünfzehn Minuten Dienst versäumt - und mit welcher Entschuldigung -?! Daß er mit einem recht unsittlich bekleideten Frauenzimmer diese Viertelstunde verplaudert hatte, ohne zu einer Diensthandlung zu schreiten! Unmöglich - jeder würde denken: Der Gubalke hat einfach verpennt!

"Unmöglich, Fräulein", sagte er dienstlich. "Ich kann Sie unmöglich so auf die Straße lassen. Erst einmal müssen Sie mit mir mitkommen."

Sanft und doch fest legte er ihr die behandschuhte Hand auf den Oberarm, sie sanft, aber doch fest haltend, ging er mit ihr auf die Straße, auf die er sie unmöglich lassen konnte.(Ordnung bringt oft so Widersinniges mit sich.)

"Ihnen passiert gar nichts, Fräulein", sagte er tröstend. "Sie haben ja nichts ausgefressen. Aber ließe ich Sie so auf die Straße, könnte es

Erregung öffentlichen Ärgernisses und Schlimmeres werden, und dann hätten Sie was ausgefressen."

Das Mädchen geht willig neben ihm her. Der Mann, der sie so nicht ohne Sorgsamkeit führt, hat nichts an sich, was einen unruhig machen könnte, obwohl er eine Uniform trägt. Petra Ledig, die sich, gar nicht lange her, noch unsinnig vor jedem Polizisten geängstigt hat, damals, als sie noch unerlaubt ein wenig auf die Straße ging, Petra merkt, daß Polizisten in der Nähe nichts Beängstigendes zu haben brauchen, sie haben sogar etwas Väterliches.

"Auf der Wache sind wir zwar nicht darauf eingerichtet", sagt er grade, "aber ich werde schon sehen, daß Sie gleich was zu essen kriegen. Die auf der Meldeabteilung haben meist nicht soviel Hunger, da werde ich schon ein Butterbrot fassen". Er lacht. "So ein fremdes Butterbrot, ein bißchen angetrocknet und in zerknittertem Stullenpapier, ist grade was Schönes. Wenn ich meinen Gören mal so was mitbringe, sind sie immer ganz wild darauf. Hasenbrot nennen sie das. Sagen Sie auch so dafür?"

"Ja", sagt Petra. "Und wenn Herr Pagel mir mal ein Hasenbrot mitbrachte, habe ich mich auch immer gefreut."

Bei der Erwähnung des Herrn Pagel macht der Oberwachtmeister Leo Gubalke sein dienstlichstes Gesicht. Trotzdem Männer einander immer beistehen müssen, und zumal gegen die Weiber, ist er gar nicht einverstanden mit diesem jungen Herrn, der noch dazu ein Spieler sein soll. Dem jungen Mädchen wird er nichts davon sagen, aber er hat doch vor, sich die Lebensführung dieses Herrchens etwas näher anzusehen. Sehr anständig hat sich dieser Herr Pagel kaum benommen, und es ist nur gut, so ein Luftikus merkt mal, man sieht ihm auf die Finger.

Der Oberwachtmeister ist verstummt, er schreitet schneller aus. Das Mädchen geht willig mit, es ist nur gut, wenn sie rasch aus dieser Anglotzerei fortkommt. So entschwinden die beiden, gegen die Wache hin - und umsonst kommt der Diener Ernst mit seinen Schrippen, umsonst wird das Mädchen Minna der Frau Gesandtschaftsattaché Pagel sich nach ihr erkundigen, umsonst fährt in Dahlem der üppige Maybach los, in dem eine Dame mit einem blinden Kinde sitzt.

Umsonst auch zerstreitet sich um diese Zeit Wolfgang Pagel endgültig mit seiner Mutter.

Petra Ledig ist fürs erste einmal aller zivilen Einwirkung entzogen.

2

Wolfgang Pagel ist Schritt für Schritt, ohne sonderliche Hast, aber auch ohne einmal anzuhalten, den weiten Weg von den Villen der Reichen in Dahlem über die durchwimmelten Straßen Schönebergs bis in den alten Berliner Westen gegangen. Er kam durch viele Straßen, in denen außer ihm kaum ein Mensch ging, durch leere, verlassene, wie von der Sonne kahlgebrannte Straßen. Und wieder ging er andere Wege, die vom Verkehr durchbraust waren, wimmelte mit den Wimmelnden, trieb ziellos zwischen den Zielstrebenden.

Über ihm hing der Dunst aus Schwüle und Atem der Stadt. Als Pagel zwischen den Baumalleen Dahlems ging, warf er noch einen klaren, scharfen Schatten. Je tiefer er sich aber in der Stadt verlor, um so mehr verblaßte der Schatten, grau verschmolz er mit dem Grau der Granitplatten auf dem Gehsteig. Nicht allein die Mitwimmelnden löschten ihn aus, nicht nur die immer steiler und enger über ihm ragenden Hauswände, nein, der Dunst wurde dichter, die Sonne blasser. Die Hitze, die sie ständig in die überhitzte Stadt schleuderte, löschte sie aus.

Noch war nichts von Wolken zu sehen. Vielleicht lauerten sie schon hinter den Häuserreihen, geduckt längs dem verborgenen Horizont, bereit, hochzusteigen, sich mit Feuer, Donner und strömender Nässe zu ergießen, vergeblicher Einbruch der Natur in eine künstliche Welt.

Wolfgang Pagel geht darum nicht schneller. Zuerst ist er ohne bestimmtes Ziel losgegangen, nur aus dem Gefühl heraus, daß er in jener Herrschaftsküche nicht mehr sitzen dürfe. Dann, als ihm plötzlich das Ziel seines Marsches klar war, ging er darum nicht schneller. Er ist immer ein gemächlicher Mensch gewesen, mit Wissen und Bewußtsein war er langsam, gerne machte er eine Handbewegung, ehe er auf eine Frage Bescheid gab: das schob die Antwort ein wenig hinaus.

Auch jetzt geht er langsam; er schiebt die Entscheidung ein wenig hinaus! In der Küche, beim Gespräch mit dem blinden Kinde hatte er noch gemeint, die Sorge um Petra anderen Menschen überlassen zu müssen. Er hatte nämlich gedacht, er könne Petra nicht helfen. Hilfe für ein Mädchen ohne Kleider, ohne Essen, mit Schulden konnte nur Geld heißen, er aber hatte kein Geld. Dann aber war ihm eingefallen, daß er doch Geld hatte oder, wenn auch nicht Geld, so doch etwas, das ebensoviel wert war wie Geld. Um es genau zu sagen, hatte von Zecke ihn auf den Gedanken gebracht: er besaß ein Bild. Dieses Bild, Junge Frau am Fenster, gehörte unbestreitbar ihm. Er erinnerte sich wohl, wie seine Mutter, als er ins Feld ging, gesagt hatte: "Dieses Bild gehört jetzt dir, Wolf. Denke im Felde immer daran: Vaters schönstes Bild wartet hier

auf dich."

Er fand es nicht sehr schön, aber es würde seinen Marktpreis haben. Zecke würde er den Gefallen nicht tun, aber es gab Kunsthändler genug, die einen Pagel gerne nahmen. Wolfgang entschied sich für einen großen Kunsthändler in der Bellevuestraße. Dort würde man es bestimmt verschmähen, ihn zu übervorteilen, ein Pagel war auch ohne Übervorteilung ein Geschäft.

Es würde zahlenmäßig eine unerhört große Summe dafür geben, Hunderte von Millionen vermutlich(eine Milliarde?!), aber er würde nichts von dem Geld anrühren, nicht ein Schein sollte gewechselt werden! Sogar zu Fuß würde er in die Georgenkirchstraße gehen - ist man von Dahlem in die Stadt zu Fuß gegangen, kann dieses letzte Stückchen Weg auch nichts bedeuten. Nein, kein Schein würde gewechselt - mit der ganzen ungeheuren Summe wird er die Wartende überwältigen!

Pagel geht dahin durch die glühende Stadt Berlin, ohne Eile und ohne anzuhalten. Er denkt seine Pläne viele Male durch, es gibt mancherlei dabei zu erwägen. Aber am besten gefällt ihm doch der Augenblick, wenn er ihr eine Unsumme, Scheine über Scheine, auf den Tisch legt, besser noch: auf die im Bett Liegende herabregnen läßt, daß sie ganz im Gelde verschwindet, in der Dreckhöhle mit Geld zugedeckt wird. Diesen Augenblick hat er oft geträumt. Früher hatte er gemeint, es würde der Spielgewinn sein. Nun wird es anderes Geld sein, aus dem Verkauf eines väterlichen Bildes. Erspieltes, den drei Raubvögeln gewissermaßen entrissenes Geld - das wäre freilich noch schöner gewesen. Nun, der Gedanke ist endgültig vorbei, "daran" wird nicht mehr gedacht!

So geht er dahin, Wolfgang Pagel, Fahnenjunker a. D., Spieler a. D., Liebhaber a. D.. Er hat wieder mal nichts getan, er geht nur, geht von hier nach dort, von dort nach hier. Vormittags ist er noch gefahren, auch da hatte er Pläne, aber erst diese jetzt sind die richtigen. Er hat die vorzüglichsten Absichten, er geht ohne Hast. Er ist behutsam, im Gleichgewicht mit sich, völlig zufrieden mit sich. Er wird ein Bild verkaufen, zu Geld machen, das Geld wird er dem Peter bringen - großartig! Nicht einen Augenblick kommt ihm der Gedanke, daß seinem Peter vielleicht gar nichts an dem Gelde liegen könnte. Er bringt ihr Geld, viel Geld, mehr Geld, als sie je in ihrem Leben besessen hat - kann man mehr für sein Mädchen tun?! Die Welt jagt, der Dollar steigt, das Mädchen hungert - er geht gemächlich, denn was er tun wird, ist so gut wie getan. Er hat keine Eile, es hat alles seine Zeit, wir sind noch immer zurechtgekommen!

Und nun biegt er in die Tannenstraße ein, die nur eine Sackgasse ist. Er

geht die paar Schritte, schließt die Haustür auf und steigt die alte Treppe zur Wohnung der Mutter empor. Das alte Porzellanschild mit dem Gesandtschaftsattaché an der Tür, älter als er selbst, mit der abgeschlagenen Ecke, die er einmal, endlos lange her, mit seinem Schlittschuh abschlug. Der alte Geruch auf dem Flur mit seinen dunklen Truhen, eichenen Schränken, der alten, launischen Standuhr und den eiligen, großen Skizzen des Vaters hoch an den Wänden, die hell wie Wolken über der dunklen Welt zu schweben schienen.

Aber neu sind die beiden großen festlichen Asternsträuße auf dem altmodischen Spiegeltisch, und als Wolfgang sie ansieht, findet er einen Zettel der Mutter zwischen den beiden chinablauen Vasen. "Guten Tag, Wolf!" liest er. "Kaffee steht in Deinem Zimmer. Mach es Dir gemütlich, ich mußte nur schnell noch einmal fort."

Einen Augenblick steht er unschlüssig vor diesem Gruß. Er weiß aus Minnas Berichten, daß die Mutter ihn jeden Tag, jede Stunde erwartet - aber dies ist ihm doch zuviel. Er hat sich dieses Warten anders gedacht, nicht so zielbewußt, mehr beiläufig. Ihm kommt der Gedanke, den Kaffee im eigenen Zimmer ungetrunken zu lassen, das Bild zu holen und zu gehen. Aber das mag er auch wieder nicht, wie ein Dieb in der Nacht - nein! Er zuckt die Achseln, der Blasse ihm gegenüber im grünlichen Spiegel tut es auch, und lächelt sich fast verlegen zu. Dann knüllt er den Zettel zusammen und steckt ihn in die Tasche. Nun errät die Mutter aus dem Fehlen des Zettels: er ist da - und sucht ihn. Je eher, je besser.

Er geht auf sein Zimmer.

Auch dort sind Blumen, diesmal Gladiolen. Er erinnert sich dunkel, einmal der Mutter gesagt zu haben, er möge Gladiolen gerne. Natürlich hat sie das behalten und ihm welche hingestellt, jetzt soll er sie abermals gerne mögen. Aber auch fühlen: wie liebt dich deine Mutter, daß sie an all dies denkt -!

Jawohl, darin war sie groß: sie rechnete in der Liebe: Tue ich das, hat er so zu fühlen. Er dachte gar nicht daran, die Gladiolen waren nicht schön! Sie waren steif und künstlich mit ihren dünnen Farben - bepinseltes Wachs! Peter würde nie in der Liebe rechnen -!

Warum denke ich nur plötzlich so gereizt an Mama? überlegte er, während er sich den wirklich noch heißen Kaffee eingoß.(Sie mußte ihn eben erst hingestellt haben. Ein Wunder, daß sie sich auf Treppe oder Straße nicht begegnet waren!) Ich bin direkt wütend auf sie. Ob es das Haus ist, der alte Geruch, all die Erinnerungen -? Ich weiß ja erst richtig, seit ich mit Peter hause, wie sie mich immer gegängelt und bevormundet hat ... Alles, was sie wollte, war gut; jeder Freund, den ich

mir aussuchte, taugte nichts. Und nun dieser aufdringliche Empfang ... Jawohl, ich habe es längst gesehen: dort auf dem Schreibtisch liegt schon wieder ein Zettel. Und über dem Stuhl hängen der frisch gebügelte Zivilanzug und die Wäsche. Ein seidenes Oberhemd, in das sie natürlich auch schon die Knöpfe gesteckt hat ...

Er macht sich seine dritte Schrippe zurecht, es schmeckt ausgezeichnet. Der Kaffee ist stark und milde zugleich, sein voller Geschmack erfüllt sanft die ganze Mundhöhle. Etwas anderes als das flaue und doch krätzige Gebräu der Pottmadamm.(Ob Peter jetzt auch Kaffee trinkt? Hat sie natürlich längst hinter sich! Vielleicht Nachmittagskaffee!)

Während Wolfgang Pagel sich behaglich auf die Chaiselongue streckt, versucht er zu erraten, was da auf dem Zettel stehen könnte. Natürlich irgend etwas wie: Den Schlips mußt Du Dir selbst aussuchen, sie hängen an der Innenseite der Schranktür. Oder: Badewasser ist heiß.

Natürlich, so etwas wird draufstehen, und wie er nun doch nachsieht, liest er, daß der Badeofen geheizt ist. Ärgerlich schiebt er den einen zerknüllten Zettel zum andern. Daß er die Mutter so gut erraten hat, freut ihn nicht, es macht ihn nur noch ärgerlicher.

Natürlich, denkt er, kann ich sie so gut erraten, weil ich sie so gut kenne. Besitzergreifung, Bevormundung. Immer, wenn ich aus der Schule kam, mußte ich sofort die Hände waschen und einen frischen Kragen umbinden. Ich war ja mit den "andern" zusammen gewesen - wir aber waren anders, besser! Es ist eine glatte Frechheit gegen mich, aber vor allem gegen Peter, die sich die Mama da wieder mal ausgedacht hat! Diesmal genügt ihr Umziehen nicht, ich muß auch noch baden! Ich bin ja mit so einer zusammen gewesen, der Mama glatt eine Schelle gehauen hat! Frechheit - dies lasse ich mir aber nun doch nicht gefallen!

Er starrt wütend sein Jugendzimmer an mit dem gelbbirkenen Schreibtischchen, den birkenen Bücherregalen, vor denen halb ein dunkelgrüner seidener Vorhang hängt. Das birkene Bett schimmert wie Silber und Gold. Licht, Freude - es stehen ja auch Bäume vor dem Fenster, alte Bäume. Alles ist so aufgeräumt, so sauber, so frisch - wenn man an die Thumannsche Höhle denkt, entdeckt man sofort, warum dies alles so adrett und parat gehalten wird. Der Herr Sohn soll vergleichen: so hast du es bei diesem Mädchen, hier aber sorgt für dich deine treu liebende Mutter! Glatte Frechheit und Herausforderung!

Halt! sagt er wieder und versucht, sich zu bremsen. Halt! Du läufst mit dir selber fort. Die Pferde gehen dir durch. Manches stimmt, Blumen und Zettel sind ekelhaft, aber das Zimmer hat nie anders ausgesehen.

Warum bin ich also so wütend? Weil ich daran denken mußte, daß Mama den Peter geohrfeigt hat? I wo, so was muß man bei Mama nicht tragisch nehmen, und Peter hat es auch nicht einen Augenblick tragisch genommen. Es muß etwas anderes sein ...

Er tritt ans Fenster. Ferner stehen die Nachbarhäuser, man sieht hier den Himmel. Und wirklich, hoch am Horizont aufgehäuft, liegen schwarze, geduckte Wolken. Das Licht ist fahl, kein Wind rührt sich, kein Blatt bewegt sich am Baum. Auf dem Mansardendach drüben sieht er ein paar Spatzen sitzen, die streitlustigen Gesellen hocken aufgeplustert, regungslos dort, auch sie schon geduckt unter der nahen Drohung des Himmels.

Ich muß schnell sehen, daß ich weiterkomme, denkt er. Mit dem Bild unter dem Arm durch ein Gewitter zu laufen wäre nicht angenehm ...

Und plötzlich weiß er es. Er sieht sich mit dem Bild, das in irgendein schon benutztes Packpapier geschlagen ist, durch die Straßen zu dem Kunsthändler laufen. Nicht einmal eine Taxe kann er sich leisten. Ein Millionen-, vielleicht ein Milliardenobjekt, aber unter den Arm geklemmt, wie ein Dieb! Heimlich, wie ein Säufer seiner Frau die Betten heimlich aus dem Hause trägt zum "Onkel".

Aber es ist mein Eigentum, wendet er sich ein. Ich brauche mich nicht zu schämen!

Ich schäme mich doch, sagt er. Es ist nicht recht.

Wieso ist es nicht recht? Sie hat es mir geschenkt!

Du weißt genau, wie sehr sie an diesem Bild hängt. Darum hat sie es dir ja geschenkt, sie wollte dich noch fester an sich binden. Du wirst sie tödlich verletzen, nimmst du es ihr fort.

Dann mußte sie es mir eben nicht schenken. Nun kann ich damit tun, was ich will.

Es ist dir schon öfter schlecht gegangen. Du hast schon öfter an diesen Verkauf gedacht und hast es doch nie getan.

Weil es uns noch nie so schlecht ging. Jetzt ist es eben soweit.

So, ist es das? Wie finden denn andere heraus, die so etwas nicht in Reserve haben?

Andere hätten es nicht soweit kommen lassen. Andere hätten nicht alles gleichgültig treiben lassen, bis es ganz schlecht ging. Andere hätten nicht als letzten Ausweg die Mutter verletzt, um der Geliebten Brot zu geben. Andere hätten nicht bedenkenlos gespielt - bedenkenlos, weil das Bild als Reserve da war. Andere hätten sich beizeiten nach Arbeit umgesehen und hätten Geld verdient. Andere wären nicht

gleichgültig versetzen, pumpen und betteln gegangen. Andere hätten nicht von einem Mädchen nur genommen und genommen, ohne sich je den Gedanken zu machen: Was gibst du?

Der Himmel ist jetzt höher hinauf schwarz. Vielleicht wetterleuchtet es da hinten bereits, man sieht es nicht durch den Dunst. Vielleicht grummelt auch schon ferne der Donner, aber man hört ihn nicht. Es donnert, zischt und schreit noch lauter die Stadt.

Du bist feige, sagt es. Arm bist du, vertrocknet mit dreiundzwanzig Jahren. Es war alles da für dich, Liebe und sanfte Sorge, du aber liefest davon. Gewiß, gewiß, du bist jung. Jugend ist ruhelos, Jugend fürchtet sich vor dem Glück, sie will das Glück gar nicht. Denn Glück heißt Ruhe, und Jugend ist ruhelos. Aber wohin bist du gelaufen? Bist du denn zu der Jugend gelaufen? Nein, grade dorthin, wo die Alten sitzen, die den Stachel des Fleisches nicht mehr spüren, die keinen Hunger mehr haben ... in die schwelende, trockene Sandwüste der künstlichen Leidenschaften liefest du - schwelend, trocken, künstlich - unjung!

Feige bist du! Jetzt sollst du dich einmal entscheiden. Schon stehst du und zauderst. Du willst die Mutter nicht verletzen und doch dem Peter helfen. Ach, am liebsten wäre es dir, wenn dich die Mutter bitten würde, inständig, mit aufgehobenen Händen bitten würde, doch ja das Bild zu verkaufen. Aber sie wird das nicht tun, sie wird dir die Entscheidung nicht abnehmen, du selbst bist der Mann! Es gibt kein Mittelding, keinen Ausweg, keinen Kompromiß, kein Kneifen. Du hast es zu lange treiben lassen - nun entscheide - eine oder die andere!

Die Wolke steigt höher und höher. Wolfgang Pagel steht noch immer entschlußlos am Fenster. Er ist gut anzusehen, mit schmalen Hüften und breiten Schultern, eine Kämpferfigur. Aber er ist kein Kämpfer. Er hat ein offenes Gesicht, mit einer guten Stirn, einer kräftigen, graden Nase - aber er ist nicht offen, er ist nicht grade. In ihm kommen und gehen viele Gedanken, alle sind sie unangenehm, peinigend. Alle verlangen sie etwas von ihm, er ist böse, daß er solche Gedanken denken muß.

Andere haben es besser, denkt er. Die tun, was ihnen paßt, und machen sich keine Gedanken. Bei mir ist alles schwierig. Ich muß es mir noch einmal überlegen. Gibt es denn keinen Ausweg - Mutter oder Peter?

Eine Weile hält er sich stand, er gibt sich Mühe, will dieses Mal der Verantwortung nicht ausweichen. Aber allmählich, wie er keinen Ausweg findet, wie alles immer wieder die Entscheidung von ihm fordert, wird er müde. Er brennt sich eine Zigarette an, er trinkt noch einen Schluck Kaffee. Er öffnet leise die Zimmertür und lauscht in die Wohnung. Es ist alles still, Mutter ist noch nicht zurück.

Er hat blondes, gekräuseltes Haar, sein Kinn ist nicht sehr stark - er ist weich, er ist schlaff. Er lächelt, er hat seinen Entschluß gefaßt. Wieder einmal ist er der Entscheidung ausgewichen. Er wird die Abwesenheit der Mutter benutzen und ohne Auseinandersetzung mit dem Bilde gehen. Er lächelt, plötzlich ist er völlig zufrieden mit sich, die quälenden Gedanken sind fort.

Er geht schnurstracks über den Flur, auf Vaters Zimmer zu. Er hat keine Zeit zu verlieren, das Gewitter ist am Losbrechen, Mama kann jeden Augenblick zurückkommen.

Er öffnet die Tür zu seines Vaters Zimmer, und da, grade vor ihm, in dem großen Lehnstuhl, sitzt schwarz, steif, aufrecht die Mama -!

"Guten Tag, Wolfgang!" sagt sie. "Ich freue mich!"

3

Er freut sich gar nicht. Im Gegenteil: er kommt sich wie ein erwischter Hausdieb vor.

"Ich dachte, du machtest Besorgungen, Mama", sagt er verlegen und gibt ihr schlaff die Hand, die sie energisch und mit Bedeutung drückt.

Sie lächelt. "Ich wollte dir Zeit lassen, dich wieder zu Haus zu fühlen, wollte dich nicht gleich überfallen. Nun, setze dich, Wolfgang, steh nicht so unentschlossen herum ... Du hast doch jetzt nichts vor, bist nicht auf Besuch hier, bist zu Hause ..."

Gehorsam setzt er sich, sofort wieder Sohn, unter mütterlichem Befehl und Vormundschaft. "Doch auf Besuch! Bloß auf einen Sprung", murmelt er wohl, aber das überhört sie, ob willentlich oder wirklich, wird er später erfahren.

"Der Kaffee war noch heiß, ja? Gut. Ich hatte ihn eben gebrüht, als du kamst. Gebadet und umgezogen hast du dich noch nicht? Nun, das hat Zeit. Ich verstehe, du wolltest erst einmal unser Heim ansehen. Es ist eben doch deine Welt. Unsere", setzt sie abschwächend hinzu, denn sie beobachtet sein Gesicht.

"Mama", fängt er an, denn diese Betonung der Welt hier, die Unterstellung, die Thumannsche Höhle sei Petras Welt, ärgern ihn. "Mama, du irrst dich sehr ..."

Aber sie unterbricht ihn. "Wolfgang", sagt sie in einem andern, viel wärmeren Ton, "Wolfgang, du brauchst mir nichts zu erzählen, gar nichts zu erklären. Vieles weiß ich, alles brauche ich nicht zu wissen. Um aber von Anfang an nichts unklar zu lassen, möchte ich dir für dieses eine Mal

erklären, daß ich mich nicht ganz richtig gegen deine Freundin benommen habe. Ich bedaure vieles, was ich gesagt habe, mehr noch eines, was ich getan habe. Du verstehst mich. Genügt dir das, Wolfgang? Komm, gib mir deine Hand, Junge!"

Wolfgang sieht seiner Mutter prüfend ins Gesicht. Er will es erst nicht glauben, aber es ist kein Zweifel, er kennt doch seine Mutter, kennt ihr Gesicht, sie meint es aufrichtig. Sie bedauert, sie bereut. Sie hat ihren Frieden mit ihm und mit Peter gemacht - sie ist also versöhnt, weiß der Himmel, wie das zustande gekommen ist. Vielleicht hat die Wartezeit sie weich gemacht.

Fast ist es nicht zu glauben. Er hält ihre Hand, er will nun auch nicht mehr Verstecken spielen, er sagt: "Mama, das ist sehr nett von dir. Aber sicher weißt du noch nicht, wir wollten heute heiraten. Es ist nur ..."

Sie unterbricht ihn schon wieder - welche Bereitschaft, welches Entgegenkommen, sie macht ihm alles leicht! "Es ist gut, Wolfgang. Es ist ja nun alles erledigt. Ich freue mich so, daß du wieder hier sitzt ..."

Ein Gefühl ungeheurer Erleichterung überkommt ihn. Eben noch stand er am Fenster seines Zimmers, von Zweifeln gequält, wen er verletzen sollte: Mutter oder Petra. Es schien keinen Ausweg zu geben, nur diese zwei Möglichkeiten. Und schon hatte sich alles gewandelt: die Mutter hatte ihren Fehler eingesehen, der Weg in dieses geordnete Heim stand ihnen beiden offen.

Er ist aufgestanden, er sieht auf den weißen, feinfädigen Scheitel der Mutter hinunter, ein Haar liegt wie das andere, sauber, klar. Plötzlich faßt ihn etwas wie Rührung. Er schluckt, er möchte etwas sagen, fast ruft er: "Ich wollte, das Leben wäre ein bißchen anders! Nein, ich wollte, ich wäre anders, dann hätte ich es anders geführt!"

Die alte Frau sitzt mit einem hölzernen, steifen Gesicht am Tisch. Sie sieht ihren Sohn nicht an, aber sie klopft scharf mit ihren Knöcheln auf den Tisch. Es klingt hölzern.

"Ach, Wolfgang", sagt sie. "Bitte, sei kein Kind. Wenn du zu Ostern sitzengeblieben warst, riefest du auch immer: ›Ich wollte ...‹ Und wenn deine Lokomotive kaputt war, bereutest du es auch, hinterher, wie du mit ihr umgegangen warst. Aber das ist nutzlos, und du bist kein Kind mehr. Reue rückwärts hilft gar nichts - Junge, lerne doch endlich: es geht weiter, immer weiter. Vergangenes kann man nicht ändern - aber sich kann man ändern - für die Zukunft!"

"Ja, gewiß, Mama", sagt er brav. "Ich wollte ja auch nur ..."

Aber er spricht nicht weiter. Draußen hat es geschlossen, eilig,

übereilig. Nun kommen schnelle Schritte über den Gang ...

"Es ist bloß Minna", sagt die Mama erklärend zu ihm.

Die Tür geht ohne Anklopfen auf, sie fliegt auf, in ihr steht die ältliche Minna, gelblich, grau, trocken.

"Danke schön, Minna", sagt Frau Pagel rasch, denn sie wünscht im Augenblick keinerlei Botschaft aus der Georgenkirchstraße; sie hat alles, was sie dort interessierte, jetzt hier. "Danke schön, Minna", sagt sie darum möglichst streng. "Machen Sie bitte sofort das Abendessen zurecht."

Aber Minna ist dieses Mal nicht der gehorsame Dienstbote, sie steht mit bösen, argwöhnischen Augen in der Tür, ihre gelbgrauen faltigen Backen tragen rote Flecken. Sie beachtet die gnädige Frau gar nicht, böse starrt sie den sonst so geliebten jungen Herrn an.

"Pfui!" sagt sie dann atemlos. "Pfui, Wolfgang, hier sitzt du also ..."

"Sind Sie rein verdreht, Minna?!" ruft Frau Pagel empört, denn so etwas hat sie mit ihrer Minna in zwanzig Jahren Zusammensein doch noch nicht erlebt. "Sie stören! Gehen Sie jetzt ..."

Aber sie wird gar nicht gehört. Wolfgang hat sofort begriffen, daß "dort" etwas geschehen ist, eine Ahnung überkommt ihn, er sieht Peter vor sich, wie sie zu ihm gesagt hatte: "Mach's gut, Wolf", und er ging mit dem Handkoffer zum Onkel. Sie gab ihm noch einen Kuß ...

Er faßt Minna an den Schultern. "Minna, warst du dort? Was ist los? Sag schnell ..."

"Du sagst kein Wort, Minna!" ruft Frau Pagel. "Oder du bist auf der Stelle entlassen!"

"Mich brauchen Sie nicht zu entlassen, gnädige Frau", sagt Minna, plötzlich äußerlich ganz ruhig. "Ich geh auch so. Denken Sie, ich bleib hier, wo die Mutter den Sohn zu Schlechtigkeiten überredet und der Sohn tut's. Ach, Wolfi, daß du das getan hast! Daß du so gemein sein konntest!"

"Minna, was fällt Ihnen denn ein?! Was erlauben Sie sich, Sie ..."

"Sagen Sie nur ruhig wieder Frauenzimmer oder Gans zu mir, ich bin's ja gewöhnt, gnädige Frau. Nur hab ich immer gedacht, Sie sagen's bloß aus Spaß. Aber jetzt weiß ich, Sie meinen's wirklich, daß wir was anderes sind, ich so eine aus der Küche und Sie eine feine Dame ..."

"Minna!" ruft Wolfgang und schüttelt das alte, völlig außer Rand und Band geratene Mädchen kräftig. "Minna, sag doch endlich, was ist mit Peter geschehen? Ist sie ...?"

"So? Kümmert's dich wirklich noch, Wolfi? Wo du ihr weggelaufen bist, grade am Trautag, und hast ihr alle Sachen vom Leibe weg verkauft, und sie hat nichts mehr gehabt als den alten verschossenen Sommerpaletot - den vom gnädigen Herrn noch, gnädige Frau! -, kein Stück drunter, keine Strümpfe, nichts ... Und so hat sie die Polizei mitgenommen. Aber was das Schlimmste gewesen ist und was ich dir nie und nie verzeihe, Wolfi, völlig verhungert war sie! Immerzu hat sie gewürgt, und auf der Treppe ist sie fast hingeschlagen ..."

"Aber wieso denn die Polizei?" schreit Wolfgang verzweifelt und schüttelt die Minna, so stark er kann. "Was hat denn die Polizei damit zu tun -?!"

"Weiß ich denn das?!" schreit Minna dagegen und versucht, sich von dem jungen Herrn loszureißen, der sie unwillkürlich immer fester hält. "Weiß ich denn, in was du sie reingerissen hast, Wolfi -?! Denn die Petra hat von sich aus bestimmt nichts Schlimmes getan, dafür kenne ich sie viel zu gut. Und die gemeine Person, die da noch mit auf der Etage wohnt, hat ja extra gesagt, der Petra geschieht es ganz recht, weil sie sich viel zu fein vorkommt, auf den Strich zu gehen. Der habe ich aber eine gelangt -!" Die Minna steht einen Augenblick triumphierend da, aber gleich sagt sie wieder, sehr verdrossen: "Gott segne sie, daß sie es nicht getan hat, trotzdem du und all ihr Mannskerle es sicher nicht um sie verdient habt."

Wolfgang läßt Minna so plötzlich los, daß sie fast fällt. Und sofort verstummt sie.

"Mama", sagt er aufgeregt. "Mama, ich habe wirklich keine Ahnung, was da passiert sein kann. Ich kann es mir auch gar nicht denken. Ich bin gegen Mittag fortgegangen, wollte etwas Geld beschaffen. Es ist richtig, daß ich Petras Sachen verkauft habe, wir hatten auch Schulden bei der Wirtin. Und vielleicht hat sie in letzter Zeit wirklich sehr wenig gegessen, ich muß gestehen, ich habe nicht recht darauf geachtet. Ich war viel weg - von dort. Was aber die Polizei mit alldem zu tun hat ..."

Er hat immer leiser gesprochen. Es wäre viel leichter gewesen, Minna dies alles zu erzählen als der Mama, die so hölzern, so hart dasitzt, grade unter jenem bewußten Bild übrigens - nun, vorbei, das ist erledigt, nicht mehr nötig.

"Nun, was da auch mit der Polizei los ist, ich bringe das sofort in Ordnung. Es ist ganz sicher, Mama, daß nichts Wirkliches vorliegen kann - wir haben nichts getan, nein. Ich gehe sofort hin. Es muß ein Irrtum sein. Nur, Mama "... Es wird immer schwerer, zu der dunklen Frau zu reden, die ganz unbewegt dasitzt, fern, fremd, völlig abweisend ... "Nur,

Mama, ist es leider so, daß ich im Augenblick ganz ohne Geld bin. Ich brauche etwas Fahrgeld, vielleicht muß ich auch die Schulden bei der Wirtin sofort bezahlen; eine Kaution, was weiß ich, Sachen für Petra, Essen ..."

Er starrt eindringlich seine Mutter an. Er hat es so eilig, sie muß doch frei werden, er muß doch fort - warum geht sie nicht schon an ihren Schreibschrank und holt das Geld?!

"Du bist jetzt aufgeregt, Wolfgang", sagt Frau Pagel, "aber darum wollen wir doch nicht planlos handeln. Ich bin mit dir vollkommen einig, daß sofort etwas für das Mädchen geschehen muß. Aber ich glaube nicht, daß du, zumal in deinem jetzigen Zustand, der geeignete Mann dafür bist. Vielleicht gibt es langwierige Auseinandersetzungen mit der Polizei - du bist etwas unbeherrscht, Wolfgang. Ich denke, wir rufen sofort Justizrat Thomas an. Er weiß mit solchen Sachen Bescheid, er erledigt das viel rascher und reibungsloser als du."

Wolfgang hat seiner Mutter so gespannt auf den Mund gesehen, als müsse er jedes Wort nicht nur hören, sondern auch von ihren Lippen ablesen. Nun fährt er mit der Hand über sein Gesicht. Er hat da ein trockenes Gefühl, die Haut müßte eigentlich rascheln. Aber die Hand ist feucht geworden.

"Mama!" bittet er. "Es ist doch unmöglich, daß ich diese Sache durch deinen Justizrat erledigen lasse und unterdes hier ruhig sitze, bade und Abendbrot esse. Ich bitte dich, mir dieses einzige Mal so zu helfen, wie ich es möchte. Ich muß dies allein erledigen, allein Peter helfen, sie allein herausholen, selbst mit ihr sprechen ..."

"Das habe ich mir gedacht", sagt Frau Pagel und klopft wieder einmal hart mit den Knöcheln auf den Tisch, daß es hölzern klingt. Dann, ruhiger: "Ich muß dich leider erinnern, Wolfgang, daß du mich schon hundertmal in deinem Leben gebeten hast, dir in dieser einzigen Sache einmal deinen Willen zu tun. Tat ich es, war es immer verkehrt ..."

"Mama, du kannst doch diesen Fall nicht mit irgendeiner kindischen Kleinigkeit vergleichen!"

"Lieber Junge, wenn du etwas wolltest, war immer alles andere für dich eine Kleinigkeit. Und diesmal gebe ich schon darum keinesfalls nach, weil diese Bemühungen und Verhandlungen dich wieder mit dem Mädchen zusammenbringen würden. Sei froh, daß du von ihr los bist, fange nicht wieder mit ihr an, wegen irgendeines Irrtums der Polizei und irgendwelchen albernen Treppengeschwätzes". Ein scharfer Blick wurde zu Minna geschossen, die, gelb und trocken, bewegungslos unter der Tür steht - auf ihrem gewohnten Platz. "Du hast dich heute endgültig von ihr

gelöst, du hast auf diese lächerliche Heirat verzichtet. Du warst zu mir zurückgekommen, und ich habe dich ohne eine Frage, ohne einen Vorwurf aufgenommen. Und nun soll ich es mit ansehen, ja, ich soll es dir ermöglichen, wieder mit dem Mädchen zusammenzukommen? Nein, Wolfgang, keinesfalls!"

Sie sitzt grade und hager da. Sie sieht ihn mit flammenden Augen an. In ihr gibt es keine Ahnung eines Zweifels, ihr Entschluß ist eisern. War sie je einmal leicht und beschwingt gewesen? Hatte sie je einmal gelacht, je einmal Liebe zu einem Mann empfunden? Dahin! Dahin! Der Vater hat ihren Rat verachtet, aber das hat sie nicht beirrt, sie ist ihren Weg doch weitergegangen - soll sie sich jetzt etwa dem Sohne fügen? Etwas tun, was sie nicht für richtig hält? Nie!

Wolfgang sieht sie an. Auch er hat jetzt, genau wie die Mutter übrigens, den Unterkiefer ein wenig vorgeschoben, seine Augen schimmern, er fragt ganz sachte: "Wie war das eben, Mama? Ich habe mich heute endgültig von Peter gelöst?"

Sie macht eine unwirsche Geste. "Reden wir nicht davon. Ich verlange keine Erklärungen. Du bist hier, das genügt mir."

Und er, fast noch sanfter: "Ich habe auf diese lächerliche Heirat verzichtet?"

Jetzt wird sie schon schärfer, sie riecht Gefahr, aber das macht sie nicht vorsichtiger, das macht sie angriffslustig. Sie sagt: "Wenn der junge Ehemann nicht aufs Standesamt kommt, wird man es wohl so auffassen dürfen."

"Mama", sagt Wolfgang, setzt sich an die andere Tischseite und lehnt sich weit über den Tisch, "du scheinst dich ja ausgezeichnet über mein Kommen und Gehen unterrichten zu lassen. So müßtest du doch wissen, daß auch die Braut nicht kam."

Draußen ist es ganz dunkel geworden. Ein erster Windstoß fährt brausend in die Baumkronen, ein paar gelbe Blätter wirbeln ins Fenster hinein. Unter der Tür steht hager, reglos das Mädchen Minna, vergessen von der Mutter wie vom Sohn. Jetzt leuchtet es einmal fahlgelb auf, aus dem Dämmer tauchen angespannt, weiß die Gesichter und versinken in noch tieferes Dämmern. Lang nachhallend rollt ein noch ferner Donner.

Die Elemente wollen losbrechen, aber Frau Pagel sucht sich noch einmal zu fangen. "Wolfgang", sagt sie fast bittend, "wollen wir uns denn darüber streiten, wie weit du dich von Petra schon gelöst hattest? Ich bin fest überzeugt, wäre dieser Zwischenfall mit der Polizei nicht gekommen, du hättest kaum noch an das Mädchen gedacht. Überlaß diese Sache

einem Anwalt. Ich bitte dich, Wolfgang, und ich habe dich noch nie so gebeten: Tue mir dieses einzige Mal den Willen!"

Der Sohn hört die Mutter bitten, genau wie er sie wenige Minuten zuvor bat. Aber das merkt er gar nicht. Er hat im tiefen Dämmer dunkel das Gesicht der Mutter vor sich. Der Himmel hinter dem Kopf leuchtet schwefelgelb auf, versinkt in Schwärze und leuchtet von neuem auf.

"Mama", sagt Wolfgang, und sein Wille entzündet sich immer stärker an ihrem Widerstand. "Du befindest dich in einem entscheidenden Irrtum. Ich kam nicht hierher, weil ich mich, ganz oder teilweise, von Petra gelöst hatte. Ich kam hierher, weil ich mir das Geld für diese lächerliche Trauung holen wollte ..."

Die Mutter sitzt einen Augenblick reglos, sie antwortet nicht. Aber wenn der Schlag sie auch schwer getroffen haben mag, sie läßt es sich nicht merken. Sie sagt bitterböse: "Nun, mein Sohn, so kann ich dir sagen, daß dein Weg umsonst war. Dafür bekommst du hier nicht einen Pfennig."

Ihre Stimme ist sehr leise, aber sie schwankt kein bißchen. Fast noch leiser und ohne eine Spur von Wärme antwortet er: "Da ich dich kenne, habe ich nie eine andere Antwort von dir erwartet. Du liebst nur die Menschen, die nach deiner Fasson selig werden wollen, trotzdem man ja eigentlich sagen muß, daß du selbst nicht übermäßig selig geworden bist in deinem Leben ..."

"Oh "..., stöhnte die Frau tief, zu Tode getroffen, in ihrem ganzen Leben, in ihrer ganzen Ehe, in ihrer ganzen Mutterschaft, von dem eigenen Sohn.

Den aber erregt dieser eine Laut des Schmerzes nur noch mehr. Wie es sich draußen seit den frühen Morgenstunden aus Dunst, Schwüle und Gestank zusammengebraut hat, jetzt dem Losbrechen nahe - so hat es sich in seinem eigenen Leben zusammengebraut aus Bevormundung, Gängelei, Besserwissen, rücksichtsloser Ausnutzung der Mutterstellung, der Kasseninhaberin. Und was seinen Zorn am gefährlichsten macht, das ist noch nicht einmal dies, das ist auch nicht die Verachtung der Mutter für Petra(die ihm ohne diese Verachtung ja gar nicht soviel bedeutet). Sondern aus seiner eigenen Schwäche, aus seiner eigenen Feigheit schwelt die stärkste Zornesglut. Daß er ihr hundertmal nachgegeben hat, das muß er rächen. Daß er sich vor dieser Auseinandersetzung gefürchtet hat, das macht ihn so fürchterlich. Daß er das Bild heimlich hat wegholen wollen, das macht ihn schamlos in seinem Zorn.

"Oh ...!" hat die Mutter gestöhnt, aber in ihm löst das nur eine tiefe Freude aus. Es ist hungrige Zeit, Wolfszeit. Die Söhne haben sich gegen

die eigenen Eltern gekehrt, das hungrige Wolfsrudel fletscht gegeneinander die Zähne - wer stark ist, lebe! Aber wer schwach ist, der sterbe! Und er sterbe unter meinem Biß!

"Oh ...!"

"Und ich muß dir auch noch sagen, Mama, als ich eben so leise in das Zimmer kam, dachte ich wirklich, du wärest fort. Ich wollte mir nämlich heimlich das Bild holen, das Bild, du weißt schon, welches, das Bild, das du mir geschenkt hast ..."

Sehr schnell, aber mit einem unverkennbaren Zittern in der Stimme: "Ich habe dir nie ein Bild geschenkt!"

Wolfgang hört dies wohl. Aber er spricht weiter. Er ist trunken vor Rachsucht. Er kennt keine Scham mehr.

"Ich wollte es heimlich verkaufen. Viel Geld dafür kriegen, schönes Geld, vieles Geld, Devisen, Dollars, Pfunde, Dänenkronen - und alles Geld wollte ich meiner lieben, guten Petra bringen ..."

Er spottet über sie, aber er spottet auch über sich. Er ist ein Narr. Ach - dies ist ja fast noch besser als Spielen, es erregt, es macht wild. In das Dunkel hineinreden, und die Blitze dazu, und das jetzt fast pausenlose ferne Drohen und Grollen des Donners. Aus den Urgründen alles menschlichen Seins steigt, frei gemacht von schlimmer Zeit, der Urhaß der Kinder gegen die Eltern hoch, der Haß der Jugend gegen das Alter, des stürmenden Mutes gegen die langsame Besinnung, des blühenden Fleisches gegen das welke ...

"Ich habe es mir heimlich holen wollen, aber das war natürlich Unsinn. Es ist ganz gut, daß ich dir endlich einmal alles sagen kann, alles, alles ... Und wenn ich es gesagt habe, nehme ich mir das Bild ..."

"Ich gebe es nicht her!" ruft sie. "Nein!" Und sie springt auf und stellt sich vor das Bild.

"Ich nehme es mir", sagt er unbeirrt und bleibt sitzen. "Ich trage es vor deinen Augen fort und verkaufe es, und alles Geld bekommt Petra, alles Geld ..."

"Du wirst es mir nicht mit Gewalt nehmen "..., sagt sie rasch, aber es klingt wie Angst in ihrer Stimme.

"Ich werde es auch mit Gewalt nehmen", ruft er, "denn ich will es haben. Und du wirst vernünftig sein. Du weißt, ich will es haben, und dann kriege ich es auch ..."

"Ich rufe die Polizei!" sagt sie drohend und schwankt zwischen Fernsprecher und Bild.

"Du rufst nicht die Polizei!" lacht er. "Denn du weißt wohl, du hast mir das Bild geschenkt!"

"Sehen Sie ihn an, Minna!" ruft Frau Pagel, und jetzt hat auch sie vergessen, daß es der Sohn ist, der dort steht. Sondern es ist der Mann, der Mann, der immer widersinnig handelt, der Gegenpart der Frau, der Feind von Urbeginn an.

"Sehen Sie ihn doch an, wie er es nicht abwarten kann, zu seinem geliebten Mädchen zu kommen! Sie von der Polizei zu erlösen! Es ist ja alles Lüge und Theater, das Mädchen ist ihm so gleichgültig wie alles auf der Welt - es geht ihm doch nur um das Geld!"

Sie äfft ihn nach: "Schönes Geld, vieles Geld, Dollars, Pfunde - aber nicht für die liebe, schöne, gute Petra im Kittchen, das Fräulein Ledig, nein, für den Spieltisch ..."

Sie macht zwei Schritte, gibt das Bild frei, steht am Tisch, läßt die Knöchel hölzern auf ihm rasseln. "Da, nimm das Bild. Ich tue dir das Schlimmste, was ich tun kann, ich lasse dir das Bild. Verkauf es, bekomme Geld dafür, viel Geld. Aber ich, deine dumme, verbohrte, rechthaberische Mutter, werde wieder einmal recht behalten - das Mädchen wirst du nicht glücklich machen damit. Du wirst das Geld verspielen, wie du alles verspielt hast: Liebe, Anstand, Leidenschaft, Ehrgeiz, Arbeitskraft."

Sie steht da, atemlos, mit flammenden Augen.

"Jedenfalls danke ich dir, Mama", sagt Wolfgang, plötzlich sehr müde, alles Streitens, alles Redens überdrüssig. "Damit wären wir nun fertig, wie? Und mit allem andern auch. Meine Sachen werde ich heute abend abholen lassen, ich will dich nicht länger damit belasten. Was aber deine Prophezeiungen anlangt ..."

"Nimm alles!" schreit sie lauter und sieht, an allen Gliedern zitternd, wie er das Bild von der Wand nimmt. "Möchtest du auch noch etwas vom Silber für die Ausstattung der jungen Frau? Nimm es! Ach, ich kenne doch euch Pagels!" ruft sie und ist plötzlich wieder das junge Mädchen, lang, lang vor Brautschaft und Ehe. - Außen freundlich und sanft, aber innen gierig und trocken. "Geh, geh nur rasch! Ich mag euch nicht mehr sehen, ich habe euch ein ganzes Leben geopfert, und zum Schluß habt ihr mich mit Schmutz beworfen, Vater wie Sohn, einer wie der andere ... Ja, geh nur so, ohne ein Wort, ohne einen Blick. Dein Vater machte es auch so, er war zu vornehm für Auseinandersetzungen, aber wenn er nachts ein schlechtes Gewissen hatte, schlich er auf Strümpfen aus dem Zimmer."

Wolfgang geht schon, das Bild unter dem Arm. Er hatte sich umgesehen, er hatte Minna um Packpapier und Bindfaden bitten wollen, aber sie stand so starr unter der Tür. Und immer war diese Stimme da, diese gelle, erbarmungslose Stimme, wie eine häßlich klingende Glocke aus Eisen, blechern, aber unverwüstlich, seit seinen Kindertagen unverwüstlich.

Er steckt das Bild, wie es ist, unter den Arm. Nur fort, nur schnell - noch regnet es nicht.

Aber als er über die Schwelle des Zimmers geht, immer diese wilde, tobende Stimme hinter sich, sagt das alte Mädchen, diese alberne Gans, der man es natürlich auch nie recht machen kann: "Pfui!" Sagt zu ihm, beinahe in sein Gesicht, hart, böse: "Pfui!"

Er zuckt bloß die Achseln. Er hat es doch für Petra getan, er soll doch, auch ihrer Ansicht nach, etwas für Petra tun. Aber egal, mögen sie reden.

Nun ist er aus der Wohnung, die Tür fällt zu, aus dem Porzellanschild schlug er einmal eine Ecke. Jetzt steigt er die Treppe hinab.

Wieviel werde ich wohl kriegen für das Bild -?

4

An diesem 26. Juli 1923 wollte die geschiedene Gräfin Mutzbauer, ein geborenes Fräulein Fischmann, mit ihrem derzeitigen Freunde, einem Berliner Viehhändler namens Quarkus, über Land fahren, um Höfe zu besichtigen.

Der Viehhändler, ein Mann Ende der Vierzig, untersetzt, mit krausem, dunklem und schon etwas dünn gewordenem Haar, mit faltiger Stirn und ebenso faltigem Specknacken, langjähriger, fast schon silberner Ehegatte und Vater von fünf Kindern - dieser Viehhändler also hatte es zuerst mit Freude angesehen, wie ihn die Inflation immer reicher machte. Wenige Monate hatten ihn aus einem Mann mit einem Wochenumsatz von einem Waggon Schweinen und zwei Dutzend Rindern zu einem Großhändler gemacht, dessen Aufkäufer bis nach Süddeutschland, ja sogar bis ins Holländische hinein reisten. Ehe nämlich das gekaufte und bezahlte Vieh in Berlin eingetroffen, ja ehe es auch nur verladen wurde, war es um das Doppelte, ja um das Dreifache, Fünffache an Wert gestiegen, und Quarkus hatte noch immer recht behalten, wenn er seinen Herren Aufkäufern gesagt hatte: "Bezahlt, was die Leute verlangen - es ist doch immer zuwenig!"

Zuerst also hatte Herrn Quarkus dies Geldscheffeln reine Freude gemacht. Zwei Monate hatten genügt, ihm die Schultheißkneipen, die Bötzowbraustübl und die Aschingerquellen zu verleiden. Er war ein großzügiger, sogar beliebter Gast aller Bars der alten Friedrichstadt und des neuen Westens geworden und behauptete mit Überzeugung, daß man nur in drei Lokalen Berlins wirklich anständig essen könne. Und als ihm geschah, daß eine wirkliche Gräfin ihn in ihre Arme schloß, meinte er, kein Erdenwunsch sei ihm noch unerfüllt.

Allmählich aber, je reicher er wurde, je weniger Geld eine Rolle spielte, um so nachdenklicher wurde der Viehhändler Quarkus. Sein unbedenklicher Optimismus, der ihn ohne jeden Gedanken an die Zukunft immer weiter mit dem Fallen der Mark hatte rechnen lassen, wurde verdüstert von den Sprüngen, die er die Mark um den Dollar tun sah, Sprünge, die einen Floh über das Ulmer Münster weggetragen hätten.

"Was zuviel ist, ist zuviel", murmelte er, wenn er erfuhr, daß seine Schweine ihm den zwanzigfachen Einkaufspreis gebracht hatten. Und in einer Zeit, da Hunderttausende nicht wußten, wo sie das Geld für ein Stück Brot hernehmen sollten, machte ihn der Gedanke schlaflos, wo er eigentlich mit seinem Gelde hin sollte.

Das Wort "Sachwerte", von vielen Seiten geraunt, hatte auch das Quarkussche Ohr erreicht. Keiner kommt von seiner Jugend los. Der Junge Emil(der Name Quarkus hatte für seine Umwelt erst ab seinem fünfundzwanzigsten Jahr Bedeutung bekommen), der Junge Emil hatte viele deutsche Landstraßen entlang eine Kuh treiben, drei Schweine hüten müssen. Er war Viehtreiber gewesen, ehe er Viehhändler geworden. Der schmächtige, immer hungrige Bengel hatte mit sehnsüchtigen Augen nach den Bauernhäusern längs der Landstraße geschaut, aus deren Türen es so verlockend nach Bratkartoffeln mit Speck roch. Jagte der Wind, trieb Regen oder Schnee, fror es Pickelsteine - immer lagen die Höfe behaglich geduckt am Wege, ihre breiten Stroh- oder Ziegeldächer verhießen Schutz, Wärme, Behaglichkeit. Selbst der Ochse, den Emil Quarkus trieb, merkte das: er hob im Regen, den Schwanz steif von sich reckend, das Maul und brüllte die Höfe sehnsüchtig an.

Was dem Knaben Emil Inbegriff aller Sicherheit und Behaglichkeit gewesen war, blieb für den Mann Quarkus eine feste Burg. In der Zeit der hüpfenden, springenden, stürzenden Mark konnte nichts sicherer sein als ein Bauernhof - höchstens fünf oder zehn Bauernhöfe. Und Quarkus war entschlossen, sie sich zu kaufen.

Die Gräfin Mutzbauer, das geborene Fräulein Fischmann(was sie freilich ihrem Freunde Quarkus nicht erzählte), war allerdings mehr für ein Rittergut mit Schloß, Freitreppe und Rennstall gewesen. Doch war diesmal Quarkus eisern. "Ich habe genug Vieh auf Rittergütern gekauft", sprach er. "Ich werde mir doch keine Sorgen kaufen!"

Er war sicher, kam er mit einer Handtasche, besser noch mit einem Koffer voll Geld auf einen Hof, verlangte eine Kuh zu kaufen, kaufte zehn, warf mit dem Gelde, prahlte mit dem Gelde, lockte mit dem Gelde - kein Besitzer würde widerstehen können! Zu den zehn Kühen kaufte er den Kuhstall, das Stroh, das Land, auf dem das Stroh wuchs, den ganzen Hof schließlich. Und wenn er dem Besitzer dann noch sagte, er könne wohnenbleiben, weiterwirtschaften, mit den Erträgen anfangen, was er wollte, der würde ihn für übergeschnappt halten, ihm andere Verkäufer zuführen, mehr als gewünscht. Bis freilich dann eines Tages der Tag kommen würde, an dem die Mark - ja, wie es mit der Mark an dem Tag sein würde, das konnte sich keiner auch nur ausdenken. Aber jedenfalls war dann der Hof da. Nein, die Höfe.

Dies waren etwa die Quarkusschen Überlegungen, wie er sie oft und oft der Gräfin Mutzbauer vortrug. Da das Rittergut abgelehnt war, interessierte sie die ganze Geschichte eigentlich recht wenig. Aber daß die Gräfin Mutzbauer in ihrer Uninteressiertheit nun so weit gegangen wäre, ihren Freund allein fahren zu lassen, dazu war sie auch wieder zu klug. Immer war es besser, man blieb in der Nähe, es gab überall gemeine Weiber genug, für die das Geld war, was für den Mistkäfer der Mist. Und schließlich: wenn er zehn Höfe kaufte, fiel vielleicht ein elfter für sie ab, und wenn auch der Gedanke, einen Bauernhof zu besitzen, ungefähr so war, als besäße sie eine Lokomotive - verkaufen konnte man ihn jedenfalls wieder, man konnte alles verkaufen.(Gräfin Mutzbauer hatte schon drei Autos, die sie von ihrem Freunde bekommen hatte, nacheinander wieder verkauft und Quarkus mit der schönen Erklärung abgespeist: "Dazu bist du doch viel zuviel Kavalier, Quarkus, mir solch veralteten, unmodernen Wagen zuzumuten". Und er war wirklich zu sehr Kavalier - außerdem interessierte es ihn kaum.)

Diese Idee von dem elften Bauernhof aber hatte die Gräfin daran erinnert, daß ihre Zofe Sophie vom Lande war. Als sie also gegen Mittag ausgeschlafen hatte, klingelte sie ihre Zofe heran und führte mit ihr folgende Unterhaltung:

"Sophie, Sie sind doch vom Lande?"

"Ja doch, Frau Gräfin, aber ich mag das Land gar nicht."

"Sind Sie von einem Bauernhof?"

"Aber nein, Frau Gräfin, ich bin von einem Rittergut."

"Sehen Sie, Sophie, ich habe es Herrn Quarkus auch gesagt, er soll ein Rittergut kaufen. Aber er sagt, er will nur einen Bauernhof."

"Ja, Frau Gräfin, so war mein Hans auch. Wenn er Geld hatte für Habel und Rebhühner, dann wollte er durchaus zu Aschinger auf Löffelerbsen mit Speck. So sind nun mal die Männer."

"Sie meinen doch aber auch, Sophie, daß ein Rittergut viel besser ist?"

"Aber natürlich, Frau Gräfin. Ein Rittergut ist ja viel größer, und wenn es einem gehört, braucht man nicht zu arbeiten, sondern hat seine Leute dafür."

"Und auf einem Bauernhof muß man arbeiten?"

"Schrecklich, Frau Gräfin, und lauter Arbeit, die die Haut verdirbt."

Eilig beschloß die Gräfin, auf den elften Bauernhof zu verzichten und statt dessen lieber einen Diamantring als Geschenk zu nehmen. Damit aber entfiel jedes eigene Interesse an der Fahrt, jedes Interesse am guten Einkauf und also jeder Grund, Sophie als Beraterin auf die Fahrt mitzunehmen.

"Hören Sie, Sophie, wenn Herr Quarkus Sie auch fragen sollte, erzählen Sie ihm das nicht. Es hat gar keinen Sinn, ihm abzureden, es verdirbt ihm nur die Laune, und er kauft doch!"

"Genau wie mein Hans!" sagte Sophie seufzend, und sie dachte traurig daran, daß die Polente den Hans Liebschner nie geschnappt hätte, wenn er ihrem Rat gefolgt wäre.

"Schön, Sophie. Dann ist alles in Ordnung. Ich wußte ja, daß Sie auf dem Lande Bescheid wissen. Herr Quarkus fährt heute mit mir Bauernhöfe kaufen, und eigentlich wollte ich auch einen erwerben. Da hätte ich Sie als Beraterin mitgenommen. Aber wenn es so schlecht mit den Höfen aussieht ..."

Zu spät merkte Sophie, daß sie vorschnell geredet hatte. Eine Autofahrt mit dem reichen Quarkus über Land wäre nicht so übel gewesen. Sie versuchte es noch: "Nun, Frau Gräfin, es gibt natürlich verschiedene Arten von Bauernhöfen ..."

"Nein, nein", sagte das ehemalige Fräulein Fischmann. "Sie haben mir alles ganz ausgezeichnet erklärt. Ich kaufe nicht."

Da hier nichts mehr zu retten war, suchte Sophie ihren Vorteil auf der andern Seite. "Da bleiben Frau Gräfin wohl länger fort?"

Jawohl, Gräfin Mutzbauer würde kaum vor morgen abend zurück sein.

"Ach, wenn Frau Gräfin da so gut sein würde ... Meine Tante in Neukölln

ist doch so schwerkrank, und ich soll schon seit Tagen hinkommen ... Wenn ich heute nachmittag frei haben könnte -? Und vielleicht bis morgen mittag?"

"Nun, Sophie", sagte ihre Herrin gnädig, obwohl sie die kranke Tante in Neukölln genauso richtig bewertete wie Sophie den von der Gräfin erwogenen "Erwerb" eines Hofes. "Eigentlich ist wohl Mathilde mit dem Ausgang dran. Aber da Sie mich vorhin so gut beraten haben ... Daß es mir aber keine Streitereien mit der Mathilde gibt -!"

"I wo, Frau Gräfin, wenn ich der ein Kinobillett schenke, ist sie schon ganz glücklich. Die ist ja so geizig! Neulich hat der Schuster zu ihr gesagt: ›Fräulein, Sie gehen wohl gar nicht aus? Ihre Sohlen halten nun schon das zweite Jahr.‹ - Aber so ist sie wirklich ..."

Vielleicht war die Köchin Mathilde, was Geiz, Ausgang, Kino anging, wirklich so. Vielleicht hatte Sophie Kowalewski ganz recht berichtet. Aber darin hatte sich Sophie jedenfalls verrechnet, wie Mathilde diesen freien Nachmittag aus der Reihe hinnehmen würde. Sophie hatte recht verächtlich von einer lumpigen Kinokarte geredet, mit der sich die Mathilde ohne weiteres besänftigen lassen würde, aber nichts davon, aber gar nichts derart! Die Köchin Mathilde tobt. Wie wird sie sich das bieten lassen! Sie, die Sparsame, Solide, soll zurückstehen in freien Tagen hinter einer solchen Nutte, die für drei Schnäpse mit jedem Tangokavalier mitgeht! Auf der Stelle verzichtet Sophie auf diesen erschlichenen Ausgang, oder die Mathilde geht sofort zur Gräfin, und was die dann zu hören kriegt, das kann sich die Sophie allein denken! Solchen Dreck nimmt man nicht ohne Not zweimal in den Mund!

Worauf sie ihn gleich vor der Kollegin in den Mund nimmt.

Ach, die dicke, rundliche, bequeme Mathilde - Sophie versteht gar nicht, warum sie eigentlich so tobt. Sie hat sich doch schon zehnmal bei den freien Tagen übergehen lassen, hat freiwillig und unfreiwillig verzichtet, und wenn sie wirklich einmal gemault hat, haben sie eine Schachtel Konfekt oder eine Kinokarte stets besänftigt. Hat denn diese schwüle Hitze die Alte ganz verrückt gemacht?

Einen Augenblick überlegt Sophie, ob sie nicht vielleicht doch nachgibt. Bringt Mathilde all ihren Quatsch vor die Gräfin, kann es einen ziemlichen Stunk geben. Obwohl sich Sophie auch davor nicht fürchtet. Sie ist noch mit jedem stänkernden Angetrunkenen fertig geworden, und die können bestimmt beinahe so schlimm sein wie eine stänkernde Frau.

Sophie überlegt also einen Augenblick ... Dann aber sagt sie recht bösartig ruhig: "Ich weiß gar nicht, was du hast, Mathilde. Wozu willst du ausgehen? Du hast ja gar nichts anzuziehen."

Oh, wie dieses sanfte Öl aufzischt, wie die Flamme höher und höher schlägt! "Nichts anzuziehen, freilich, wenn man so wie andere der Gnädigen Kleiderschrank benutzt -!"

"Tätest du auch, Mathilde. Nur paßt dir nichts. Du bist ja direkt fett."

Bereits 1923 ist es eine schwere Beleidigung für eine Frau, dick genannt zu werden - und nun gar erst fett! Prompt bricht Mathilde in Tränen aus, schreit wutsprühend: "Hure! Hurenmensch! Sauhure!" und stürzt ab zur Gnädigen, bei der eben grade auch Herr Quarkus seinen Einzug gehalten hat. Denn nun soll es losgehen aufs Land.

Sophie bleibt achselzuckend zurück. Ihr soll es egal sein, was kommt. Eigentlich hat sie das Leben hier reichlich über, ganz plötzlich. Die Minute vorher hat sie noch nichts davon gewußt, da wäre sie nicht gerne gegangen. Aber das ist jetzt oft so, nichts hat Bestand. Was eben noch galt, ist schon wieder ungültig. Noch niemals ist so oft und so überraschend der Gashahn aufgedreht worden wie in diesen Zeiten.

Plötzlich fühlt Sophie, wie hundemüde, wie ausgepumpt sie ist. Der Gedanke an ein paar Ferienwochen bei den Eltern in Neulohe taucht in ihr auf. Das wäre wirklich schön - ausschlafen, nichts tun, nichts trinken - und vor allem mal keine Kavaliere. Dazu sich den neidischen Schulgefährtinnen von ehemals als vollendete Dame aus der Stadt zeigen, gerade jetzt, wo die sich in der Ernte totrackern müssen! Und schließlich und endlich und am wichtigsten: Ganz in der Nähe von Neulohe liegt das Städtchen Meienburg. Dort steht ein festes Haus, von der kleinen Sophie bei seltenen Stadtfahrten mit grusligem Schauer angesehen, aber jetzt wohnt darin der Hans. Plötzlich faßt sie eine irrsinnige, ganz körperliche Sehnsucht nach dem Freunde - ihr ganzer Leib zittert nach ihm, ihr wird heiß und kalt. Sie muß zu ihm, sie muß in seiner Nähe leben, sie muß ihn wieder einmal spüren - wenigstens sehen muß sie ihn! Sicher wird es ihr gelingen, mit ihm in Verbindung zu kommen ... Gefängniswärter sind auch bloß Männer ...

Längst hat Sophie mit Silberputzen aufgehört - wozu soll sie noch etwas tun? Sie geht ja heute doch, macht Schluß in diesem Bums! Befriedigt lächelnd hört sie die gaumig heulende Stimme der Mathilde von vorne, dazwischen die ein bißchen scharfe, immer leicht gereizte der Gräfin, selten die spritrauhe, heisere des Herrn Quarkus. Die sollen nur kommen und ihr auch nur einen Vorwurf machen - sie wird auspacken, ach, wie wird sie auspacken! Denen soll gar nichts anderes übrigbleiben als sie auf die Straße zu setzen - aber nicht ohne ihren Lohn bis Ultimo! Und das Trampel, die Mathilde, kann sehen, wo ihr freier Tag bleibt - alle Arbeit wird sie allein tun dürfen, die -!

Nur ungern schickt die Gräfin Mutzbauer ihren Freund Quarkus in die Küche, die Sophie zu rufen. Sie wünscht ganz und gar keinen Streit mit ihrer Zofe, noch dazu vor den Ohren des Freundes. Es gab da vor einiger Zeit einen etwas seltsamen Einbruchsdiebstahl in der Wohnung. Den abhanden gekommenen Schmuck hatte Herr Quarkus zwar großzügig ersetzt, wollte sich aber damals schon durchaus mit der Polizei in Verbindung setzen. Es wäre nicht angenehm, wenn Sophie die Zusammenhänge dieses Diebstahls aufklärte. Noch peinlicher wäre allerdings, wenn sie von gewissen Schlafzimmerbesuchen erzählte.

Gräfin Mutzbauer war überzeugt, der Kavalier Quarkus verstand in diesem Punkte keinen Spaß, und wenn sie auch wußte, daß man einem verlorenen Liebhaber nicht nachweinen soll, denn der zu melkenden Ochsen gibt es überall mehr, als Vater Brehm sich hat träumen lassen - vor einer brutalen Tracht Prügel hatte sie ausgesprochen feige Angst.

Aber was war zu tun? Mathilde hatte vor Herrn Quarkus' Ohren so ausführlich von der Benutzung nicht nur des Kleider-, nein, auch des Wäscheschrankes durch Herrin und Zofe berichtet(was der Herrin längst bekannt gewesen war), sie hatte auch einen so ausführlichen Bericht über eine "Orje" erstattet, die sich während einer zweitägigen Abwesenheit der Herrin in den Mutzbauerschen Räumen abgespielt hatte, eine Orgie, in der nicht nur "fremde Louis und Nutten", sondern auch sehr eigene Mutzbauerische Zigaretten, Liköre, Sekt und - hier sprang Herr Quarkus hoch und schrie heiser: "Au verflucht!" - bei der leider auch das Mutzbauerische Bett eine Rolle spielte ...

Die Gräfin hoffte wider allen Sinn und Verstand, Sophie werde vernünftig sein. Von ihrer Seite würde jedenfalls nichts geschehen, die Dinge auf die Spitze zu treiben.

Worauf die besagten Dinge in den ersten drei Minuten auf die Spitze gerieten, um von da in einen schwindelnden Abgrund zu stürzen, in dem es infernalisch stank! Der Viehhändler Emil Quarkus war bestimmt kein verwöhntes Knäblein, und gar manchen Dreck hatte er in seinem Leben verdauen müssen, auch war die Zeit nicht dazu angetan, Empfindlichkeiten zu züchten ... was diese drei Weiber da aber sich minutenlang schrill an die Köpfe warfen, das stank so unaussprechlich, wie die Misthaufen all seiner zukünftigen Bauernhöfe nie stinken konnten!

Quarkus schrie auch und tobte auch. Er schmiß jede von den dreien eigenhändig hinaus und holte sie dann, aufheulend vor Wut, zur Vernehmung und Rechtfertigung wieder herein. Er stieß sie mit den Köpfen zusammen, und er riß die Krallenstarrenden wieder auseinander;

er telefonierte nach der Polizei und machte das Telefonat umgehend wieder rückgängig; er revidierte die Koffer der Sophie und mußte schon wieder in das gräfliche Schlafzimmer stürzen, wo ein Totschlag im Gange zu sein schien; er nahm seinen Hut und marschierte mit dem verächtlichen Ausruf: "Weiber, verdammte, leckt mich alle am Arsch!" aus der Wohnung, stieg die Treppe hinab und in sein Auto und ließ den Wagen doch sofort wieder halten, weil ihm eingefallen war, daß er diesem gemeinen Frauenzimmer "seinen Schmuck" keinesfalls lassen würde ...

Am Ende saß er völlig erschöpft und ausgepumpt, zu nichts mehr fähig, auf einer Couch. Noch mit geröteten Wangen und blitzenden Augen ging die Gräfin Mutzbauer auf und ab und mischte ihrem Emil einen Stärkungstrank.

"Solche gemeinen Frauenzimmer - alles natürlich erstunken und erlogen. Es ist gut, daß du sie gleich alle beide entlassen hast, Quarkus!"(Er hatte nichts dergleichen getan.) "Du hast ganz recht, daß du die Polizei nicht gerufen hast"(er hätte es liebend gern getan), "schließlich hätte deine Frau davon erfahren, und du weißt ja, wie die ist ..."

Mathilde sitzt noch in der Küche auf ihrem Schließkorb; leise durch die Nase schnüffelnd, wartet sie auf die angerufene Paketfahrt, die den Korb holen soll. Dann wird sie mit der Untergrund zu ihrem Schwager fahren, der an der Warschauer Brücke wohnt. Die Schwester wird zwar nicht sehr begeistert von diesem Überfall sein, das Gehalt eines Straßenbahnschaffners reicht schon so nicht hin und her. Aber im Besitz eines stattlichen Devisenhäufchens, das ihr der durch ihr Kochen bestochene Quarkus nach und nach verschafft hat, fühlt sie sich gegen jeden schwesterlichen Unwillen gewappnet. Im Grunde kommt auch der Mathilde die Entlassung grade recht: nun hat sie wirklich Zeit, sich etwas um ihren unehelichen Sproß, den fünfzehnjährigen Hans-Günther, zu kümmern, von dem sie heute früh in der Zeitung gelesen hat, daß er als Anführer einer Revolte im Erziehungsheim der Stadt Berlin verhaftet worden ist. Nur darum war sie ja so wild geworden, daß Sophie ihr den freien Tag gestohlen hatte. Jetzt also hatte sie ihren freien Tag. Sie ist zufrieden.

Am zufriedensten aber ist Sophie Kowalewski. Die Autotaxe fährt mit ihr durch das immer stärker losbrechende Gewitter dem Christlichen Hospiz in der Krausenstraße zu.(In Herrenbegleitung hat Sophie nichts gegen das schmierigste Absteigehotel, als allein reisende junge Dame aber kennt sie nur das Christliche Hospiz.) Sie fährt in Sommerferien, ihre Koffer sind prall voll von den schönsten Dingen aus gräflichem

Besitz, sie hat ihren Monatslohn bekommen und besitzt außerdem noch hinreichend Geld, und sie wird in Verbindung mit dem Hans kommen, ihn vielleicht sogar sehen. Sophie ist sehr zufrieden!

Nur Herr Quarkus ist nicht ganz so zufrieden wie die drei Frauen. Aber dem kommt es nicht so recht zu Bewußtsein, jetzt muß er eilig Bauernhöfe kaufen, stärker als die Frauen jagt ihn die Mark.

5

Förster Kniebusch geht langsam durch das Dorf Neulohe, den Vorstehhund an der Leine. Man kann nie wissen, was kommt, jedenfalls haben die meisten Leute unbegreiflich mehr Angst vor einem Hund als vor einem Menschen.

Ungern ging der alte Kniebusch von je ins Dorf - die Försterei liegt ein Stück abseits, an der Waldgrenze -, heute aber geht er ganz besonders verdrossen. Er hat das befohlene Zusammentrommeln der Leute auf zehn Uhr beim Schulzen so lange wie nur möglich hinausgeschoben. Aber jetzt, da das Gewitter schon pechschwarz den ganzen westlichen Himmel zudeckt - es kommt aus der Berliner Gegend, natürlich, was kann auch aus Berlin Gutes kommen?! -, jetzt hat er eben doch losgemußt. Es hilft ja nichts, er muß, er darf es mit keinem verderben.

Dorf Altlohe kann Kniebusch gottlob links liegenlassen(bildlich gesprochen, von seinem Wege liegt es nämlich rechts), in Altlohe wohnt kein Mensch, der für solche geheime Militärsache in Frage kommt. In Altlohe wohnen lauter Gruben- und Industriearbeiter, also Spartakisten und Kommunisten, sprich Felddiebe, Holzdiebe, Wilderer, meint Herr Kniebusch.

Förster Kniebusch wußte ganz gut, warum er heute früh die Holzdiebe nicht gesehen hatte - es waren eben Altloher gewesen. Die Altloher wurden leicht wütend, sie proklamierten ganz offen so etwas wie ein Recht auf Diebstahl. Förster Kniebusch wußte auch ganz genau, warum er die Flinte im Haus gelassen hatte, aber den Hund mitgenommen: eine Waffe reizte die Leute bloß und machte sie noch bösartiger. Ein Hund aber konnte ein zerrissenes Hosenbein bringen, und eine Hose war eine kostbare Sache!

Bedrückt und langsam schleicht der Förster unter dem immer drohenderen Gewitter durch das Dorf. "Ich möchte doch gerne friedlich in meinem Bette sterben", hat er eben wieder zu seiner vom Rheumatismus fast gelähmten Frau gesagt. Sie hat genickt und gesprochen: "Wir stehen alle in Gottes Hand."

Ach du! hätte er am liebsten geantwortet, denn daß Gott mit all diesem gräßlichen Wirrwarr nichts zu tun haben kann, dessen ist er sich lange sicher. Aber mit einem Blick auf das bunte Abendmahl an der Wand schweigt er lieber. Schon längst kann man nicht einmal der eigenen Frau mehr sagen, was man alles denkt.

Er hat sich sein Alter ein wenig anders gedacht, der Förster Kniebusch. Wäre nicht der Krieg gekommen und diese zehnmal verdammte Inflation, säße er längst im eigenen Häuschen in Meienburg, ließe Dienst Dienst sein und Holzdiebe Holzdiebe und kümmerte sich nur noch um seine Bienen. Aber das kann sich wohl ein jeder Mensch leicht ausrechnen, wie vorzüglich sich in diesen Zeiten von einer Altersrente verhungern läßt. Und das Sparbuch liegt zwar noch immer, sorglich vor Dieben verborgen, zwischen den Bettlaken im Wäscheschrank seiner Frau, aber die Endsumme, etwas über siebentausend Mark, Mark für Mark in vierzig langen Dienstjahren zusammengekratzt, mag man gar nicht mehr ansehen, sonst kommen einem sofort die Tränen in die Augen. Das wäre ein Häuschen in Meienburg gewesen, sauber wie eine Puppe! Und zum Leben hätte man die Zinsen von der Hypothek gehabt, erste Hypothek, gute Hypothek auf dem Hof des Schulzen Haase hier in Neulohe, pünktlicher Zinszahler, vier Prozent, zehntausend Mark Kapital, ein bißchen Ererbtes und wiederum viel Erspartes - vierhundert Mark im Jahre Ertrag, das wäre ein schöner Zuschuß gewesen zu der Rente!

Aus und vorbei! Unbegreiflich aus und vorbei! Der müde, verbrauchte, alte Mann muß weiter laufen, arbeiten, aufpassen, sich durchschlängeln zwischen den Übergriffen der Leute und den Ermahnungen des Chefs. Nun fürchtet der Ruhebedürftige nichts mehr, als daß er zur Ruhe gesetzt wird - was rettet sie beide alte Leute dann vor dem Verhungern -?! Die beiden Söhne sind im Kriege gefallen, und die Tochter, an einen Eisenbahnsekretär in Landsberg verheiratet, weiß selbst nicht, wie sie mit ihren Kindern satt werden soll. Sie schreibt den Eltern nur, wenn das Schlachten bevorsteht, um an das Fettpaket zu erinnern.

So muß er weiter laufen, der alte Mann, muß sich lieb Kind machen, einschmeicheln, demütig sein - auf solche Weise der drohenden Entlassung vorbeugen. Und wenn solch ein Schnösel von Leutnant winkt, so nimmt man eben die Hacken zusammen und sagt gehorsam: "Zu Befehl, Herr Leutnant!" Weiß man denn, ob der Chef das nicht wünscht? Es ist ein trübseliger Rundgang durch das Dorf. Alle Männer, die der Förster sprechen müßte, sind, obwohl es schon auf sechs Uhr geht und Futterzeit wird, noch auf dem Felde. Oder sie hasten schwitzend an dem Förster vorbei, kaum daß sie mit der Hand winken. Sie haben keine Zeit, denn vor dem drohenden Gewitter muß herein, was nur irgend herein

kann.

So muß der Förster seine Bestellung bei den Frauen anbringen, und die nehmen natürlich kein Blatt vor den Mund: Er ist wohl verrückt geworden, jetzt in der eiligsten Erntezeit die Männer um zehn Uhr nachts zum Schulzen zu bestellen?! Natürlich, er hat es gut, er fühlt seine Knochen nicht, er geht spazieren, während andere sich totarbeiten. Er steht morgens um sechs auf, ihre Männer aber um halb drei! Sie denken gar nicht daran, solchen Unsinn zu bestellen, da mag er sich Dümmere suchen! - Die Hände in die Seiten gestemmt: Siehst du, da hast du es!

Der Förster muß zureden und betteln, und wenn er schließlich vom Hof geht, ist er doch nicht sicher, daß sie die Bestellung auch wirklich ausrichten.

Manche Frauen aber verkneifen den Mund böse, sie hören sich des Försters Bestellung schweigend an, mit bösen, klein gewordenen Augen. Dann drehen sie sich um und gehen weg, aber der Förster hört sie noch murmeln: Ob ein alter Mann sich denn gar nicht schämt, solche Sachen noch mitzumachen?! Ob es nicht schon genug Tote im Weltkrieg gegeben habe? Heimliche Verschwörungen von einem alten Knacker, der lieber an seinen eigenen friedlichen Tod denken sollte -!

Des Försters Gesicht wird immer sorgenvoller, fast verbissen, je weiter er kommt. Er murmelt heftig in seinen weißgrauen Bart. Irgendwie muß er seinen Ingrimm äußern, er hat sich angewöhnt, mit sich selbst zu reden. Sonst hat er ja keinen einzigen, bei dem er seinem Herzen Luft machen kann, die Frau hat auf alles nur Bibelsprüche im Munde. Es ist wie ein ohnmächtiger Zorn, den er da zwischen den mahlenden, fast schon zahnlosen Kiefern zerbeißt - daß er so ohnmächtig ist, macht ihn nur noch schmerzender!

Nun kommt er auf den Dorfplatz, an dem Schulzenhof, Krämerei, Gasthof, Schule und Pfarrei liegen. Mit denen allen hat er eigentlich nichts zu tun: Krämer und Krüger sind viel zu vorsichtig, sich auf irgend etwas einzulassen, womit sie es bei einem von der Kundschaft verderben könnten. Kantor Friedemann ist zu alt, und Pastor Lehnich tut immer so, als sei er nicht ganz von dieser Welt, trotzdem er sehr gut rechnen kann. Schulze Haase aber weiß sicher schon Bescheid, sonst wäre ja die Versammlung nicht zu ihm bestellt worden.

Trotzdem steht Förster Kniebusch zögernd auf dem Platz, geht nicht weiter, sondern sieht zum Schulzenhof hinüber. Es wäre gar nicht schlecht, dem Schulzen einmal auf die Pelle zu rücken und mit ihm von Zinsen und Hypothek zu reden. Ehe er aber noch zu einem Entschluß gekommen ist, fliegt ein Fenster im Krug auf. Der häßliche Kopf vom

kleinen Negermeier fährt mit funkelnden Brillengläsern und ziemlich gerötet heraus. Meier schreit: "Na, Kniebusch, altes Wasserhuhn, komm mal rüber und stoß mit mir an auf meinen Abschied von Neulohe!"

Eigentlich ist dem Förster nicht nach Trinken, zudem weiß er, daß der angetrunkene Negermeier bösartig wie ein alter Bulle ist, aber dieser Zuruf klingt doch zu sehr nach Neuigkeiten, und Neuigkeiten kann der Förster nur schlecht widerstehen. Er muß alles wissen, um sich auf alles einrichten zu können. So tritt er denn in den Krug, der Hund kriecht mit aller hündischen Ergebenheit in sein Schicksal unter den Tisch und ist bereit, nun lautlos auszuhalten, dauere es eine halbe Stunde oder vier. Der Förster klopft auf den Tisch und sagt warnend: "Aber Geld habe ich nicht bei mir!"

"Ich auch nicht!" grinst Negermeier, der schon kräftig vorgelegt hat. "Aber deswegen lade ich dich doch ein, Kniebusch. Und gerne! Die sind nämlich alle auf dem Felde, und so habe ich mir eine Flasche Kognak vom Büfett geholt, und Bier kann ich dir auch einschenken, wenn dir das lieber ist."

Dem Förster graust vor den Folgen dieser eigenmächtigen Selbstbedienung. Verlegen sagt er: "Nee, danke, Meier, ich trinke lieber nichts."

Sofort läuft Feldinspektor Meier noch röter an. "Ach, du meinst, ich klaue?! Ach, du denkst, ich bezahle nicht, was ich mir nehme?! Das verbitte ich mir, Kniebusch! Sage ein einziges Mal, wo ich was geklaut habe ... Oder -!"

"Oder" bleibt unklar, denn der Förster versichert sofort, daß alles in Ordnung ist und daß er einen Kognak möchte.

"Ein Kognak ist gar nichts!" schreit der kleine Meier, und trotz sanften Widerspruchs schenkt er auch noch kunstgerecht ein Glas Bier ein und holt die Kiste mit den Zigarren. Sich selbst bringt er eine Schachtel Zigaretten mit.

"Prost, Kniebusch! Daß unsere Kinder lange Hälse kriegen!"

Der Förster runzelt die buschige Braue über diesen Trinkspruch, denn er muß an seine beiden gefallenen Söhne denken. Aber es hat keinen Sinn, bei so einem Menschen, wie es Negermeier ist, zu protestieren, und so fragt er denn lieber: "Was ist denn seit heute mittag passiert, daß du so plötzlich deinen Abschied feierst?"

Sofort ist Meier verdüstert. "Das Gewitter ist passiert", murrt er. "Dieses elende Berliner Scheißgewitter! Nie kriegen wir bei Westwind Gewitter. Aber heute kriegen wir es!"

"Ja, in zehn Minuten pladdert's", sagt auch Kniebusch und sieht zum dunklen Fenster. "Hast nicht einfahren lassen -? Das ganze Dorf fährt ein!"

"Merke ich auch, du Riesenroß!" schreit Meier gereizt. Und es ist wirklich schwer, das nicht zu merken: grade jagt wieder ein Fuder über den Dorfplatz und verschwindet auf der Haaseschen Hofstatt.

"Das ist doch aber noch nicht sicher, daß dich der Rittmeister darum rausschmeißt", tröstet Kniebusch. "Freilich, ich an deiner Stelle hätte auch lieber einfahren lassen."

"Du an meiner Stelle hättest deinen Dreck vor lauter Schlauheit gefressen!" schreit Negermeier wütend los. Er trinkt hastig, trinkt noch einmal und sagt dann ruhiger: "Hinterher sind alle Dummen schlau. Warum hast du mir denn heute mittag nicht gesagt, du würdest einfahren lassen, he, was?" Er lächelt überlegen, gähnt dann und trinkt nochmals. Nun sieht er den Förster mit zusammengekniffenen Augen geheimnisvoll zwinkernd an und sagt gezwungen: "Übrigens schmeißt mich der Rittmeister nicht nur deswegen raus."

"Nein?" sagt der Förster und fragt: "Hast du übrigens gesehen, ob der Schulze auf seinem Hof ist?"

"Doch", sagt Negermeier. "Kam vorhin mit dem Leutnant rein."

Das paßt Kniebusch gar nicht. Wenn der Leutnant drin ist, hat es keinen Zweck, zum Schulzen zu gehen und mit ihm über die Hypothek zu reden. Und es wäre doch notwendig. In fünf Tagen sind die Halbjahreszinsen wieder einmal fällig, und er kann sich doch nicht zweihundert Mark Papier in die Hand stecken lassen!

"Bist du doof auf beiden Ohren geworden, Förster?!" schreit Meier. "Ich frag dich, wie alt die Weio ist!"

"Das gnädige Fräulein -? Die ist im Mai fünfzehn geworden."

"O wei! O wei!" markiert Meier. "Da schmeißt mich der Rittmeister bestimmt raus!"

"Wieso denn?" Kniebusch versteht nicht, aber die immer wache Neugierde des Zuträgers und Spitzels stachelt ihn schon. "Was meinst du denn?"

"Ach, laß man!" Meier macht eine großartige, wegwerfende Gebärde. "Erfährst du alles noch früh genug". Er trinkt und sieht den Förster wieder durch die zusammengekniffenen Lider unverschämt feixend an. "Aber eine großartige Brust hat das Mädchen, das kann ich dir sagen, Kniebusch, alter Genießer!"

"Welches Mädchen -?" fragt der Förster verblüfft. Dies will er denn

doch nicht glauben.

"Na, die kleine Krabbe, die Weio!" sagt Negermeier nachlässig. "Eine süße Puppe, sage ich dir. Wie mich die da vorhin in ihrem Liegestuhl begrüßt hat. Auf dem Küchenanbau, sage ich dir, nur im Badeanzug. Und dann hat sie so die Achselbänder losgemacht und dann - na, reden wir nicht davon, Kavalier bleibt Kavalier!"

"Du spinnst ja, Meier!" sagt der Förster Kniebusch empört. "Du sohlst ja! Du bist ja besoffen!"

"Natürlich sohl ich", sagt Negermeier mit gespielter Gleichgültigkeit. "Natürlich bin ich betrunken. Aber wenn dich einer fragt, Kniebusch, dem kannst du von mir bestellen, daß die Weio da" - er zeigt auf die Brust, ziemlich tief unterhalb der Achselhöhle - "ein kleines braunes Muttermal hat, und ein süßer Knutschfleck ist das, Kniebusch, kann ich dir flüstern ..."

Meier sieht den Förster erwartungsvoll an.

Der grübelt laut: "Daß du sie im Badeanzug gesehen hast, Meier, das will ich dir glauben. Auf dem Küchenanbau hat sie schon ein paarmal so gelegen, und die gnädige Frau will es partout nicht leiden, das weiß ich von der Köchin Armgard. Aber daß sie sonst mit dir ... nee, Meier, das nehme ich dir nicht ab, das mußt du Dümmeren als dem Förster Kniebusch erzählen!"

Der Förster grinst, jetzt fühlt er sich überlegen. Er schiebt das halbvolle Schnapsglas zurück und steht auf: "Komm, Cäsar!"

"Das glaubst du mir nicht?!" schreit Negermeier und springt auch auf. "Du ahnst ja nicht, Kniebusch, wie verrückt die Weiber nach mir sind. Alle kann ich sie haben, alle! Und die kleine Weio ..."

"Nee, nee, Meier", sagt Kniebusch, verächtlich grinsend, und macht sich mit diesem Ausspruch den kleinen Meier zum ewigen Todfeind. "Für 'ne Stallmagd oder Geflügelmamsell reicht es vielleicht bei dir. Aber das gnädige Fräulein, nee, Meier, du bist eben besoffen ..."

"Soll ich dir's beweisen?!" schreit Meier förmlich. Er ist vor Alkohol, Wut, Demütigung völlig von Sinnen. "Soll ich dir's schwarz auf weiß zeigen?! Da, kannst du lesen, du dummes Luder? Da, den Brief hat mir dein gnädiges Fräulein geschrieben!" Er reißt den Brief aus der Tasche, fetzt ihn auf. "Kannst du lesen -? Deine Violet! ›Deine‹ unterstrichen, siehst du das, Glotzauge?! Da, lies mal: ›Liebster! Allerliebster!! Einziger!!!‹ - Siehste die Ausrufungszeichen?! Da - nee, alles brauchst du auch nicht zu lesen - da das noch: ›Ich habe dich ja sooo lieb!‹" Er wiederholt es: "Sooo - na, ist das Liebe? Was sagst du nun?!"

Er steht triumphierend da. Seine dicken Lippen zittern, seine Augen funkeln. Das Gesicht ist gerötet.

Aber die Wirkung seiner Worte ist anders, als er erwartet hat. Förster Kniebusch ist von ihm fortgetreten, gegen die Tür der Schenke hin. - "Nein, Meier", sagt er. "Das hättest du nicht tun sollen, mir den Brief zeigen und mir das alles erzählen. Was bist du für ein Schwein, Meier! Nee, das will ich nicht gesehen haben, davon weiß ich nichts, das könnte mir Kopf und Kragen kosten. Nein, Meier", sagt Kniebusch und sieht ihn ganz unverhohlen feindlich an mit seinen alten, etwas blaß gewordenen Augen. "Wenn ich du wäre, packte ich auf der Stelle meinen Koffer und reiste ab, ohne Abmeldung, möglichst weit fort. Denn wenn der Rittmeister das erfährt -"

"Hab dich doch bloß nicht so, du alter Angsthase", sagt Meier mürrisch, stopft aber den Brief doch wieder in die Tasche. "Das erfährt der Rittmeister doch nicht. Wenn du die Klappe hältst ..."

"Ich halte meinen Mund schon", sagt der Förster und will es diesmal wirklich. "Ich verbrenne ihn mir nicht gar so gerne. Aber du, du wirst ihn nicht halten ... Nee, Meier, tu einmal was Vernünftiges und fahr ab. Und ganz schnell. - Also, da geht es wirklich los ..."

Die beiden haben nicht mehr auf das Wetter draußen geachtet. Dunkler und dunkler ist der Himmel geworden. Eben hat es taghell in die Gaststube geleuchtet, dann hat es ohrenbetäubend geknattert, und nun bricht es rauschend, prasselnd aus tausend Himmelsquellen.

"Du wirst doch nicht in das Unwetter laufen!" sagt Meier unwillkürlich.

"Doch!" sagt der Förster eilig. "Ich lauf schnell zum Schulzen rüber. Ich möchte hier nicht "... Und er läuft schon.

Negermeier sieht ihn hinter dem dichten Regenvorhang verschwinden. In der Gaststube riecht es nach Alkohol, saurem Bier, Dreck. Langsam macht Meier ein Fenster nach dem andern auf. Er kommt an dem Tisch vorbei, an dem sie gesessen. Unwillkürlich greift er nach der Flasche.

Aber als er sie am Munde hat, schaudert ihm vor dem Geruch des Alkohols, er nimmt die Flasche und läßt sie auf den Dorfplatz leergluckern. Dann geht er an den Tisch zurück und brennt sich eine Zigarette an. Er greift in die Tasche, zieht den Brief hervor. Der aufgefetzte Umschlag ist endgültig verdorben, und der Brief - er legt ihn mit den langsamen, vorsichtigen Bewegungen des Halbtrunkenen auf den Tisch -, und der Brief ist völlig zerknittert. Er versucht, die Falten mit der Hand zu glätten. Dabei denkt er erschöpft: Was mach ich nur? Was mach ich nur?

Er merkt, daß es langsam feucht wird unter der glättenden Hand. Er sieht hin. Er hat den Brief in eine Kognaklache gelegt, alles ist verschmiert.

Was mach ich nur? denkt er von neuem.

Er stopft das Geschmier wieder in die Tasche. Dann nimmt er seinen Stock und geht auch in den strömenden Regen hinaus. Er will erst mal ins Bett, seinen Rausch ausschlafen.

6

Der alte Förster Kniebusch rannte, so schnell er nur konnte, durch den immer stärker fallenden Regen nach dem Haaseschen Gehöft hinüber. So unangenehm es für einen alten Mann auch war, bis auf die Haut naß zu werden - so war das noch immer zehnmal besser, als bei diesem Kerl, dem Negermeier, zu sitzen und seine Schmutzereien anzuhören -!

Im Regenschatten der Haaseschen Scheune blieb Kniebusch stehen: so wie er jetzt war, konnte er nicht zum Schulzen hineingehen. Er trocknete sich schnaufend und umständlich das Gesicht ab und versuchte die klatschnassen Bartsträhnen zu entwirren. Während er aber all dies ganz mechanisch tat, dachte er immerzu, genauso wie der Negermeier drüben in der Schenke: Was tu ich nur? Was tu ich nur?

Schwer bedrückte es ihn einmal wieder, daß er keine Seele hatte, der er sein Herz ausschütten konnte; hätte er nur einem Menschen von dieser tollen Sache erzählen können, ihm wäre soviel leichter gewesen! So aber brannte und beizte ihn schon jetzt das Gehörte, daß es kaum zu ertragen war. Es war wie eine wunde Stelle am Finger, gegen die man immer wieder stößt; es war wie ein juckendes Ekzem, das man kratzen muß - koste es auch Blut.

Förster Kniebusch wußte wohl - aus mancher bitteren Erfahrung -, wie gefährlich diese immer stärker werdende Geschwätzigkeit und Klatschsucht für ihn war. Die schlimmsten Geschichten hatte er schon damit angerichtet, die unangenehmsten Auftritte gehabt. Wie er da, ziemlich geschützt, am Brettergiebel der Haaseschen Scheune lehnt und immer weiter an sich herumwischt und trocknet, versucht er eifrig, seiner Altersgeschwätzigkeit den Zündstoff fortzunehmen: Er hat ja gar nichts zu erzählen! Es ist ja alles nur betrunkenes Gerede von diesem weibstollen Kerl, dem kleinen Meier, gewesen!

Aber wenn er dann soweit ist, wenn er sich schon anschickt, ganz beruhigt und ohne alle gefährliche Ladung in sich, hinein in die Stube des Schulzen zu gehen, dann fällt ein Blitz aus dem Himmel: in der

Gaststube steht der Inspektor Meier, reißt den Brief aus der Tasche, fetzt ihn auf, liest ihn ...

Förster Kniebusch pfeift ganz hoch und langgezogen, obwohl es ihm eigentlich den Atem verschlägt. Der vor nasser Kälte zitternde Hund an seinem Bein fährt zusammen und steht da, Vorderfuß hoch, als wittere er Wild. Förster Kniebusch aber ist schon weiter als sein Hund: er hat den Schwarzkittel, das Borstenschwein, den verdammten Eber in seiner Suhle ausgemacht und ihm die Kugel aufs Blatt gesetzt: Negermeier hat doch gelogen!!!

Es ist ja auch gar nicht anders möglich, stöhnt der Förster Kniebusch erleichtert. Dieser Neger mit den Wulstlippen und unser gnädiges Fräulein! Das konnte ich nicht fressen. Und es war auch nicht mein Fraß! So ein dummer Prahlhans und Lügner, denkt, ich komme ihm nicht darauf. Reißt den Brief vor meinen Augen auf und weiß doch schon, was drinsteht! Sagt, er ist grade mit Fräulein Violet zusammen gewesen, und hat einen Brief von ihr in der Tasche! Natürlich hat sie ihm den Brief nur zu besorgen gegeben, und der Kerl hat ihn heimlich durchgeschnüffelt. Oh, die Sache muß ich mir heute noch in aller Ruhe und Andacht durchdenken. Es sollte mich doch wundern, wenn ich nicht alles klar herausbrächte, und am meisten sollte mich wundern, wenn ich dir nicht einen Strick draus drehen könnte, Meierchen! Du sollst mich nicht mehr lange Angsthase und Glotzauge nennen dürfen - wir werden schon sehen, wer es mit der Angst bekommt und glotzt!

Kniebusch dreht sich um und nimmt Front nach dem Gasthof. Aber der ist noch nicht wieder zu sehen, die Regenschleier sind zu dicht.

Ist auch besser so, denkt Kniebusch. Nur jetzt nichts Voreiliges tun! Das muß alles genau überlegt werden; denn es ist klar, daß ich die Sache so drehen muß, daß ich beim gnädigen Fräulein einen Stein im Brette bekomme. Die kann mir eines Tages noch sehr nützlich sein.

Damit pfeift Kniebusch durchdringend das Signal: "Zur Attacke, marsch, marsch!" und marschiert ab, gradenwegs in die Schulzenstube. Nicht einmal den Hund läßt er wie sonst auf dem Backsteinboden der Küche, sondern erlaubt ihm, mit den nassen Pfoten Schmutzkreise auf die gewachsten Dielenbretter zu treten. So siegesgewiß ist er.

In der Stube gibt es ihm aber doch einen Ruck, denn da sitzt nicht nur der lange Schulze Haase, sondern mitten auf dem eingesessenen Kanapee hockt der Herr Leutnant! Seine alte Feldmütze liegt auf dem gehäkelten Schoner der Kanapeelehne, und da sitzt er, ruppig, struppig, doch immer auf dem Draht. Zu einer großen Tasse Kaffee ißt er Spiegeleier mit Speck, und in das Fett schneidet er sich Brotwürfel, völlig

ländlich-schändlich. Und nur die Stunde, nachmittags sechs Uhr, ist eigentlich nicht ganz die richtige für Spiegeleier.

"Befehl ausgeführt!" meldet der Förster und reißt seine Knochen zusammen, wie er das eben vor allen tut, von denen er glaubt, es stecke irgendeine Befehlsgewalt in ihnen.

"Rühren!" befiehlt der Leutnant. Aber dann ganz freundlich, einen fetten Fetzen Ei auf der Blechgabel: "Na, Förster Kniebusch, immer noch munter auf den ollen Beinen? Alles bestellt und ausgerichtet? Alle angetroffen?"

"Das ist es ja grade!" sagt der Förster, plötzlich wieder ganz kummervoll, und erzählt, was er da vorhin auf seinem Bestellgang im Dorf erlebt hat und was Frau Pieplow und was Frau Päplow gesagt haben.

"Alter Schafskopp!" sagt der Leutnant und ißt geruhig weiter. "Dann wirst du eben noch mal, wenn die Kerls zu Hause sind, durchs ganze Kaff botten müssen, verstanden?! Den Weibern so was zu erzählen - ich sage es ja immer, die Öllsten sind die Döllsten!"

Und er macht sich ruhig wieder an sein Essen.

Der Förster hat brav "Zu Befehl, Herr Leutnant!" gesagt und sich nicht anmerken lassen, wie wütend er ist. Er könnte ja diesen jungen Schnösel fragen, mit welchem Recht er ihn hier anblafft und wieso er ihm hier Befehle gibt - aber es lohnt sich nicht, er läßt es lieber.

Dafür wendet sich Kniebusch an den Schulzen, der lang und knitterig, stumm, wie er meistens ist, in seinem Ohrenstuhl gesessen und sich den Knatsch, ohne eine Miene zu verziehen, angehört hat. Er fragt ihn gar nicht freundlich: "Ach, Schulze, wo ich mal hier bin, wollte ich dich doch fragen, wie ist das mit uns und mit meinen Zinsen? In fünf Tagen sind sie fällig, und ich muß doch nun wissen, wie du es machen willst."

"Weißt du das denn nicht?" fragt der Schulze und sieht achtsam nach dem Leutnant hinüber. Der aber ißt ruhig weiter und kümmert sich um nichts als um seine Spiegeleier und die Brotflöckchen, die er über den Teller treibt. "Das steht doch alles im Hypothekenbrief."

"Aber, Schulze", sagt der Förster fast flehend, "wir wollen uns doch nicht erzürnen, alte Leute, wie wir beide sind."

"Wie können wir uns da erzürnen, Kniebusch?" fragt der Schulze erstaunt. "Du bekommst, was geschrieben steht, und so alt wie du bin ich übrigens auch noch lange nicht."

"Meine zehntausend Mark", sagt der Förster mit zitternder Stimme, "die ich dir auf deinen Hof gegeben habe, waren gutes Friedensgeld - über zwanzig Jahre habe ich gespart, ehe ich sie zusammenhatte. Und

am vorigen Zinstage hast du mir so einen Lappen gegeben - er liegt noch daheim in der Schieblade, nicht eine Briefmarke, nicht einen Nagel habe ich mir dafür kaufen können ..."

Kniebusch kann sich nicht helfen, und es ist dieses Mal nicht nur das schwache Alter, es ist auch ehrlicher Kummer, der ihm die Tränen in die Augen treibt. So sieht er den Schulzen Haase an, der langsam die Hände zwischen den Knien reibt und grade zur Antwort ansetzt, als die scharfe Stimme vom Sofa her befiehlt:

"Förster!"

Der Förster fährt herum, jäh aus seinem Kummer und aus seinem Flehen gerissen. "Zu Befehl, Herr Leutnant?"

"Geben Sie mir mal Feuer, Förster!"

Der Herr Leutnant ist mit seiner Esserei fertig. Er hat die letzte Spur von Fett von seinem Teller aufgetrocknet, die Neige vom Kaffee getrunken - nun liegt er, bequem ausgestreckt, mit seinen Schmutzstiefeln auf dem Haaseschen Kanapee, hat die Augen geschlossen, aber eine Zigarette zwischen den Lippen und verlangt Feuer.

Der Förster gibt es ihm. Als der Leutnant den ersten Rauch einzieht, öffnet er die Lider und sieht grade in das nahe, tränende Auge des Försters. "Na, was denn?!" sagt der Leutnant. "Ich glaube gar, Sie heulen, Kniebusch?"

"Es ist nur der Rauch, Herr Leutnant", antwortet Kniebusch verlegen.

"Na, denn ist es ja gut", sagt der Leutnant, schließt die Augen wieder und wirft sich auf die Seite.

"Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich mir dein ewiges Meckern anhöre, Kniebusch", sagt der Schulze, als der Förster wieder zu ihm zurückkommt. "Zweihundert Mark hast du nach dem Hypothekenbrief zu kriegen. Und das vorige Mal habe ich dir schon einen Tausendmarkschein gegeben, und weil du nicht rausgeben konntest, habe ich ihn dir ganz gelassen ..."

"Nicht einen Nagel habe ich mir dafür kaufen können!" wiederholt der Förster verbissen.

"Und diesmal will ich auch nicht so sein. Ich habe mir schon einen Zehntausender für dich parat gelegt, und ich will wieder nicht so sein: du sollst mir auch nichts rausgeben müssen, trotzdem zehntausend so viel sind wie deine ganze Hypothek ..."

"Aber, Schulze!" ruft der Förster. "Das ist doch alles lauter Spott und Hohn! Du weißt ganz gut, daß diese zehntausend noch viel weniger sind

als die tausend vor einem halben Jahr! Und ich habe dir mein gutes Geld gegeben ..."

Der Kummer bricht ihm fast das Herz.

"Aber was geht das mich an!" ruft jetzt auch der Schulze Haase ärgerlich. "Habe ich dein gutes Geld schlecht gemacht? Da mußt du dich an die Herren in Berlin wenden, ich habe doch keine Schuld daran! Geschrieben ist geschrieben ..."

"Aber es muß doch nach der Gerechtigkeit gehen, Schulze!" bittet der Förster. "Ich kann nicht zwanzig Jahre gespart und mir nichts gegönnt haben, daß du mir jetzt einen Arschwisch dafür gibst!"

"So?!" sagt der Schulze giftig. "Sagst du das, Kniebusch? Und wie war's im Dürrejahr damals, als ich das Geld nicht zusammenkriegen konnte - wer hat da gesagt: ›Geschrieben ist geschrieben‹?! Und wie war es, als die fetten Schweine achtzehn Mark der Zentner kosteten und ich sagte: ›Das Geld ist zu teuer, du mußt etwas nachlassen, Kniebusch!‹ - Wer hat mir da geantwortet: ›Geld ist Geld, und wenn du nicht zahlst, Schulze, laß ich pfänden.‹ - Wer hat das gesagt?! Bist du das gewesen, Kniebusch, oder war's ein anderer?"

"Aber das war doch etwas ganz anderes, Schulze", sagt der Förster ziemlich kleinlaut. "Damals waren es kleine Unterschiede, aber heute ist es doch so, daß du mir überhaupt nichts geben willst. Ich verlange ja nicht, daß du mir den vollen Wert ersetzt, aber wenn du mir statt der zweihundert Mark zwanzig Zentner Roggen geben wolltest ..."

"Zwanzig Zentner Roggen!" Haase bricht in ein schallendes Gelächter aus. "Ich glaube, Kniebusch, du bist verrückt geworden! Zwanzig Zentner Roggen, das sind ja über zwanzig Millionen Mark ..."

"Und sind noch nicht annähernd das, Schulze, was du mir zahlen müßtest", beharrt Kniebusch. "Im Frieden waren's meistens dreißig Zentner."

"Ja, im Frieden!" sagt der Schulze ganz aufgebracht, da er merkt, der Förster läßt sich nicht einfach abspeisen, sondern will ihm ernstlich an den Beutel. "Aber jetzt haben wir keinen Frieden, sondern die In-fla-ti-on - und da muß jeder für sich selber sorgen. Und nun will ich dir sagen, daß ich deine ewige Meckerei überhabe, Kniebusch. Im Dorf klatschst du auch ewig über uns rum, und neulich hast du beim Bäcker gesagt, wieso der Schulze Gänsebraten essen kann, wo er seine Zinsen nicht ehrlich bezahlt.(Red nicht, Kniebusch, das hast du gesagt, ich erfahr alles.) Aber nun radle ich morgen nach Meienburg, und mit dem Anwalt schicke ich dir die Zinsen, genau zweihundert Mark, wie es sein muß, und die

Kündigung von der Hypothek bekommst du dazu, und zu Silvester kriegst du dann dein Geld wieder, genau zehntausend Mark - und wieviel du dir dann dafür kaufen kannst, das soll mir egal sein. Ja, das tue ich, Kniebusch, denn ich habe es satt mit dir, dein ewiges Gejammer um deine Ersparnisse. Ich tue es und ich mache es ..."

"Das werden Sie nicht tun, Schulze Haase", kam eine scharfe Stimme vom Sofa her. "Und es wird auch so gehen."

Der Leutnant saß wieder aufrecht, völlig wach, die noch qualmende Zigarette im Mundwinkel.

"Sie werden am Letzten dem Förster seine zwanzig Zentner Roggen geben, und wir werden jetzt einen Wisch aufsetzen, daß Sie sich auch weiterhin, solange dieses Dreckgeld umläuft, zu der gleichen Zahlung verpflichten ..."

"Nee, Herr Leutnant, das schreibe ich nicht", sagt der Schulze entschlossen. "Zu so was können Sie mich nun doch nicht kommandieren. Sonst ja, aber dies nicht. Wenn ich das dem Herrn Major erzähle ..."

"... gibt er Ihnen einen Tritt in den Hintern und schmeißt Sie raus. Oder stellt Sie auch als Verräter an die Wand, möglich ist das alles, Schulze. - Mann Gottes!" rief der Leutnant lebhafter, sprang auf, ging zum Schulzen und faßte ihn am Rockknopf. "Sie wissen doch, worum es geht, und Sie altgedienter Mann wollen dabei noch schnell vor Toresschluß an den Schweinereien von den Brüdern in Berlin profitieren! Schämen Sie sich was, Schulze!"

Er drehte sich um, ging an den Tisch, nahm sich eine neue Zigarette. Er kommandierte: "Feuer, Förster!"

Kniebusch, tausendfältig erleichtert, sklavisch dankbar, stürzte herzu. Er flüsterte, indes er den Leutnant mit Feuer bediente: "Es müßte auch geschrieben werden, daß die Hypothek nicht gekündigt werden darf. Sonst zahlt er mich jetzt mit dem Dreckgeld aus - und es ist doch all mein Erspartes!"

Das Mitleid mit sich selbst überwältigte ihn, die Freude über den unerwarteten Retter machte ihn noch weicher: Förster Kniebusch weinte schon wieder.

Angewidert sah es der Leutnant. "Kniebusch, altes Waschweib", sagte er. "Hau ab - sonst rede ich kein Wort mehr. Glaubst du, es geht mir um dich?! Du und deine filzigen Kröten - ihr seid mir ja soo egal. Es ist um der Sache willen, die Sache muß sauber sein."

Der Förster ging betreten in den Fensterwinkel - war nicht sein Recht

sonnenklar? Warum mußte er angeschnauzt werden?

Der Leutnant wandte sich an den Schulzen. "Na, wie ist es, Haase?" fragte er qualmend.

"Herr Leutnant", sagte der fast bittend. "Warum soll ich schlechter gestellt sein als die andern? Alle hier in der Gegend stoßen jetzt ihre Hypotheken ab. Und der Kniebusch ist wirklich keiner, auf den man Rücksicht nehmen muß."

Diesmal sagte der Leutnant: "Es geht nicht um den Kniebusch, es geht um Sie, Haase. Sie können nicht Ihren Schnitt durch die Betrügereien der Berliner machen und sie wegen dieser Betrügereien stürzen wollen. Das ist sonnenklar, das versteht jedes Kind, das verstehen Sie auch, Haase - und da drinnen", er tippte ihm leicht auf die Weste, und unbehaglich zog sich der Schulze zurück, "da drinnen wissen Sie auch recht gut, daß Sie unrecht haben."

Der Schulze stand in schwerem Kampf. Er hatte in einem langen, arbeitsreichen Leben gelernt, festzuhalten; fortzugeben hatte er nicht gelernt. Endlich sagte er langsam: "Ich will schreiben, daß ich ihm die Hypothek nicht kündige und daß ich ihm alle halben Jahre den Wert von zehn Zentnern Roggen zahle ... Mehr trägt der Hof nicht, Herr Leutnant, es sind schlimme Zeiten ..."

"Pfui, Schulze!" sagte der Leutnant leise und sah den alten Mann sehr ernst an. "Die ganze Schweinerei trauen Sie Ihrem Gewissen nicht zu, aber die kleine wird's schon verdauen, was? - Sehen Sie mich an, Mann! Ich bin sonst wirklich nicht des Rühmens wert, aber in diesem Punkt ... Ich habe gar nichts, Schulze, seit fünf Jahren habe ich nichts, als was ich auf dem Leibe trage. Manchmal kriege ich Sold, manchmal kriege ich keinen. Es ist auch egal. Entweder glaubt man an eine Sache, dann gibt man alles dafür - oder man glaubt nicht daran - na, und wenn das der Fall ist, Schulze, dann haben wir beide nicht mehr viel miteinander zu reden."

Der Schulze Haase war lange stumm. Schließlich sagte er verdrossen: "Sie sind ein junger Mann, und ich bin ein alter. Ich habe einen Hof, Herr Leutnant, ich muß auf den Hof passen. Wir Haases sitzen schon unendlich lange hier, ich möchte mich vor Vater und Großvater nicht sehen lassen, wenn ich den Hof verluderte."

"Aber wenn Sie ihn durch einen Betrug erhalten - das macht gar nichts, was, Schulze?"

"Es ist kein Betrug!" rief der Schulze wieder hitzig. "Jeder tut es. Und außerdem, Herr Leutnant", sagte er und feixte sachte mit den Fältchen

um den Augen, "wir sind doch alle Menschen und keine Engel. Der Vater hat auch mal ein Pferd als zugfest verkauft, was es nicht war. Wir werden betrogen, und wir betrügen auch mal - ich denke, daß Gott auch verzeihen kann, steht nicht nur auf dem Papier von der Bibel."

Der Leutnant war schon wieder bei der nächsten Zigarette. Was der Schulze über Gott dachte, interessierte ihn nicht. Ihm lag daran, daß es erst einmal auf dieser Welt besser wurde. "Feuer, Förster!" befahl er, und der Förster, der mit den Bommeln an den Gardinen gespielt hatte, sprang.

"Zurück in Deckung!" befahl der Leutnant, und Kniebusch sprang wieder in die Gardinen.

"Wenn Sie nicht tun, was ich Ihnen sage", erklärte der Leutnant verbissen - denn er konnte mindestens ebenso hartköpfig sein wie ein alter Bauernschulze -, "wenn Sie nicht tun, was einfache Pflicht jedes anständigen Kerls ist, dann kann ich Sie auch bei unserer Sache nicht brauchen, Schulze."

"Ich dachte immer, Sie hätten uns nötig", sagte der Schulze ungerührt.

"Und wenn Sie bei unserer Sache nicht mitgemacht haben, Schulze", fuhr der Leutnant völlig unbeirrt fort, "und wir sind dann in vier Wochen oder zwei Monaten die Herren - glauben Sie, es wird dann sehr vorteilhaft für Sie aussehen? Wie?"

"Gott", sagte der Schulze Haase gemächlich, "wenn Sie alle, die nicht mitgemacht haben, bestrafen wollen, Herr Leutnant - das wird ein Wehgeschrei durch alle Dörfer geben. Und", spottete er, "Sie werden ja wohl auch nicht grade der Landwirtschaftsminister werden, Herr Leutnant."

"Schön!" meinte der Leutnant kurz und fischte seine Mütze vom Kanapee. "Sie wollen also nicht, Schulze?"

"Ich hab gesagt, was ich will", wiederholte der Schulze hartnäckig. "Nicht kündigen und zehn Zentner Roggen Wert."

"Wir beide sind fertig miteinander, Schulze", sagte der Leutnant. "Kommen Sie, Förster, ich sage Ihnen noch, wo heute die Versammlung stattfindet. Hier jedenfalls nicht."

Der Schulze Haase hätte gerne noch etwas gesagt, aber er kniff die schmalen Lippen fest zusammen. Der Leutnant war kein Händler, er ließ sich nichts abhandeln, er verlangte alles oder nichts. Da der Schulze alles nicht bewilligen wollte, schwieg er lieber.

Der Leutnant stand in der Tür des Schulzenhauses und sah auf die Hofstatt hinaus. Hinter ihm standen stumm der Förster Kniebusch und

sein Hund. Es sah aus, als scheue sich der Leutnant, in den schwächer, aber immer noch kräftig genug fallenden Gewitterregen hinauszutreten. Aber er dachte gar nicht an den Regen, er sah gedankenverloren auf die offene Scheunentenne, wo sie noch schnell vor Feierabend das letzte vor dem Unwetter geborgene Roggenfuder abluden.

"Herr Leutnant", sagte der Förster Kniebusch vorsichtig. "Man könnte die Versammlung vielleicht bei Bauer Bentzien abhalten ..."

"Bentzien, jawohl, Bentzien "..., sagte der Leutnant nachdenklich und sah weiter dem Fuderabladen zu. Das krachtrockene Stroh raschelte bis zu ihm herüber. Der Leutnant war nicht mehr im Felde gewesen, dafür war er zu jung, aber auch im Baltikum, auch in Oberschlesien hatte man lernen können, daß letzten Endes die größere Zähigkeit entschied. Der Leutnant hatte zum Schulzen gesagt, sie seien beide fertig miteinander, aber wenn Haase das auch glauben mochte, der Leutnant war noch nicht mit dem Schulzen fertig. Grade nicht. "Benzin "..., murmelte er noch einmal, und dann barsch: "Sie warten hier, Förster!"

Damit macht der Leutnant kehrt und geht wieder ins Haus.

Kaum fünf Minuten später wird auch der Förster hineingerufen. Der Schulze sitzt am Tisch und schreibt eine Bestätigung, daß er auf Kündigung der Hypothek verzichtet und sich zu einer Zinszahlung von vierzig Zentnern Roggen, zahlbar in zwei Halbjahresraten, verpflichtet. Dem Schulzen sieht man nichts an, und dem Leutnant sieht man auch nichts an. Der Förster möchte vor Glück heulen, aber das darf er nicht, sonst geht die Sache womöglich noch wieder zurück. So verbeißt er seine Gefühle und macht dabei ein Gesicht wie ein rotlackierter Nußknacker.

"So, Laden geht in Ordnung", sagt der Leutnant und unterschreibt auch noch "als Zeuge" mit einem Krakel. "Und nun bestellen Sie die Leute, Kniebusch. Hierher, natürlich hierher. Bauer Bentzien? Benzin kommt hier nicht in Frage!"

Und er lacht, ein wenig bösartig, während der Schulze schweigt.

Die Unterredung zwischen dem Leutnant und dem Schulzen war nur sehr kurz gewesen.

"Sagen Sie mal, Schulze", hatte der Leutnant hereinschlendernd gefragt, "was mir eben noch eingefallen ist: Wie ist es denn mit der Feuerversicherung?"

"Mit der Feuerversicherung?" hatte der Schulze ganz verblüfft gefragt.

"Na ja doch!" hatte der Leutnant ungeduldig gemeint, als müsse ein Kind das verstehen. "Wie sind Sie denn versichert?"

"Vierzigtausend", sagte der Schulze.

"Papiermark, was?"

"Jaaa "... Sehr langgedehnt.

"Ich denke, das sind so etwa vierzig Pfund Roggen, wie?"

"Jaaa ..."

"Ist das nicht verflucht leichtsinnig? Wo Sie jetzt die Scheune voll von dem trockenen Heu und Stroh haben, wie?"

"Aber es gibt doch keine andere Versicherung!" hatte der Schulze verzweifelt ausgerufen.

"Doch, Schulze, doch", hatte der Leutnant gesagt. "Nämlich, wenn Sie jetzt den Förster Kniebusch reinrufen und schreiben, was ich Ihnen sage."

Worauf der Förster Kniebusch hereingerufen wurde.

7

An diesem Nachmittag hatte der Empfangschef des Hotels, Oberleutnant a. D. von Studmann, ein recht unangenehmes Erlebnis. Etwa um drei Uhr nachmittags, zu einer Zeit, da keine Reisenden von den Zügen kamen, war in der Eingangshalle ein ziemlich großer, kräftig gebauter Herr erschienen, tadellos in englische Stoffe gekleidet, ein Schweinslederköfferchen in der Hand.

Einbettiges Zimmer mit Bad, ohne Telefon, im ersten Stock, hatte der Herr verlangt.

Ihm wurde gesagt, daß alle Zimmer des Hotels Telefon hätten. Der Herr, ein Dreißiger etwa, mit scharfgeschnittenem, aber gelblichblassem Gesicht konnte außerordentlich schreckenerregend mit diesem seinem Gesicht zucken. Das tat er jetzt und verbreitete solchen Schrecken, daß der Portier zurückfuhr.

Studmann trat näher. Wenn es gewünscht würde, könne das Telefon natürlich aus dem Zimmer entfernt werden. Immerhin ...

"Es wird gewünscht!" schrie der Fremde plötzlich unvermittelt. Und ohne Übergang verlangte er ganz friedlich, daß auch die Klingelknöpfe auf seinem Zimmer außer Tätigkeit gesetzt würden. "Ich wünsche all diese moderne Technik nicht", hatte er stirnrunzelnd gesagt.

Von Studmann hatte sich schweigend verbeugt. Er wartete darauf, daß als nächstes die Entfernung des elektrischen Lichtes verlangt werden würde, aber entweder rechnete der Herr elektrisches Licht nicht zur

modernen Technik, oder er hatte diesen Punkt vergessen. Er stieg murmelnd die Treppe hinauf, einen Boy mit dem Schweinslederköfferchen hinter, den Zimmerkellner mit dem Meldeblock vor sich.

Von Studmann war nun lange genug Empfangschef in einer Großstadtkarawanserei, um sich noch allzusehr über Wünsche von Gästen zu wundern. Von der allein reisenden Südamerikanerin an, die schreiend ein Zimmerklosett für ihr Äffchen verlangt hatte, bis zu dem soignierten älteren Herrn, der nachts um zwei Uhr im Pyjama auftauchte und flüsternd sofort - aber bitte sofort! - die Besorgung einer Dame aufs Zimmer verlangt hatte(Stellen Sie sich bloß nicht so an! Wir sind doch alle Männer!) - fast nichts konnte noch die Gelassenheit Studmanns verwirren.

Trotzdem war etwas an diesem neuen Gast, das ihn zur Vorsicht mahnte. Im Durchschnitt werden Hotels vom Durchschnitt besucht, und der Durchschnitt liest lieber Skandale in der Zeitung, als daß er sie miterlebt. Irgend etwas in des Empfangschefs Brust warnte ihn. Nicht so sehr die albernen Wünsche, eher schon das Fratzenschneiden, das plötzliche Schreien, der unruhige, bald freche, bald gehetzte Blick in den Augen des Gastes hatten ihn gestört.

Immerhin waren die Rapporte, die von Studmann binnen kurzem empfing, befriedigend. Der Boy hatte einen ganzen amerikanischen Papierdollar Trinkgeld bekommen, die Geldtasche des Gastes war außerordentlich gut gefüllt gewesen. Der Zimmerkellner brachte den Meldeschein. Der Herr hatte sich als "Reichsfreiherr Baron von Bergen" eingetragen.

Der vorsichtige Kellner Süskind hatte sich auch noch den Reisepaß des Fremden vorlegen lassen, wozu er nach einer Bestimmung des Polizeipräsidenten berechtigt war. Der Paß - ein Inlandspaß, ausgestellt von der Amtshauptmannschaft in Wurzen - war zweifelsohne in Ordnung gewesen. Der sofort zu Rate gezogene Gotha erwies, daß es Reichsfreiherren von Bergen tatsächlich gab, sie waren in Sachsen ansässig.

"Also alles in Ordnung, Süskind", sagte von Studmann und klappte den Gotha wieder zu.

Süskind wiegte unsicher den Kopf. "Ich weiß nicht", meinte er. "Komisch ist der Herr."

"Wieso komisch? Hochstapler? Wenn er zahlt, kann es uns egal sein, Süskind."

"Hochstapler? Kein Gedanke! Aber ich glaube, der spinnt."

"Spinnt -?" fragte von Studmann, ärgerlich, daß auch Süskind denselben Eindruck wie er selbst hatte. "Unsinn, Süskind! Vielleicht ein bißchen nervös. Oder angetrunken."

"Nervös? Angetrunken? Kein Gedanke! Der spinnt ..."

"Aber wieso denn, Süskind? Hat er sich denn oben irgendwie komisch benommen -?"

"Gar nicht!" gab Süskind bereitwillig zu. "Das bißchen Gesichterschneiden und Faxenmachen will gar nichts sagen. Manche denken doch, die imponieren uns mit so was."

"Also -?"

"Man hat es so im Gefühl, Herr Direktor. Wie vor einem halben Jahr sich der Trikotagenonkel auf 43 aufhängte, hab ich's auch im Gefühl gehabt ..."

"Um Gottes willen, Süskind! Malen Sie bloß nicht den Teufel an die Wand! - Na, ich muß jetzt weiter. Halten Sie mich auf dem laufenden und haben Sie immer ein Auge auf den Herrn ..."

Von Studmann hatte einen sehr anstrengenden Nachmittag. Der neue Dollarkurs hatte nicht nur eine Neuauszeichnung aller Preise notwendig gemacht, nein, der ganze Etat mußte neu kalkuliert werden. Studmann saß wie auf Kohlen im Sitzungszimmer der Direktion. Unendlich umständlich setzte Generaldirektor Vogel auseinander, daß man erwägen müsse, ob nicht, vorsorglich weiterer Dollarsteigerungen, ein gewisser Aufschlag auf den jetzigen Kurs kalkuliert werden müsse, um sich nicht "auspowern" zu lassen.

"Wir müssen die Substanz erhalten, meine Herren! Die Substanz!" Und er setzte auseinander, daß beispielsweise unser Vorrat an Alabasterschmierseife im letzten Jahre von siebzehn auf einen halben Zentner gesunken sei.

Trotz der mißbilligenden Blicke seines Vorgesetzten rannte Studmann immer wieder in die Halle hinaus. Nach der vierten Stunde hatte der Strom der Reisenden sehr kräftig eingesetzt, im Empfang hatten alle Angestellten fieberhaft zu tun, und der Strom der Ankommenden staute sich gegen die, die plötzlich den Entschluß, abzureisen, gefaßt hatten.

Flüchtig nur nickte Studmann mit dem Kopf, als Süskind ihm zuflüsterte, der Herr auf 37 habe ein Bad genommen, sich dann ins Bett gelegt und eine Flasche Kognak und eine Flasche Sekt kommen lassen.

Also doch ein Trinker, dachte er gehetzt. Wenn er zu randalieren anfängt, schicke ich ihm den Hotelarzt und lasse ihm ein Schlafmittel

geben.

Und er eilte weiter.

Studmann kam grade wieder aus dem Sitzungszimmer, wo Generaldirektor Vogel jetzt dabei war auseinanderzusetzen, daß Kalkeier der Ruin des Hotelgewerbes seien. - Immerhin sei unter den heutigen Umständen zu erwägen, ob nicht ein gewisser Vorrat - da die Zufuhren an Frischeiern ... und da leider auch die Kühlhauseier ...

Idiot! dachte von Studmann im Wegstürzen. Und verwundert: Wieso bin ich eigentlich so gereizt? Ich kenne diese Nölerei doch schon seit ewig ... Das Gewitter muß mir in den Knochen sitzen ...

Der Zimmerkellner Süskind hielt ihn an. "Jetzt geht es los, Herr Direktor", sagte er mit gramverzerrtem Gesicht über der schwarzen Frackbinde.

"Was geht los? Sagen Sie schnell, was Sie wollen, Süskind. Ich habe keine Zeit."

"Aber der Herr von 37 doch, Herr Direktor!" sagte Süskind vorwurfsvoll. "Er sagt, es ist eine Schnecke im Sekt!"

"Eine Schnecke -?" Von Studmann mußte lachen. "Unsinn, Süskind, lassen Sie sich doch nicht durch den Kakao ziehen! Wie sollen Schnecken in den Sekt kommen?! Habe noch nie so was gehört."

"Aber es ist eine drin", beharrte Süskind kummervoll. "Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Eine große, schwarze Nacktschnecke ..."

"Sie haben -?" Plötzlich war Studmann ernst geworden, er überlegte. Es war völlig unmöglich, daß in dem Sekt seines Hauses Schnecken waren! Hier verkaufte man keinen gemanschten Schiebersekt! "So hat er sie reingesteckt, um uns einen Possen zu spielen", entschied er. "Bringen Sie ihm unberechnet eine andere Flasche. Hier - für den Kellermeister."

Er schrieb mit fliegender Hand den Bon aus.

"Und passen Sie gut auf, Süskind. Daß er den Spaß nicht noch einmal macht!"

Süskind wiegte ganz gebrochen den Kopf. "Wollen Sie nicht doch lieber einmal selbst zu ihm gehen? Ich fürchte ..."

"Unsinn, Süskind. Ich habe keine Zeit für solche Späße. Wenn Sie das nicht selbst in Ordnung bringen können, nehmen Sie sich den Kellermeister mit als Zeugen oder wen Sie wollen ..."

Studmann rannte schon. In der Halle schrie der bekannte Eisenmagnat Brachwede, er habe die Zimmer für zehn Millionen täglich gemietet, und

hier auf der Rechnung stünden fünfzehn ...

Er hatte den Magnaten über das zu unterrichten, was er längst wußte, nämlich über den gestiegenen Dollar, er hatte hier zuzureden, dort zu lächeln, einem Boy einen zornigen Wink zu geben, er solle etwas besser aufpassen, den Transport einer gelähmten Dame in den Fahrstuhl zu überwachen, drei Telefonanrufe abzuweisen ...

... als der betrübte Süskind schon wieder hinter ihm stand.

"Herr Direktor! Ach bitte, Herr Direktor!" flüsterte er, ein wahres auf die Nerven gehendes Bühnenintrigantengeflüster alten Stils.

"Was ist denn nun schon wieder los, Süskind?!"

"Der Herr auf 37, Herr Direktor ..."

"Was denn? Was denn? Noch 'ne Schnecke im Sekt?"

"Herr Tuchmann"(dies war der Kellermeister) "machte eben die elfte Flasche auf - in allen sind Schnecken!"

"In allen!" schrie von Studmann förmlich. Und leiser, als er die Blicke der Gäste auf sich fühlte: "Sind Sie denn nun auch verrückt geworden, Süskind?"

Süskind nickte traurig. "Der Herr schreit. Schwarze Nacktschnecken verbittet er sich, schreit er ..."

"Los!" schrie Studmann und raste schon die Treppe zum ersten Stock hinauf, ganz ohne Rücksicht auf die würdige Haltung, die der Empfangschef und Subdirektor eines so vornehmen Betriebes in jeder Lage zu bewahren hat. Der kummervolle Süskind raste hinterdrein.

Sie spritzten durch die verblüfften Gäste - und es verbreitete sich sofort das Gerücht, unkontrollierbar, woher: Die Koloratursängerin Contessa Vagenza, die heute abend in den Kammersälen auftreten sollte, habe soeben entbunden.

Sie kamen gleichzeitig vor Nummer 37 an. Angesichts der erhaltenen Berichte meinte von Studmann auf alle zeitraubenden Höflichkeiten verzichten zu können. Er klopfte nur kurz und trat ein, ohne das Herein abzuwarten. Ihm folgte auf dem Fuß der Kellner Süskind, der sorgfältig die gepolsterte Doppeltür schloß, um den Lärm der etwa kommenden Auseinandersetzung den anderen Gästen fernzuhalten.

In dem recht großen Zimmer brannte das elektrische Licht. Die Vorhänge der beiden Fenster waren dicht geschlossen. Ebenso war die Tür zu dem anstoßenden Badezimmer geschlossen - wie sich bald herausstellen sollte, war sie auch verschlossen. Der Schlüssel war abgezogen.

In dem breiten, ganz modernen Metallbett aus Chromstahl lag der Gast. Das Gelb seines Gesichtes, das Studmann schon in der Halle aufgefallen war, sah noch krankhafter gegen die weißen Kissen aus. Dazu trug der Gast einen purpurroten Pyjama aus einem scheinbar sehr kostbaren Brokatstoff - die gelben, dicken Stickereien dieses Pyjamas sahen fahl aus gegen das gallige Gesicht. Eine Hand, eine kräftige Hand mit einem auffallend schönen Siegelring, hielt der Gast offen auf der blauseidenen Steppdecke. Die andre lag unter der Decke.

All dies sah von Studmann mit einem Blick, er sah auch den an das Bett geschobenen Tisch, die Unzahl der darauf stehenden Kognak- und Sektflaschen verblüffte ihn. Es mußte viel mehr heraufgeschafft worden sein als die von Süskind erwähnten elf Flaschen.

Ärgerlich stellte von Studmann zugleich fest, daß der überängstliche Süskind sich nicht mit der Zeugenschaft des Kellermeisters begnügt hatte, auch ein Page, das Zimmermädchen, ein Liftboy und irgendein graues, weibliches Wesen, das vermutlich aushilfsweise mit Zimmerreinigen beschäftigt gewesen war, standen in der Nähe des Tisches, eine kleine, sehr ängstliche und verlegene Gruppe.

Einen Augenblick lang überlegte Studmann, ob er erst einmal diese Zeugen eines etwaigen Skandals vor die Tür setzen sollte, aber ein Blick auf das schrecklich zuckende Gesicht des Gastes belehrte ihn, daß Eile am Platz war. So trat er denn mit einer Verbeugung an das Bett, nannte seinen Namen und blieb abwartend stehen.

Sofort lag das Gesicht des Herrn ruhig. "Nicht angenehm!" näselte er in jenem arroganten Leutnantston, den von Studmann längst ausgestorben geglaubt hatte. "Außergewöhnlich unangenehm für - Sie! Schnecken im Sekt - irrsinnige Schweinerei!"

"Ich sehe keine Schnecken", sagte von Studmann mit einem kurzen Blick auf Sektkelche und Flaschen. Was ihn zutiefst beunruhigte, war nicht diese alberne Reklamation, sondern der Blick grenzenlosen Hasses aus den dunklen Augen des Gastes, diesen Augen, die frech und zugleich feige waren, Augen, wie sie Studmann noch nie gesehen hatte.

"Sie sind aber drin!" schrie der Gast so plötzlich, daß jeder zusammenfuhr. Er saß jetzt im Bett, eine Hand in die Steppdecke gekrallt, die andere unter der Decke.

(Achtung! Achtung! sagte von Studmann zu sich. Der hat was vor!)

"Alle haben die Schnecken gesehen. Nehmen Sie die Flasche, nein, die!"

Gleichgültig nahm Studmann die Flasche in die Hand, hielt sie gegen

das Licht. Er war vollkommen davon überzeugt, daß der Sekt ganz in Ordnung war - und daß der Gast das ebensogut wie er wußte. Mit irgendeinem Trick hatte er die einfältigen Gemüter von Kellner und Kellermeister überrumpelt - aus einer Absicht heraus, die Studmann jetzt noch nicht wußte, wohl aber rasch erfahren würde.

"Achtung, Herr Direktor!" rief da schon der Zimmerkellner Süskind - und Studmann fuhr herum. Aber es war schon zu spät. In die Betrachtung der Flasche vertieft, hatte Studmann den Gast aus den Augen gelassen. Unfaßbar leise war der aus dem Bett und zur Tür geglitten, hatte abgeschlossen - und nun stand er dort, in der einen Hand den Schlüssel, in der andern, erhobenen, eine Pistole.

Von Studmann war manches Jahr im Felde gewesen, eine auf ihn gerichtete Schußwaffe konnte ihn nicht sonderlich aus der Ruhe bringen. Was ihn erschreckte, war der Ausdruck von Haß und trostloser Verzweiflung, der auf dem Gesicht des geheimnisvollen Fremden lag. Dabei war dies Gesicht jetzt ganz ruhig, nichts mehr von Grimassen, eher ein Lächeln, ein sehr höhnisches Lächeln allerdings.

"Was soll das?" fragte Studmann kurz.

"Das soll heißen", sagte der Gast leise, aber sehr deutlich, "daß die Stube jetzt auf mein Kommando hört. Wer nicht pariert, wird erschossen."

"Haben Sie Absichten auf unser Geld? Die Beute wird sich kaum lohnen. Sind Sie nicht der Baron von Bergen?"

"Kellner!" sagte der Fremde. Prächtig stand er da, in seinem purpurnen, mit Gelb bestickten Pyjama, zu prächtig für das gelbe, kranke Gesicht darüber. "Kellner, schenken Sie jetzt in sieben Sektkelche Kognak. - Ich zähle bis drei, wer dann nicht ausgetrunken hat, bekommt einen Schuß. - Nun, wird es?!"

Mit einem hilfeflehenden Blick auf Herrn von Studmann hatte sich Süskind an das befohlene Einschenken gemacht.

"Was sollen diese Scherze?" fragte von Studmann unwillig. "Sie sollen trinken!" sagte der gastgebende Gast. "Eins - zwei - drei -! Trinkt!! Wird es wohl?! Ihr sollt trinken!"

Jetzt schrie er doch wieder.

Die andern sahen auf Studmann - Studmann zögerte ...

Der Fremde schrie noch einmal: "Trinkt! Austrinken!" Und schoß. Nicht nur die Frauen schrien. Allein hätte von Studmann den Kampf mit dem Manne gewagt, aber die Rücksicht auf die fassungslosen Leute im Zimmer, der Ruf des Hotels befahlen ihm Zurückhaltung.

Er wandte sich um, sagte ruhig: "Also trinkt!", lächelte ermutigend in die ängstlichen Gesichter und trank selbst.

Es waren mehrere sehr große Schlucke Kognak in dem Sektglas, Studmann bezwang sie rasch, aber hinter sich hörte er die andern, wie sie sich verschluckten und prusteten.

"Es muß ausgetrunken werden", sagte der Fremde zänkisch. "Wer nicht austrinkt, wird erschossen."

Von Studmann durfte sich nicht umdrehen, er mußte den Gast im Auge behalten; immer noch hoffte er, daß der Gast einen Augenblick nicht aufpassen und ihm so das Wegnehmen der Waffe ermöglichen würde.

"Sie haben in die Decke geschossen", sagte er höflich. "Ich danke Ihnen für die Rücksichtnahme. Darf ich jetzt erfahren, warum wir uns hier betrinken sollen?"

"Es liegt mir nichts daran, Sie zu erschießen, wenn es mir auch nicht darauf ankommt. Es liegt mir daran, daß Sie sich betrinken. Keiner verläßt diesen Raum lebend, ehe nicht jeder Tropfen Alkohol ausgetrunken ist. - Kellner, gießen Sie jetzt Sekt ein."

"Eben", sagte von Studmann, dem daran lag, ein Gespräch in Gang zu halten. "Das hatte ich schon verstanden. Es würde mich nun nur interessieren, warum wir uns betrinken sollen."

"Weil ich meinen Spaß haben will. - Jetzt trinkt."

Eine Hand hatte Studmann von hinten einen Sektkelch in seine Hand geschoben, er trank. Dann sagte er: "Weil es Ihnen Spaß macht also". Und möglichst gleichgültig: "Ich vermute, Sie wissen, daß Sie geisteskrank sind?"

"Ich bin", sagte der andere ebenso gleichmütig, "bereits seit sechs Jahren entmündigt und in einer Klapskiste untergebracht. - Kellner, jetzt wieder, sagen wir, eine halbe Schale Kognak". Erklärend: "Ich will nicht zu hastig vorgehen, das Vergnügen soll länger dauern". Und wieder gleichmütig berichtend: "Ich konnte das Schießen im Felde nicht vertragen, alle schossen immer nur auf mich. Seitdem schieße ich allein. - Trinkt!"

Von Studmann trank. Er fühlte, wie der Alkohol vorerst wie ein feiner Nebel wolkig in seinem Hirn aufstieg. Aus dem Augenwinkel sah er, ohne den Kopf zu drehen, am andern Zimmerende den Kellner Süskind auftauchen und zu der Badezimmertür schleichen. Aber auch der Baron hatte ihn gesehen. "Leider abgeschlossen", sagte er lächelnd, und Süskind verschwand wieder aus dem Gesichtsfeld des Empfangschefs, mit einer bedauernden Bewegung der Schultern.

Dann hörte von Studmann eine Frau hinter sich sanft kreischen und Getuschel der Männer. Achtung, Oberleutnant! Achtung! sprach es in ihm, und sein Kopf war wieder ganz klar.

"Ich verstehe", sagte er. "Doch wie kommen wir zu der Ehre, in diesem Hotel mit Ihnen zu trinken, da Sie doch in einer Anstalt interniert sind?"

"Ausgerissen!" lachte der Baron kurz. "Die sind ja so dumm. Der alte Geheimrat wird schön fluchen, wenn er mich wiederholt. Ein paar hübsche Dinger habe ich unterdes angerichtet, ganz abgesehen von dem Wärter, dem ich eins auf die Birne gegeben habe. - Es geht zu langsam", murmelte er plötzlich mürrisch. "Viel zu langsam. Noch einen Kognak, Kellner. Der ganze Kelch!"

"Ich würde um Sekt bitten", versuchte Studmann.

Doch es war falsch.

"Kognak!" schrie der Gast um so wilder. "Kognak! - Wer nicht Kognak trinkt, wird erschossen! - Mir ist es egal!" schrie er mit Bedeutung zu Studmann. "Ich habe den Paragraphen 51, mir passiert nichts. Ich bin der Reichsfreiherr Baron von Bergen. Kein Polizist darf mich anfassen. Ich bin geisteskrank. - Trinkt!"

Dies muß schiefgehen, dachte von Studmann verzweifelt, während das ölige Zeug langsam seine Kehle hinunterrann. Die Weiber hinten lachen und kichern schon. In fünf Minuten hat er auch mich so weit, wie er uns haben will, und sieht die Gesunden wie irre Tiere vor dem Geisteskranken kriechen. Ich muß sehen ... Aber es war nichts zu sehen. Mit einer unbeirrbaren Aufmerksamkeit stand der Narr unter der Tür, die Pistole in der Hand, den Finger am Abzug - und gab sich keine Blöße.

"Einschenken!" befahl er grade wieder. "Einen ganzen Kelch Sekt, daß der Mund wieder frisch wird."

"Richtig, Meister, Sie sind richtig!" rief jemand, es war wohl ein Boy, aber die andern lachten zustimmend.

"Sie sind Kavalier", versuchte es Studmann noch einmal. "Ich mache Ihnen den Vorschlag, daß wir wenigstens die beiden Damen aus dem Zimmer lassen. Keiner von uns andern versucht unterdessen herauszukommen, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort ..."

"Damen raus - is nich!" grölte es von hinten. "Nich wahr, Miezeken? So fein und so nobel kriegen wir es nicht alle Tage ..."

"Sie hören!" lächelte der Baron höhnisch. Und: "Trinkt! - Jetzt wieder Kognak. Und setzt euch endlich! Da, richtig, aufs Sofa. Immer los, auch aufs Bett! Sie werden sich auch setzen, mein Herr Direktor! Los! Glauben Sie, ich mach Witze? Ich schieße! Da!" Es knallte. Sie schrien. "So - trinkt

erst wieder. Und nun macht es euch bequem. Röcke aus, Kragen ab, Mädchen da, bind die Schürze ab. Ja, zieht euch ruhig die Blusen aus ..."

"Herr Baron!" sagte von Studmann erbittert. "Wir sind hier in keinem Bordell. Ich weigere mich ..."

Und dabei fühlte er doch, wie unter der Einwirkung des Alkohols Wille und Tat nicht mehr parallel liefen: der Gehrock hing schon über der Sessellehne, er nestelte an der Binde.

"Ich weigere mich "..., rief er noch einmal schwach.

"Trinkt!" schrie der andere. Und höhnisch: "In fünf Minuten werden Sie sich nicht mehr weigern. - Jetzt Sekt!"

Es gab einen Krach, Geklirr zerbrochenen Glases. Der Kellner Süskind war quer über den Tisch gestürzt, dann zur Erde gefallen. Jetzt lag er da, röchelnd, sichtlich bewußtlos ...

Der Kellermeister, die dicke Pranke fest auf der Brust des Mädchens, saß lachend auf dem Bett. Die ältliche Reinemachefrau hielt in jedem Arm einen von den Jungen; hochrot, schien sie nichts mehr von der Welt um sich zu merken.

"Ihr sollt trinken!" schrie der Irre. "Sie, Herr, gießen Sie jetzt ein! Sekt!"

In drei Minuten bin ich verloren, dachte Studmann, indem er zur Sektflasche griff. In drei Minuten bin ich so weit wie die andern ...

Er fühlte das Ende der Flasche kühl und fest in der Hand, plötzlich war sein Kopf klar.

Es ist ja alles ganz leicht ..., dachte er.

Die Sektflasche war zur Handgranate geworden. Er zog ab und warf sie gegen den Kopf des Rotröckigen. Er sprang hinterher.

Der Baron hatte Schlüssel und Pistole fallen lassen, er war hingestürzt, er schrie. "Sie dürfen mir nichts tun! Ich bin geisteskrank! Ich habe den Paragraphen 51! Schlagen Sie mich nicht, bitte nicht, Sie machen sich strafbar! Ich habe den Jagdschein!"

Und indes von Studmann immer neu in betrunkener Wut auf das Jammergeschöpf einschlug, dachte er wütend: Bin ich doch auf ihn reingefallen! Das ist ja bloß ein Feigling, wie sie sich im Felde bei jedem Trommelfeuer die Hosen füllten! In der ersten Minute hätte ich ihm in die Fresse schlagen sollen!

Dann ekelte es ihn, weiter in dieses weiche, feige Gewimmer hineinzuschlagen, er sah den Schlüssel neben sich auf der Erde, nahm ihn, stand taumelnd auf, schloß und trat auf den Gang.

Die Gäste, die vor dem niederbrechenden Gewitterregen sehr zahlreich

Schutz in der großen Hotelhalle gesucht hatten, fuhren erschrocken zusammen, als sie oben auf der breiten, mit roten Läufern belegten Paradetreppe zum ersten Stock einen taumelnden Mann in zerrissenen Hemdsärmeln mit blutendem Gesicht auftauchen sahen. Erst bemerkten ihn nur einige, aber unter ihnen entstand abwartende Stille. Schon sahen sich andere um, starrten, als könnten sie es nicht glauben.

Der Herr, der Mann stand balancierend oben auf der ersten Stufe, er starrte in die menschenwimmelnde Halle hinab, er schien nicht zu wissen, was dies war, wo er war. Er murmelte etwas. Man konnte es nicht verstehen, aber unten wurde es immer stiller. Deutlich klangen jetzt aus dem Café die Geigen der Musiker herüber.

Der Rittmeister von Prackwitz war aus seinem Sessel aufgestanden, ungläubig starrte er auf die Erscheinung.

Die Angestellten des Hotels sahen hinauf, starrten, wollten etwas tun, wußten doch nicht, was ...

"Narren!" schrie der Betrunkene jetzt da oben. "Wahnsinnig! Denken, sie haben den Jagdschein, aber ich dresche sie ...!"

Schwächer schrie er noch einmal zu den von unten Starrenden: "Ich dresche euch Idioten!"

Er verlor den Halt. Lustig rief er: "Hoppla!", sechs Stufen schaffte er noch aufrecht. Dann stürzte er vornüber, und so fiel er die Treppe hinab, den zurückweichenden Gästen vor die Füße.

Da lag er nun, bewegungslos, bewußtlos.

"Wo bringen wir ihn hin?" fragte der Rittmeister von Prackwitz hastig und faßte ihn schon unter den Achseln.

Plötzlich wimmelte es um den Gefallenen von Angestellten. Die Gäste wurden zurückgedrängt. Unter der Treppe, in dem Gang zu den Wirtschaftsräumen, verschwanden die Träger - mit Studmann und Prackwitz. Die ersten Nachrichten zirkulierten: Junger Deutschamerikaner. Alkohol nicht gewöhnt, Prohibition, Dollarmilliardär, stockbetrunken ...

Alles war drei Minuten darauf wieder in Ordnung: schwatzte, langweilte sich, fragte nach Post, telefonierte, sah nach dem Regen.

8

Als Wolfgang Pagel zwischen sechs und sieben Uhr abends aus dem Kunstgeschäft in der Bellevuestraße trat, regnete es noch immer, wenn auch sachter. Zweifelnd sah er die Straße hinauf und hinunter. Sowohl

am Esplanade-Hotel wie beim Rolandsbrunnen hielten Autotaxen, sie hätten ihn schnell genug zu Petra gebracht. Aber ein starrköpfiger Eigensinn verbot ihm, dieses allein für sein Mädchen bestimmte Geld anzugreifen.

Er rückte die alte Feldmütze fester und ging los - in einer halben Stunde konnte er gut und gerne bei Peter sein. Vorhin war er, ohne Geld, mit der Elektrischen sehr schön auf den Potsdamer Platz gekommen, obwohl ihn das Bild jedem Schaffner auffällig machte. Aber der durch das Unwetter gesteigerte abendliche Ansturm auf die Bahnen hatte ihm trotz alledem die Schwarzfahrt möglich gemacht. Jetzt, unfaßbare Millionen in der Tasche, konnte so eine Schwarzfahrt unmöglich gewagt werden - ein Nachlösen, wurde er ertappt, hätte seine Millionen angerissen.

Pagel pfeift zufrieden vor sich hin, während er an der endlosen Gartenmauer des Reichskanzlerpalais einhergeht. Er weiß sehr wohl, daß all diese Überlegungen über Fahrgeld oder kein Fahrgeld blanker Unsinn sind, daß es viel wichtiger(und auch anständiger) wäre, Peter rasch Hilfe zu bringen - aber er zuckt die Achseln.

Er ist wieder einmal der Spieler. Er hat sich vorgenommen, den ganzen Abend, komme, was da wolle, nur Rot zu setzen - und er wird nur Rot setzen, der Teufel hole ihn, die Chancen mögen gegen ihn sein, wie sie wollen! Rot siegt doch! So wird, führt er nur seinen Vorsatz durch, Petra die siebenhundertsechzig Millionen unversehrt in die Hände zu legen, ihre Sache zum guten Ende kommen. Fehlen aber nur zehntausend, nur tausend Mark an dem Gelde, so sind die schwarzen Folgen gar nicht abzusehen!

Vielleicht dämlich, sicher abergläubisch - aber kann man es denn wissen? Dies Leben ist so verzwickt, kommt immer von hintenherum, vereitelt alle Logik, jede genaue Berechnung - besteht da nicht die allergrößte Aussicht, mit Aberglauben, mit dämlichem Rechnen, mit Widersinn und Unverstand ihm auf die Schliche zu kommen -?! Nun also, Wolfgang, es ist alles richtig, und wenn es nicht richtig ist, ist es auch noch so! Ob man mit Logik oder mit Unverstand falsch rechnet, ist das Privatvergnügen jedes einzelnen - er, Wolfgang Pagel, ist für den Unverstand.

So bin ich, so bleibe ich, in Ewigkeit, amen!

Siebenhundertsechzig Millionen! Runde tausend Dollar!! Viertausendzweihundert Friedensmark!!! Ein hübsches Sümmchen in der Abendstunde für einen, der am Mittag noch beim "Onkel" um einen einzigen Dollar betteln mußte! Für den zwei Schrippen und eine - sehr

abgestoßene - Emaillekanne mit Mischkaffee in der Morgenstunde außer dem Bereich alles Möglichen waren!

Pagel ist unter dem Brandenburger Tor angekommen, er möchte hier einen Augenblick Luft holen vor dem ewig niederrinnenden Regen, sich das Gesicht abtrocknen. Aber es ist nicht möglich - unter den Torbogen drängt es sich von Bettlern, Hausierern, Kriegsverletzten. Alle hat - aus den Eingängen des Tiergartens, vom Pariser Platz her - der Regen in diesen Schutz gescheucht, und wenn sich Pagel unter sie stellt, gefährdet er seine Unfähigkeit, nein zu sagen, die Unverletzbarkeit seines heiligen Geldtransportes. So entflieht er sich und dem Flehen der Bettler - hart wie viele Menschen aus Schwäche, nicht aus Härte - und geht wieder hinaus in den Regen.

Er hält - ein wenig gezwungen ist diese Haltung - die Hände sorgfältig über die Taschen seines Waffenrockes. In den Hosentaschen nicht, auch nicht in den Innentaschen, wohl aber in diesen Außentaschen ist sein Geld durch Naßwerden gefährdet. Er vergißt nicht eine Sekunde(was er grade auch denken mag), daß er diese Summe bei sich trägt: siebenhundertsechzig Millionen. Darunter ein Viertel, also zweihundertfünfzig Dollar, in gutem amerikanischem Notenbankpapier, herrliche Papierdollars, das Begehrteste, was es heute gibt in Berlin ...

Ich kann die Stadt tanzen lassen dafür heute nacht! denkt Wolfgang und pfeift zufrieden. Der Rest - fünfhundertsiebzig Millionen - ist deutsches Papier, teilweise in unglaublich kleinen Beträgen.

Wie es aber auch zusammengekommen war! Schwer genug hatte es gehalten, dem Kunstfritzen diese Summe heute abend noch zu entreißen! Es sei nicht so viel Geld mehr im Hause, zu den Banken könne man auch nicht mehr schicken, sie seien schon geschlossen. Eine Anzahlung, jawohl, und der Rest morgen früh, neun Uhr dreißig, durch Boten an jedem Fleck in Berlin, den Herrn Pagel nur wünschen würde. Er sei dem Herrn Pagel doch wohl gut für diese Summe, wie?

Und dabei hatte der Händler, ein schwerer, massiger Mann, ziemlich rotes Gesicht und dazu ein Assyrerbart, schwarz, an seinen Wänden entlanggesehen. Mit einem liebevollen Stolz.

Wolfgang war diesem Blick mit seinen Augen gefolgt. Soweit war er nun doch der Sohn seines Vaters, er hatte den Stolz verstanden und auch die Liebe dieses schweren Mannes, der eigentlich gar nicht nach Kunst aussah, zu seinen Bildern.

Drüben, zwei Häuserblocks weiter, an der Potsdamer Straße, verkauften sie im "Sturm" auch Bilder. Da hatte man manchmal lange mit Peter gestanden und diese Marcs, Kampendoncks, Klees, Noldes

angesehen. Manchmal hatte man lachen müssen oder den Kopf schütteln oder schimpfen, denn vieles war einfach wichtigtuerische Frechheit - es waren die Zeiten des Kubismus, des Futurismus, des Expressionismus. Sie klebten Fetzen Zeitungspapier in ihre Bilder und zerbrachen die Welt zu Dreiecken, die man wie ein Puzzlespiel wieder zusammensetzen wollte. Aber manchmal hatte man auch dagestanden, von etwas durchzuckt. Ein Gefühl regte sich, etwas rührte einen an, eine Saite erklang: Dies ist doch etwas? Wird doch etwas Lebendiges geboren aus dieser fauligen Zeit?

Hier aber, bei diesem reichen Manne, der Bilder nur kaufte, wenn sie ihm gefielen, dem nur wenig am Verkauf des Erworbenen lag - hier sah man nicht solche Experimente, keine tastenden Versuche. Hier gab es, schon im Empfangsraum, einen Corot, irgendeinen Weiher, ganz in rötliches Licht getaucht, und röter war doch noch die Mütze des einsamen Fährmannes, der den Kahn vom Ufer mit der Ruderstange abstieß. Es gab einen herrlichen van Gogh: die unendliche Weite grünender und gilbender Felder, mit dem noch viel weiteren Blau des Himmels darüber, das schon schwarz vom aufsteigenden Gewitter zu werden beginnt. Es gab einen Gauguin, mit den sanftbraunen, schönbrüstigen Mädchen; jawohl, auch einen Pointillisten wie Signac, einen kindlich unbeholfenen Mann wie Rousseau, ein stilles Tierstück von Zügel, rot besonnte Kiefern von Leistikow ... Aber all das war längst dem Experiment entrückt - Verständnis hatte es geprüft und der Liebe für wert befunden, und nun wurde dies alles geliebt. Diesem Mann konnte man trauen.

Aber wenn Wolfgang Pagel dies alles auch sah und verstand, so wußte er doch ebensogut, daß er hier verlangen konnte, was er wollte, selbst etwas so Unmögliches, wie nach sechs Uhr, wenn kein Geld mehr im Hause ist, die Summe von siebenhundertsechzig Millionen zusammenzukratzen. Schon als er eingetreten war, triefend naß wie eine gebadete Katze, und unter seinem Waffenrock das Bild hervorgezogen hatte, das er dort vor dem Gewitterschauer, so gut es eben ging, geschützt hatte -, als er dieses Bild dem etwas pflaumenweichen Herrn, der ihn empfing, gezeigt und als der sachlich, aber mit einem mißtrauischen Blick auf ihn gesagt hatte: "Gewiß, ein Pagel. - Aus seiner besten Zeit. - Sie verkaufen im Auftrag von ...?" -, schon da hatte er gespürt, daß man hier dieses Bild unter allen Umständen kaufen würde, daß er die Bedingungen machen konnte.

Dann hatte der Pflaumenweiche - auf Pagels Antwort hin: "Ich verkaufe im eigenen Auftrag" - den Besitzer gerufen, und dieser hatte, ohne auch nur viel Aufhebens von dem Manne im Waffenrock zu machen(in diesen

Zeiten verkauften die unwahrscheinlichsten Elendsgestalten unwahrscheinlichste Kostbarkeiten) - dieser hatte nur kurz gesagt: "Setzen Sie es einmal dorthin. - Natürlich kenne ich das, Doktor Mainz. Familienbesitz. Ein ganz ungewöhnlich guter Pagel - manchmal kam er eben doch über sich hinaus. Nicht oft - drei- oder viermal ... Meistens ist er mir zu hübsch. Glatt, geleckt - wie?"

Er hatte sich plötzlich an Wolfgang gewendet: "Aber davon verstehen Sie nichts? Wie? Sie wollen nur Geld, was? Möglichst viel, ja?"

Unter diesem plötzlichen Angriff war Pagel zusammengefahren. Er fühlte, wie ihm langsam Röte in die Wangen stieg.

"Ich bin der Sohn", sagte er möglichst ruhig.

Es hatte vollkommen genügt.

"Entschuldigen Sie tausendmal", hatte der Händler gesagt. "Ich gebe zu, daß ich ein Esel bin. Ich hätte es an den Augen sehen müssen - wenn an nichts, dann an den Augen. Ihr Herr Vater hat hier oft gesessen. Ja. Kam in seinem Rollstuhl, wollte Bilder sehen. Er sah gerne Bilder. - Sie sehen Bilder auch gerne?"

Wieder dies Abrupte, Plötzliche - auch dies war eigentlich ein Angriff. Wenigstens empfand Wolfgang es so. Er hatte nie darüber nachgedacht, ob dieses Bild, das er seiner Mutter fortgenommen hatte, ein schönes Bild war. Im Grunde hatte dieser Bildermann ganz richtig geraten: wenn er auch der "Sohn" war, es hatte sich für ihn nur um Geld gehandelt - allerdings um Geld für Peter.

Ärger, mit ein wenig Trauer vermischt, daß er wirklich so war, wie er eingeschätzt wurde, stieg in Wolfgang auf.

"Ja, doch, ganz gerne", sagte er mürrisch.

"Es ist ein schönes Bild", sagte der Händler nachdenklich. "Ich habe es schon zwei-, nein, dreimal gesehen. Ihre Frau Mutter hatte es nicht gerne, wenn ich es ansah. - Sie ist einverstanden mit diesem Verkauf?"

Wiederum ein Angriff. Pagel wurde so ärgerlich. Gott, was für ein Umstand um ein Bild, kaum ein halber Quadratmeter bemalte Leinewand. Ein Bild war etwas, das man ansehen konnte, wenn man wollte; man mußte nicht, es war keineswegs nötig. Ohne Bilder konnte man leben, ohne Geld nicht.

"Nein", sagte er böse. "Meine Mutter ist ganz und gar nicht mit diesem Verkauf einverstanden."

Der Händler sah ihn höflich an, wartete wortlos.

"Sie hat dieses"(mit gespielter Gleichgültigkeit) "Dings mir mal

geschenkt, wie man so in der Familie Sachen schenkt, wissen Sie. Da ich grade Geld brauchte, erinnerte ich mich daran. Ich verkaufe", sagte er betont, "gegen den Willen meiner Mutter."

Der Händler hatte schweigend zugehört, dann ziellos, aber merklich kühler: "Ja, ja. Ich verstehe. Natürlich" gesagt.

Der Pflaumenweiche, der unbemerkt verschwunden war, der Doktor Mainz, trat wieder auf. Der Händler sah seinen kunsthistorischen Gehilfen an, der Gehilfe erwiderte den Blick und nickte kurz. "Jedenfalls", sagte der Händler, "erhebt Ihre Frau Mutter keine Einwendungen gegen den Verkauf". Auf einen fragenden Blick Pagels: "Ich habe soeben telefonieren lassen. Bitte, bitte, das ist kein Mißtrauen. Ich bin ein Geschäftsmann, ein vorsichtiger Geschäftsmann. Ich mag keine Schwierigkeiten ..."

"Und Sie zahlen?" fragte Pagel kurz und geärgert.

Seine Mutter hätte mit einem Wort am Telefon den Verkauf hindern können. Sie hatte es nicht getan - Wolfgang fühlte, der Bruch war endgültig. Mochte er seine Wege gehen, es waren nun und für immer seine Wege allein. Sie war ohne Interesse.

"Ich gebe", sagte der Händler, "tausend Dollar, das sind siebenhundertsechzig Millionen Mark. - Lassen Sie mir das Bild in Kommission, daß ich es hier aufhänge und in Ihrem Auftrage verkaufe, es ist möglich, daß ich einen sehr viel höheren Preis erziele. Aber wenn ich recht verstanden habe, brauchen Sie das Geld sofort?"

"Sofort. Diese Stunde."

"Nun, sagen wir morgen früh", lächelte der Händler. "Das ist auch sehr rasch. Ich schicke es Ihnen mit einem Boten, wohin Sie wollen."

"Jetzt!" sagte Pagel. "Diese Stunde! Ich muß "... Er brach ab.

Der Händler sah ihn aufmerksam an. "Wir haben unsern Kassenbestand schon zur Bank geschickt", sagte er freundlich, als erkläre er einem Kinde etwas. "Ich halte nie Geld im Haus über Nacht. Aber morgen früh ..."

"Jetzt!" sagte Pagel und legte die Hand auf den Rahmen des Bildes. "Oder es kann aus dem Verkauf nichts werden."

Oh, Pagel hatte die Situation richtig erfaßt! Zwar mißbilligte der Händler diesen Verkauf eines unbotmäßigen Sohnes, der seiner Mutter ihr liebstes Bild fortnahm, zwar hatte er, seit er dies erfuhr, die Gesprächstemperatur auf kühl herabgesetzt, aber trotzdem würde er keinen Augenblick zögern, sich diese Konstellation trotz aller Mißbilligung zunutze zu machen und das Bild zu kaufen. Dieser große, sichere, reiche

Mann mit dem schwarzen Assyrerbart hatte eben auch seine faulige Stelle - wie alle. Man hatte nicht die geringste Veranlassung, sich vor ihm zu schämen - im Gegenteil! Er, Pagel, mußte verkaufen; der große Mann aber mußte gar nicht kaufen.

"Ich muß", sagte Pagel ruhig, "den ganzen Betrag in einer halben Stunde haben. Heute abend brauche ich das Geld, nicht morgen früh. Es gibt noch andere Käufer ..."

Der Kunsthändler machte eine wegwerfende Handbewegung, jedenfalls für dieses Bild kamen andere Händler nicht mehr in Frage.

"Das Geld wird beschafft werden. Ich weiß zwar noch nicht, wie. Aber es wird beschafft."

Er flüsterte einen Augenblick mit seinem Adlatus Mainz, der nickte und ging.

"Kommen Sie bitte mit mir, Herr Pagel. Doch ja, das Bild können Sie ruhig hier stehenlassen - ich habe es gekauft."

Pagel wurde in das Arbeitszimmer des Mannes geführt, einen großen, fast düsteren Raum; nur großstrichige Kohlezeichnungen irgendeines unbekannten Künstlers hingen an der Wand.

"Bitte, setzen Sie sich. Vielleicht dort. Hier stehen Zigaretten. Ich stelle Ihnen Whisky und die Sodaflasche in Reichweite. Es wird" ... leiser Spott ... "vielleicht auch fünfunddreißig Minuten dauern. Also machen Sie es sich bequem. Herein!"

Herein kamen sie nun nacheinander, die Angestellten des Hauses - von den akademisch gebildeten Kunsthistorikern an bis zu den ganz unakademischen Reinemachefrauen des Hauses, die schon ihr Abendwerk begonnen hatten. Doktor Mainz hatte ihnen Bescheid gesagt, sie traten ohne ein Wort an den Schreibtisch ihres Herrn, zogen aus Kleidertaschen, Westentaschen, Geldbörsen, Portemonnaies ihre Habe, zählten auf, und der Chef schrieb an: "Doktor Mainz: eine Million vierhundertfünfunddreißigtausend. Fräulein Siebert: zweihundertsechzigtausend. Fräulein Plosch: siebenhundertdreiunddreißigtausend. Ich danke Ihnen, Fräulein Plosch "... Es mußte eine gute Verbundenheit zwischen Chef und Angestellten in diesem Hause herrschen, jeder gab ohne ein Wort, mit einer Selbstverständlichkeit, die gut wirkte. Sie verzichteten vielleicht auf etwas, was sie sich für diesen Abend vorgenommen, diese Stenotypistinnen, Buchhalter, Galeriediener. Manchmal fiel ein Blick von ihnen auf den Herrn im Sessel, der da Whiskysoda trank und rauchte; es war nicht etwa ein feindlicher, es war ein ganz fremder Blick.

Es war ihnen gleichgültig, wozu dieser Mann im schäbigen Waffenrock so eilig das Geld brauchte, daß sie auf ihre Abendvergnügungen verzichten mußten; es war ihnen nicht gleichgültig, ob ein Bild, das der Chef zu kaufen wünschte, wieder aus dem Hause getragen wurde. Das Hergeben, Aufzählen, Notieren des Geldes geschah auf beiden Seiten so selbstverständlich - auch von seiten des Kaufmanns ohne jeden beflissenen Dank, ohne billigen Scherz, ohne verlegene Erklärung -, daß grade diese Selbstverständlichkeit Pagel beinahe dazu veranlaßte, erklärend, entschuldigend zu sagen: Ich brauche das Geld wirklich heute abend noch. Mein Mädchen ist nämlich im Gefängnis, und ich muß ...

Ja, was mußte er eigentlich -? Jedenfalls sofort Geld haben, viel Geld.

Wolfgang Pagel sagte nichts.

"Halt, Fräulein Bierla", sagte der Händler. "Ich sehe da noch fünfzigtausend in Ihrem Portemonnaie - Sie entschuldigen, aber wir müssen heute abend jede Mark zusammenkratzen ..."

Verlegen murmelte die bräunliche Schöne etwas von Fahrgeld.

"Sie brauchen natürlich kein Fahrgeld. Doktor Mainz hat zu Geschäftsschluß ein paar Taxen vor die Tür bestellt. Die Chauffeure fahren Sie, wohin Sie wollen."

Langsam wuchs der Stoß Papierscheine auf dem Schreibtisch. Unzufrieden sagte der Händler, in der eigenen Brieftasche kramend, sie entleerend, zu Doktor Mainz: "Wenn man die Zeitungen liest, auf die Leute hört, schwimmt alles im Geld. In allen Taschen sitzt es, in allen Händen raschelt es. Hier liegt das, was siebenundzwanzig Menschen, Sie und ich eingeschlossen, bei sich trugen. Es sind noch keine siebenhundert Mark, nach Friedenssatz. Eine lächerlich aufgebauschte Angelegenheit, diese Zeit. Wenn die Leute sich einmal klarmachten, wie wenig Ziffern vor so vielen Nullen stehen, würden sie sich nicht so bezaubern lassen."

Doktor Mainz flüsterte etwas Halblautes, Hastiges.

"Nun natürlich, telefonieren Sie gleich von hier aus. Ich gehe unterdes zu meiner Frau. Dort finde ich sicher Geld."

Während Doktor Mainz mit irgendeinem Herrn Direktor Nolte telefonierte, der eigentlich heute abend noch zweihundertfünfzig Papierdollar bekommen, nun aber bis morgen früh sich gedulden sollte, bedachte Pagel, welch ungewohnte Unordnung sein Verlangen in diesen Betrieb getragen hatte. Aber - stellte er verwundert fest - wie ordentlich wickelte sich selbst solche Unordnung ab! Leise, selbstverständlich - Autos warteten vor der Tür, jeder Angestellte kommt trotzdem dahin,

wohin er zu kommen wünscht; auf einem Zettel stehen säuberlich die Einzelbeträge ... Während die Unordnung entsteht, geschieht schon alles, um sie nach möglichst kurzer Spanne wieder zu beseitigen.

Ich, denkt Pagel düster, habe auch Unordnung entstehen lassen, aber nie habe ich daran gedacht, sie zu beseitigen. Sie ist größer und größer geworden, sie hat Bezirke ergriffen, an die ich nie gedacht hatte. Jetzt ist alles bei mir Unordnung, es gibt nichts Geordnetes mehr bei mir!

Einen Augenblick denkt er daran, daß er oft von Petra verlangte, sie sollte sich morgens anziehen, ehe die Thumann den Kaffee brachte.

Ich habe mir und vor allem ihr etwas vorgespielt. Unordnung wird nicht zur Ordnung, wenn man eine Decke darüberlegt. Im Gegenteil: sie wird zur Unordnung, die man nicht mehr zu vertreten wagt. Zu einer verlogenen, feigen Unordnung. Ob Peter wohl etwas davon verstanden hat -? Was sie nur gedacht hat -? Hat ihr darum so viel daran gelegen, daß wir einander heirateten -? War es auch bei ihr der Wunsch nach Ordnung? Immer hat sie ohne ein Wort getan, was ich vorschlug. Im Grunde weiß ich nichts von dem, was sie gedacht hat ...

Der Händler kommt lachend, ein dickes Bündel Papiergeld schwingend, zurück.

"Heute abend bleibt bei mir alles zu Haus. Meine Frau ist selig, sie wollte zu irgendeiner grausigen Premiere, mit nachfolgender Feier des schon jetzt zu einem Ochsenfrosch aufgequollenen Dichters. Sie ist froh, daß wir nun nicht hin können. Sie telefoniert schon begeistert aller Welt, daß wir gänzlich ohne einen Pfennig sind - morgen werde ich meine Zahlungseinstellung in der Zeitung lesen. - Und Sie, Doktor?"

Es erwies sich, daß auch Doktor Mainz erfolgreich gewesen war: Herr Direktor Nolte wollte auf seine zweihundertfünfzig Dollar bis morgen früh warten.

"Bitte, Herr Pagel", sagte der Händler. "Tausend Dollar - siebenhundertsechzig Millionen. Es hat allerdings", er zog die Uhr, "achtunddreißig Minuten gedauert; ich bitte für die acht Minuten um Entschuldigung."

Warum verhöhnt er mich eigentlich? dachte Pagel erbittert. Er sollte mich lieber fragen, wozu ich das Geld brauche! Man kann doch in eine Lage kommen, in der man sofort Geld braucht! Eine Stimme in ihm sprach, daß man sehr wohl in solche Lage kommen könne, daß es da aber noch so etwas wie eine Schuldfrage gebe ... Kann ich für die Dämlichkeiten der Polente -?! erbitterte er sich ...

"Es ist etwas viel Papier, dem Zuge der Zeit entsprechend", lächelte

der Kunsthändler. "Soll ich Ihnen ein Paket daraus schnüren lassen? Sie stecken es lieber in die Taschen? Es regnet sehr stark draußen. Nun, Sie nehmen wohl ein Auto ... Gleich rechts, wenn Sie aus unserer Tür kommen, vor dem Hotel Esplanade ... Oder soll ich Ihnen eines rufen lassen?"

"Nein, danke", hatte Pagel mürrisch gesagt, indem er das Papier in seine Taschen zwängte. "Ich gehe ..."

Und nun ging er schon durch die Königstraße, ziemlich durchnäßt, die Hände schützend über die beiden Außentaschen gebreitet. Sie mochten mit ihm böse werden wie die Mutter oder höhnisch wie dieser Bilderfritze, sie mochten auch in Bedrängnis geraten wie der Peter - er tat genau das, was er wollte, mit dem Kopfe durch die Wand. Er riß das Geld nicht an, er dachte nicht daran, sich ein Auto zu nehmen, und wenn seine Taschen von Geld platzten -! Wollte er nicht, zwangen ihn weder Regen noch Not.

Er ging auch jetzt nicht etwa direkt auf die Polizeiwache, wo die Petra saß; er ging erst einmal zu der Thumannschen - auf Erkundung. Nach wie vor war er überzeugt, daß alles im Leben Zeit hatte. Er war ein Maulesel: je mehr man ihn schlug, um so störrischer wurde er.

Oder aber - hatte er vielleicht einfach Angst vor dem, was er auf der Wache erfahren würde? Fürchtete er sich vor der Scham, die er empfinden mußte, wenn er Petra in dieser kläglichen Lage wiedersah?

Pfeifend überquert er den Alexanderplatz und biegt in die Landsberger Straße ein. Er denkt intensiv darüber nach, was Petra mehr Freude machen würde: ein Zigarrenladen oder ein Blumengeschäft? Oder noch lieber eine Eisdiele -?

9

Der Polizeioberwachtmeister Leo Gubalke war bestimmt kein Mann, der - dienstlich oder außerdienstlich - zu Übergriffen, kleinen Gehässigkeiten, Schikanen neigte. Jene gefährlichste Versuchung für jeden Mann, in dessen Mund das Wort der Macht gelegt ist: "Gehorch oder krepier!" - sie versuchte ihn nie. Wenn ihm zu Haus oder im Dienste doch ab und an jene kleinen Gemeinheiten unterliefen, die dem Selbstgefühl keines Menschen erspart bleiben, so war es immer sein übertriebener Sinn für Ordnung und Pünktlichkeit, der ihn verführte.

Dieser Sinn hatte ihn das Mädchen Petra Ledig aus dem Torgang in der Georgenkirchstraße mitnehmen lassen, und dieser gleiche Sinn war es auch, der ihn auf die vorwurfsvolle Frage seines Reviervorstehers: "Aber,

Gubalke, Mensch, ausgerechnet Sie gehen zwanzig Minuten nach?!" stramm melden ließ: "Habe eine Festnahme gehabt. Mädchen - hat mit Spielern zu tun."

Dieser Nachsatz, den er ohne Verspätung nie gesagt hätte - denn nichts lag ihm ferner, als der Petra Ledig Übles zu tun -, war für einige Stunden vorläufig das einzige, was die Wache über diese Festnahme erfuhr. Oberwachtmeister Gubalke hatte nur das halbnackte Mädchen von der Straße bekommen wollen. Er hatte vorgehabt, sie auf eine Bank in der Wache zu setzen, ihr etwas zu essen zu verschaffen. Dann hätte man im Laufe des Abends gesehen, was eigentlich an diesem Mädchen dran war, hätte irgendeinem Fürsorgeverein ein paar Kleider abgejagt und die Kleine nach einer ernsten Auseinandersetzung über Ordnung und Liederlichkeit wieder in das Leben hinaus entlassen.

Statt diese guten Absichten durchzuführen, meldete Herr Gubalke: "Hat mit Spielern zu tun". Eine nur mit gutem Herzen, nur durch Mitleid entschuldigte Zeitversäumnis blieb eine Unpünktlichkeit; dieser Satz von den Spielern machte aus der Unpünktlichkeit eine notwendige Amtshandlung. Bis zu der Sekunde, da dieser Satz, nicht wieder einholbar, seiner Zunge entlief, hatte Gubalke auch nicht im Traume daran gedacht, dem Mädchen Petra irgendeine Mitschuld an der ihm auch nur durch Weiberklatsch bekannten Spielleidenschaft ihres Freundes zuzuerkennen. Aber der Mensch ist ein schwaches Geschöpf, und bei den meisten - Männern wie Frauen - ist die Zunge der Schwachheit schwächster Punkt. In dem Bedürfnis, sich zu entschuldigen, vermengte sich ihm Petras Schicksal mit dem eines Spielers, und um es nur recht gut zu machen, wurde der Spieler zu Spielern.

Es ist ganz sicher, daß Oberwachtmeister Leo Gubalke in diesem Augenblick gar nicht die Tragweite dessen, was er der Petra Ledig mit diesem einen Satz zufügte, übersah. Er schnallte hastig die Pistole um, hakte den Gummiknüppel fest und dachte nur daran, daß er mit höchster Geschwindigkeit zu seinen Kameraden in der Kleinen Frankfurter Straße stoßen mußte, die dort mit irgendwelchen rivalisierenden Ringvereinen ins Gedränge geraten waren. Er hatte es so eilig, daß er dem Mädchen auf der Wache beim Fortlaufen nicht einmal einen Blick gönnte. Wenn er noch einmal an sie gedacht hat, so bestimmt ohne eine Spur von schlechtem Gewissen. Jedenfalls war sie erst einmal von der Straße und in Sicherheit auf der Wache. In spätestens zwei Stunden würde er zurück sein und die Geschichte in Ordnung bringen.

Leider aber lag Oberwachtmeister Leo Gubalke schon zwei Stunden später sterbend in einem Krankenhausbett am Friedrichshain, die Gedärme von einer hinterlistigen Mörderkugel zerfetzt, und starb Stunde um Stunde sehr schmerzhaft und sehr mühsam den unordentlichsten, schmutzigsten Tod, der einen so säuberlichen, ordentlichen Mann erledigen kann. Der Fall Petra Ledig war seiner Einwirkung entrückt.

Wenn ihn der Sterbende auch weiter beeinflußte. Die zwei Stunden, bis die Nachricht von der Ermordung Gubalkes die Wache erreichte und erregte, hatte Petra Ledig noch ziemlich gefaßt und unbelästigt verbracht. Bis auf einen kleinen Zwischenfall war nichts Erwähnenswertes mit ihr geschehen. Irgendein gleichgültiger Uniformierter - weder gut noch böse - hatte sie in eine kleine Zelle geschoben, anzusehen fast wie ein Tierkäfig im Zoo, mit drei festen Wänden und einer vierten, nach dem Wachtraum zu offenen, die mit Gitterstäben gesichert war. Auf ihre Bitte, ihr irgend etwas zu essen zu bringen, gleichviel was, der Herr Polizist habe es ihr versprochen, hatte der Gleichgültige erst gemurrt: Darauf sei man hier nicht eingerichtet, damit müsse sie warten, bis sie auf den Alex komme. - Nach einer Weile war er dann aber doch mit einem starken Kanten trockenen Brotes und einem Becher Kaffee erschienen. Beides hatte er ihr, ohne aufzuschließen, durch die ziemlich weit stehenden Gitterstäbe gereicht.

Der halbverhungerten Petra hätte nichts Zweckmäßigeres als erste Nahrung gegeben werden können. Der alte, sehr harte Brotkanten zwang sie zum Abbeißen sehr kleiner Stücke, die lange gekaut werden mußten. Zuerst überfiel sie bei diesem langsamen Essen immer von neuem wellenartig Übelkeit; der Magen weigerte sich, die Speise anzunehmen, seine Tätigkeit wieder zu beginnen. Auf dem Sitzbrett hockend, den Kopf mit geschlossenen Augen in die Zellenecke gepreßt, von einem Schweißausbruch der Schwäche in den nächsten gehetzt, ging Petra heldenhaft gegen diese Übelkeiten an. Immer von neuem zwang sie die Speise in den Magen zurück.

Ich muß essen, dachte sie dumpf und grenzenlos erschöpft, aber ohne jede Nachgiebigkeit. Ich esse ja nicht nur für mich!

So dauerte das Vertilgen dieses Brotkantens, den ein dreijähriges Kind in fünf Minuten bewältigt hätte, bei Petra fast eine halbe Stunde. Als die ihn aber ganz verzehrt hatte, erfüllte sie ein physisches Wärmegefühl, das dem seelischen Gefühl von Glück sehr nahe kam.

Während sie in dieser Zeit nichts von der Umwelt wahrgenommen hatte, sah sie jetzt, fast schon völlig erholt, dem Leben im Wachtraum mit Interesse zu. Diese Welt war ohne allen Schrecken für sie. Wer daher

kam, wo sie zu Haus gewesen, für den hatten weder Gier noch Gemeinheit, weder Laster noch Trunkenheit Schrecken - all dies gehörte zum menschlichen Leben, war eine Äußerung dieses Lebens, wie freilich auch Wolfgangs Lächeln und Umarmung, Freude an einem neuen Kleid, das Fenster eines Blumenladens zum Leben gehörten.

Es ereignete sich in der nächsten halben Stunde auch nichts Besonderes, das sie hätte erschrecken müssen. Ein spitznäsiger, verhungert aussehender Junge wurde gebracht, der, wie sich aus der halblauten Vernehmung ergab, versucht hatte, in einem Warenhaus ein Paar Schuhe mitgehen zu lassen. Ein ziemlich angetrunkener Zechpreller. Eine unglücklich aussehende Frau in einem Umschlagetuch, die anscheinend gewerbsmäßig möblierte Zimmer mietete, nur mit der Absicht, etwas mitgehen zu lassen. Ein Mann, der Doubléuhren als schwergoldene verkaufte und Käufer genug fand, da er vorgab, diese einzigartige Gelegenheit stamme aus einem Taschendiebstahl.

All dies von der Welle des zur Rüste gehenden Tages in die Wachtstube geschwemmte Strandgut ließ das Verhör mit ruhiger Gelassenheit über sich ergehen und wanderte ergeben in seinen Käfig, dessen Tür der Uniformierte gleichgültig abschloß.

Dann wurde es laut. Zwei Schutzleute brachten ein tobendes, völlig betrunkenes Frauenzimmer. Sie trugen es eher, als daß es zwischen ihnen ging. Sie hörten sich die unflätigsten Beschimpfungen mit einer fast freundlichen Gelassenheit an und machten die Meldung, daß dies Mädchen ihrem ebenso betrunkenen Kavalier die Brieftasche "gezogen" habe.

Ein dritter Schutzmann brachte den bleichen, dümmlich aussehenden Kavalier, der sichtlich wenig von dem begriff, was um ihn vorging, da er wesentlich stärker mit dem beschäftigt war, was sich in ihm ereignete. Denn ihm war sehr schlecht.

Das Mädchen vereitelte mit ihrem betrunkenen Kreischen jede Protokollaufnahme; der gelbliche, nur halblaute Sekretär konnte sie nicht zur Ruhe zwingen. Immer wieder fuhr sie mit ihren langen, lackroten, aber schmutzigen Krallen nach den Gesichtern der Polizisten, des Sekretärs, auch ihres Kavaliers.

Petra Ledig sah dies Mädchen mit heißem Erschrecken. Es erinnerte sie an eine Zeit ihres Lebens, die sie versunken glaubte und derer sie sich heute noch schämte. Sie kannte dies Mädchen zwar nicht bei Namen, aber doch von seiner Tätigkeit im besseren Westen her, Tauentzienstraße, Kurfürstendamm, nach Lokalschluß auch in der Augsburger Straße. Sie wurde dort in ihrem Jagdrevier nur die

"Hühnerweihe" genannt, wohl wegen der dünnen, krummen Nase und wegen ihres unbändigen Hasses auf jede Konkurrenz.

In jenen schlimmen Tagen, da Petra den Wolfgang noch nicht gebeten hatte, sie mitzunehmen; da sie noch, wurde die Geldnot gar zu beängstigend, dann und wann(selten genug) selbst auf die Jagd nach einem zahlenden Herrn ging, hatte sie auch zwei oder drei Zusammenstöße mit der Hühnerweihe gehabt. Das Mädchen war wohl damals grade unter Kontrolle gestellt worden und hatte von dieser Stunde an alle, die nicht zu den "Gewerbsmäßigen" gehörten, mit einem flammenden, lauten, vor keiner Gemeinheit zurückschreckenden Haß verfolgt. Entdeckte sie so ein Mädchen, das in ihrem "Revier" wilderte, einen Herrn ansprach, ja nur Blicke warf, versuchte sie zuerst, die Polizei für den Fall zu interessieren. Gelang ihr das nicht oder war kein Schupo in der Nähe, scheute sie auch nicht davor zurück, die "Fremdgehende" bei dem Kavalier herunterzusetzen, wobei sie sich von einer schlimmen Behauptung in die schlimmere hineinsteigerte: zuerst bloß, sie stehle, dann bald, sie sei geschlechtskrank, habe die Krätze, und so weiter und so weiter.

Schon damals war die letzte Waffe der Hühnerweihe ein heulendes Gekreisch gewesen, ein hysterisches Wutgeschrei, ins Unfaßliche gesteigert durch Kokain und Alkohol - jeder Kavalier suchte das Weite, wenn sie damit anfing.

Petra hatte immer das Gefühl gehabt, daß sie der Hühnerweihe ganz besonders mißfällig war und von ihr mit einem noch gesteigerten Haß verfolgt wurde. Einmal war sie einem tätlichen Angriff nur durch eine panikartige Flucht durch die nächtlichen Straßen bis hinunter zum Viktoria-Luise-Platz entgangen, wo sie schließlich hinter dem Säulenhalbrund ein Versteck fand. Ein anderes Mal aber war sie nicht so glücklich gewesen: Die Hühnerweihe hatte sie aus einer Autotaxe, in die sie mit einem Herrn gestiegen war, wieder herausgeholt, und es hatte einen Kampf zwischen den beiden gegeben(der Herr war im Auto entflohen), bei dem Petra ein Kleid zerrissen und ein Schirm zerbrochen worden war.

Das alles war sehr lange her, fast ein Jahr - oder schon mehr als ein Jahr? -, unendlich viel hatte Petra danach erfahren. Das Tor einer andern Welt hatte sich seitdem für sie geöffnet, und doch sah sie mit der alten Angst auf die Feindin von damals. Die hatte sich auch verändert seitdem, doch zum Schlimmeren. Sagte schon die Verlegung des Jagdreviers aus dem reichen Westen in den armen Osten genug von den nachlassenden Reizen der Hühnerweihe, in der Hauptsache hatten doch

wohl die Rauschgifte - Kokain und Alkohol - in dem jungen Wesen ihr Werk getan. Die damals noch sanfte, runde Wange war hager und faltig geworden, der weiche, rote Mund rissig und trocken, jede Bewegung fahrig, wie irr.

Sie schrie, sie verspritzte allen Geifer, sie keifte atemlos - dann fragte der gelbliche Sekretär etwas, und sie fuhr wiederum los, als erneuere sich, geheimnisvoll, der Schmutz ständig in ihr. Schließlich machte der Sekretär eine Bewegung zu den beiden Polizisten, diese drehten das Mädchen von dem Verhandlungstisch fort zu den Zellen, und der eine sagte ruhig: "Na, denn komm, Kleines, schlaf deinen Rausch aus."

Sie setzte grade an, wieder loszuschimpfen, als ihr Blick durch die Gitterstäbe auf Petra fiel. Mit einem Ruck blieb sie stehen und schrie triumphierend: "Habt ihr das Aas endlich?! Gott sei Dank, diese verdammte Hure - ist sie schon unter Kontrolle?! So ein Schwein - nimmt einem anständigen Mädchen alle Kavaliere weg und macht sie noch krank, diese Nutte, diese elende! Die geht auf den Strich, Herr Wachtmeister, noch und noch - und alle Krankheiten hat sie im Leibe, so eine Drecksau, wie die -!"

"Komm, komm, Mädchen", sagte der Polizist ruhig und löste ihre Hand Finger um Finger von den Gitterstäben vor Petras Zelle, die sie umklammert hielt. "Schlaf dich ein bißchen aus!"

Der Sekretär war hinter seinem Tisch aufgestanden und näher getreten. "Bringt sie lieber nach hinten", sagte er. "Sonst versteht man hier sein eigenes Wort nicht mehr. Koks - wenn der erst verflogen ist, fällt sie zusammen wie ein nasser Waschlappen."

Die Polizisten nickten, zwischen ihren festen Gestalten flatterte das Mädchen, nur noch aufrecht gehalten von unsinniger Wut, die sich an allem entzündete. Noch über die Schulter, dann schon unsichtbar geworden, schrie sie Beschimpfungen gegen Petra.

Der Sekretär wandte langsam seinen dunklen, müden und kranken Blick(auch das Weiße seiner Augen war gallengelb) auf Petra und fragte halblaut: "Stimmt das, was die sagt? Sind Sie auf den Strich gegangen?"

Petra nickte, kurz entschlossen. "Ja. Früher, vor einem Jahr. Jetzt schon lange nicht mehr."

Auch der Sekretär nickte, sehr gleichgültig. Er ging wieder zu seinem Tisch. Blieb aber noch einmal stehen, wandte sich und fragte: "Sind Sie wirklich krank?"

Petra schüttelte energisch den Kopf. "Nein. Nie gewesen."

Wieder nickte der Sekretär, ging vollends an den Tisch und machte

sich an seine unterbrochene Schreiberei.

Das Leben in der Wachtstube lief weiter, vielleicht waren manche der Festgenommenen in Angst, in Unruhe und Sorge, vielleicht quälten Träume die Trunkenen - äußerlich war alles glatt, ruhig, teilnahmslos.

Bis kurz nach sechs die telefonische Meldung eintraf, der Oberwachtmeister Leo Gubalke liege hoffnungslos mit Bauchschuß. Er werde wohl noch vor Mitternacht sterben. Von da an änderte sich das Gesicht des Reviers vollkommen. Ständig klappten die Türen, immer kamen und gingen Beamte in Zivil, in Uniform. Flüsterten miteinander; ein dritter trat dazu, einer fluchte. Um halb sieben kamen dann die Kameraden Gubalkes, in deren Kampf mit den beiden Ringvereinen er grade hatte eingreifen wollen, als ihn die Mörderkugel traf.(Der einzige Schuß, der überhaupt gefallen war.) Das Flüstern, das Tuscheln verstärkte sich. Es wurde auf den Tisch geschlagen; ein Polizist stand finster in einer Ecke und wippte ununterbrochen mit seinem Gummiknüttel; die Blicke, die die Gefangenen streiften, waren nicht mehr gleichgültig, sie waren finster.

Ganz besonders nachdrücklich aber waren die Blicke, die auf Petra Ledig haftenblieben. Jedem erzählte der Sekretär, daß dies "die letzte Amtshandlung von Leo" war. Weil er dieses Mädchen festgenommen hatte, war Gubalke zwanzig Minuten zu spät gekommen. Wäre er pünktlich gewesen, geschlossen mit den andern ausgerückt, hätte ihn die Mörderkugel vielleicht nicht - nein, bestimmt nicht! - getroffen!

Der schwer und qualvoll Sterbende dachte jetzt vielleicht an seine Frau und an die Kinder. Und vielleicht freute es ihn in der Hölle seiner Schmerzen, daß sich wenigstens seine Mädchen so wuschen wie er. Er hinterließ eine Spur seines Wesens auf dieser Welt, ein kleines Zeichen dessen, was er für Ordnung gehalten hatte. Oder er dachte, von der Todesahnung überschattet, daran, daß er nun nie in seinem Leben auf einem sauberen Büro sitzen und ordentliche Listen führen würde. Oder an seinen Laubengarten. Oder daran, ob die von der Sterbe- und Begräbniskasse bei der jetzigen Geldentwertung so viel zahlen würden, daß es zu einem anständigen Begräbnis reichte. An vielerlei konnte der Sterbende denken - aber die Wahrscheinlichkeit, daß er an seine "letzte Amtshandlung" Petra Ledig dachte, war sehr gering.

Und doch bemächtigte sich der Sterbende dieses Falles, er sonderte ihn von allen andern. Die Augen der Kollegen sahen nicht mehr ein belangloses junges Mädchen dort auf der Bank sitzen - nicht umsonst konnte sich der Sterbende ihretwegen zwanzig Minuten verspätet haben! Die letzte Amtshandlung Gubalkes mußte wichtig gewesen sein.

Der schwere, große, traurig aussehende Reviervorsteher mit dem grauen Wachtmeisterschnurrbart kam in den Raum, stellte sich neben den Tisch des Sekretärs und fragte, mit den Augen deutend: "Das ist sie -?"

"Das ist sie!" bestätigte der Sekretär halblaut.

"Er hat mir nur gesagt, daß sie mit Spielern zu tun hat. Weiter nichts."

"Ich habe sie noch nicht vernommen", flüsterte der Sekretär. "Ich wollte warten, bis - er wiederkäme."

"Vernehmen Sie sie", sagte der Reviervorsteher.

"Die Betrunkene vorhin, die solchen Krach gemacht hat, hat sie erkannt. Sie ist auf den Strich gegangen, hat es mir auch zugegeben, behauptet allerdings, nicht mehr in letzter Zeit."

"Ja, er hatte einen scharfen Blick. Er sah alles, was nicht ganz in Ordnung war. Er wird mir sehr fehlen."

"Uns allen. Mächtig fleißig und ein guter Kamerad, gar kein Streber."

"Ja - uns allen. - Vernehmen Sie sie. Denken Sie daran, daß das einzige, was er gesagt hat, etwas von Spielern war."

"Daran denke ich schon. Wie kann ich das vergessen?! Ich werde sie fest in die Zange nehmen."

Petra wurde an den Tisch geführt. Hätte sie nicht schon aus den häufigen Blicken, aus dem Stehenbleiben an ihrer Zelle gemerkt, daß etwas im Gange war - die Art, wie der gelbliche Sekretär nun mit ihr sprach, mußte ihr verraten, daß die Stimmung sich verändert hatte, und zu ihren Ungunsten. Etwas mußte geschehen sein, das die Leute übel von ihr denken ließ - konnte es mit Wolf zusammenhängen? Diese Unsicherheit machte sie ängstlich und befangen. Ein- oder zweimal berief sie sich auf den freundlichen Wachtmeister, "der in unserm Hause wohnt", aber das finstere Schweigen, das Reviervorsteher wie Sekretär auf diesen Appell hatten, erschreckte sie noch mehr.

Solange die Vernehmung nur sie allein betraf, solange sie also bei der Wahrheit bleiben konnte, ging es noch. Aber als die Frage nach den Erwerbsquellen ihres Freundes auftauchte, als das Wort "Spieler" fiel, geriet sie in schlimme Bedrängnis und Verwirrung.

Sie hatte ohne Zögern zugegeben, daß sie einige Male - "etwa acht- oder zehnmal, so genau weiß ich es nicht mehr" - Herren auf der Straße angesprochen hatte, mit ihnen gegangen war und sich dafür hatte Geld geben lassen. Aber sie wollte nicht zugeben, daß Wolfgang ein Spieler war, um Geld spielte, daß dieses Spiel seit langem ihr Haupterwerb war.

Sie war sich nicht einmal ganz sicher, ob es verboten war, da Wolfgang doch gar kein Hehl daraus gemacht hatte. Aber lieber war sie vorsichtig und log. Ach, auch in diesem Punkt hatte ihr der Sterbende einen schlechten Dienst erwiesen. Das Wort "Spieler" bedeutet im Osten Berlins etwas ganz anderes als im Westen. Ein zweifelhaftes Mädchen, das auf den Strich ging und einen festen Freund hatte, dazu "mit Spielern zu tun hatte", das konnte im Osten nur die Freundin eines Falschspielers sein, eines Bauernfängers mit dem Kümmelblättchen. In den Augen der beiden Polizeibeamten war sie ein Mädchen, das ihrem Freunde als Lockvogel die zu rupfenden Opfer ins Netz holte.

Auf einer Wache im Westen Berlins hätte dieser Hinweis auf Spieler einen ganz andern Klang gehabt. Im Westen - das wußte dort jeder - wimmelte es nur so von Spielklubs. Fast die halbe Lebewelt und bestimmt die ganze Halbwelt ging in diese Klubs. Das Spielerdezernat der Polizei jagte wohl Nacht für Nacht unermüdlich nach diesen Klubs, aber das war eine Sisyphusarbeit: für zehn geschlossene Klubs sprangen zwanzig neue ein. Man bestrafte auch nicht die betroffenen Spieler - dann hätte man den halben Westen entvölkert -, man setzte nur die Unternehmer und die Croupiers fest und zog alle vorgefundenen Gelder ein.

Hätte Petra gestanden, ihr Freund ginge in einen Spielklub des Westens, hätte die Sache damit für die Polizei im Osten jedes weitere Interesse verloren. Statt dessen machte sie Ausflüchte, stellte sich unwissend, log, wurde zwei- oder dreimal bei ihren Lügen ertappt und schwieg aus Hilflosigkeit nun ganz.

Hätte nicht unsichtbar der Sterbende den Fall noch in Händen gehabt, wäre er wohl versandet. Viel konnte nicht dahinterstecken; ein Mädchen, das so ungeschickt log und bei jeder Lüge auch noch rot wurde und sich versprach, konnte kaum die Zutreiberin eines gerissenen Bauernfängers, überhaupt nicht die Helferin eines schweren Jungen sein. So aber blieb doch noch immer die Möglichkeit, daß etwas Unbekanntes, Schweres dahintersteckte. Petra wurde angeschrien, väterlich ermahnt, auf die schlimmen Folgen hingewiesen - und als all das sie nicht zum offenen Sprechen bringen konnte, in ihre Zelle zurückgeführt.

"Mit dem Transport um sieben zum Alex", entschied der Reviervorsteher. "Machen Sie im Protokoll auf die Wichtigkeit des Falles aufmerksam."

Der Sekretär flüsterte etwas.

"Gewiß, wir können sehen, daß wir den Kerl noch fassen. Aber er wird sich längst aus dem Staube gemacht haben. Jedenfalls aber schicke ich

gleich einen Mann in die Georgenkirchstraße."

Als um sieben Uhr der grüne Sammelwagen der Polizei vor der Wache hielt, wurde auch Petra mit eingeladen. Es regnete. Sie kam auf einen Platz neben der Feindin zu sitzen, der Hühnerweihe, aber der Sekretär hatte recht behalten: der Kokainrausch war verflogen und das Mädchen vollkommen zusammengefallen. Petra mußte sie während der Fahrt stützen und halten, damit sie nicht vom Sitz fiel.

10

Von der Landsberger Straße biegt er in die Gollnowstraße ein. Rechts bleibt die Weinstraße, links die Landwehrstraße. Nun kommt rechts die Fliederstraße, die mit ihren paar Häusern aber nur ein Sträßchen ist, an ihrer Ecke liegt eine "Groß-Destillation", in der Pagel noch nie war.

Langsam und bedächtig steigt er die Stufen empor, geht an die Theke und verlangt einen Wermut. Der Wermut kostet siebzigtausend Mark, er schmeckt fuselig. Pagel bezahlt, er geht zur Tür, da fällt ihm ein, daß er keine Zigaretten mehr hat. Er kehrt um und verlangt ein Päckchen Lucky Strike. Aber Lucky Strike haben sie nicht, dafür haben sie Camel. Auch nicht schlecht, denkt Pagel, nimmt Camel, brennt sich eine an und verlangt noch einen Wermut.

Eine Weile steht er vor der Theke, es fröstelt ihn ein wenig in seiner nassen Kleidung, der fuselige Wermut hilft auch nicht dagegen. So nimmt er noch einen doppelten Kognak, zwei Stock hoch, aber der schmeckt scheußlich nach Sprit. Doch steigt jetzt eine leichte Wärme aus seinem Magen auf und verbreitet sich langsam in ihm. Es ist nur eine physische Wärme, die nicht zu ihm gehört, sie vermittelt nicht jenes Gefühl gelassenen Glücks, das Petra nach dem Verzehren des Brotkantens empfand.

Pagel steht lässig da, er sieht gleichgültig durch den riechenden Schankraum mit seinen randalierenden Gestalten. Eine grenzenlose Verzweiflung hat ihn plötzlich erfaßt; er ist überzeugt, daß schon jetzt, ehe er noch einen Schritt für Petra getan hat, alles mißglückt ist. Es macht nicht mehr das geringste aus, daß dies sorgsam behütete Geld nun doch angerissen wurde. Ja, er möchte eher, daß es dahinflösse, sich verstreute - möglichst, ohne daß er etwas dabei tun muß -, denn was kann Geld helfen? Aber wenn Geld nicht hilft - was hilft dann?! Ach, muß denn überhaupt immer geholfen werden?! Es ist ja doch alles ganz egal!

So steht er da. Am liebsten stände er immer so weiter da; jeder Schritt, den er tut, bringt ihn einer Entscheidung näher, die er nicht

fassen mag, die er hinauszögern will bis aufs letzte. Ihm fällt ein, daß er eigentlich den ganzen Tag nichts anderes getan hat als hinauszögern. Wenn er erst Geld hatte, dann wollte er etwas tun, dann würde er losgehen, so groß -! Nun hatte er Geld - und stand geruhsam abwartend an einer Theke.

Ein junger Bengel, die Schiebermütze schief auf einem Ohr, tritt an ihn heran, schnuppert nach dem Rauch und bettelt um eine Zigarette: "Schenk mir doch eine, ich bin wild auf die süßen Engländer. Mensch, sei doch nicht so, gib mir wenigstens deine Kippe!"

Wolfgang schüttelt leise lächelnd ohne ein Wort den Kopf, das Gesicht des Burschen wird plötzlich finster. Er dreht sich um und geht. Wolfgang faßt in die Tasche, holt in der Tasche aus dem Päckchen eine Zigarette, ruft scharf: "Fang!" und wirft die Zigarette dem Burschen zu. Er fängt sie, nickt kurz - und sofort sind drei oder vier Bengel um Pagel und betteln auch um Zigaretten. Er zahlt rasch an der Theke, sieht die Blicke der Jungen auf seinem dicken Geldpacken und rempelt den einen, der sich an ihn drängen will, beim Hinausgehen kräftig mit der Schulter.

Er hat nur noch drei Minuten bis zu seiner Wohnung, und diesmal braucht er wirklich nur drei Minuten für den Weg. Er klingelt bei der Pottmadamm. Wie die Klingel rasselt, spürt er plötzlich, daß die kleine Belebung, die aus dem Zusammenstoß in der Destille aufgestiegen war, schon wieder verflogen ist - die grenzenlose Traurigkeit hat ihn von neuem erfaßt. Sie scheint sich schwer und lastend in ihm auszubreiten, wie die dunkle Gewitterwolke heute nachmittag am Himmel.

Er hört den widerlichen Schlurfeschritt der Pottmadamm auf dem Flur, ihr schleimiges, fettes Hüsteln. Diese Geräusche verändern schon wieder die Wolke Trauer in ihm, etwas zieht sich zusammen. Er spürt, er wird dieser Frau noch etwas tun, er wird sie strafen für das, was geschehen - gleichgültig, was immer geschah.

Die Tür öffnet sich vorsichtig nur einen Spalt breit, aber von einem Fußstoß Pagels fliegt sie ganz auf, groß steht er vor der erschreckten Frau.

"Jotte doch, Herr Pajel, wat haben Se mir erschreckt!" jammert sie.

Er steht ohne Laut vor ihr, vielleicht wartet er darauf, daß sie etwas sagt, daß sie anfängt von dem, was geschehen. Aber er hat ihr wohl wirklich einen Schreck eingejagt, sie bringt kein Wort heraus, sie streicht nur immer mit den Händen über die Schürze.

Plötzlich - Pagel selber hat die Sekunde vorher nicht gewußt, daß er dies tun würde - tritt er hinein in den dunklen Flur, rempelt wie vorhin in

der Destille mit der Schulter die aufkreischende Frau und geht ohne Zögern in den dunklen Flur hinein, auf sein Zimmer zu.

Frau Thumann, die aufkreischte, stürzt hinter ihm drein. "Herr Pajel! Herr Pajel! Bitte doch bloß uff eenen Momang!" flüstert sie aufgeregt.

"Nun?" fragt er und bleibt mit rascher Wendung so plötzlich vor ihr stehen, daß sie von neuem erschrickt.

"Jott, wat ham Se denn bloß, Herr Pajel?! Ick versteh Se nich!" Und rasch, da er wieder losgehen will: "Es is bloß, ick habe Ihre Bude wieda vamietet. An eene Freundin von de Ida. Sie is jetzt drin, nich alleene. Se vastehn schon! - Wat kieken Se mir so an?! Se wollen mir wohl angst machen?! Det ham Se nich nötich, ick hab schon so Angst genug! Wenn bloß Willem kommen wollte! Wo Se doch jar keene Sachen drin haben und Ihre Kleene von de Polente abjeholt is ..."

Sie ist wieder mal in Gang gekommen, die Pottmadamm. Aber Pagel hört nicht mehr. Er stößt die Tür seines Zimmers auf - wenn sie abgeschlossen gewesen wäre, hätte er sie aufgebrochen, aber sie ist es nicht - und tritt ins Zimmer.

Auf dem Bett sitzt halbnackt ein Frauenzimmer, eine Nutte natürlich - es ist dasselbe schmale Eisenbett, in dem er an diesem Morgen noch mit Petra lag. Im Zimmer steht ein Jüngling, der gerade seine Hosenträger abknöpft.

"Raus!" sagt Pagel zu den Zusammenfahrenden.

Und die Thumannsche jammernd unter der Tür: "Herr Pajel, ick muß doch sehr bitten, jetzt platzt der Krajen aber! Ick rufe die Polizei. Det is mein Zimmer, und wo Se nich bezahlt haben, ick brauche meinen Zaster ooch. - Nee, Lotte, red nischt, der Mann is ja varückt, dem ham se seine Kleene mit uff de Wache genommen, davon hat sein Vogel heute Ausgang ..."

"Maul halten!" sagt Pagel scharf und stößt den Jüngling mit der Faust ins Kreuz. "Wird's bald?! Raus hier aus meinem Zimmer! Aber dalli!"

"Ich bitte doch sehr "..., sagt der Jüngling und pustet sich auf, aber nur zaghaft.

"Ich "..., sagt Pagel leise, aber sehr deutlich, "ich bin grade in der Stimmung, Sie ganz elend zu verhauen. Wenn Sie nicht in einer Minute mit der Hure aus dem Zimmer sind ..."

Plötzlich merkt er, daß er nicht mehr sprechen kann. Er zittert vor Wut am ganzen Leibe. Er hat zwar nie auch nur mit einem Gedanken daran gedacht, dieses verfluchte Dreckloch für sich zu reklamieren. Aber jetzt wäre es ihm recht, wenn dieser verdammte Ladenschwengel nur mit

einem Wort widerspräche -!

Aber das wagt der nicht. Ohne ein Wort, mit einer feigen Hast knöpft er an den Trägern, angelt nach Weste und Jackett ...

An der Tür jammert die Pottmadamm mutlos: "Herr Pajel! Herr Pajel!! Ick vastehe nich! Sie als jebüldeter Mensch! Wo wa imma so gut miteinanda auskamen! Wo ick heute mittach noch dem Mächen 'ne Schnecke und een Pott Kaffee geben wollte, bloß, daß de Ida es nicht jelitten hat ... Von de Ida is übahaupt allens jekommen, ick habe doch nie nischt gegen Sie jehabt! - Jotte doch - nu sticht er mich noch die Wohnung an!"

Pagel hat, ohne auf das Geschwätz zu achten, am Fenster gestanden. Aufmerksam, gedankenlos hat er zugeschaut, wie das Mädchen auf dem Bett sich in fliegender Hast die Bluse angezogen hat. Dann fiel ihm ein, daß er nicht mehr rauchte. Er nahm eine Zigarette, steckte sie an, betrachtete nachdenklich das brennende Streichholz in seiner Hand. Direkt daneben war die Gardine, die widerliche, gelbgraue Gardine, die er immer gehaßt hatte. Er führte das brennende Streichholz daran. Der gesäumte Rand bäumte sich, krümmte sich dann. Nun lief eine helle Flamme daraus hervor.

Die Thumannsche, das Mädchen schrien. Der Mann machte einen Schritt auf ihn zu, blieb wieder zögernd stehen.

"So!" sagte Pagel dann, knüllte die Gardine zusammen und löschte dadurch die Flamme. "Dies ist nämlich mein Zimmer. Was bekommen Sie, Frau Thumann? Ich bezahle bis zum Ersten. Hier ..."

Er gab ihr Geld, irgendwas, ein paar Scheine, es kam nicht darauf an. Er war schon im Begriff, den Packen wieder in die Tasche zu stecken, als er den traurig-begehrlichen Blick des Mädchens darauf sah. Wenn du ahntest, dachte er, doch irgendwie von diesem Gedanken befriedigt, daß dies nur einer von sechs Geldpacken ist - und der wertloseste ...

"Da!" sagte er zu dem Mädchen und hielt ihn ihr hin.

Sie sah das Geld an, dann ihn. Er verstand, daß sie ihm nicht glaubte. "Also nicht!" sagte er gleichmütig und steckte das Geld wieder in die Tasche. "Schön dumm bist du. Hättest du zugefaßt, hättest du's gehabt. Jetzt nicht mehr."

Er geht wieder gegen die Tür.

"Ich gehe jetzt auf die Polizei, Frau Thumann", sagt er. "In einer Stunde bin ich mit meiner Frau wieder hier. Sorgen Sie, daß was zum Abendessen da ist."

"Wird jemacht, Herr Pajel", sagt sie. "Aber die Jardine, die müssen Se

noch bezahlen. - Vor 'ner Viertelstunde war ooch eener von de Polente da nach Sie. Ick habe ihm azählt, Se sind abjehauen ..."

"Gut, gut", sagt Pagel. "Ich gehe jetzt hin."

"Und, Herr Pajel", eilt sie hinter ihm drein, "nehmen Se's mir nich für übel, Se hören's dann ja doch uff de Wache. Ick habe nur een Wort jesacht, daß Se noch een bißken in Rückstand sind, gleich mußt ick wat unterschreiben. Aber ick nehme es zurück, Herr Pajel, ick habe jleich nich jewollt. Ick jeh sofort uff de Wache und nehme es zurück, ick habe det doch nicht jewollt von wejen Strafantrach wejen Betruch, det hat der jesacht von der Polente. Jleich bin ick ooch da, nur erst det Mächen aus de Wohnung. So een fieses Mächen, die bringt doch nie de Miete, und wat det for een Kavalier is, ham Se det jesehen, Herr Pajel, mit det Brettchen vor de Brust an eenem Knopp ..."

Pagel steigt schon die Treppe hinunter; den Letzten beißen die Hunde, und so ist es auch ganz richtig, daß Frau Thumann Strafantrag wegen Betruges gestellt hat. Ihn trifft es ja nicht, es ist bloß wegen Petra ...

Er dreht wieder um, steigt noch einmal hinauf und sagt zur Pottmadamm, die auf dem Treppenabsatz erst einmal einer Nachbarin von den Ereignissen berichtet: "Wenn Sie nicht in zwanzig Minuten auf der Wache sind, dann donnert's, Frau Thumann!"

Der gelbliche Sekretär auf dem Polizeibüro hat einen schlechten Tag. Es ist richtig ein Gallenanfall geworden, wie er schon am Morgen beim Aufstehen fürchtete; der dumpfe Druck in der Gallengegend, eine leise Übelkeit hatten ihn gewarnt. Er weiß recht gut, und der Arzt hat es ihm auch oft genug gesagt, er müßte sich krank melden, eine Kur gebrauchen. Aber welcher Verheiratete kann heute seine Familie den der Entwertung nachhinkenden Krankengeldern ausliefern?

Nun hat ihm die Aufregung über den Fall Gubalke eine richtige Gallenkolik gebracht. Er hat kaum noch die Papiere für den Siebenuhrtransport nach dem Alex fertigmachen können, dann hat er gekrümmt auf der Toilette gesessen, während sie draußen schon wieder nach ihm rufen. Er hätte brüllen können vor Schmerzen. Natürlich kann man nach Haus gehen, wenn man krank ist, kein Reviervorsteher, und dieser zumal nicht, wird etwas dagegen sagen, aber man kann seinen Dienst nicht so plötzlich im Stich lassen, grade jetzt nicht. Nun zur Stunde wirft der Geschäftsschluß die Tausende von Angestellten und Kaufleuten auf die Straße, an tausend Lokalen leuchten die Lichtreklamen auf, der Taumel aus Amüsement, Fieber und Angst reißt die Menschen fort, und die Hauptarbeit der Polizei beginnt. Er wird es schon bis zu seiner Ablösung um zehn aushalten.

Er sitzt nun wieder hinter seinem Tisch. Besorgt merkt er, daß der Gallenanfall mit seinen Schmerzen zwar aufgehört hat, daß aber statt dessen ein Zustand äußerster Gereiztheit in ihm zurückgeblieben ist. Es ärgert ihn alles, und fast mit Haß schaut er in das bleiche, schwammige Gesicht eines Straßenhändlers, der ohne Gewerbeschein aus einem Handkoffer Toilettenseifen dunkler Herkunft verkauft und Krakeel angefangen hat, als der Schutzmann ihm das verwies. Ich muß mich zusammennehmen, denkt der Sekretär. Ich darf mich nicht gehenlassen, so darf ich ihn nicht anschauen ...

"Es ist verboten, ohne Wandergewerbeschein Waren auf der Straße feilzubieten "..., sagt er zum zehnten Male, möglichst sanft.

"Bei euch ist alles verboten!" schreit der Händler. "Alles macht ihr einem kaputt! Bei euch ist nur erlaubt, vor Hunger zu krepieren!"

"Ich mache ja die Gesetze nicht!" sagt der Sekretär.

"Aber du läßt dich dafür bezahlen, daß du die Scheißgesetze durchführst, Speckjäger, verdammter!" schreit der Mann.

Hinter dem Mann halblinks steht ein junger, gut aussehender Bursche in einer feldgrauen Uniform. Der Bursche hat ein offenes, recht intelligentes Gesicht. Er gibt dem Sekretär die Kraft, ohne Ausbruch solche Beschimpfungen zu ertragen. "Wo haben Sie die Seife her?" fragt der Sekretär.

"Riech deinen eigenen Dreck auf!" schreit der Händler los. "Müßt ihr Brüder euch in alles mischen?! Ihr wollt unsereinen bloß ruinieren, ihr Leichenwürmer! Wenn wir alle krepiert sind, seid ihr fett!"

Er schreit noch weiter Beschimpfungen, während ihn ein Schupo an den Schultern gegen den Zellengang schiebt. Der Sekretär schlägt trostlos den Deckel des Seifenkoffers zu und stellt ihn auf den Tisch. "Bitte!" sagt er zu dem jungen Mann in der feldgrauen Uniform.

Der junge Mann hat mit gerunzelter Stirn und vorgeschobenem Kinn dem Abtransport des tobenden Händlers zugesehen. Jetzt merkt der Sekretär, daß dies Gesicht doch nicht so offen ist, wie er dachte, es liegt Trotz darin und ein verbohrter Eigensinn. Auch kennt der Sekretär diesen krampfigen Gesichtsausdruck; es haben ihn manche Männer, wenn sie einen Uniformierten Gewalt gegen einen Zivilisten brauchen sehen. Solche Männer - die geborenen Löcker wider den Stachel - sehen dann rot, ganz besonders, wenn sie ein wenig getrunken haben.

Aber dieser junge Bursche hat sich recht gut in der Gewalt. Fast mit einem Aufatmen wendet er den Blick von dem Abtransport fort, sobald die Eisentür zu dem hinteren Zellengang wieder geschlossen ist. Er ruckt

in dem etwas zu engen Waffenrock mit der einen Schulter, geht an den Tisch und sagt ein wenig herausfordernd, eine Spur trotzig, aber vollkommen anständig: "Ich heiße Pagel. Wolfgang Pagel."

Der Sekretär wartet, aber weiter kommt nichts. "Ja", sagt der Sekretär dann, "und Sie wünschen?"

"Ich werde hier wohl erwartet", antwortet der junge Mann fast ärgerlich. "Pagel, Pagel aus der Georgenkirchstraße."

"Ach so", sagt der Sekretär. "Ja, richtig. Wir haben einen Mann zu Ihnen geschickt. Wir hätten Sie gerne gesprochen, Herr Pagel."

"Und Ihr Mann hat meine Wirtin genötigt, einen Strafantrag gegen mich zu unterschreiben!"

"Nicht genötigt. Kaum genötigt", verbessert der Sekretär. Und in dem festen Entschluß, mit dem jungen Mann im guten auszukommen: "Wir haben kein besonderes Interesse an Strafanträgen. Wir ersticken."

"Trotzdem haben Sie vollkommen grundlos meine Frau verhaftet", sagt der junge Mann heftig.

"Nicht Ihre Frau", verbessert der Sekretär wieder. "Ein lediges Mädchen - Petra Ledig, nicht wahr?"

"Wir wollten heute mittag heiraten", sagt Pagel und wird ein wenig rot. "Unser Aufgebot hängt auf dem Standesamt."

"Die Festnahme erfolgte erst heute nachmittag, nicht wahr? Und mittags haben Sie also nicht geheiratet?"

"Nein", sagte Pagel. "Aber es wird rasch nachgeholt. Ich hatte heute vormittag nur kein Geld."

"Ich verstehe", sagte der Sekretär langsam. Aber sein Gallenleiden brachte ihn doch dazu, noch zu sagen: "Also doch ein lediges Mädchen, nicht wahr?"

Er schwieg, sah auf den grünen, tintenbefleckten Filz vor sich. Dann griff er nach dem Papierstoß links, holte ein Blatt hervor und sah darauf. Er vermied es, den jungen Mann anzusehen, konnte es nun aber doch nicht lassen, wiederum zu sagen: "Und auch nicht grundlos festgenommen. Nein."

"Wenn Sie die Betrugsanzeige der Wirtin meinen - ich habe eben die Rechnung bezahlt. Die Wirtin wird innerhalb zehn Minuten hier sein und den Strafantrag zurücknehmen."

"Heute abend haben Sie also Geld", lautete die überraschende Antwort des Sekretärs.

Pagel hatte Lust, diesen gallengelben Mann zu fragen, was ihn das

anginge, aber er ließ es. Statt dessen fragte er: "Ist der Strafantrag zurückgenommen, steht der Entlassung von Fräulein Ledig nichts mehr im Wege, nicht wahr?"

"Ich glaube, doch", sagte der Sekretär.

Er war sehr müde, all dieser Dinge müde, und vor allem fürchtete er sich vor Streit. Er hätte gerne in seinem Bette gelegen, die Wärmflasche auf dem Bauch; seine Frau würde ihm die heutige Romanfortsetzung aus der Zeitung vorlesen. Statt dessen würde es unbedingt Streit mit diesem jungen Manne geben, der erregt war; seine Stimme wurde immer schneidiger. Stärker aber als das Ruhebedürfnis des kranken Sekretärs würde die Gereiztheit sein, die ununterbrochen aus seiner Galle sickerte und ihm das Blut vergiftete.

Aber noch hielt er an sich; von all seinen Argumenten wählte er das schwächste, um diesen Herrn Pagel nicht noch mehr aufzubringen: "Als sie festgenommen wurde, war sie obdachlos und nur mit einem Herrenüberzieher bekleidet". Er beobachtete die Wirkung seiner Worte auf Pagels Gesicht. Er erklärte: "Erregung öffentlichen Ärgernisses."

Der junge Mann war sehr rot geworden. Er sagte eilig: "Das Zimmer ist bereits wieder gemietet und bezahlt. So hat sie ein Obdach. - Und was ihre Kleider angeht, so kann ich in einer halben, in einer Viertelstunde ihr so viel Kleider und Wäsche kaufen, wie gewünscht wird."

"Sie haben also auch dafür Geld? Ziemlich viel Geld?"

Der Sekretär war Kriminalist genug, alles, was ein Vernommener nebenher zugab, sofort festzunageln.

"Genug! Dafür genug!" sagte Wolfgang heftig. "Sie wird dann also entlassen?"

"Die Läden sind jetzt geschlossen", antwortete der Sekretär.

"Egal!" rief Pagel. "Ich beschaffe die Kleider trotzdem!" Und fast bittend: "Sie entlassen Fräulein Ledig?"

"Wie gesagt, Herr Pagel", antwortete der Sekretär, "wir hätten Sie auch unabhängig von dieser Geschichte gerne einmal gesprochen. Darum haben wir ja auch einen Beamten bei Ihnen vorbeigeschickt."

Der Sekretär flüsterte noch einen Augenblick mit einer Uniform. Die Uniform nickte kurz und verschwand.

"Aber Sie stehen noch immer, bitte, nehmen Sie doch einen Stuhl."

"Ich will keinen Stuhl! Ich verlange, daß meine Freundin sofort entlassen wird!!" schrie Pagel.

Aber er riß sich im gleichen Augenblick zusammen.

"Entschuldigen Sie", sagte er leiser. "Das wird nicht wieder vorkommen. Ich bin sehr in Sorge. Fräulein Ledig ist ein sehr gutes Mädchen. An allem, was man ihr vorwerfen kann, bin ich allein schuld. Ich habe die Miete nicht bezahlt, ich habe ihre Kleider verkauft. Bitte, geben Sie sie frei!"

"Bitte, setzen Sie sich", antwortete der Sekretär.

Pagel wollte aufbrausen, besann sich und setzte sich.

Es gibt eine Art von Vernehmung durch Kriminalisten, die fast alle Menschen, und gewiß jeden Unerfahrenen, völlig zermürbt. Sie ist fern jeder Milde, aller Menschlichkeit. Sie kann auch nicht anders sein. Der Vernehmende, der in den meisten Fällen eine Tatsache entdecken soll, die der Vernommene um keinen Preis zugeben will, muß den Befragten um Sinn und Verstand bringen, daß ihm diese Tatsache wider seinen Willen entschlüpft.

Der Sekretär hatte einen Mann vor sich, der einer vagen Beschuldigung nach sein Geld durch gewerbsmäßiges Falschspiel verdiente. Der Mann würde die Richtigkeit dieser Beschuldigung in ruhigem, besonnenem Zustande nie zugeben. Um ihn unbesonnen zu machen, mußte man ihn reizen. Oft ist es schwer, etwas zu finden, was einen Beschuldigten so reizt, daß er darüber die Besinnung verliert. Hier hatte der Sekretär sofort gefunden, was er brauchte: Dieser Mann schien in wirklicher, unverlogener Sorge um sein Mädchen zu sein. Das mußte der Hebel werden, mit dem die Tür zu einem Geständnis zu öffnen war. Aber ein solcher Hebel war nicht mit Zartheit zu benutzen; man befreit nicht die Bauern aus dem Osten von einem Kümmelblättchenspieler durch sanfte Rücksichtnahme. Man mußte diesen jungen Mann besonders kräftig anfassen, er hatte Selbstbeherrschung, er hatte eben nicht getobt, er hatte sich auf den Stuhl gesetzt.

"Ich müßte Sie nach ein paar Dingen fragen", sagte der Sekretär.

"Gerne", antwortete Pagel. "Nach was Sie wollen. Wenn Sie mir nur zuerst bestätigen würden, daß Fräulein Ledig heute abend noch entlassen wird."

"Darüber können wir uns noch unterhalten", sagte der Sekretär.

"Sagen Sie es mir doch bitte gleich", bat Pagel. "Ich bin unruhig. Seien Sie", sprach er, "seien Sie nicht unmenschlich. Quälen Sie mich nicht. Sagen Sie ja."

"Ich bin nicht unmenschlich", antwortete der Sekretär. "Ich bin Beamter."

Pagel lehnte sich entmutigt, gereizt zurück.

Durch die Tür kam ein großer, schwerer, uniformierter Mann, er hatte einen grauschwarzen Wachtmeisterschnurrbart und sah traurig aus, mit dicken, geschwollenen Tränensäcken unter großen Augen. Der Mann trat hinter den Stuhl des Sekretärs, er nahm seine Zigarre aus dem Mund und fragte: "Ist er das?"

Der Sekretär legte den Kopf zurück, sah zu seinem Vorgesetzten auf und sagte, recht vernehmlich flüsternd: "Das ist er!"

Der Reviervorsteher nickte langsam, sah Pagel lange prüfend an und sagte: "Fahren Sie fort!" Er rauchte weiter.

"Nun zu unsern Fragen "..., fing der Sekretär an.

Aber Pagel unterbrach ihn. "Sie gestatten, daß ich mir eine Zigarette anbrenne?"

Er hatte das Päckchen schon in der Hand.

Der Sekretär klopfte mit der Hand auf den Tisch. "In den Diensträumen ist das Rauchen untersagt - für das Publikum."

Der Reviervorsteher zog kräftig an seiner Zigarre. Ärgerlich, nein, wütend steckte Pagel seine Zigaretten wieder ein.

"Nun zu unsern Fragen "..., fing der Sekretär wieder an.

"Einen Augenblick", unterbrach der Reviervorsteher und legte seine große Hand dem Sekretär auf die Schulter. "Vernehmen Sie den Mann in seiner eigenen Sache oder in der von dem Mädchen?"

"Ich habe hier also auch eine eigene Sache?" fragte Pagel verwundert.

"Das werden wir dann sehen", sagte der Sekretär. Und zu seinem Vorgesetzten, wieder in diesem albernen, vernehmlichen Flüsterton: "In seiner eigenen Sache."

Die treiben ja hier Schindluder mit dir, dachte Pagel erbittert. Und sofort: Aber ich lasse mich nicht reizen. Die Hauptsache ist, daß ich Petra heute abend noch herausbekomme. Und wieder: Mama hatte vielleicht doch recht, ich müßte einen Anwalt hier haben. Dann würden sich die Brüder mehr in acht nehmen.

Er saß aufmerksam und äußerlich ruhig da. Aber in ihm war es unruhig. Seit er in jene Destille gegangen war, verließ ihn nicht mehr das Gefühl von trauriger Verzweiflung, als sei doch alles umsonst.

"Nun zu unsern Fragen "..., hörte er den beharrlichen Sekretär wieder sagen.

Und jetzt ging es wirklich los.

"Sie heißen?"

Pagel sagte es.

"Geboren wann?"

Pagel sagte es.

"Wo?"

Er sagte es.

"Beruf?"

Er war ohne Beruf.

"Wohnung?"

Pagel sagte es.

"Haben Sie Ausweispapiere?"

Pagel hatte sie.

"Zeigen Sie mal her!"

Pagel zeigte sie her.

Der Sekretär sah sie an. Der Reviervorsteher sah sie auch an. Der Reviervorsteher zeigte dem Sekretär etwas, und der Sekretär nickte. Er gab Pagel die Papiere nicht zurück, sondern legte sie vor sich auf den Tisch.

"So", sagte der Sekretär, lehnte sich zurück und sah Pagel an.

"Nun zu unsern Fragen "..., sagte Pagel.

"Wie?!" fragte der Sekretär.

"Ich sagte: nun zu unsern Fragen "..., antwortete Pagel höflich.

"Richtig", sagte der Sekretär. "Nun zu unsern Fragen ..."

Es war nicht festzustellen, ob Pagels Ironie Eindruck auf die beiden Beamten gemacht hatte.

"Ihre Mutter lebt in Berlin?"

"Wie aus den Papieren ersichtlich", antwortete Pagel. Und dachte: Dumm wollen sie mich machen. Oder sie sind dumm. Übrigens: dumm sind sie bestimmt!

"Sie leben nicht bei Ihrer Mutter?"

"Meine Anmeldung lautet auf die Georgenkirchstraße."

"Und Sie leben nicht bei Ihrer Mutter?"

"Sondern in der Georgenkirchstraße."

"Wohnt es sich in der Tannenstraße nicht angenehmer?"

"Das ist Geschmackssache."

"Sind Sie etwa verfeindet mit Ihrer Mutter?"

"Kaum".(Eine ganze Lüge wurde Pagel schwer, dafür war diese Sache

nun doch nicht wichtig genug. Aber die Wahrheit zu sagen war unmöglich: die Wahrheit hätte eine nicht enden wollende Kette von Fragen heraufbeschworen.)

"Ihre Mutter wünscht wohl nicht, daß Sie bei ihr wohnen?"

"Ich wohne mit meiner Freundin zusammen."

"Und Ihre Mutter wünscht das nicht?"

"Es ist meine Freundin."

"Also nicht die Ihrer Mutter? Ihre Mutter mißbilligt also die beabsichtigte Heirat?"

Der Sekretär sah den Reviervorsteher, der Reviervorsteher den Sekretär an.

Wie stolz sie sind, daß sie das rausgebracht haben, dachte Pagel. Aber sie sind nicht dumm. Nein, gar nicht. Ich möchte wissen, wie sie es anfangen, aber sie kriegen es raus. Ich muß besser aufpassen.

"Ihre Mutter hat Vermögen?" fing der Sekretär wieder an.

"Wer hat jetzt in der Inflation noch Vermögen?" fragte Pagel dagegen.

"Dann unterstützen Sie also Ihre Mutter?" fragte der Sekretär.

"Nein", sagte Pagel ärgerlich.

"Sie hat also zu leben?"

"Sicher!"

"Und unterstützt vielleicht Sie?"

"Nein", sagte Pagel wieder.

"Sie verdienen selbst Ihren Unterhalt?"

"Ja."

"Und den Ihrer Freundin?"

"Auch."

"Womit?"

Halt, halt! dachte Pagel. Die wollen mich fangen. Sie haben etwas läuten gehört. Es kann mir bestimmt nichts passieren, spielen wird nicht bestraft. Aber besser fange ich gar nicht davon an. Peter hat bestimmt nichts verraten.

"Ich verkaufe Sachen."

"Was für Sachen verkaufen Sie denn?"

"Zum Beispiel die meiner Freundin."

"An wen verkaufen Sie?"

"Zum Beispiel an den Pfandleiher Feld in der Gollnowstraße."

"Und wenn nichts mehr zu verkaufen da ist?"

"Es ist immer noch was da."

Der Beamte überlegte einen Augenblick, er sah zu dem Vorsteher auf. Der Vorsteher nickte leicht.

Der Sekretär nahm einen Bleistift, stellte ihn auf die Spitze, betrachtete ihn nachdenklich und ließ ihn umfallen. Leichthin fragte er: "Ihre Freundin verkauft nichts?"

"Nichts!"

"Sie verkauft bestimmt gar nichts?"

"Gar nichts!"

"Es ist Ihnen bekannt, daß man auch anderes verkaufen kann als grade Sachen?"

Was in aller Welt, dachte Pagel verblüfft, kann Peter verkauft haben, daß die so dämlich fragen?!

Laut sagte er: "Auch ich meinte mit Sachen nicht nur Kleider und so was."

"Sondern zum Beispiel?"

"Bilder."

"Bilder -?!"

"Jawohl, Bilder!"

"Was für Bilder denn in aller Welt?!"

"Zum Beispiel Ölbilder."

"Ölbilder ... Ja, sind Sie denn Maler?"

"Ich nicht - aber ich bin der Sohn eines Malers."

"So", sagte der Sekretär sehr unzufrieden. "Sie verkaufen also Ölbilder Ihres Vaters. Nun, davon werden wir später sprechen. Jetzt nur noch einmal die Bestätigung: Fräulein Ledig verkauft nichts?"

"Nichts. Alles, was verkauft wird, verkaufe ich."

"Es könnte ja auch sein", sagte der Sekretär, und seine Gallenschmerzen plagten ihn wieder sehr - dieser junge Bengel tat gar zu überlegen. "Es könnte ja auch sein, daß Fräulein Ledig irgend etwas hinter Ihrem Rücken verkaufte - ohne daß Sie es zu wissen brauchen?"

Pagel dachte nach. Er drängte alle Unruhe, alle dunkle Befürchtung, die sich immer wieder in ihm zusammenballten, zurück. Er gab zu: "Theoretisch wäre das möglich."

"Und praktisch -?!"

"Praktisch nicht". Er lächelte. "Wir besitzen nämlich nicht so sehr viel, ich würde das Fehlen auch der geringsten Kleinigkeit sofort merken."

"So ... so "..., sagte der Sekretär. Er sah zurück auf den Reviervorsteher, der Vorsteher erwiderte den Blick - Pagel war es so, als ob der Schatten eines Lächelns in den Augenwinkeln der beiden auftauchte. Seine Unruhe, sein Argwohn wurden immer stärker. Der Sekretär senkte die Lider: "Und wir waren uns ja darüber einig, daß man nicht nur Sachen, Bilder, greifbare Dinge verkaufen kann, sondern - auch anderes?"

Wieder die dunkle Drohung, kaum noch versteckt. Was in aller Welt konnte Petra verkauft haben?!

"Zum Beispiel -?" fragte Wolfgang böse. "Ich kann mir nämlich keine Vorstellung machen von den ungreifbaren Dingen, die meine Freundin scheinbar verkauft haben soll!"

"Zum Beispiel "..., fing der Sekretär an und sah wieder zum Reviervorsteher hoch.

Der Reviervorsteher schloß die Augen, er bewegte dabei das traurige Gesicht einmal von rechts nach links, verneinend. Pagel sah es deutlich. Der Sekretär lächelte. Es war noch nicht ganz soweit, aber es war beinahe soweit.

"Zum Beispiel - das werden wir gleich sehen", sagte der Sekretär. "Zuerst noch einmal zurück zu unsern Fragen. Sie geben also zu, Ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf von Bildern ..."

"Meine Herren!" sagte Pagel, stand auf und stellte sich hinter seinen Stuhl. Er faßte die Lehne vor sich fest mit beiden Händen. Er sah auf diese Hände hinunter: die Knöchel traten weiß durch die gerötete Haut. "Meine Herren!" sagte er entschlossen. "Sie spielen aus irgendeinem Grunde, den ich nicht kenne, Katze und Maus mit mir. Ich mache das nicht länger mit! Wenn Fräulein Ledig, wie es scheint, irgendeine Dummheit begangen hat, so trage ich allein die Verantwortung. Ich habe mich nicht genug um sie gekümmert, ich habe ihr nie Geld gegeben, wohl nicht einmal genug zu essen. Ich stehe für alles ein. Und soweit Schaden entstanden ist, kann ich den Schaden ersetzen. Hier ist Geld "... Er riß an seinen Taschen, er warf die Pakete, eines nach dem andern, auf den Tisch. "Ich will bezahlen, was an Schaden geschehen ist, aber sagen Sie mir endlich, was geschehen ist ..."

"Geld, viel Geld "..., sagte der Sekretär und sah den unsinnigen, immer höher werdenden Haufen böse an.

Der Reviervorsteher schloß die Augen, als wolle er davon wegsehen,

als könne er den Anblick nicht ertragen.

"Hier sind noch zweihundertfünfzig Dollar!" rief Pagel, selber von neuem durch die Menge Geld überwältigt. Er warf den Packen als letzten auf den Tisch. "Ich kann mir keinen Schaden denken, der heute damit nicht zu bezahlen wäre. Ich will alles hergeben", sagte er hartnäckig, "aber lassen Sie Fräulein Ledig heute abend noch frei!"

Auch er starrte auf das Geld, das eintönige Weiß oder Bräunlich der deutschen, auf die Regenbogenfarben der amerikanischen Scheine.

Durch die Tür hinein ließ der Uniformierte die Frau Thumann, die Pottmadamm. Ihre schlampige Fülle schlotterte in hängenden Gewändern. Der Rocksaum, abgetreten selbstverständlich, ging noch bis zu den Absätzen der Schuhe, in einer Zeit, da die Frauen die Röcke nicht mehr bis zum Knie trugen. Ihr graues, wabbliges, faltiges Gesicht zitterte, ihre Unterlippe hing und hatte das Innere nach außen gedreht.

"Jotte doch, det ick noch zurechtkomme, Herr Pajel! Wat bin ick jeloofen! Wat ha' ick for eenen Schiß jehabt, Se kokeln mir die Bude noch mal an, wie Se jedroht haben! Ick wär ja ooch zeitich jekommen, aba wie ick in de Gollnowstraße bin und ick denke an jar nischt als an Sie und det ick zurechtkomme, rennt doch ein Auto in een Pferd rin. Da konnt ick doch nicht weiter! Det janze Jedärme draußen, und ick denke mir: Aujuste, bekiek dir das! Se saren ja imma, Mensch und Tier soll man nich vergleichen, aba innen muß et doch 'ne ziemliche Ähnlichkeit sind, und da ha' ick mir jedacht, wo du doch imma mit deine Blase zu tun hast, und 'ne Blase hat so 'n Hafamotoa ooch ..."

"Herr Pagel hat Ihnen also gedroht, Ihnen die Wohnung anzustecken, wenn Sie nicht sofort hierherkommen und die Anzeige zurücknehmen?"

Aber die Frau Thumann kann man nicht für dumm kaufen, die redet viel, aber auf nichts läßt sie sich festnageln. Sie hat das Geld auf dem Tisch gesehen, sich die Lage klargemacht, und schon redet sie los: "Wer sacht denn dat?! Er soll mia jedroht haben?! Det ha' ick nich jesacht, det valang ick ins Protokoll, Herr Leutnant, solche Worte schieben Se sich man lieba selba in de Schuhe! Mir drohen, wo er so 'n umgänglicha, lieba Herr is, der Herr Pajel! Und de Anzeije gegen ihn und det Mädchen hett ick ooch nich unterschrieben, wenn mir der Mann von Ihnen nich von Sinn und Unsinn jeschwatzt hätte. Es ist Jesetz, sacht er - und wie kann denn det Jesetz sind, bitt ick Sie, wo ick mein Jeld alles habe, und von Betruch is nich de Rede! Nee, meine Anzeije will ick wieder, davor mache ick Sie haftbar ..."

"Ruhe jetzt!" donnert der Reviervorsteher, denn die schüchternen Unterbrechungsversuche des Sekretärs verfangen nicht gegen diesen

Redestrom. "Treten Sie bitte einen Augenblick vor die Tür, Herr Pagel. Wir möchten allein mit Ihrer Wirtin reden ..."

Pagel sieht einen Augenblick die beiden an, dann das Geld und die Papiere auf dem Tisch. Er verbeugt sich stumm und tritt auf den Gang hinaus. Ihm gegenüber ist nun die Tür zum Meldebüro, etwas weiter nach der Straße zu, direkt an der Ausgangstür, das Wachtzimmer. Er sieht durch die offenstehende Tür draußen auf der Straße die Leute gehen. Es scheint aufgehört zu haben mit dem Regen, ein kühler Luftzug kommt herein und kämpft gegen die abgestandene Luft des Flurs.

Pagel lehnt sich gegen die Wand und brennt die lang ersehnte Zigarette an. Die ersten, tief eingeatmeten Züge sind eine Wohltat. Aber dann vergißt er gleich wieder, daß er raucht.

Verhaftet haben sie mich noch nicht, denkt er. Sonst hätten sie mich nicht so allein vor die Tür geschickt.

Drinnen geht wieder die Stimme der Thumannschen, aber weinerlicher. Dazwischen bellt die Stimme des Reviervorstehers - komisch, wie gut der traurige Mann schnauzen kann. Aber er muß es ja können, so was muß man in seinem Beruf können. - Übrigens beweist das gar nichts, daß sie mich vor die Tür geschickt haben. All mein Geld liegt da drinnen auf dem Tisch, sie wissen ganz gut, so leicht läuft keiner von so viel Geld weg. Aber warum sollten sie mich eigentlich verhaften? Und was ist mit Petra? Was kann Petra verkauft haben?

Er grübelt. Immer wieder gerät er darauf, daß sie vielleicht irgend etwas von der Thumann verkauft hat, Bettwäsche oder so was, um sich Essen zu kaufen. Aber das ist ja Unsinn! Das hätte die Pottmadamm längst ausgequatscht. Und sonst hat doch Peter gar keine Gelegenheit, an irgend etwas heranzukommen!

In Gedanken geht er zur Ausgangstür, die Luft im Gang macht ihm Kopfschmerzen, auch stören ihn die Stimmen im Zimmer des Sekretärs.

Er steht auf der Straße. Der Asphalt ist spiegelblank. Schwerer Tag für die Taxichauffeure, denkt er, als die Wagen so vorsichtig an ihm vorüberfahren, tastend gleichsam. Nein, ich möchte kein Taxichauffeur sein. Aber was in aller Welt möchte ich sein? Zu nichts bin ich mehr nutze. Ich habe den ganzen Tag nur Unsinn gemacht, und auch jetzt werde ich Peter nicht herausbekommen. Ich fühle es. Was kann Peter nur getan haben?

Er bleibt stehen, am Rande der Fahrbahn. Im regennassen Asphalt spiegeln sich die Lichter, kein Licht leuchtet ihm. Dann stößt ihn jemand an, und natürlich ist es die Pottmadamm.

"Jotte doch, Herr Pajel, gut, det ick Sie hier stehen sehe! Ick dachte schon, Se sind jetürmt. Machen Se bloß det nich, holen Se sich Ihr schönet Jeld. Wat wern Se det den Brüdern lassen?! Ick vasteh nich und ick weeß nich, so wat will Behörde sind, mit eenem kriminalistischen Scharfblick und Jehalt und allens, und da hat irjendeen Roß denen wat vorjeäppelt, Sie sind een Bauernfänger mit Kümmelblättchen. Se wissen doch, wo man die Karte so indrückt und schmeißt se über 'n Tisch, und der andere soll raten, wo de Karte is ... So doof! Ein feiner Mann wie Sie! Ick habe denen aber de Ohren ausjeputzt, da is de Haut mit det Schmalz wegjegangen! Allet solidet Jlücksspiel, ha' ick jesacht, fein mit Bank und die Herren im Frack, aba nur wat die Herren sind, die det Jeld innehmen, Sie natürlich nich, wie ick ja allens oft durch die Tür jehert habe, wie Se et dem Peter erzählt haben ..."

"Und was ist denn mit dem Peter?"

"Ja, wissen Se, Herr Pajel, wat mit der is, det weeß ick ooch nich. Da jeben sie keenen Laut von, mit der Petra stinkt es! Aba wejen Betruchanzeije und so, det is nich mehr - det haben se mir wieda rausrücken müssen, und ick habe es dem Jelbäugigen vor seine Quitte zerrissen. Und mit de Jardine, det ha' ick ooch jesacht, det is een anjeheiterter Scherz von Sie jewesen, und wenn Se mir jetzt wat jeben wollten for de neue Jardine ..."

"Erst muß ich mir mein Geld wiederholen, Frau Thumann", sagt Pagel und geht zurück in das Hinterzimmer.

Der Sekretär ist jetzt allein dort, der Reviervorsteher ist nicht mehr da. Ja, das Interesse hat nachgelassen, es scheint nun doch, der Sterbende hat sich getäuscht. Es ist keine wichtige Sache, es ist nur eine Bagatelle. Dies ist keine Zeit für Bagatellen. Der Sekretär hat keine Lust mehr, mit kriminalistischen Tricks zu arbeiten, die letzte Amtshandlung Leo Gubalkes ist dahingewelkt, ehe der Sterbende noch den letzten Atemzug getan hat.

Gleichgültig prüft der Sekretär die Durchschrift von der Kaufbestätigung des Kunsthändlers, sie wird schon richtig sein. Er ruft nicht einmal mehr dort an - es ist ja auch zu unwahrscheinlich, daß jemand mit Kümmelblättchen in ein paar Nachmittagsstunden tausend Dollar gewinnt.

"Aber in Spielklubs dürfen Sie nicht spielen", sagt er gelangweilt und gibt Pagel die Kaufbestätigung zurück. "Glücksspiele sind gesetzlich verboten."

"Gewiß", sagt Pagel höflich. "Ich spiele auch nicht wieder. - Darf ich vielleicht für Fräulein Ledig eine Kaution stellen?"

"Die ist nicht mehr hier", sagt der Sekretär, und für ihn existiert sie wirklich überhaupt nicht mehr. "Die ist schon im Polizeigefängnis Alexanderplatz."

"Aber warum denn?!" schreit Pagel. "Sagen Sie mir doch endlich, warum!!"

"Weil sie Unzucht betreibt, ohne unter Kontrolle zu stehen", sagt der Sekretär todmüde. "Sie soll übrigens auch geschlechtskrank sein."

Es ist gut, daß der Stuhl noch dasteht. Pagel packt ihn so fest, daß er meint, er muß zerbrechen. "Das ist unmöglich", sagt er endlich mühsam.

"Sie ist", erklärt der Sekretär und möchte nun endlich an seine Arbeit kommen, "von einem andern Mädchen gleichen Gewerbes hier erkannt worden. Übrigens hat sie es auch zugegeben."

"Sie hat es zugegeben?!"

"Sie hat es zugegeben ..."

"Danke", sagt Pagel, läßt den Stuhl los und geht gegen die Tür.

"Ihr Geld, Ihre Papiere!" ruft der Sekretär ungeduldig.

Pagel macht eine abwehrende Bewegung, besinnt sich dann aber und stopft alles wieder in die Taschen.

"Sie werden Ihr Geld verlieren", sagt der Sekretär gleichgültig.

Pagel macht wieder eine Bewegung der Abwehr und marschiert aus der Tür.

Erst fünf Minuten später, mitten in seiner mechanischen Schreiberei, fällt dem Sekretär ein, daß er dem Herrn Pagel eine falsche, zum mindesten eine mißverständliche Antwort gegeben hat. Petra Ledig hat nur zugegeben, daß sie vor etwa einem Jahr in einigen wenigen Fällen Unzucht betrieben hat. Geschlechtskrankheit hat sie überhaupt nicht zugegeben.

Der Sekretär denkt einen Augenblick nach. Vielleicht ist das gar nicht schlecht, überlegt er. Vielleicht heiratet er sie nun nicht. Man sollte solche Mädchen nicht heiraten. Nein, nie!

Und er kehrt zurück zu seiner Schreiberei. Endgültig versinkt für ihn der Fall Ledig ... die letzte Amtshandlung des Polizeioberwachtmeisters Leo Gubalke.

SECHSTES KAPITEL. Das Gewitter ist vorbei, aber es bleibt weiter schwül

1

Nach dem ersten Ansturm von minderen und hohen Angestellten des Hotels war es still um das Freundespaar Prackwitz und Studmann geworden. Der Empfangschef lag auf einer alten, recht löchrigen Chaiselongue in einem Kellerraum des Hotels und schlief. Er schlief den bleiernen und häßlichen Schlaf der Betrunkenen, mit hängendem Kinn, feuchtem Mund und einem gedunsenen Gesicht, dessen Haut plötzlich stopplig aussah, als sei sie lange nicht rasiert. Über die Stirn lief eine rote Schramme von dem Treppensturz her.

Von Prackwitz sah den Freund an, dann die Kellerstube. Es war kein einladendes Gemach, in das sie ihren Empfangschef getragen hatten. Eine große elektrische Rolle nahm den meisten Platz ein. In der Ecke waren leere Waschkörbe zusammengestellt, zwei Bügelbretter lehnten an der Wand.

Als ein Kellner hereinspähte - alles schien sich im Recht zu glauben, ohne jeden Umstand hereinzuschauen, an der Tür ungenierte Bemerkungen zu machen, ja, zu lachen -, fragte Rittmeister von Prackwitz recht ärgerlich: "Herr von Studmann muß doch hier im Hotel sein eigenes Zimmer haben. Warum ist er nicht in sein Zimmer geschafft worden?"

Der Kellner zuckte die Achseln und sagte mit einem neugierigen Blick auf den Schlafenden: "Woher soll ich denn das wissen?! Ich habe ihn doch nicht hierhergeschleppt!"

Von Prackwitz bezwang sich. "Schicken Sie mir - bitte - jemanden von der Leitung."

Der Kellner verschwand, Prackwitz wartete.

Aber es kam niemand. Es kam lange Zeit niemand. Der Rittmeister lehnte sich auf dem Küchenstuhl zurück, schlug die Beine übereinander und gähnte. Er war müde und abgespannt. Er fand, er hatte reichlich viel erlebt, seit heute morgen sein Zug, von Ostade her kommend, in den Schlesischen Bahnhof eingefahren war. Zu viel eigentlich für einen schlichten Landbewohner, der großstädtischen Erregungen entfremdet war.

Der Rittmeister brannte sich eine Zigarette an, vielleicht würde die ihn ein bißchen frisch machen. Nein, es kam immer noch niemand. Es mußte sich ja eigentlich auch bei der Leitung des Hotels herumgesprochen haben, daß der Empfangschef und Subdirektor angesichts der überfüllten Hotelhalle - nach einigen wirren Reden - die Treppe

hinabgestürzt war. Trotzdem bemühte sich keiner von den Herren. Der Rittmeister runzelte unwillig die Stirn. Es war kein Zweifel: irgend etwas bei dieser Sache stimmte nicht. Es war kein einfaches Fallen von der Treppe gewesen, wie es einmal - durch die Tücke des Objekts - auch dem Besterzogenen passieren kann. Die Zudringlichkeit des unteren, das Fernbleiben des oberen Hotelpersonals, der Atem des Schläfers verrieten es zur Genüge: Oberleutnant von Studmann war betrunken, sinnlos betrunken gewesen. War es noch.

Von Prackwitz überlegte, ob Studmann vielleicht ein Trinker geworden sei? Möglich war das. Möglich war in diesen verfluchten Zeiten alles. Aber der Rittmeister verwarf den Gedanken an gewohnheitsmäßiges Trinken trotzdem sofort wieder. Einmal fällt ein Gewohnheitstrinker keine Treppe hinunter - so etwas geschieht nur den Dilettanten im Trinken; zum andern behält die Leitung keines großen Hotels einen Trinker in ihren Diensten.

Nein - und Rittmeister von Prackwitz stand auf und fing an, in der Rollkammer auf und ab zu gehen -, dieser Fall Studmann lag anders. Irgend etwas ganz Unerwartetes war geschehen, etwas, das man schon erfahren würde, über das sich aber jetzt den Kopf zu zerbrechen sinnlos war. Es kam nur darauf an, welche Folgen diese Sache für Studmann haben würde. Aus dem Benehmen des Personals schloß Prackwitz, daß diese Folgen sehr unangenehm sein würden. Er war entschlossen, den Freund, solange er nicht selbst verhandlungsfähig war, zu verteidigen - mit Zähnen und Krallen!

Mit Zähnen und Krallen! wiederholte der Rittmeister bei sich, sehr zufrieden mit dieser kriegerischen Formulierung.

Wenn aber, dachte er weiter bei sich, alles nichts hilft(und man kennt ja diese kalten Geldsäcke), so ist vielleicht auch das nicht so ganz übel. Ich könnte ihn vielleicht überreden ...

Jetzt denkt der Rittmeister an seinen einsamen Weg durch die Lange Straße zur Schnittervermittlung. Er denkt daran, wie viele Wege er seit seiner Militärzeit einsam marschiert ist, immer jenen einen bewußten imaginären Punkt vor Augen. Er erinnert sich, wie oft ihm ein Kamerad gefehlt hat. In der Kadettenanstalt, beim Kommiß, im Kriege - stets hatte es Kameraden gegeben, mit denen man schwatzen konnte, Kerle gleicher Gesinnung, gleicher Interessen, gleicher Ehre. Seit dem Kriege war es mit alldem vorbei, jeder war für sich allein; es gab keinen Zusammenhalt, keine Gemeinsamkeit mehr.

Als Gast würde er aber nicht kommen mögen, überlegt der Rittmeister und denkt weiter nach. Warum soll er sich denn etwas vormachen?

Heute früh auf der Schnittervermittlung hat er einen Fehler gemacht, und als er dem Vorschnitter auf dem Schlesischen Bahnhof die Dollar gab, hat er wieder einen Fehler gemacht. Sein Benehmen auf dem Polizeipräsidium war vielleicht auch nicht ganz richtig, und als er sich vor einer Stunde, nach endloser Lauferei und Rederei, von einem Vermittler sechzig Leute aufschwatzen ließ, die er überhaupt erst morgen früh zu Gesichte bekommen soll, bloß um endlich diese ekelhafte Geschichte zu einem Schluß zu bringen, war das vielleicht auch nicht sehr klug.

Er ist eben zu hitzig, unbesonnen, drauf und dran, Ziethen aus dem Busch - aber dann plötzlich gelangweilt, angeekelt von allem. Außerdem: er versteht vieles nicht gut genug; sein Schwiegervater, der alte Geheimrat von Teschow, hat vielleicht recht: er wird nie ein richtiger Geschäftsmann werden!

Der Rittmeister wirft seinen erloschenen Stummel in eine Ecke und brennt sich eine neue Zigarette an. Jawohl, er legt sich selbst Entbehrungen auf, er raucht diesen Schund statt seiner Lieblingsmarke. Er fängt auch mit seiner Frau Streit an, wenn sie sich wieder einmal zwei Paar seidene Strümpfe gekauft hat. Aber wenn der Viehhändler da ist und handelt mit ihm um die Fettochsen und redet eine Stunde und handelt die zweite Stunde und läßt sich wegschicken und ist wieder da und klebt und ist demütig, wenn er angebrüllt wird - ja, schließlich gibt dann der Herr Rittergutspächter von Prackwitz nach. Er ist weich geworden oder gelangweilt oder angeekelt und verkauft nun die schönen Ochsen zu einem Preis, der den alten Geheimrat, wenn er ihn nur hört, leise juchzen macht. Worauf er natürlich sofort sagt: "Entschuldigen Sie, Joachim. Ich rede Ihnen natürlich nicht in Ihre Wirtschaft rein. Nur - ich habe nie Geld genug gehabt, um es aus dem Fenster zu schmeißen!"

Nein, er würde unschwer Studmann davon überzeugen können, daß er eine sehr notwendige, sehr brauchbare, gar nicht hoch genug zu bezahlende Hilfskraft auf Neulohe sein würde, von der Kameradschaft ganz zu schweigen. Mit Meier würde es auf die Dauer ja doch nicht gehen. Was da Violet vorhin am Apparat gesagt hatte(als er wegen der Wagen morgen vormittag telefonierte), daß Meier nicht einfahren ließ, sich dafür aber am frühen Nachmittag dumm und dun getrunken hatte, mitten im Dienst, das ging ihm denn doch über die Hutschnur!

Des Rittmeisters Blut entzündet sich an der Vorstellung eines im Dienst betrunkenen Feldinspektors Meier: Ich schmeiß den Bruder morgen früh achtkantig raus! Viel zu gutmütig bin ich immer mit den Kerls! Achtkantig fliegt er -!

Bis sein Blick auf den schlafenden Freund fällt und ihn sein Sinn für

Recht mahnt, daß auch der sich im Dienst betrunken hat.

Bei Studmann ist das natürlich eine ganz andere Sache! will sich der Rittmeister einreden. Bei ihm müssen besondere Verhältnisse vorliegen.

Aber schließlich steht nichts der Annahme im Wege, daß auch beim Feldinspektor Meier besondere Verhältnisse vorgelegen haben - auch seine Gewohnheit war es bisher nicht, sich im Dienst zu betrinken.

Natürlich bloß, weil ich verreist bin! sagt sich der Rittmeister ärgerlich, aber auch das verfängt nicht recht, denn er war schon öfter verreist, ohne daß ähnliches geschah. Und so verliert er sich denn doch wieder in Vermutungen zu dem Fall Studmann einerseits und zu dem Fall Meier andrerseits, als es gottlob klopft und ein dunkel gekleideter älterer Herr eintritt und sich mit einer Verbeugung als "Doktor Zetsche, Hotelarzt" vorstellt.

Auch von Prackwitz nennt seinen Namen und erklärt, er sei ein Freund von Herrn Studmann, alter Regimentskamerad.

"Ich war zufällig grade in der Halle, als der Unfall geschah."

"Der Unfall, ja", meinte der Arzt und sah, nachdenklich mit einem Finger die Nase reibend, den Rittmeister an. "Sie nennen es also einen Unfall?"

"Wenn jemand eine Treppe hinunterfällt, nicht wahr?" sagte der Rittmeister abwartend.

"Trunkenheit!" stellte der Arzt bei von Studmann fest. "Völlige Trunkenheit, Alkoholvergiftung. Die Schramme auf der Stirn hat nichts zu bedeuten."

"Wissen Sie -?" fing der Rittmeister vorsichtig an.

"Etwas Eumed oder Aspirin oder Pyramidon - was grade zur Hand ist, wenn er aufwacht", verordnete der Arzt.

"Hier dürfte", sagte der Rittmeister mit einem Blick durch die Rollstube, "nichts zur Hand sein. Könnten Sie nicht veranlassen, daß mein Freund auf sein Zimmer geschafft wird? Es war ein böser Fall."

"Es ist ein böser Fall!" rief der Arzt mit Nachdruck. "Sechs Leute oben - genauso betrunken -, alles Angestellte des Hotels. Eine Orgie - unter der Leitung Ihres Freundes. Und der einzige nicht betrunkene Teilnehmer, der Gast des Hotels, Herr Reichsfreiherr Baron von Bergen - niedergeschlagen von Ihrem Freund!"

"Aber ich verstehe nicht "..., sagte der Rittmeister, ganz verwirrt von diesen märchenhaften Enthüllungen.

"Ich verstehe es auch nicht!" sagte der Arzt fest. "Und ich will es auch

gar nicht verstehen!"

"Aber erklären Sie mir doch "..., bat der Rittmeister.

"Es gibt keine Erklärung!" sagte der Arzt unerschütterlich. "Der Gast, ein Reichsfreiherr - niedergeschlagen von dem betrunkenen Empfangschef!"

"Es müssen", rief der Rittmeister hitziger, "besondere Umstände vorgelegen haben. Ich kenne Herrn von Studmann schon lange, er hat stets, auch unter schwierigsten Verhältnissen, seine Pflicht getan."

"Zweifelsohne", sagte der Arzt höflich und zog sich vor dem Erregten gegen die Tür zurück.

Als er den Türgriff in der Hand hatte, rief er, plötzlich auch erregt: "Das eine Frauenzimmer war halbnackt - in der Gegenwart des Reichsfreiherrn!"

"Ich verlange", rief der Rittmeister mit starker Stimme, "daß Herr von Studmann in ein menschenwürdiges Gelaß gebracht wird!"

Er eilte dem fliehenden Arzte nach.

"Ich mache Sie verantwortlich, Doktor!"

"Ich lehne", rief der Arzt dahinfliehend über die Schulter, "ich lehne jede Verantwortung an dieser Orgie und ihren Teilnehmern ab!"

Und er stürzte in einen Seitengang.

Der Rittmeister stürzte ihm nach.

"Er ist krank, Herr Doktor!"

Der Doktor hatte sein Ziel erreicht. Leicht sprang der alte Herr in den offenen Paternosterfahrstuhl.

"Er ist betrunken", rief er, schon mit den Füßen in Bauchhöhe des anstürmenden Gegners. Der hätte ihn gerne mit Gewalt seinen Pflichten zugeführt - umsonst, schon tauchte die nächste Fahrstuhlzelle vor ihm auf, der pflichtvergessene Arzt war endgültig seinen Blicken entflohen.

Von Prackwitz, der mit all seinem Eifer nichts - außer der belanglosen Verordnung von Pyramidon - für seinen Freund erreicht hatte, stieß einen Fluch aus und machte sich auf den Rückweg zur Rollstube. Doch der Wirrwarr der weißen Gänge mit den immer gleichen Türen machte ihn ratlos. Auf der Jagd nach dem Arzte hatte er nicht darauf geachtet, welche Haken dieser Hase geschlagen hatte, er ging suchend, unsicher hin und her - einmal mußte er doch alle Gänge untersucht haben. Blieb er nur ausdauernd, fand er auch die Tür, er erinnerte sich genau, sie offengelassen zu haben.

Er ging und er ging. Weiße Türen, weiße Gänge. Sein Ortssinn wollte

ihm einreden, daß er sich immer mehr von seinem Ziele entfernte, aber schließlich müssen die Kellerräume selbst eines großen Hotels einmal ein Ende nehmen. Aber da waren nun die Treppen. Hatte er vorhin eine Treppe passiert? Aufwärts oder abwärts? Er stieg abwärts, überzeugt, daß dies falsch war, und traf auf ein ältliches weibliches Wesen, mit einem strengen Blick hinter einem Klemmer, das in völliger Einsamkeit Wäsche in Schränke ordnete.

Das Fräulein drehte sich beim Klang seiner Schritte um und musterte ernst den Fremden.

Von Prackwitz, im Bewußtsein, hier ganz unbefugt zu wandern, grüßte sehr höflich. Die Wäschebewahrerin neigte ohne ein Wort ernst den Kopf. Von Prackwitz entschloß sich: "Ach, bitte, wie komme ich hier zur Rollstube?"

Sein höfliches Lächeln milderte in nichts den Ernst der Dame. Sie schien nachzusinnen, dann machte sie eine umfassende Handbewegung. "Wir haben hier so viele Rollstuben ..."

Prackwitz versuchte, ihr die seine zu schildern, ohne Studmann erwähnen zu müssen. "In der Ecke stehen Wäschekörbe", beschrieb er. "Ach, richtig! Und eine Chaiselongue mit blaugeblümter Bespannung. Ziemlich zerrissen", setzte er nicht ohne Bitterkeit hinzu.

Wieder dachte sie nach. Schließlich sagte sie abweisend: "Ich glaube nicht, daß wir eine fehlerhafte Chaiselongue haben. Bei uns wird immer alles gleich repariert."

Dies war nun eigentlich nicht die Wissenschaft, die sich Prackwitz auf seine Fragen gewünscht hatte. Aber er hatte in seinem früheren wie in seinem jetzigen Berufe stets mit Menschen zu tun gehabt, und so war ihm diese Spezies, die auf eine Frage nie exakt zu antworten weiß, wohlbekannt.

"Trotzdem versuchte er es noch einmal. "Wo ist wohl die Hotelhalle?" fragte er.

Prompt kam die Antwort: "Den Gästen aus dem Hotel ist das Betreten der Wirtschaftsräume gänzlich untersagt."

"Gans", sagte der Rittmeister ernst.

"Wie -?!" schrie sie fast und verlor völlig Strenge und Haltung, bekam etwas hühnerhaft Gescheuchtes.

"Ganz oder, besser noch, strengstens untersagt", verbesserte der Rittmeister. "Nicht gänzlich. - Guten Abend also und besten Dank!"

Er grüßte mit Würde, als sei sie die Kommandeuse des Regiments und er ein junger Leutnant. Er entschritt. Ganz oder gänzlich verwirrt blieb

sie zurück.

Der Rittmeister ging jetzt ruhiger in die Irre, der kleine Zwischenfall hatte ihn aufgefrischt. Zwar hatte er wiederum nichts für den Freund erreicht, wie er mit Bedauern bei sich feststellte, aber immerhin tat so etwas gut. Außerdem schritt er jetzt auf Teppichen, und wenn er sich vielleicht auch immer mehr von Studmann entfernte, näherte er sich womöglich bewohnten Gegenden des Hotels.

Plötzlich stand er vor einer langen Türenreihe aus matt gewachster Eiche, festen, vertrauenerweckenden Türen.

"Kasse I", las er. "Kasse II", las er. Er ging weiter. Es kamen die Betriebskasse, Einkauf A und Einkauf B, Angestelltenfragen, Syndikus, Arzt.

Der Rittmeister sah das Arztschild mißbilligend an, zuckte dann die Achseln und ging weiter.

"Sekretariat".

Höher hinauf, entschied der Rittmeister.

"Direktor Hasse".

Er besann sich. Nein. Weiter. Noch weiter.

"Direktor Kainz". "Direktor Lange". "Direktor Niedergesäß".

Sehr anziehend, zweifelsohne.

Er überlegte. Ein Direktor Niedergesäß mußte etwas Anziehendes haben - ein Mensch, der solchem Namen zum Trotz Direktor wurde, war unbedingt eminent tüchtig.

Aber dann fiel dem Rittmeister ein, daß er es den Leuten ja unbedingt zeigen wollte, und er ging noch eine Tür weiter. Er hatte recht getan, an dieser Tür hing ein Schild "Generaldirektor Vogel".

Dieser Vogel soll mir singen, dachte der Rittmeister, klopfte kurz entschlossen und trat ein.

Hinter dem Schreibtisch saß ein grauer, fahler, großer, massiger Mann, der einer sehr hübschen jungen Sekretärin etwas in die Maschine diktierte. Er sah kaum auf, als der Rittmeister sich vorstellte.

"Bitteangenehmbittenehmensieplatz", sagte er hastig, mit der zerstreuten, wesenlosen Höflichkeit der Männer, die beruflich immer wieder neue Menschen kennenlernen müssen. "Einen Augenblick bitte. - Wie weit waren wir, Fräulein? - Rauchen Sie, bitte bedienen Sie sich!"

Das Telefon klingelte.

Sehr leise sprach er in den Apparat, doch sehr deutlich: "Vogel. - Ja, Vogel selbst. - Sein Arzt kommt? - Wie heißt er? Wie -? Buchstabieren

Sie! Wie heißt er? Schröck? Geheimrat Schröck? - Wann kommt er? In fünf Minuten? Schön, sofort zu mir. - Ja, doch, es läßt sich machen. - Ich habe nur noch etwas zu diktieren und eine kurze Besprechung -", er sah den Rittmeister nachdenklich, zerstreut über das Telefon hin an ... "drei Minuten. - Schön. Also keinesfalls hinauf nach 37, sondern zu mir. Danke."

Der Hörer wurde eilig, doch sorgfältig aufgelegt.

"Wie weit waren wir, Fräulein?"

Das Fräulein murmelte etwas, der Generaldirektor fing wieder an zu diktieren.

Drei Minuten gibst du mir, dachte der Rittmeister ärgerlich. Na warte, du sollst dich geirrt haben! Ich werde dir zeigen ...

Seine Gedankenkette riß ab. Er hörte einen Namen, stutzte, hörte genauer hin ...

Der Direktor diktierte eilig, tonlos: "Wir bedauern es außerordentlich, daß Herr von Studmann, dessen menschliche wie fachliche Qualitäten wir während seiner anderthalbjährigen Tätigkeit in hiesigem Betriebe so überaus schätzengelernt haben ..."

Der Generaldirektor holte Atem ...

"Einen Augenblick!" rief der Rittmeister lebhaft und stand auf.

"Einen Augenblick!" sagte der Direktor tonlos. "Ich bin sofort fertig. - Wie weit waren wir, Fräulein -?"

"Nein, Fräulein", protestierte der Rittmeister. "Bitte - wenn ich recht verstanden habe, diktieren Sie ein Zeugnis für Herrn von Studmann? Herr von Studmann ist mein Freund."

"Ausgezeichnet", sagte der Direktor grau. "So werden Sie sich seiner annehmen. Wir waren in Verlegenheit ..."

"Herr von Studmann liegt auf einer zerrissenen Chaiselongue in einer Plättstube", klagte der Rittmeister erbittert. "Keine Seele kümmert sich um ihn."

"Sehr bedauerlich", gab der Direktor höflich zu. "Ein Mißgriff, den ich mit der augenblicklich durch das Ereignis geschaffenen Unordnung zu entschuldigen bitte. - Fräulein, rufen Sie an. Herr von Studmann ist unauffällig in sein Zimmer zu bringen. Unauffällig, Fräulein, bitte, unauffällig!"

"Sie wollen Herrn von Studmann rausschmeißen!" rief der Rittmeister empört und zeigte auf den Stenogrammblock. "Man verurteilt keinen Angeklagten, ohne ihn zu hören."

Das Fräulein telefonierte. Der Generaldirektor sagte unberührt, grau: "Herr von Studmann wird sofort auf sein Zimmer geschafft."

"Sie dürfen ihn nicht ohne weiteres entlassen!" rief von Prackwitz.

"Wir entlassen ihn nicht", widersprach der Generaldirektor.

Von Prackwitz hatte den Eindruck, als könne dieser graue Koloß von keiner Erregung, keiner Bitte, keinem menschlichen Gefühl erreicht werden.

"Wir bewilligen Herrn von Studmann einen längeren Urlaub."

"Herr von Studmann braucht keinen Urlaub!" versicherte der Rittmeister, zwar ahnungslos, aber heftig. Doch spürte er schon, wie sein Zorn vor diesem unangreifbaren, leidenschaftslosen Grau zerrann.

"Herr von Studmann braucht Urlaub", beharrte der andere. "Seine Nerven sind angegriffen."

"Sie verurteilen ihn ohne Anhören", rief der Rittmeister schwächer.

"In dem von dem Reichsfreiherrn Baron von Bergen bewohnten Zimmer", sagte der Generaldirektor eintönig, als lese er ein Protokoll vor, "fanden wir neunzehn Sektflaschen, davon fünfzehn geleert. Vier Kognakflaschen - leer. Zwei Boys des Hotels - völlig betrunken. Zwei andere männliche, aber erwachsene Angestellte des Hotels - völlig betrunken. Ein mangelhaft bekleidetes Zimmermädchen des Hotels - völlig betrunken. Eine aushilfsweise beschäftigte Reinemachefrau - völlig betrunken. Den Gast, Herrn Baron von Bergen - völlig nüchtern, aber mit blau geschlagenem Auge, aber nahezu besinnungslos infolge mehrerer brutaler Schläge über den Kopf. Wo wir Ihren Freund, Herrn von Studmann, fanden, das wissen Sie vermutlich."

Doch etwas betreten, neigte Rittmeister von Prackwitz den Kopf.

"Einerseits", sagte der Generaldirektor nicht mehr ganz so farblos, "ehrt Sie die Freundestreue. Andererseits frage ich Sie: beteiligt sich ein gebildeter Mensch mit gesunden Nerven an solchem Bacchanal?"

"Aber es muß doch eine besondere Ursache vorgelegen haben!" rief von Prackwitz verzweifelt aus. "Ohne das würde Herr von Studmann nie ..."

"Können Sie sich eine besondere Ursache denken, aus der Sie sich an solcher Orgie beteiligen würden, Herr von ...?"

"Prackwitz", half von Prackwitz aus.

"Herr von Prackwitz. Es muß Ihnen doch verständlich sein, daß wir einen so kompromittierten Mann nicht weiter in unserm Betriebe beschäftigen können. Schon wegen der Angestellten ..."

Es klopfte kurz, kriegerisch.

Auf flog die Tür, und herein stürmte ein kleiner, säbelbeiniger Greis mit hoher, schöner Stirn, funkelnden, blauen Augen und einem vergilbenden, früher wohl brandroten Vollbart. Ihm folgte langsamer ein untersetzter, kräftiger Mann, dem das Jackett über den Schultern stramm saß wie bei einem Preisboxer.

"Haben Sie ihn noch?!" schrie der gerötete Greis mit Krähstimme. "Wo haben Sie ihn?! Lassen Sie ihn um Gottes willen nicht weg! Türke, kümmern Sie sich! Tummeln Sie sich!! Lassen Sie ihn nicht fort! Laufen Sie! - Seit vierundzwanzig Stunden rase ich durch ganz Berlin diesem Burschen nach! Ich glaube, es gibt kein Nuttenlokal in dieser elenden Stadt, in das ich nicht schon meine kummervolle Nase gesteckt habe! Verdammt!!"

Er hatte mit der Hand die besagte Nase ergriffen und sah atemlos die Erstarrten im Kreise an. Hinter ihm hielt sich noch immer, ohne sich zu tummeln, der Vierschrötige im zu engen Jackett, vermutlich also Herr Türke.

Als erster enttauchte der Generaldirektor seiner Erstarrung - wahrscheinlich hatte ihn sein Beruf gegen die wildesten Ausgeburten menschlicher Spezies abgehärtet.

"Vogel", stellte er sich vor. "Vermutlich spreche ich mit Herrn Geheimrat Schröck?"

"Nein, ich spreche mit Ihnen!" schrie der Greis. Er ließ seine Nase los. Der Übergang von Ruhe zu stärkstem Ausbruch war so plötzlich, daß alle - ausgenommen der unerschütterliche Herr Türke - erschraken. Ein unbändiges Temperament mußte in diesem säbelbeinigen Alten stecken. "Ich frage Sie seit drei Minuten, ob der Kerl noch hier ist!"

"Wenn Sie den Reichsfreiherrn Baron von Bergen meinen", fing grau und verschollen der Generaldirektor wieder an, "so ist er meines Wissens auf Zimmer 37 ..."

"Türke!" schrie der Geheimrat Schröck, "haben Sie es gehört: Zimmer 37 -? Gehen Sie rauf, bringen Sie mir den infamen Bengel runter, wie er geht und steht. Passen Sie auf, Sie kennen seine Mätzchen! Denken Sie daran, daß er Ihren Kollegen in seinem Zimmer eingesperrt hat ..."

Der Vierschrötige nickte brummig: "Mir kommt er schon nicht aus. Mit mir hätte er so was nicht machen dürfen, Herr Geheimrat "... Er schob sich langsam aus der Tür.

"Ein ausgezeichneter Irrenpfleger!" murmelte der Geheimrat. "Ein Mann ohne eine Spur Sentimentalität!" Und mit plötzlich neu

erwachender Besorgnis: "Er wird doch nicht etwa wieder ausgerissen sein -?"

"Nein, nein", beruhigte der Generaldirektor vorsichtig den Irrenarzt. "Er kann nicht fort. Es ist leider einiges vorgefallen "... Mit einem Blick auf den Rittmeister: "Ich berichte Ihnen sofort, wenn ich diesen Herrn ..."

Mit einem erleichterten Seufzer ließ sich Geheimrat Schröck in einen Sessel sinken. Er trocknete sich die Stirne. "Also er kann nicht weg. Gottlob! Es ist etwas vorgefallen. Wohin der Bursche auch kommt, fällt etwas vor". Mit einem Seufzer der Ergebung: "Polizei? Staatsanwalt?"

"Nein, nein", beeilte sich der Generaldirektor Vogel, "das wird nicht nötig sein. Der Herr wird sicher Abbitte leisten". Mit einem bösen, eiligen Blick auf den Rittmeister: "Wir werden jeden Schaden ersetzen. Einer unserer Angestellten hat sich leider so weit vergessen, den Herrn Baron zu schlagen."

Der Greis schnellte aus dem Sessel hoch. "Wo ist er? Wer ist es?" Auf den Rittmeister zu: "Sind Sie es?"

"Er hat ihm anscheinend eine Sektflasche an den Kopf geworfen!" klagte in fahler, aber unverbindlicher Betrübnis der Generaldirektor.

"Ausgezeichnet!" schrie der Greis. "Eine Sektflasche - großartig! Sie nicht -? Ihr Freund? Lassen Sie mich Ihren Freund sehen! Ich muß ihm danken. Es geht nicht? Warum geht es nicht?"

"Ihr Pflegling scheint meinen Freund - und noch ein halbes Dutzend andere - auf rätselhafte Weise betrunken gemacht zu haben."

"Na also", sagte Geheimrat Schröck. "Also die übliche Schweinerei!" Er setzte sich ergeben. "Ich werde das in Ordnung bringen, niemand soll Schaden erleiden. Sie da, mein sehr verehrter Herr Generaldirektor, scheinen noch von dem Titel ›Reichsfreiherr‹ und so weiter geblendet zu sein. Lassen Sie sich sagen, dieser Reichsfreiherr ist der windigste, verdorbenste, gemeinste, sadistischste Bengel von der Welt! Und feige dazu!!"

"Herr Geheimrat!" bat der Generaldirektor förmlich.

"Es ist so!" funkelte der Geheimrat. "Er bildet sich ein, weil er wegen Verschwendungssucht entmündigt worden ist und weil er einmal in einer bösen Sache auf den Paragraphen 51 freigesprochen wurde, er kann nun tun, was er will. Faul und ohne Respekt, ohne eine Spur menschlichen Gefühls "... Er flammte neu auf. "Morgens und abends müßte der Bengel Prügel haben, in ein Gefängnis müßte er, zum mindesten in eine staatliche Irrenanstalt ... da würden ihm seine Späße schon ausgetrieben werden -!"

"Er ist doch aber in Ihrem Sanatorium - ein armer Kranker!" flehte der Generaldirektor.

"Leider!" schimpfte der Geheimrat. "Leider immer noch. Ich biete ihn meinen Kollegen an wie saures Bier, aber keiner will ihn, trotzdem er mein höchstzahlender Patient ist. Ach was, Patient -! Einfach ein bösartiger Affe! - Wenn ich ihn jetzt wieder in meine Anstalt bringe, natürlich auf die geschlossene Abteilung, hinter Gitter und sichere Türen, hält er sich vier Wochen, hält er sich auch acht Wochen ruhig - besonders, wenn ihn Ihr Freund ordentlich verdroschen hat ..."

"Vor einer Viertelstunde war er fast ohne Besinnung", sagte der einschwenkende Generaldirektor.

"Ausgezeichnet! - Dann aber sticht ihn wieder der Hafer. Er quält wehrlose Kranke bis aufs Blut, stiehlt Zigaretten, reizt alle Pfleger, treibt mich und meine Assistenten zum Wahnsinn ... Und dann ist er ja nicht dumm, er ist teufelsschlau, dann bricht er wieder aus. Wir können aufpassen, soviel wir wollen, immer findet er einen Dummen, den er übertölpelt ... Er pumpt sich Geld, er stiehlt es ... Und ich kann nichts machen", knirschte der Alte. "Ich werde ihn nicht los. Das Gesetz ist für ihn: nicht im Vollbesitz seiner Geisteskräfte ..."

Er saß plötzlich alt und recht erschöpft da: "Seit vierundzwanzig Stunden jage ich in meinem Wagen hinter ihm drein". Der Geheimrat sah sich im Kreise um, müde. "Wenn ich ihn bloß los würde!" stöhnte er wieder verzweifelt. "Aber womöglich kommt er dann in Freiheit - nein, ich kann es nicht verantworten". Er besann sich: "Versuchen wir wenigstens das letzte, die Kosten. Vielleicht wird es seiner Mutter - er hat nur eine Mutter, leider - doch einmal über, für ihn zu bezahlen. Herr Direktor, ich darf um eine Rechnung bitten, eine Aufstellung ..."

"Ja", sagte der Direktor zögernd, "es ist reichlich viel Alkohol konsumiert worden, Sekt, Kognak ..."

"Unsinn", erboste sich der Geheimrat. "Das sind Lappalien. Sekt! Kognak! Nein, jeder Geschädigte hat Anspruch auf eine Entschädigung. Ich höre von einem halben Dutzend Menschen, die er betrunken gemacht hat ... Ihr Freund zum Beispiel -?"

"Ich weiß nicht, ob mein Freund "..., begann von Prackwitz zögernd.

"Um des Himmels willen!" erboste sich der Geheimrat. "Seien Sie kein Narr! Verzeihen Sie, das sollte ich natürlich nicht sagen, aber seien Sie wirklich kein Narr! Je mehr Kosten entstehen, um so eher ist Aussicht da, daß die Mutter den Bengel wirklich eines Tages einmal in eine handfeste Irrenanstalt sperrt. Sie tun der Menschheit einen Dienst ..."

Der Rittmeister sah erst den Generaldirektor, dann die Schreibmaschine mit dem noch immer eingespannten Entlassungszeugnis an.

"Mein Freund, hier Subdirektor und Empfangschef, soll allerdings von der hiesigen Hotelleitung entlassen werden, weil er sich im Dienst betrunken hat "..., sagte er zögernd.

"Ausgezeichnet!" rief der Geheimrat, aber diesmal unterbrach der Generaldirektor.

"Ich muß Herrn von Prackwitz leider widersprechen", sagte er eilig. "Wir bewilligen Herrn von Studmann einen längeren Urlaub, sagen wir ein viertel, sagen wir sogar ein halbes Jahr. Während dieser Zeit wird Herr von Studmann bei seiner Tüchtigkeit unschwer eine andere Stellung finden. Wir entlassen ihn", sprach der Generaldirektor energisch, aber grau, "nicht wegen Trunkenheit im Dienst. Wir bitten ihn, sich nach einer andern Tätigkeit umzusehen, weil ein Hotelmann unter keinen Umständen auffallen darf. Herr von Studmann ist leider sehr aufgefallen, als er vor vielen Angestellten und noch mehr Gästen mangelhaft bekleidet und völlig betrunken die Hallentreppe hinunterfiel."

"Es kommt", sagte der Geheimrat zufrieden, "außer der Entschädigung für eine verlorene Stellung zweifelsohne auch ein Schmerzensgeld in Frage. Das freut mich aufrichtig, ich sehe Licht. Es sollte mich nicht wundern, wenn dies dem Knaben Bergen erst einmal den Rest geben würde. Wie erreiche ich Ihren Freund? Bei Ihnen? Danke schön. Ich notiere mir Ihre Adresse. Sie hören von mir in zwei bis drei Tagen. Wirklich ausgezeichnet. Übrigens zahlen wir natürlich wertbeständig. - Ich versichere Ihnen, es können nicht Kosten genug entstehen. - Ach, machen Sie sich doch keine Gedanken! Glauben Sie, ich geniere mich?! Ich geniere mich den Deubel! Tut keinem weh, leider nicht."

Der Rittmeister stand auf. Seltsam war dieses Leben. Hier war wirklich einmal einer die Treppe hinuntergefallen und dadurch seine Sorgen los. Herr von Studmann konnte nach Neulohe kommen, ein sorgenloser Mann, seinetwegen paying guest, er war nicht mehr allein.

Er verabschiedete sich; nochmals bedauerte der Geheimrat, dem Freund für den trefflichen Niederschlag nicht doch die Hand schütteln zu dürfen.

Als von Prackwitz aus der Tür wollte, ging sie auf, und herein wankte, vom Pfleger Türke halb gestützt, halb abgeführt, ein rotes, gelbgeflammtes Wesen, jämmerlich anzuschauen mit dem blaugeschlagenen Auge, dem verschwollenen Gesicht. Verächtlich anzuschauen mit dem feige kriechenden Blick.

"Bergen!" krähte die Stimme des Geheimrats grell wie Hahnenschrei. "Bergen, kommen Sie hier mal her!"

Der Feigling knickte zusammen; in seinem Schlafanzug, prächtig und jammervoll, fiel er auf die Knie.

"Herr Geheimrat!" flehte er. "Tun Sie mir nichts, schicken Sie mich nicht in eine Irrenanstalt! Ich habe nichts getan! Die haben den Sekt ganz gerne getrunken ..."

"Bergen!" erklärte der Geheimrat. "Zuerst werden Ihnen Ihre Zigaretten entzogen."

"Herr Geheimrat, bitte, tun Sie das nicht! Sie wissen, ich halte es nicht aus. Ich kann nicht leben ohne Rauchen! Und ich hab auch nur in die Decke geschossen, als der Herr nicht trinken wollte ..."

Von Prackwitz zog leise die Tür hinter sich zu. Es war eine doppelte, eine gepolsterte Tür, das Jammern des elenden Kerls, dieses Jammern eines Kindes ohne die Reinheit und Unschuld des Kindes, war verhallt.

Wäre ich doch erst wieder in Neulohe! dachte von Prackwitz. Ich finde Berlin zum Kotzen. Nein, es ist nicht nur die toll gewordene Banknotenmaschine, dachte er weiter und sah den sauberen Gang mit den dunklen, gepflegten, eichenen Türen entlang. Es sieht alles noch aus wie ordentliches, sauberes Leben, aber es ist faul. Angefressen. Ob es noch immer der Krieg ist, der ihnen in den Knochen steckt? Ich weiß es nicht. Und jedenfalls verstehe ich es nicht.

Er ging langsam den Gang entlang, kam in die Halle, fragte nach dem Zimmer des Freundes. Ein Fahrstuhl fuhr ihn hinauf unter das Dach. Auf dem Bettrand saß von Studmann, den Kopf in den Händen.

"Ich habe einen widerlichen Brummschädel, Prackwitz", sagte er hochsehend. "Hast du Zeit, mit mir eine halbe Stunde in die frische Luft zu gehen?"

"Ich habe alle Zeit von der Welt", sagte der Rittmeister plötzlich fröhlich. "Für dich und für frische Luft. Gestatte, daß ich dir erst einen Kragen umbinde ..."

2

Der kleine Feldinspektor Meier hatte sich, den Kopf dick und dumm vom Rausch, auf sein Bett geworfen, so wie er war: in schmutzbespritzten Schuhen, die Kleider regennaß. Draußen vor dem offenen Fenster rauschte es noch immer vom Himmel. Vom Kuhstall, vom Schweinestall her klang Geschimpfe, Meier hörte halb hin, er

mochte wollen oder nicht.

Was tun die nur? dachte er. Was haben die? Ach was, ich will schlafen. Ich muß schlafen, vergessen; wenn ich dann aufwache, ist alles nicht wahr.

Er legte die Hand vor die Augen, nun wurde es dunkel um ihn. Ach, sie war gut, diese Dunkelheit! Dunkelheit war schwarz, schwarz war das Nichts; wo das Nichts ist, ist auch nichts gewesen, nichts geschehen, nichts verbockt.

Aber das Dunkel wird grau, und das Grau wird heller. Aus dem Helleren löst es sich: da steht der Tisch, da steht die Flasche, da stehen die Gläser ... da liegt der Brief!

O Gott, was soll ich nur tun? denkt der kleine Meier und preßt die Hand fester gegen die Augen. Ja, es wird wieder schwarz. Aber aus dem Schwarz drehen sich leuchtende Räder heraus. In vielen Farben drehen sie sich, immer schneller kreisen sie. Ihm wird schwindlig, übel.

Jetzt sitzt er halb im Bett und starrt durch das noch taghelle Zimmer. Es ekelt ihn, er kennt es viel zu genau, von dem ewig riechenden Toiletteneimer neben dem Waschtisch an bis zu den übergesehenen Nacktfotos von Mädchen um den Spiegel herum, die er sich aus allen möglichen Magazinen ausgeschnitten und an die Tapete gepinnt hat.

Sein Zimmer ekelt ihn, sein Zustand ekelt ihn ebenso wie das Geschehene; er möchte etwas tun, aus seiner jetzigen Lage herauszukommen, etwas ganz anderes sein. Aber er sitzt nur da, haltlos, mit verschwollenem Gesicht, hängender, feuchter Unterlippe und hervorgequollenen Augen - er kann gar nichts tun. Alles wird über ihn hereinbrechen, er muß nur stillhalten, warten - und er hat doch nichts Böses gewollt! Wenn er doch wenigstens schlafen könnte -!

Gottlob klopft es - als erwünschte kleine Abwechslung - an die Tür des anstoßenden Büros. Er brüllt heiser "Herein!", und als der Klopfende drüben zögert, schreit er noch lauter: "Komm doch nur rein, du Ochse!"

Gleich aber kriegt er einen Schreck; vielleicht ist es jemand, den er nicht "Ochse" nennen darf, der Geheimrat oder die gnädige Frau, dann hat er es schon wieder verbuttert - auwei!

Aber es ist nur der alte Leutevogt Kowalewski.

"Wat is denn?!" schreit Meier ihn gleich an, froh, jemanden gefunden zu haben, an dem er seine Wut auslassen kann.

"Ich wollte nur fragen, Herr Inspektor", sagt der alte Mann demütig, die Mütze in der Hand. "Wir haben nämlich ein Telegramm von unserer Tochter aus Berlin gekriegt, sie kommt morgen früh mit dem Zehnuhrzug

..."

"So, das wollten Sie also fragen, Kowalewski", sagt Meier höhnisch. "Na, nun hast du's also gefragt, nun kannst du wieder gehen."

"Es ist nur wegen des Gepäcks", sagt der Leutevogt. "Fährt morgen wohl ein Wagen zur Bahn?"

"Sicher, sicher", sagt Meier. "Morgen fahren 'ne ganze Menge Wagen zur Bahn. In Ostade und in Meienburg und in Frankfurt bestimmt auch."

"Ich meine nur", erklärt Kowalewski beharrlich, "ob einer von unsern Wagen zur Bahn fährt, der ihr Gepäck mitnehmen kann?"

"Ach, das meinst du!" spottet Meier. "Du bist ja ein mächtig feiner Pinkel, Vogt, daß du von unsern Wagen redest!"

Der alte Leutevogt gibt den Mut noch nicht auf. Er hat Generationen von Inspektoren erlebt, dieser ist sicher der Schlimmste von allen. Aber ein armer Mann muß hundertmal bitten, ehe ein mächtiger einmal ja sagt, und manchmal ist der kleine Meier auch anders. Er ist nun mal so, er macht sich gerne einen Spaß mit den Leuten, das darf man ihm nicht übelnehmen.

"Es ist ja nur wegen des Koffers, Herr Inspektor", bittet er. "Gehen macht der Sophie gar nichts, sie geht gerne."

"Und noch lieber legt sie sich lang hin, was, Kowalewski?" grinst Meier.

Der alte Mann steht ruhig da, er verzieht das Gesicht nicht. "Vielleicht fährt auch einer von den Bauern zur Bahn", überlegt er halblaut bei sich.

Aber nun ist Meier zufrieden. Er hat seine Wut ein bißchen ausgetobt, er hat gefühlt, daß er nicht ganz ohne Macht ist.

"Na, nu mach man, daß du rauskommst, Kowalewski", sagt er ganz gnädig. "Mit dem Zehnuhrzug kommen ja auch die Schnitter und der Rittmeister, da wird schon Platz für deine Sophinka sein. - Hau ab, alter Rabe, du stinkst!" schreit er plötzlich wieder, und mit einem gemurmelten "Danke auch schön" und "Guten Abend" geht der Leutevogt ab.

Meier, Negermeier, ist wieder allein mit sich und mit seinen Gedanken, und sofort verfällt seine Stimmung. Wenn ich doch wenigstens schlafen könnte! murrt er wieder bei sich. Jedes Aas kann schlafen, wenn es soviel getrunken hat, aber ich nicht, ich habe natürlich immer Pech!

Es kommt ihm der Gedanke, daß er vielleicht noch nicht genug getrunken hat. Als er im Gasthof abträllerte, war er eigentlich ganz hübsch dun, nur daß alles jetzt schon wieder verflogen ist. Er könnte ja noch mal in den Krug gehen, aber er ist zu faul dazu. Außerdem müßte

er dann bezahlen, was er sich da alles genommen hat, und ihm graust vor der Aufrechnung. Na, die Amanda läßt sich sicher heute abend noch mal sehen, dann kann die hinlaufen und ihm noch 'ne Flasche Schnaps holen. Hat sie wenigstens 'ne Beschäftigung, er kann heute Weiber nicht riechen. Von denen hat er heute die Nase voll - hätte die Weio sich nicht so vor ihm geaalt, er hätte nie all diese Dummheiten gemacht! Aber so was muß einen Kerl ja verrückt machen!

Meier ist schwerfällig aus dem verschmutzten, feuchten Bett aufgestanden und schlingert torkelig in der Stube herum. Mancherlei geht ihm durch den Kopf. Zum Beispiel, daß der Förster gesagt hat, er soll seine Koffer packen und machen, daß er fortkommt.

Die Koffer liegen oben auf dem Kleiderschrank. Er hat zwei Handkoffer, ein gewöhnliches Bruchdings aus beklebter Pappe und einen schnieken Lederkoffer, den er von der letzten Stellung mitgenommen hat. Er stand da so rum auf dem Boden. Meier legt den Kopf in den Nacken und schielt wohlgefällig zu dem Koffer hinauf: Er freut sich immer wieder über diese billige Erwerbung.

Wenn man Koffer sieht, denkt man an Reisen. Und wenn man an Reisen denkt, fällt einem das Reisegeld ein. Ganz von selbst, ohne daß er auch nur einen Blick durch die angelehnte Bürotür tut, fällt Meier der Geldschrank nebenan ein, ein massiger, grüngestrichener Klotz, dessen vergoldete Arabesken mit den Jahren schmutziggelb geworden sind.

Gewöhnlich hat der Rittmeister den Schlüssel zu diesem Geldschrank und rückt nur vor jeder Löhnung oder sonstigen Ausgabe das nötige Geld heraus. Meier ist zwar vollkommen zuverlässig in Geldsachen, aber der Rittmeister ist nun mal ein großer Mann und mißtrauisch. Es geschähe ihm schon recht, wenn er grade mit seinem Mißtrauen einmal gründlich reinfiele!

Meier stößt mit der Schulter die Tür zum Büro auf und pflanzt sich nachdenklich vor den Geldschrank hin. Gestern abend hat ihm der Rittmeister den Bestand vorgezählt, sogar zweimal - da liegt ein ganz hübscher Klumpatsch Geld im Schrank, mehr als Inspektor Meier in drei Jahren verdienen kann. Versonnen befingert Meier den Geldschrankschlüssel in seiner Tasche. Aber - er nimmt ihn nicht raus. Aber - er schließt den Schrank nicht auf.

Nee, so dumm! denkt Meier.

Was er sonst macht, ist alles ganz schön und gut, er kann deswegen mal rausfliegen, aber ins Kittchen kommt er darum nicht. Rausfliegen, das macht nichts. Nach einer Weile kriegt man doch immer wieder eine neue Stellung; weswegen man rausflog, schreibt eigentlich nie ein Chef

ins Zeugnis. Aber gegen Kittchen hat Meier eine lebhafte Antipathie.

Ich hau das Geld ja doch bloß in einer Woche oder in vierzehn Tagen auf den Kopf, denkt Meier bei sich. Dann steh ich blank da und kann keine neue Stellung annehmen, weil sie mich suchen. Nee, lieber nicht -!

Trotzdem bleibt er noch lange vor dem Geldschrank stehen, er fasziniert ihn eben doch.

Raus aus all dem Dreck! denkt er. Sie kitschen lange nicht alle. In Berlin soll man falsche Papiere billig kriegen. Ich möcht nur wissen, wo. Wie lange das wohl dauert, bis der Leutnant erfährt, ich hab den Brief nicht abgegeben -? Na, heute abend verpassen sich die beiden erst mal. Wirst du hungrig ins Bettchen müssen, liebe Weio -!

Er grinst schadenfroh.

Es klopft wieder, und rasch tritt Meier von dem Geldschrank fort und lehnt sich möglichst ungezwungen gegen die Wand, ehe er "herein" ruft - diesmal ganz manierlich. Der Umstand wäre aber gar nicht nötig gewesen, es ist auch diesmal niemand Rechtes, sondern bloß die Aufwartung, die Kutscherfrau mit den acht Bälgern, die Hartig, die reinkommt.

"Abendessen, Herr Inspektor", sagt sie.

Meier möchte nicht gerne, daß sie das verdreckte Bett drüben in seinem Zimmer sieht(das kann nachher die Amanda ein bißchen zurechtmachen!), er hat jetzt keine Lust auf Stunk. "Stell's da auf den Schreibtisch", sagt er. "Was gibt's denn?"

"Ich weiß nicht, was die Weiber mit Ihnen haben", sagt die Hartig und nimmt einen Deckel von der Schüssel. "Jetzt fängt auch die Armgard von drüben an ... Frisch gebratenes Fleisch und Rotkohl am Abend für den Inspektor ..."

"Schiete!" sagt Meier. "Mir wäre ein Hering lieber. - Äx - all das Fett! - Ich habe nämlich einen gehoben."

"Das sieht man", bestätigte die Hartig. "Daß ihr Männer das Saufen nicht lassen könnt! Wenn wir Frauen es nun auch so machten? - War die Amanda auch mit?"

"I wo! Die brauch ich doch nicht zum Saufen!" Er lacht. Plötzlich ist er ganz munter und aufgekratzt. "Wie ist es denn, Hartig? Magst du den Fraß? Ich eß heut nicht."

Die Hartig strahlt. "Da wird mein Oller aber lachen! Ich koch uns noch schnell ein paar Kartoffeln dazu, dann reicht's für ihn und mich!"

"Nee!" sagt Meier gedehnt von seiner Wand her. "Das ist für dich,

Hartig, nicht für deinen Ollen. Denken Sie, ich füttere den zu Kräften?! So blau! Nee, wenn Sie den Fraß wollen, dann müssen Sie ihn hier aufessen. Und gleich!"

Er starrt sie an.

"Hier -?" fragt die Hartig und starrt Negermeier wieder an.

Ihre Stimmen sind beide anders geworden, fast leise.

"Hier!" antwortet Negermeier.

"Dann will ich mal", sagt die Hartig noch leiser, "die Fenster zumachen und die Vorhänge ein bißchen vorziehen. Wenn mich jemand hier essen sieht ..."

Meier antwortet ihr nicht, aber er folgt ihr mit den Augen, wie sie die beiden Fenster schließt und sorgfältig die Gardinen vorzieht. "Schließ auch ab!" sagt er leise.

Sie sieht ihn an, dann tut sie es. Sie setzt sich vor das Tablett, das auf dem Schreibtisch steht. "Na, das soll mir aber schmecken!" sagt sie mit gemachter Munterkeit.

Er antwortet wieder nicht. Er sieht ihr aufmerksam zu, wie sie das Fleisch auf den Teller legt, dann die Kartoffeln, dann den Rotkohl. Nun löffelt sie die Soße darüber ...

"Hartig, hör mal!" sagt er leise.

"Was denn?" fragt sie ebenso und sieht nicht auf, scheinbar ganz mit ihrem Essen beschäftigt.

"Was ich sagen wollte "..., sagt er gedehnt. "Ja, du - ist deine Bluse eigentlich vorn oder hinten zum Knöpfen?"

"Vorne", sagt sie ganz leise, sieht nicht hoch, sondern fängt an, das Fleisch zu schneiden. "Willst du mal sehen?"

"Ja", sagt er. Und ungeduldig: "Nu mach bloß los!"

"Mußt du selber machen", antwortet sie. "Sonst wird mein Essen kalt. - Ach du ... ach ... Ja, du Süßer ... das schöne Essen ... ja ... ja ..."

3

Weio von Prackwitz sitzt mit ihrer Mutter beim Abendessen.

Der Diener Räder steht in ernster Haltung an der Anrichte. Räder gehört, obwohl wenig über Zwanzig, zu dem ernsten Dienertyp. Er ist ganz von dem Gefühl durchdrungen, daß seine Herrschaft eines Tages aus dieser "Bruchbude" in das Schloß der alten Leute drüben ziehen wird, daß er dann dort nicht mehr der Diener, sondern der "Butler" sein

wird, mit einem Dienerlehrling unter sich. Er sieht darum auch - trotz untadelig gewahrter äußerer Formen - den alten Geheimrat und seine Frau wie Leute an, die seiner Herrschaft etwas vorenthalten, was ihr eigentlich zusteht. Vor allem aber haßt er den alten Elias drüben, der über das Familiensilber gebietet - wie man schon Elias heißen kann! Der Diener Räder heißt Hubert - und so wird er von seiner Herrschaft auch gerufen.

Hubert hat ein Auge auf den Tisch, ob sie dort etwas brauchen, und beide Ohren auf das Gespräch. Trotzdem er keine Miene seines etwas faltigen Gesichtes verzieht, ist er doch von hoher Freude erfüllt, wie das gnädige Fräulein die gnädige Frau anschwindelt. Hubert hat nämlich in dem kleinen Haushalt neben der Köchin Armgard und dem Mädchen Lotte wenig zu tun, so hat er sich eine Beschäftigung daraus gemacht, alles zu erfahren, alles zu sehen, alles zu wissen. Hubert weiß sehr viel - er weiß zum Beispiel genau, wie das gnädige Fräulein seinen Nachmittag verbracht hat. Was die gnädige Frau nicht weiß.

"Hast du heute nachmittag auch nach Großpapas Gänsen gesehen?" hört Hubert Frau von Prackwitz fragen.

Frau Eva von Prackwitz ist eine sehr gut aussehende Frau, vielleicht eine Spur zu voll, aber das merkt man erst, wenn sie neben dem langen, mageren Rittmeister steht. Sie hat all den sinnlichen Reiz einer Frau, die gerne Frau ist, die glücklich ist, Frau zu sein, die zudem das Landleben liebt und der das Land diese Liebe mit unerschöpflicher Frische zu danken scheint.

Weio zieht eine vorwurfsvolle Schnute: "Aber, Mama, heute nachmittag war doch Gewitter!"

Hubert versteht: Fräulein Violet spielt heute abend das ganz kleine Mädchen; das tut sie gerne, besonders dann, wenn sie etwas besonders Erwachsenes ausgefressen hat. So kommen ihre Eltern nicht auf falsche - heißt auf richtige Gedanken.

"Du tust mir wirklich einen Gefallen, Violet", sagt Frau von Prackwitz, "wenn du gut auf Großpapas Gänse paßt. Du weißt, Papa ärgert sich so, wenn die Gänse in seine Wicken gehen. Und das Gewitter fing doch erst um sechs an!"

"Wenn ich eine Gans wäre, möchte ich auch nicht in Großpapas ollem, feuchtem Park sein mit dem sauren Gras", erklärt Weio, immer noch mit Flunsch. "Ich finde, der Park stinkt!"

Diener Hubert, wissend, wie oft und gerne das gnädige Fräulein geheim im geheimrätlichen Park weilt, ist von der vorsorglichen Naivität

dieser Antwort hoch begeistert.

"Aber, Weio - stinken, und bei Tisch!" Ihr Blick streift(mit lächelnder Ruhe) den Diener Räder, der ein untadeliges, wennschon völlig unjunges und faltiges Gesicht macht.

"Na ja, Mama, ich geh nicht rein, ich find, er st..., riecht nach Leichen ..."

"Nein, Weio!" Die gnädige Frau klopft sehr energisch mit ihrem Gabelstiel auf den Tisch. "Nun ist es aber genug. Manchmal finde ich jetzt wirklich, du könntest schon ein bißchen erwachsener sein."

"Ja, Mama? Warst du schon erwachsener, als du so erwachsen warst wie ich?"

Weio macht bei dieser Frage ein ganz strahlendes, völlig unschuldiges Gesicht - trotzdem erwägt der Diener Räder, ob diese kleine Einfalt vielleicht etwas läuten gehört hat von den Jugendstreichen der Frau Mama. Es gibt da so ein Gerücht von dem alten Geheimrat, der einen Bauernjungen aus dem Schlafstubenfenster der Tochter geprügelt hat. Vielleicht ist dies Gerücht sogar wahr, jedenfalls findet Hubert, daß die nächste Frage der gnädigen Frau sehr gut zu diesem Gerücht paßt.

Sie lautet: "Was hattest du eigentlich heute nachmittag so lange mit Inspektor Meier zu reden?"

"Och!" sagt Weio wegwerfend und macht wieder eine Schippe. "Der olle Negermeier!" Plötzlich lacht sie. "Denk mal, Mama, alle Mädchen und Frauen hier im Dorf sollen ihm nachlaufen - und er ist doch so häßlich wie ... ach, ich weiß nicht, wie der olle Abraham -!"(Abraham ist der im Pferdestall gehaltene Ziegenbock, der nach altem Kavalleristenglauben alle Krankheiten austreiben soll.)

"Der Nachtisch, Hubert!" mahnt die gnädige Frau mit aller Ruhe, aber mit recht gefährlich funkelnden Augen.

Räder marschiert aus dem Zimmer, wenn auch nicht ohne Bedauern. Fräulein Weio ist ausgerutscht, jetzt wird ihr todsicher der Kopf gewaschen. Sie hat ein bißchen dick aufgetragen in ihrem Übermut, völlig töricht ist die gnädige Frau nun auch nicht.

Hubert hörte gerne, was die gnädige Frau jetzt sagt, und vor allem, was das Fräulein antwortet. Aber Hubert lauscht nicht an Türen, er marschiert schnurstracks in die Küche. Wenn man einen männlichen Grips hat, gibt es viele Wege, etwas zu erfahren, man muß nicht das Vertrauen der Herrschaft auf einen musterhaften Diener durch solches Lauschen erschüttern.

In der Küche sitzt, am Küchentisch wartend, der alte Förster

Kniebusch.

"Guten Abend, Herr Räder", sagt er sehr höflich. Denn der ganz für sich lebende, schweigsame Diener Räder wird für eine Macht gehalten. "Ist das Essen schon vorbei?"

"Der Nachtisch, Armgard!" sagt Räder und fängt an, das Geschirr auf dem Tablett zurechtzustellen. "Guten Abend, Herr Kniebusch. Wen wollen Sie denn sprechen? Der Herr Rittmeister kommt erst morgen wieder."

"Ich wollte mal die gnädige Frau", sagt Förster Kniebusch vorsichtig. Nach langem Überlegen ist er nämlich zu dem Entschluß gekommen, daß er seine Wissenschaft besser bei der älteren Generation verwertet. Das gnädige Fräulein ist wirklich zu jung, um einem so alten Manne etwas nützen zu können.

"Ich werd Sie melden, Herr Kniebusch", sagt Räder.

"Herr Räder!" bittet Kniebusch vorsichtig. "Wenn es sich so machen ließe, daß Fräulein Weio nicht dabei wäre -?"

Das faltige Gesicht Räders wird noch faltiger. Um Zeit zu gewinnen, fährt er die Köchin an: "Machen Sie doch zu, Armgard. Hundertmal habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen die Käseplatte garnieren, ehe ich komme!"

"Bei der Hitze!" höhnt die Köchin, die den Diener haßt. "Die ganzen Butterkügelchen würden aneinanderkleben!"

"Die Butter nehmen Sie im letzten Augenblick aus dem Eisschrank! Aber wenn Sie jetzt erst den Käse schneiden -!" Und zum Förster halblaut: "Warum soll denn das gnädige Fräulein nicht dabeisein?"

Der Förster wird sichtlich verlegen: "Ja, wissen Sie ... ich dachte so ... Es ist doch noch nicht alles für junge Mädchen ..."

Räder betrachtet den Verlegenen mit götzenhaftem Ernst. "Was ist denn noch nicht für junge Mädchen, Herr Kniebusch?" fragt er, aber ohne alle spürbare Neugier.

Kniebusch wird rot vor lauter Anstrengung, eine Lüge zu erfinden. "Na ja, Herr Räder, Sie verstehen doch, wenn man so jung ist, und dann ist da die Brunft ..."

Räder weidet sich an seiner Verlegenheit. "Jetzt gibt es doch keine Brunft!" sagt er verächtlich. "Na, ich verstehe schon. Danke. Uniform - U-ni-form heißt die Parole!"

Er sieht den zerschmetterten und verwirrten Förster mit seinem ausdruckslosen, fischigen Auge an. Dann wendet er sich zu der Köchin. "Na endlich, Armgard! - Aber wenn die gnädige Frau schilt, sage ich es

ihr, an wem es liegt. - Sprechen Sie mich bitte nicht an! Ich rede überhaupt nicht mit Ihnen!"

Er geht, das Servierbrett auf der Hand, aus der Küche, ernst, unjung, ziemlich geheimnisvoll.

"Wir sprechen uns noch, Herr Kniebusch", nickt er und verschwindet, die erbetene Anmeldung völlig im ungewissen lassend.

"Was so ein Affe sich bloß einbildet!" schimpft die Köchin Armgard hinter ihm drein. "Lassen Sie sich bloß mit dem nicht ein, Herr Kniebusch! Der horcht Sie bloß aus - und hinterher tratscht er alles dem Rittmeister."

"Ist er denn immer so mit Ihnen?" erkundigt sich der Förster.

"Immer!" ruft sie empört. "Nie ein nettes Wort zu Lotte oder mir! Herr Rittmeister ist lange nicht so fein wie der Affe. Glauben Sie, der ißt mit uns an einem Tisch?!" Sie starrt den Förster an, der verlegen irgend etwas Unverständliches murmelt. "Nee, den Teller in der Hand, geht er in seine Kammer! Ich glaube, Herr Kniebusch", flüstert sie geheimnisvoll, "der ist überhaupt - anders. Der hat mit Frauen überhaupt nichts im Sinn. Der ist ..."

"Ja -?" fragt der Förster erwartungsvoll.

"Nein, mit so etwas will ich nichts zu tun haben", erklärt Armgard energisch. "Glauben Sie, er geht auch nur an die Zigaretten vom Rittmeister?"

"Ja, das tut er doch?" sagt der Förster voller Hoffnung. "Das tun doch alle Diener! Elias raucht auch immer die Zigarren vom alten Herrn. Ich rieche das, weil mir der Geheimrat manchmal eine schenkt."

"Was?! Das wissen Sie von dem Elias?! Das werde ich dem ollen Knacker aber unter die Nase reiben! Von wegen, Zigarren von der Herrschaft klauen - und mich anpöbeln, weil ich mir die Schuhe am Schloßeingang nicht ordentlich abgetreten habe -!"

"Um Gottes willen, Armgard! Nein, nein, sagen Sie ihm bloß nichts! Ich kann mich ja auch irren!" Der alte Mann überstürzt sich in seinen Ängsten. "Es ist sicher eine ganz andere Zigarre, und Sie haben auch gesagt, daß der Hubert des Rittmeisters Zigaretten raucht ..."

"Das habe ich nicht gesagt! Grade das Gegenteil habe ich gesagt! Daß er nicht raucht und daß er nicht trinkt und daß er nicht an den Türen lauscht, daß er sich für all so was viel zu fein hält, der dumme Lausejunge ..."

"Verbindlichsten Dank!" schnarrt es, und die beiden sehen tief erschrocken dem Diener Räder ins Gesicht(olles Froschgesichte! denkt

die Armgard wütend). "Ich bin also ein dummer Lausejunge. Gut, wenn man das weiß, wie die Leute über einen denken. - Gehen Sie jetzt zur gnädigen Frau, Armgard, sie will mit Ihnen sprechen. Nicht, daß ich Sie wegen Ihrer Käseplatte verklatscht hätte, dafür sind Sie mir viel zu dumm! Sie können ihr aber sagen, daß ich ein dummer Lausejunge in Ihren Augen bin ... Kommen Sie, Herr Kniebusch!"

Und gehorsam, aber sehr bedrückt von all den Komplikationen des täglichen Lebens, folgt ihm der Förster, verlegen nach der Köchin Armgard schielend, die hochrot mit Tränen kämpft.

Die Kammer des Dieners Räder ist nur ein schmales Handtuch, im Souterrain der Villa, zwischen Kohlenkeller und Waschküche. Schon dies ist wiederum ein Grund für den Diener Räder, dem Diener Elias zu grollen, denn Elias hat ein richtiges, großes, zweifenstriges Zimmer im Obergeschoß des Schlosses, sehr gemütlich mit alten Möbeln ausgestattet. Die Kammer des Dieners Hubert aber hat nur ein eisernes Feldbett, einen eisernen Waschständer, einen eisernen alten Klappstuhl aus dem Garten und einen alten, wackligen Schrank aus Fichtenholz. Nichts verrät, daß in dieser Kammer ein Mensch wohnt. Kein Kleidungsstück ist sichtbar, kein kleiner Gebrauchsgegenstand des Bewohners; nicht einmal Seife und Handtuch sieht man beim Waschständer, denn Hubert Räder wäscht sich im Badezimmer.

"So", sagt der Diener Räder, lehnt die Tür aber nur an. "So - Sie können sich jetzt noch auf den Stuhl setzen, bis sie kommt. Dann stehen Sie auf und machen ihr Platz."

"Wer kommt -?" fragt Kniebusch verwirrt.

"Sie sollten nicht soviel quackeln, Herr Kniebusch", erklärt der Diener mit ernster Mißbilligung. "Ein Mann quackelt nicht - vor allem nicht mit Weibern."

"Ich habe gar nichts gesagt", verteidigt sich der Förster.

"Jetzt muß sie sich natürlich erst das Gesicht waschen, weil sie geheult hat", sagt der faltige Götze. "Aber wenn sie dann bei der gnädigen Frau ist, kommt sie ..."

"Wer kommt, wer ist bei der gnädigen Frau?" fragt der Förster, vollkommen verwirrt.

"Eine Uniform ist eine Uniform", belehrt ihn der Diener. "Meine Livree gilt natürlich nicht, und Ihre grüne auch nicht, weil Sie bloß Privatförster sind. Wären Sie Staatsförster, wäre das auch wieder anders."

Kniebusch sagt verloren: "Jaja. - Natürlich", er hofft immer noch, daß er schließlich etwas von den Räderschen Rätselsprüchen verstehen wird.

"Ein Zivilist soll sich nicht in die Uniformen mischen", verkündet der Diener ernst. Er denkt lange nach, die Stirn in vielen Falten. Dann drückt er die Tür ein wenig auf.

Er lauscht. Nun nickt er, geht quer durch die Kammer zum Förster hin und sagt leise, voller Vorwurf: "Sie sind ein Zivilist, Herr Kniebusch, und Sie wollten sich unter die Uniformen mischen."

"Aber nein", ruft der Förster entsetzt.

"Das ist Ihnen noch gar nicht aufgefallen, Herr Kniebusch", sagt der Diener und ist auf seinen Horchposten bei der angelehnten Tür zurückgekehrt, "was der Herr Geheimrat am liebsten mag?"

"Nein. Wieso?" wundert sich der Förster. "Ich weiß überhaupt nicht, was Sie eigentlich wollen, Herr Räder."

"Wissen Sie es wirklich nicht?"

"Nein. Ich glaube aber, seine Forst."

Der Diener nickt. "Ja, die will er nicht hergeben, ehe er stirbt. - Und wem vermacht er sie dann?"

Er sieht erwartungsvoll den Förster an.

"Da ist die alte gnädige Frau", sagt der Förster nachdenklich, "und dann ist da der Sohn in Birnbaum. Und hier ist der Herr Rittmeister ..."

Er überlegt den Fall.

"Na, wem wird er denn die Forst geben?" fragt der Diener gönnerhaft, wie man etwa ein zurückgebliebenes Schulkind nach etwas ganz Leichtem fragt. "Oder läßt er sie teilen, in zwei Stücke oder drei?"

"Teilen - seine Forst?!" Der Kniebusch ist völlig Verachtung. "Nee, so was bilden Sie sich bloß nicht ein, Herr Räder! Ich glaub, der käme noch aus dem Grabe und risse die Grenzsteine aus, wenn sie die Forst nach seinem Tode teilten. Aber er wird's schon aufgeschrieben haben, wie es mit der Forst werden soll."

"Und was wird er aufgeschrieben haben, Herr Kniebusch?" bohrt der Diener beharrlich weiter. "Etwa die alte gnädige Frau?"

"Ausgeschlossen. Wo sie doch immer sagt, sie geht nicht in den Wald wegen Schlangen. Nein, Herr Räder, kommt überhaupt nicht in Frage."

"Oder der Birnbaumer?"

"Glaube ich auch nicht", sagt der Förster. "Auf den schimpft er immer, weil er ihm zu fein ist und ewig nach Geld kommt - und jetzt hat er sich ein Rennauto gekauft ... ›daß er vor seinen Schulden wegrennen kann!‹ hat der Alte geschimpft."

"Das mit dem Rennauto weiß der alte Herr also auch schon", meint der

Diener Räder nachdenklich. "Das haben Sie ihm sicher erzählt, Herr Kniebusch."

Der Alte will hochrot protestieren, aber Hubert achtet gar nicht darauf. Er sagt abschließend: "Dann erbt also die Forst die gnädige Frau hier oben". Und er deutet mit dem Daumen zur Decke.

"Wo er doch den Herrn Rittmeister gar nicht leiden kann?" fragt der Förster besorgt dagegen. "Und das mit den Gänsen geht auch nicht gut aus."

"Wer erbt dann also die Forst?" beharrt der Diener.

"Ja, ich weiß doch nicht "..., sagt der Förster verwirrt. "Er hat ja noch die Schwesterkinder in Hinterpommern, aber ..."

"Hat er nicht ein Enkelkind?" fragt der Diener.

"Wen -?" Dem Förster steht der Mund offen. "Meinen Sie wirklich? Aber das Fräulein Violet ist doch erst fünfzehn "... Der starre Blick des Dieners verändert sich nicht, und der Förster überlegt laut: "Freilich, sie ist die einzige, die er auf den Anstand mitnimmt, soviel muß wahr sein ... Und wenn er das Holz nachmißt, muß sie auch immer mit, mit Zollstock und Kluppe - o Gott, Herr Räder, und das weiß noch niemand, und das gnädige Fräulein weiß es vielleicht selber noch nicht ..."

"Und Sie haben sich unter die Uniformen mischen wollen, Herr Kniebusch", stellt der Diener Räder voller Verachtung fest.

Ehe aber der Förster noch hat protestieren können, klappt es eilig auf dem Gang, und Weio kommt herein.

"Gottlob, doch noch geschafft. Ich konnt und konnt ja nicht weg! Die Armgard hat der Mama so was vorgeheult, daß Sie immer so gemein zu ihr wären, Hubert - sind Sie denn wirklich so gemein -?"

"Nein", antwortet Hubert ernst. "Ich bin bloß streng mit ihr, und ich mache mich mit Frauenzimmern überhaupt nicht gemein."

"Gott, Hubert, wie ernst Sie mal wieder aussehen! Wie ein Karpfen aus den Teichen. Trinken Sie eigentlich viel Essig? Ich bin doch auch bloß ein Frauenzimmer."

"Nein", erklärt Hubert. "Einmal sind Sie eine Dame, und dann sind Sie meine Herrschaft, so kommt Gemeinmachen mit Ihnen gar nicht in Frage, gnädiges Fräulein."

"Danke schön, Hubert. Sie sind wirklich großartig. Ich glaube, Sie platzen noch mal vor Eingebildetheit und Stolz."

Sie sieht ihn sehr vergnügt mit ihren leicht vorstehenden, glänzenden Augen an. Plötzlich wird sie ernst, sie flüstert geheimnisvoll: "Ist es denn

wahr, Hubert, was die Armgard der Mama gesagt hat, daß Sie ein Unhold sind?"

Der Diener Räder sieht das neugierige Mädchen mit seinen fischigen Augen unbewegt an. Nicht eine Spur von Farbe steigt in seine grauen, faltigen Wangen.

"Das hat die Armgard aber nicht vor Ihren Ohren gesagt, gnädiges Fräulein", stellt er unerschüttert fest. "Da haben Sie wieder an der Tür gelauscht."

Auch Violet ist nicht die Spur verlegen. Mit Staunen sieht der Förster, wie vertraut das seltsame Paar miteinander ist. Der Räder ist ja noch viel schlauer, als ich gedacht habe. Vor dem muß ich mich ja noch viel mehr in acht nehmen, denkt er bei sich.

Weio aber lacht bloß. "Seien Sie doch nicht albern, Hubert! Wenn ich nicht ein bißchen lausche, erfahre ich überhaupt nichts. Mama erzählt mir nie was, und wie ich Papa neulich auf der Wiese fragte, als wir den Storch sahen, ob es denn wirklich wahr sei, lief er ganz rot an. Gott, der arme Papa! Wie verlegen er war! - Und Sie sind also ein Unhold?"

"Da ist auch noch der Förster Kniebusch", lenkt Räder unerschüttert ihr Interesse ab.

"Ja, natürlich. Guten Abend, Kniebusch. Was ist denn bloß los? Hubert tut ja so geheimnisvoll, aber Hubert tut immer geheimnisvoll. Was haben Sie denn nur?"

"Gott, gnädiges Fräulein", sagt der Förster jämmerlich, denn er sieht mit Schrecken den Augenblick kommen, da er berichten muß. Und schon geht ihm alles durcheinander, und er weiß nicht mehr, was er wirklich gesehen hat und was er nur vermutet. Und dann hat er auch gar nicht den Mut, ihr das jetzt alles ins Gesicht zu sagen, und vielleicht hat der Negermeier nicht geprahlt, sondern sie liebt ihn wirklich, und dann ist er ja schön hereingefallen!

"Ich weiß ja nicht ... Ich wollte ja nur mal fragen ... Ich hab den Sechserbock wieder gespürt, den der Rittmeister so gerne kriegen wollte, und wenn der Rittmeister nun heute abend noch käme ... Er stand doch im Klee, aber jetzt geht er in Haases Serradella ..."

Weio sieht ihn aufmerksam an.

Räder aber betrachtet ihn kalt und verächtlich. Er wartet in aller Ruhe, bis der Förster sich vollständig verhaspelt hat, dann sagt er mitleidslos: "Es ist wegen der U-ni-form, gnädiges Fräulein! Und ohne mich hätte er es der gnädigen Frau und nicht Ihnen gesagt ..."

"Pfui, Kniebusch!" schilt Violet. "Schämen Sie sich was! Immer petzen

und hinter dem Rücken Geschichten erzählen ..."

Und nun muß der Förster, schon um sich ein bißchen zu entlasten, alles auskramen, von dem Bestellgang durchs Dorf bis zum Anruf aus der Kneipe. Dann berichtet er stockend, halblaut, maßlos verlegen von dem besoffenen Geschwätz des Negermeier. Er möchte um den Brei herumreden, aber das gelingt ihm nicht. Weio wie Räder sind unerbittliche Forscher: "Nein, da fehlt noch was, Kniebusch, sagen Sie alles! Ich werde bestimmt nicht rot."

Aber das wurde die fünfzehnjährige Weio doch. Sie stand an der Wand, sie hatte die Augen bis auf einen schmalen Spalt geschlossen, aber ihre Lippen zitterten, und sie atmete hastig.

Doch sie gibt nicht nach, sie fragt unermüdlich weiter: "Los, Kniebusch, was hat er dann gesagt?"

Und nun kam die Sache mit dem Brief.

"Hat er alles vorgelesen? Was hat er vorgelesen? Sagen Sie jedes Wort, das er vorgelesen hat ... So, und Sie Idiot haben geglaubt, ich hab ihm das geschrieben, ihm, diesem Kerl -?!"

Nun kam die Erleuchtung unter dem Haaseschen Brettergiebel.

"Was?! Sie haben den - Herrn gesehen, und Sie haben ihm nichts gesagt?! Nicht einmal einen Wink gegeben?! Von allen Schafsköpfen, Kniebusch, sind Sie der größte!"

Der Förster steht verdattert und schuldbewußt vor ihr; jetzt sieht er auch ein: er hat alles ganz falsch gemacht.

"Der Schulze war dabei", ließ sich Räder vernehmen.

"Richtig! Aber den Brief hätt er ihm doch zustecken können!"

"Den Brief hat der Förster ja gar nicht gehabt!"(Wieder Räder.)

"Ach ja, ich bin ganz durcheinander! Aber Meier hat ihn noch - sitzt vielleicht mit ihm im Krug, zeigt ihn andern ... Sie müssen sofort los, Hubert!"

"Der Meier ist doch längst wieder auf seinem Zimmer", sagte Hubert unerschüttert. "Ich hab Ihnen doch selbst erzählt, daß er ganz betrunken nach sechs aus der Schenke heimgekommen ist. Aber ich schlage vor, die U-ni-form ..."

"Stimmt! Los, Hubert, sagen Sie ihm Bescheid. Sie finden ihn schon, sicher ist er noch bei Haase. Nein, erzählen Sie ihm gar nichts, sagen Sie ihm bloß, ich muß ihn sofort sprechen. Aber wo? Sagen Sie, an der alten Stelle ... Aber wie kann ich hier weg? Mama läßt mich doch jetzt nicht mehr fort!"

"Pssst! Die gnädige Frau!" warnt ganz unerschüttert Hubert Räder.

"Nun, was ist denn hier für eine Verschwörung?" sagt Frau von Prackwitz und steht sehr erstaunt auf der Schwelle der Dienerkammer. "Ich such dich überall, Violet, und hier finde ich dich -!" Sie sieht von einem Gesicht zum andern. "Warum seht ihr denn alle so verlegen aus?" Mit schärferer Stimme: "Ich will wissen, was hier los ist! Wird's bald, Weio?!"

"Verzeihen, gnädige Frau, daß ich spreche", läßt sich der Diener Räder vernehmen. "Es hat ja doch keinen Zweck mehr, gnädiges Fräulein, wir müssen es der gnädigen Frau sagen."

Atemlose Stille, verzweifelte Herzen.

"Es ist, gnädige Frau, gradeheraus gesagt, wegen des Bocks!"

Stille, Schweigen.

"Wegen welchen Bockes?! Was ist das für ein Unsinn?! Weio, ich ersuche dich -!"

"Doch wegen des Bocks im Klee, von dem der Herr Rittmeister auch gesprochen hat", sagt Räder. "Verzeihung, gnädige Frau, daß ich es gehört habe. Es war vorgestern beim Abendessen, ich servierte grade die Schleien."

Räders leidenschaftslose, immer leicht belehrende Stimme hüllt alles in einen grauen Nebel ein.

"Und nun war der Bock doch plötzlich verschwunden, grade, als Herr Rittmeister auf den Ansitz ging, und Herr Rittmeister legte doch solchen Wert darauf, gnädige Frau haben es selber gehört ..."

"Ich habe noch immer nicht gehört, was das hier für eine Versammlung ist -!"

"Und nun hat der Förster den Bock doch heute ausgemacht, gnädige Frau, in Haases Serradella, und heute abend muß er geschossen werden, weil er immerzu hin und her wechselt. Und da hatten wir gedacht, weil der Herr Rittmeister doch weg ist, daß das gnädige Fräulein den Herrn Rittmeister überrascht. Es war ja nicht recht von uns, gnädige Frau, daß wir es heimlich tun wollten ... Aber ich bin es gewesen, der es vorgeschlagen hat, daß wir warten, bis die gnädige Frau schlafen geht, weil wir Vollmond haben, und es ist Büchsenlicht genug, sagt Herr Kniebusch ..."

"Nun hören Sie aber endlich mit Ihrem schrecklichen Gedröhne auf, Hubert!" sagt die gnädige Frau, merklich erleichtert. "Sie sind ein gräßlicher Mensch. Tagelang wünscht man sich: wenn er doch endlich mal den Mund auftäte! Aber wenn Sie ihn dann aufmachen, hat man

bloß den einen Wunsch, daß Sie ihn recht schnell wieder schließen. - Und zu den Mädchen könnten Sie auch etwas netter sein, Hubert, davon fällt Ihnen kein Stein aus Ihrer Krone!"

"Jawohl", sagt Diener Räder unbewegt.

"Und du, Weio", fährt die gnädige Frau in ihrer Strafpredigt fort, bist eine rechte Gans. Dies hättest du mir ruhig erzählen dürfen, die Überraschung für Papa wäre dadurch nicht kleiner geworden. Eigentlich sollte ich dich zur Strafe nicht gehen lassen, aber wenn der Bock nur diesen Abend in der Serradella ist ... Sie gehen ihr aber keinen Schritt von der Seite, Kniebusch ... Gott, was haben Sie denn wieder, Kniebusch, was weinen Sie denn -!?!"

"Ach, es ist ja bloß der Schreck, gnädige Frau, der Schreck, wie Sie in der Tür standen", jammerte der alte Mann. "Und ich kann es dann nicht halten. Aber es war ein freudiger Schreck, es sind Freudentränen ..."

"Ich denke, Hubert", sagte die gnädige Frau trocken, "Sie machen sich auch ein bißchen zurecht und gehen mit. Sonst, wenn sie im Wald einen Holzdieb treffen, bricht unser guter Kniebusch auch in Freudentränen aus, und Weio kann dann sehen, wie sie allein fertig wird ..."

"Ach Mama", sagte Weio, "ich hab vor Holz- und Wilddieben keine Angst."

"Du solltest lieber vor vielen Dingen Angst haben, meine liebe Violet", sagte Frau von Prackwitz energisch. "Vor allen Dingen solltest du Angst vor Heimlichkeiten haben. - Also, es bleibt dabei, Hubert kommt mit."

"Jawohl, Mama", sagte Weio gehorsam. "Wartet bloß einen Augenblick, ich hab mich gleich umgezogen."

Damit lief sie nach oben, die gnädige Frau aber war mit den beiden Männern allein und wusch ihnen wegen der "Heimlichkeiten mit dem Kinde, der Weio" gehörig den Kopf. Sie tat es sehr gründlich, aber mit dem Ergebnis war sie nicht ganz zufrieden. Als rechte Frau hatte sie nämlich das untrügliche Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte. Da die Weio aber noch ein rechtes Kind war, würde es am Ende so schlimm nicht sein, und sie beruhigte sich bei dem Gedanken, daß Weios Untaten sich immer noch ziemlich harmlos aufgeklärt hatten. Ihre schlimmste Untat war bisher das Verschandeln ihres schönen langen Haars zu einem Bubikopf gewesen. Und ein so schlimmes Verbrechen läßt sich gottlob nur einmal begehen.

4

Die Frauenzelle im Polizeigefängnis Alexanderplatz ist völlig überfüllt. Als dieses Gefängnis erbaut, als die Zelle fertig wurde, malte man an die grüne, eisenbeschlagene Tür auch den Luftinhalt der Zelle: soundso viel Kubikmeter, schrieb man daran, völlig ausreichend für eine Insassin. Daß man dann noch ein zweites Bett hineingesetzt hatte, das war schon sehr lange her; zwei Betten in der Zelle war auch für die ältesten Beamten eine Normalbelegung.

Dann aber kam die Inflation. Die Flut der Festgenommenen schwoll und schwoll. Man stellte über die zwei Betten zwei weitere Betten und verdoppelte so mit einem Schlag die Belegungsfähigkeit des Gefängnisses.

Aber auch das reichte schon längst nicht mehr aus. Nun wurden sie, wie sie in endlosem Zuge Tag für Tag in den grünen "Lumpensammlern" der Polizei ankamen, wahllos in die Zellen gestopft. Abends warf man dann ein paar Matratzen, ein paar Wolldecken hinterher: nun seht, wie ihr euch einrichtet!

Selten hatte sich Petra Ledig verlassener, einsamer gefühlt, als in der überfüllten Zelle des Gefängnisses. Es wollte und wollte nicht dunkel werden.

Wohl gehörte sie nicht zu jenen Mädchen aus gesicherten Kreisen, denen die Tatsache, im Gefängnis zu sein, Zusammenbruch und Schande bedeutete. Sie lebte im Alltag, sie wußte, daß dies Leben eine schwer zu übersehende Sache blieb für einen, der arm und freundlos war, der nie wußte, was einem noch geschehen konnte, aus welcher Ecke der Unheilswind nun hervorbrach.

Sie wußte, nach einer zweiten, sehr flüchtigen Vernehmung hier im Präsidium, ziemlich genau, was man ihr vorwarf. Sie wußte, daß diese Beschuldigungen zum Teil veraltet, zum Teil unrichtig waren. Aber sie wußte nicht, was für sie dabei herausschauen würde. Es war möglich, daß es Arbeitshaus gab oder den Kontrollschein, oder Gefängnis. Wochen oder Monate. Das alles lag in Händen von Menschen, die ihr so fremd waren wie Menschen einer andern Welt, zu denen man nicht sprechen kann.

Sie war gleich zum Arzt geführt worden. Aber da standen sie in endloser Reihe vor der Tür, und schließlich hieß es: "Keine Vorführungen mehr! Der Medizinalrat ist nach Haus gegangen."

So war Petra wieder in ihre Zelle geführt worden, und sie hatte gefunden, daß dort unterdes das Abendessen ausgegeben war und daß die andern ihren Anteil aufgegessen hatten. Es machte ihr nicht viel aus, sie fand, sie hatte vorhin auf der Wache erst einmal genug gegessen.

Nur mit halbem Ohr hörte sie auf das Gezänke der andern, die sich umschichtig beschuldigten. Es konnte schon stimmen, was die dicke Frau in dem unteren Bett(die älteste Zelleninsassin, schon seit zwei Tagen hier) sagte, daß die Hühnerweihe ihr das Essen gestohlen hatte.

Aber es war gleich. Es wäre besser gewesen, sie schwiegen davon. Nun wurde ja die Hühnerweihe auch wieder wild und fiel mit Beschimpfungen und Geschrei über Petra her. Es war nicht angenehm, daß grade sie in dieselbe Zelle mit der Weihe gekommen war, aber auch das mußte ertragen werden. Das Mädchen würde es auch nicht lange aushalten mit diesem Geschrei und Getobe. Als sie in die Zelle gekommen war, war sie noch schlapp gewesen wie ein nasses Handtuch. Aber jetzt war sie wieder unruhig; immer von neuem drang sie auf Petra ein und hätte sie wohl am liebsten geschlagen. Nur hatte sie nicht mehr soviel Kraft wie früher, Alkohol und Kokain hatten ihr Werk getan, Petra konnte sie sich mit einer Hand vom Leibe halten. Sie antwortete ihr überhaupt nicht, trotzdem schrie die Hühnerweihe immer wilder.

Das war lästig. Unter diesen ständigen Angriffen und diesem Geschrei konnte Petra nicht nachdenken, wie sie gerne getan hätte. Da war die Sache mit Wolfgang: kam er heute noch, kam er überhaupt? Sie wußte ja jetzt, was sie von ihr glaubten, sicher würde man ihm das auf der Wache erzählen - und was würde er nun glauben? Setzte sie sich an seine Stelle, sie wäre um so schneller gekommen, aber bei ihm konnte man es nicht wissen.

Petra sah sich in der Zelle um. Gerne hätte sie die alte, grauhaarige Frau auf dem Bett nach den Besuchszeiten gefragt, aber die Hühnerweihe schrie immer schlimmer. Die andern schien es freilich gar nicht zu stören, nicht einmal zu interessieren. Die beiden braunschwarzen Zigeunerinnen, mit ihren frechen, unruhigen Vogelaugen, hockten beieinander in einer Ecke auf der Matratze und wisperten halblaut mit vielen raschen Fingergebärden, sie sahen niemanden sonst in der Zelle an. Das lange, blasse Mädchen, die das andere untere Bett hatte, war schon unter die Decke gekrochen: man sah nur ihre Schultern, die zuckten. Sie weinte wohl. - Eine kleine Dicke hatte sich auf den Schemel gesetzt und bohrte mit finsterem Gesicht in ihrer Nase herum.

Jetzt sah die grauhaarige Frau, die auf ihrer Bettkante saß, hoch und sagte ärgerlich: "Halt doch endlich deine Fresse, du dummes Aas! - Hau ihr ein paar aufs Maul, Kittchen, daß sie Zähne spuckt!"

Mit der Anrede "Kittchen" war Petra gemeint. Die alte Frau nannte sie wohl darum so, weil sie als einzige der Zellenbewohnerinnen die blaue

Gefängniskluft trug. Man hatte sie bei der Einlieferung sofort eingekleidet.

Aber Petra mochte die Hühnerweihe nicht schlagen. Es hatte ja keinen Sinn, sie war vor Gier nach Kokain oder Alkohol von Sinnen. Ein paarmal hatte die Nachtwache schon gegen die Zellentür geklopft und hatte Ruhe geboten. Dann war die Hühnerweihe stets rasch an die Tür gesprungen und hatte gebettelt: "Ach, bitte, gebt mir doch einen Schnaps! Einen einzigen, kleinen! Ihr könnt's doch, Jungens! Ihr kippt doch auch mal gerne einen! Ach, bitte, gebt mir doch einen, Jungens ..."

Doch die Schritte der Nachtwache waren ohne Antwort verhallt, höchstens, daß einer halblaut lachte. Dann hatte die Hühnerweihe einen Wutausbruch bekommen, sie hatte mit den Fäusten gegen die Eisentür getrommelt und hatte den Wärtern Beschimpfungen nachgeschrien.

Aber langsam veränderte sich die Hühnerweihe. Wie die Zeit vorrückte, der Himmel hinter dem Zellenfenster matt und dunkel wurde, das elektrische Licht über der Tür aufflammte, war es immer stärker, als wisse das Mädchen nicht mehr recht, wo es war, was um es war. Wahrscheinlich glaubte sie in der Hölle zu sein. Wie ein Tier rannte sie auf und ab, immer von einer Wand zur andern, blind für die Gefährtinnen. Dabei murmelte sie ununterbrochen halblaut vor sich hin. Plötzlich dann blieb sie stehen und schrie mit hoher, gellender Stimme, wie aus wilden Schmerzen heraus.

Wieder klopften die Wärter, wieder gab ihr Anruf der Gequälten Anlaß zu neuem, herzzerreißendem Betteln, dann wilden Beschimpfungen. Dieses Mal fiel sie hin an der Tür; das Haupt gegen das Eisen der Tür gelehnt, hockte die jämmerlich zerraufte Hühnerweihe da, als lausche sie auf etwas. Sie fing an zu murmeln: "Es läuft", murmelte sie. "Es krabbelt in meinem Bauch. Oh, so viele Beine! Sie wollen heraus, mein ganzer Leib ist voll von ihnen, und nun wollen sie heraus!"

Mit zitternden Fingern riß sie an ihren Kleidern herum, versuchte, sich den Leib frei zu machen. "Ameisen!" klagte sie. "Rote, durchsichtige Ameisen! Sie laufen in mir. - Oh, gebt Ruhe!" bat sie. "Ich habe ja nichts. Ich kann euch kein Koks geben!"

Sie sprang auf. "Gebt mir Koks!" schrie sie. "Du sollst mir Koks geben, hörst du! Du hast Koks!"

Mit einem schwachen Schrei war die grauhaarige Frau hintenübergesunken; ohne einen Versuch der Gegenwehr lag sie unter der Tobenden, leise wimmernd.

Die Zigeunerinnen auf ihrer Matratze unterbrachen das

unverständliche Gewisper und sahen grinsend den Überfall an. Die Schultern des langen Mädchens im Bett hörten zu zucken auf. Langsam wandte sie den Kopf und sah mit ihren angstvollen Augen und der großen, bleichen Nase nach dem Bett gegenüber, jederzeit bereit, sich völlig unter die Bettdecke zu verkriechen. Die dicke Mißmutige auf dem Schemel schalt unmutig: "Ach, gebt doch Ruhe! Wie kann eines nachdenken, wenn ihr soviel Krach macht?!"

Petra war zugesprungen. Leicht war es, das schmächtige, verwüstete Geschöpf rückwärts zu ziehen, von der unter ihr Liegenden fort; unmöglich aber, die klammernde Hand aus den Haaren der Überfallenen zu lösen.

"Wollt ihr Ruhe geben, ihr Weiber!" schimpften die Wärter durch die Tür. "Hat sich bei den Haaren, das Gesindel! Wartet nur, gleich gibt es Kloppe!"

Petra wandte sich um, zur Tür rief sie zornig: "Kommen Sie doch rein! Das Mädchen hat einen Anfall! Helfen Sie uns doch!"

Einen Augenblick war Stille hinter der Tür. Dann sagte eine höfliche Stimme: "Wir dürfen doch nicht, Fräulein. Nach Einschluß dürfen wir in keine Frauenzelle. Sonst heißt es gleich, wir haben was mit euch."

Und eine andere Stimme: "Wer weiß, ob das nicht bloß ein Trick von euch ist?! Auf so was fallen wir lieber nicht rein."

Und Petra: "Aber das geht doch nicht so! Sie ist doch schon halb wahnsinnig. Es muß doch eine Wärterin hier im Hause sein. Oder ein Arzt. Bitte, schicken Sie doch einen Arzt."

"Alle schon weg!" sagte die höfliche Stimme. "Die hätte das bei der Einlieferung sagen müssen. Dann wäre sie auf die Krankenabteilung gekommen. Ihr fünfe werdet mit der einen schon fertig werden."

Es sah nicht so aus. Die Zigeunerinnen saßen lautlos, die Dicke hockte mißmutig auf ihrem Schemel, die längliche war unter ihre Decke gekrochen - und die alte Frau wimmerte weiter unter dem schmerzenden Klammern der Hühnerweihe.

Eine Weile hatte die Hühnerweihe leise schluchzend neben der alten Frau im Bett gelegen, nun fing sie wieder an zu schreien. Dabei riß sie die Frau ohne Gedanken, aber wild an ihren dünnen Zotteln. Auch die Frau schrie jetzt.

"Sie müssen helfen!" schrie Petra empört und trommelte mit den Füßen gegen die eisenbeschlagene Tür. Es dröhnte. "Oder ich mache solchen Krach, daß das ganze Gefängnis zu schreien anfängt!"

Es war schon fast soweit. Aus vielen Zellen klangen wütende Rufe

nach Ruhe. Eine hohe Frauenstimme fing an, die Internationale zu singen.

Die Tür flog auf; uniformiert und bewaffnet, aber auf leisen Filzschuhen, den sachten Schlaf der Gefangenen nicht zu stören, standen zwei Wärter in der Tür.

"Aber rein zu euch gehen wir nicht!" sagte ein großer Blauäugiger mit rotblondem Schnurrbart. "Wir sagen Ihnen, was Sie tun sollen. Sie sind ja ganz vernünftig, Fräulein. - Schnell, los, holen Sie eine Prise Salz aus dem Schränkchen."

Petra lief, der Wachtmeister befahl: "Du alte Vogelscheuche da auf der Matratze, nimm eine Wolldecke! Kannst auch was tun! Du andere auch!"

Die beiden Zigeunerinnen sprangen auf, grinsend taten sie, was er gesagt.

"Du da, kleine Hübsche auf dem Bett", rief der Wärter von der Zellenschwelle. "Hoch mit dir jetzt! Nun gibt's Koks!"

Mit einem Freudenschrei sprang die Hühnerweihe auf, lief taumelnd auf die Wärter zu. "Ihr seid Kerle -!"

Die alte Frau richtete sich ächzend auf, tastete mit vorsichtigen Händen nach ihren Haaren.

"Weg da!" rief der Rotblonde zur Hühnerweihe. "Drei Schritt vom Leibe!" Und nach einem prüfenden Blick: "Ja, die simuliert wirklich nicht. Das ist eine Kokserin wie nur eine."

Von dem Befehl zurückgescheucht, von dem Versprechen ermuntert und gehorsam gemacht, stand die Hühnerweihe aufmerksam da. Mit hängenden Armen und hündisch erwartungsvollem Blick sah sie die Männer an. Petra, die Zigeunerinnen warteten auch. Nur die Lange, Blasse hatte sich vor den Männerblicken ganz unter die Bettdecke verkrochen, und die Dicke murmelte ärgerlich: "Ach, haut ab mit eurem Quatsch! Laßt eins doch nachdenken!"

"Leg dich lang auf die Erde, du!" befahl der Rotblonde. "Ja, tu's. Sonst gibt's keinen Koks."

Die Kranke zögerte, dann, mit einem leisen, enttäuschten Schrei, legte sie sich auf den Zellenboden.

"Die Arme an den Leib!" befahl der Wärter. "Du, mach keine Geschichten! So, nun rollt sie erst in eine Decke! Fester! Fester!! Ganz fest, so fest ihr könnt! Ach Quatsch, das tut ihr nicht weh! Zeig ihr den Koks, daß sie sich nicht wehrt! - Das Salz mein ich doch, Dumme! Zeig's ihr, sie glaubt's schon. - Ja, meine Gute, mein Lamm! Kriegst du gleich, sei nur jetzt erst artig!"

Das Mädchen stöhnte. "O bitte, bitte! Quält mich nicht so! Gebt mir Koks!" flehte sie.

"Nur noch einen Augenblick! Jetzt die andere Decke - nein, entgegengesetzt umgerollt. Dreht sie ruhig um wie ein Paket. Davon geht sie noch lange nicht kaputt. Du da, Dicke auf dem Schemel, nimm den Finger aus der Nase, tu auch was! Hol die beiden Laken aus den oberen Betten - ja doch, meine Gute, gleich ist es soweit! Siehst du nicht, was für 'ne Menge Koks das ist?! Gleich kriegst du deine Prise!"

Nach der Weisung des Wärters wurden die Laken wie Stricke fest um das Paket geschnürt. Willig ließ es sich das Mädchen gefallen. Es wandte den Blick nicht von der Hand, die die Erlösung, das Kokain, das Salz hielt. "Oh, gebt mir doch!" murmelte sie. "Wie könnt ihr so hart sein?! Es ist so schön ... Ich halte es nicht mehr aus ..."

"So", sagte der Wärter nach einem prüfenden Blick. "Das wird halten. Na, eigentlich ist es ja überflüssig, sie wird's doch gleich merken, aber gib ihr immerhin das Salz ..."

"Ja, Koks. Bitte, bitte, Koks!" bettelte die Gefesselte.

Zögernd, widerwillig hielt Petra ihr das Salz auf der Handfläche unter die Nase. Und sah, seltsam angefaßt, die Verwandlung in dem Gesicht der Gequälten.

"Näher!" flüsterte die mit unwilligem, ernstem Blick. "Halte es doch unter die Nase!" Sie zog es tief ein. "Oh, das tut gut!"

Ihr scharfes, zerrissenes Gesicht glättete sich, die Lider sanken in der Entspannung fast ganz über die Augen. Wo unter den Wangenknochen nur schwarze Höhlungen gewesen waren, wölbte sich wieder sanftes Fleisch. Die scharfen Falten um den Mund verschwanden, die rissigen, spröden Lippen wölbten sich, sachte ging der Atem ...

"Oh, selig -!"

Es ist ja nur Salz! dachte Petra erschüttert. Gemeines Kochsalz - aber sie glaubt daran, und so macht es sie wieder jung! Und in plötzlicher Gedankenverbindung mußte sie an Wolfgang denken, an Wolfgang Pagel, den sie den ganzen Abend, sie wußte es wohl, doch immer erwartet hatte, von Minute zu Minute - wie sahen ihn die andern -? Es ist ja nur Salz!

"Da - jetzt kommt's", sagte der Wärter halblaut.

Das Gesicht, nahe unter dem Gesicht der knienden Petra, hatte sich erschreckend gewandelt. Der Mund war eine schwarze, tiefe Höhle, die Augen weit aufgerissen, in Schreck, in Zorn.

"Ihr Hunde! Ihr Schweine!" schrie sie. "Das ist kein Koks! Ihr habt mich

betrogen! Oh - oh - oh!!"

Ihr ganzer Körper bäumte sich auf, ihr Kopf fuhr hoch. Dunkelrot, blaurot wurde ihr Gesicht unter der Anstrengung, sich frei zu machen.

"Laßt mich los!" schrie sie. "Ich will es euch zeigen!"

Petra war zurückgesprungen. Solcher Haß, solche Verzweiflung schlugen ihr aus dem eben noch ganz erlösten Gesicht entgegen.

"Keine Bange, Kleine!" sagte der Wärter. "Das hält! Paß auf, du Blaue, du bist noch die Vernünftigste! Laß sie ruhig auf der Erde liegen, mach sie nicht frei, was sie euch auch erzählt. Aber paß auf, daß sie nicht den Kopf auf dem Steinboden zerschlägt, sie ist dazu imstande. Wenn sie zu sehr schreit, leg ihr ein nasses Handtuch auf den Mund, aber sieh zu, daß sie nicht erstickt ..."

"Nehmen Sie sie doch raus!" sagte Petra böse. "Ich will das nicht. Ich bin kein Gefangenenwärter! Ich mag Menschen nicht quälen."

"Sei nicht dumm, kleine Blaue", sagte der Wärter gleichmütig. "Quälen wir sie denn? Die Sucht quält sie, das Koks quält sie. Haben wir's ihr angewöhnt -?"

"Sie gehört in ein Krankenhaus!" sagte Petra unwillig.

"Glaubst du, da geben sie ihr Koks?" fragte der Wärter wieder. "Los muß sie davon, hier, überall. Ist sie denn so noch ein Mensch? Guck sie doch an, Kleine!"

Sie sah wirklich kaum noch menschlich aus, ein zitternder, rasender Kopf, jetzt voller Wut und Haß, nun weinend, schon verzweifelt, nun bittend, wie ein Kind bittet, voller Glauben, der Gebetene vermöge alles.

"Ich will sehen, daß ich auf dem Lazarett ein Schlafmittel für sie kriege", sagte der Rotblonde nachdenklich. "Aber ich weiß nicht, ob einer da ist, der den Schlüssel zum Medikamentenschrank hat. Das sind Zeiten, sage ich dir ... Also verlaß dich nicht drauf!"

"Kannst ihr immer noch ein paarmal zwischendurch Salz geben", mischte sich der andere ein. "Die fällt noch zehnmal drauf rein. Der Mensch ist so. Na, gute Nacht."

Die Tür fiel zu. Das Schloß knackte laut unter den Schlüsseln. Nun klirrte der Riegel. Petra hockte sich neben die Kranke. Die warf jetzt den Kopf von einer Seite auf die andere, ununterbrochen, mit geschlossenen Augen, immer schneller, immer schneller ... "Koks", flüsterte sie dabei. "Koks! Koks! Gutes Koks ..."

Die fällt immer wieder auf Salz rein, wiederholte Petra bei sich trübe. Der Mensch ist so. Und: Recht hat er: der Mensch ist so. - Aber ich

möchte nicht mehr so sein. Ich nicht!

Sie sah gegen die Tür. Die Scheibe des Spions blinkte wie ein böses Auge. Wolf kommt nicht mehr, dachte sie entschlossen bei sich. Er hat geglaubt, was die ihm erzählt haben. Ich will nun auch nicht mehr auf ihn warten!

5

Auf dem "Schloß" in Neulohe, bei den alten Leuten, bei von Teschows, aßen sie Punkt sieben Uhr zu Abend. Um halb acht waren sie damit fertig, und dann hatten die Mädchen nur noch den Abwasch und das Aufräumen in der Küche, was spätestens um acht fertig war. Darauf hielt die alte Gnädige: "Auch ein Dienstbote muß einmal Feierabend haben!"

Freilich kam dann noch acht Uhr fünfzehn die Abendandacht, zu der alle im Schloß frisch gewaschen zu erscheinen hatten - bis auf den alten Herrn von Teschow natürlich, der zum immer neuen Ärger seiner Frau gerade um diese Stunde stets einen eiligen, völlig unaufschiebbaren Brief schreiben mußte.

"Nein, heute geht es wirklich nicht, Belinde! Und überhaupt - ich höre mir deinetwegen schon alle Sonntage an, was uns der alte Lehnich von der Kanzel erzählt. Ich muß ja sagen, es klingt ganz schön, aber ich kann mir nichts Rechtes darunter vorstellen, Belinde. Und ich glaube, du auch nicht. Wenn ich mir so ausmale, wir fliegen da einmal als Engel im Himmel herum, du, Belinde, und ich - so in weißen Hemden wie auf den Bildern in der großen Bilderbibel ..."

"Du spottest mal wieder, Horst-Heinz!"

"I bewahre, keine Spur! - Und ich treff da meinen alten Elias, und der flattert auch so rum und singt auch ewig, und dann flüstert er mir zu: ›Na, Geheimrat, du hast auch Schwein gehabt, wenn ich dem lieben Gott all das von deinem Rotspon erzählt hätte, und was du manchmal für lästerliche Reden geführt hast ...‹"

"Richtig, Horst-Heinz, sehr richtig!"

"Und alles ohne Standesunterschied und einfach per du, in so einer Art von Nachthemden und mit Gänseflüchten. - Ja, verzeih, Belinde, es sind nämlich Gänseflüchten. Es sollen ja wohl Schwanenflüchten sein, aber Schwan und Gans sind so ziemlich dasselbe ..."

"Ja, geh nur rauf, Horst-Heinz, und schreibe deinen wichtigen Geschäftsbrief. Ich weiß schon, du spottest bloß, und gar nicht mal über die Religion, sondern nur über mich. Aber das macht mir nichts, das

trage ich, das ist sogar besser. Denn wenn du über die Religion spottetest, wärest du verworfen für immer und ewig - aber wenn du über mich spottest, bist du bloß unhöflich. Und das darfst du ruhig sein, wir sind ja bereits zweiundvierzig Jahre miteinander verheiratet, da bin ich einen unhöflichen Ehemann schon gewöhnt!"

Damit rauschte die Gnädige kurz ab zum Betsaal, der alte Herr aber stand lachend auf dem Treppenabsatz und dachte: I du Donner, da habe ich es mal wieder! Und gründlich! Aber recht hat sie - und so will ich denn mal wirklich wieder zu einer von ihren Andachten gehen, morgen oder übermorgen. Es muntert sie doch ein bißchen auf, und man soll auch einmal etwas für seine Frau tun, selbst wenn man schon zweiundvierzig Jahre verheiratet ist. - Wenn sie bloß nicht immer den Hickauf kriegen würde, sobald sie gerührt ist! Es ist genauso, wie wenn einer beim Billardspielen kickst - ich kann das Kicksen nicht hören, und ich kann den Hickauf nicht hören - und warte doch immer darauf. - Na, nun will ich noch ein bißchen rechnen, ich bin überzeugt, mein Herr Schwiegersohn zahlt viel zuwenig für den elektrischen Strom ...

Damit stieg der Geheimrat hinauf in sein Arbeitszimmer und war drei Minuten später, von den Wolken einer Brasil eingehüllt, in seine streitbaren Rechnungen versunken, ein wohl alter, aber nicht umzubringender Rauschebart. Die Rechnungen waren aber darum so streitbar, weil er mit ihnen seinem Schwiegersohn zu Leibe wollte.

Der zahlte, wie für alles, auch für den elektrischen Strom dem Schwiegervater viel zuwenig, wie dieser fand; viel zuviel, wie er selbst fand. Neulohe war bei keiner Überlandzentrale angeschlossen, sondern erzeugte sich seinen Strom selber. Die stromerzeugende Maschine, ein hochmoderner Rohöl-Dieselmotor, stand mit den Akkumulatoren im Schloßkeller, und weil sie dort stand, war sie nicht dem Schwiegersohn, für den sie hauptsächlich arbeitete, verpachtet, sondern der alte Herr hatte sie für sich behalten, obwohl er nur "drei Funzeln in seinem Katen" brannte. Die Abmachung wegen des Strompreises war auch ganz einfach gewesen: jeder von beiden Teilen hatte seinen Anteil an den Kosten je nach dem Anteil am Verbrauch zu zahlen.

Aber auch die einfachste, die klarste Abmachung versagt dort, wo zwei sich nicht ausstehen können. Der alte Herr von Teschow fand, sein Schwiegersohn sei kein Landwirt, aber ein großer Herr von Habenichts, der auf Grund der schwiegerväterlichen Tasche gut leben wollte. Der Rittmeister von Prackwitz fand, daß sein Schwiegervater ein Neidhammel, ein Geizkragen und dazu ein gut Teil "plebejischer" sei, als er ertragen konnte. Der alte Herr sah sein Barvermögen unter der

Inflation dahinschwinden, und je wertloser das in vielen Jahren Angehäufte wurde, um so dringender schien ihm die Jagd nach neuem Gelde. Der Rittmeister merkte, wieviel schwieriger das Wirtschaften von Monat zu Monat wurde, spürte, wie ihm die zu Geld verwandelte Ernte unter den Händen zerrann, sorgte sich und fand es höchst filzig von dem alten Herrn, daß er ewig mit neuen Forderungen, Einwendungen, Mahnungen kam.

Im ganzen fand der Geheimrat von Teschow, daß sein Schwiegersohn viel zu gut lebte. "Warum raucht er nicht wie ich Zigarren, an denen man 'ne Stunde suckeln und nuckeln kann? Nee, das müssen Zigaretten sein, diese Sargnägel, von denen man nur braune Fingernägel kriegt und die in drei Minuten weggepafft sind. Er ist nach dem Kriege mit einem Offizierskoffer hier angerückt, und mehr als schmutzige Wäsche ist da auch nicht drin gewesen! Nee, Belinde, wenn einer seine Zigaretten bezahlt, so sind wir es - aber natürlich bezahlt er sie gar nicht, sondern kauft auf Rechnung."

"Alle jungen Leute rauchen heute Zigaretten", hatte Belinde bemerkt und ihren Mann mit dieser Bemerkung erst recht in Fahrt gebracht. Ehefrauen, überhaupt Eheleute haben für solche irritierenden Bemerkungen ein besonderes Geschick.

"Ich werde ihn lehren! So jung ist er doch nicht mehr!" hatte der Geheimrat schließlich, drohend und blaurot angelaufen, ausgerufen. "Der Herr Schwiegersohn soll noch einmal lernen, wie schwer Geld verdient wird!"

Und so saß denn der alte Herr an seinem Schreibtisch und rechnete, in der Absicht, schwer Geld zu verdienen. Er rechnete aber aus, was seine Lichtanlage kosten würde, wenn er sie heute, zum Dollarkurs von vierhundertvierzehntausend Mark, anschaffen würde. Und diese Anschaffungskosten verteilte er auf zehn Jahre.

Denn länger hält die Anlage bestimmt nicht - und wenn sie auch länger hält, in der Zeit will ich sie bestimmt abgeschrieben haben.

Es war ein ganz hübsches Sümmchen, was da nun auf dem Papier stand: auch wenn man jeden Monat nur mit einem Zwölftel belastete, war es noch immer eine gewaltige Zahl, mit sehr vielen Nullen.

Der wird morgen früh gucken, der Herr Schwiegersohn, sagte der Geheimrat bei sich, wenn er diese frohe Botschaft liest. Geld hat er natürlich nicht; das bißchen, was er noch hatte, wird er in Berlin gelassen haben. Aber ich werde ihm schon auf der Pelle sitzen, daß er rasch drischt; und das Druschgeld jage ich ihm dann ab, und er mag sehen, wie er durch den Winter kommt!

Es war eigentlich unbegreiflich, daß der alte Mann solchen Haß auf den Schwiegersohn hatte. Früher, als der Rittmeister noch Offizier gewesen war und in irgendwelchen weit abgelegenen Garnisonen gelebt hatte, und dann, als Krieg gewesen war, da hatten sich die beiden, wenn sie sich einmal sahen, eigentlich ganz gut vertragen. Der wirkliche Haß war erst aufgekommen bei dem alten Herrn, seit der Rittmeister hier in Neulohe als Pächter lebte, seit unter den Augen des alten Herrn sich das Prackwitzsche Familienleben abspielte ...

Der alte Herr war ja gar nicht so dumm und dickköpfig, er sah ganz gut, wie der Rittmeister sich plagte und sorgte. Sicher war der Schwiegersohn ein verabschiedeter Reiteroffizier und kein Landwirt, darum packte er vieles ungeschickt und auch falsch an. Sicher war er oft zu milde und manchmal zu hitzig. Sicher trug er englische Anzüge von einem sehr teuren Schneider in London, dem er immer sein Maß schickte, und Oberhemden, die von oben bis unten durchgeknöpft wurden("Ekelhaft weibisch" - obwohl nie ein Weib solch Oberhemd getragen hat), während der alte Geheimrat nur Lodenanzüge und Jägerhemden trug. Sicher - und so gab es noch zehn, noch zwanzig Einwendungen gegen den Rittmeister. Aber jede für sich und alle zusammen gaben noch keinen Grund für solchen Haß ab.

Der Geheimrat von Teschow ist fertig mit seiner Rechnerei; den Brief an den Schwiegersohn wird er nachher schreiben, jetzt greift er nach der "Oder-Zeitung". Doch er kommt nicht zum Lesen, er entdeckt, daß der Dollar nicht mehr auf vierhundertvierzehntausend, sondern auf siebenhundertsechzigtausend steht. Das müßte ihn eigentlich ärgern. Er hätte in die Zeitung sehen müssen, ehe er mit seiner Rechnerei anfing. Nun muß er alles noch einmal machen.

Aber es ärgert ihn nicht. Er macht sich gerne an die neue Rechnerei - muß der Herr Schwiegersohn um so mehr bezahlen!

Ich kriege ihn doch noch kaputt! denkt er flüchtig, und die Hand mit der Feder bleibt einen Augenblick stillstehen, als sei sie über den Gedanken erschrocken. Aber gleich schreibt sie weiter. Der Geheimrat hat nur mit den Schultern gezuckt. Das war ein dummer Gedanke, natürlich legt er es nicht im geringsten darauf an, den Herrn von Prackwitz zu ruinieren. Der soll nur bezahlen, was sich gehört. Mehr verlangt er gar nicht. Meinethalben kann er da drüben leben, wie er mag, in Seidenhemden und Büxen! denkt der Geheimrat grimmig und schreibt weiter.

Durch das alte Schloß klingen die klagenden und jetzt fast leichtfertig flötenden Töne des Harmoniums. Geheimrat von Teschow nickt und tritt

mit den Füßen den Takt - beschleunigend: Schneller, Belinde, schneller! Bei diesem Tempo müssen die Leute ja einschlafen.

"Er ist ja nicht nur der Rittmeister von Prackwitz - er ist doch auch der Mann unserer einzigen Tochter", hat Belinde neulich gesagt. Eben, eben; wie 'ne Frau so was sagen kann, als sei es die selbstverständlichste Sache von der Welt: der Mann der einzigen Tochter!

Wenn der alte Geheimrat durch das Dorf geht und er sieht irgendein Mädchen, so kräht er laut über die ganze Dorfstraße: "Na, was ist denn das für ein reizendes Kind?! - Na, komm doch mal rüber, meine kleine Süße, laß dich doch mal anschauen! Du bist ja ganz reizend, meine Kleine - Donnerschlag, was hast du für Augen!"

Und er tätschelt ihre Backen und faßt sie unters Kinn, alles öffentlich vor dem ganzen Dorf! Und öffentlich vor dem ganzen Dorf geht er mit ihr zum Kaufmann und kauft ihr eine Tafel Schokolade, oder er tritt mit ihr beim Gastwirt ein und läßt ihr einen Süßen geben. Und dann faßt er sie noch einmal um die Taille, recht sichtbar, und nun entläßt er sie und geht in die Forst, befriedigt bei sich schmunzelnd.

Aber er schmunzelt nicht wegen des Mädchens, das verlegen und doch geschmeichelt wirklich reizend ausgesehen hat - da läuft kein Mädchen mehr auf der grünen Erde, das ihm noch sein altes Blut erwärmen kann. Er schmunzelt, weil er ihnen allen wieder mal Sand in die Augen gestreut hat. Der Pastor Lehnich wird's hören, und er wird's der Belinde sachte beipulen, und Belinde, das arme Huhn, wird umherlaufen, als hätte sie ein Lineal geschluckt - und keiner, keine wird etwas ahnen!

Bis auf eine - der alte Herr weiß es wohl. Sie ahnt es, mehr noch, sie weiß es. Er sieht sie kaum noch, und nie unter vier Augen. Und - nach der ersten schlimmen Zeit, als dies ihn ganz unvermutet heimsuchte, - gibt er sich ja auch keine Mühe mehr, sie zu treffen. Nein, der Geheimrat weiß: Einen Greisen brennen keine hellen Feuer mehr. Ein stiller Funke, eilig huschend durch die zugedeckte Asche - das ist alles.

Aber wenn da so ein Rittmeister von Habenichts und Kannnichts, aber Willsehrviel kommt - so soll er sich gesagt sein lassen: Wir haben unsere Tochter nicht für dich aufgezogen! Der Ehemann der einzigen Tochter, jawohl, bitte schön - aber wieso eigentlich? Das ist ja ganz wunderbar ausgedacht - wir haben unsere Tochter erzogen, ein Mädchen wie keines, damit du dein Vergnügen hast?! Und nicht einmal das - man kommt ja nicht selten an der Villa vorbei, man hört es schon: du schreist Evchen an?! Nein, mein lieber Herr Schwiegersohn, das wollen wir dir zeigen, und nun macht es uns gar nichts aus, daß der Strompreis bei uns genau elfmal so hoch wird wie beim Kraftwerk Frankfurt - das sollst du trotzdem

blechen müssen, nein, gerade weil du der Mann unserer Tochter bist!

Der alte Mann malt seine Zahlen mit einer zornigen Entschlossenheit hin. Es ist ihm egal, daß es Krach geben wird, es kann gar nicht genug Krach geben! Er wird auch wieder in den Parkzaun ein Loch machen, daß die Gänse Belindes in die Wicken vom Schwiegersohn gehen können. Belinde beruhigt die Stürme um den Schwiegersohn noch immer. Aber wenn er ihren Gänsen etwas tut, wie er gedroht hat, wird sie die Stürme nicht mehr beruhigen!

Herr Geheimer Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow ist in Fahrt. Er ist nun gerade in der rechten Stimmung, den Brief an den Schwiegersohn zu schreiben. Natürlich, wie das zur Sache gehört: kühl, knapp, geschäftlich.(Man soll verwandtschaftliche Gefühle nicht in die Geschäfte mengen!)

Bedaure außerordentlich, aber die immer schwierigeren Verhältnisse auf dem Geldmarkt zwingen mich usw. usw. Anliegend Aufstellung. Mit bestem Gruß Ihr H.-H. von Teschow.

Punktum! Fertig! Abgelöscht! Den Brief kann der Elias morgen früh als erstes rübertragen! Dann findet ihn der Herr sofort bei seiner Rückkehr aus Berlin. Das wird ihm den Kater, den er bestimmt aus Berlin mitbringt, feste gegen den Strich streichen!

Herr von Teschow hebt schon die Hand, um nach Elias zu klingeln, als ihn die Harmoniumklänge von unten daran erinnern, daß die Andacht noch immer in Gang ist. Belinde macht es heute wieder einmal gründlich. Sicher hat sie ein räudiges Schaf in der Herde, das noch vor dem Schlafengehen der Buße zugeführt werden muß. Kann er den Elias also nicht rufen. Und er sähe den Brief doch schon so gerne unterwegs!

Übrigens weiß er natürlich, wer das räudige Schaf ist, Belinde hat es ihm erzählt: die Geflügelfee Amanda mit den rotlackierten Backen und der kleine Meier mit den Wulstlippen. Empfehlen sich als Verlobte. Na, die Verlobung haben sie wohl schon hinter sich. Und den halben Ehestand obendrein auch noch! Na, laß sie!

Der Geheimrat grient ein wenig, und dabei fällt ihm ein, daß es viel besser ist, dem Feldinspektor Meier den Brief zur Besorgung auszuhändigen. Das wird den Schwiegersohn am meisten ärgern. Denn der weiß ganz gut, daß sein Schwiegervater ganz gerne mal mit Meier einen kleinen Schnack hält. Und wenn er dann so einen Brief durch den kleinen Meier bekommt, denkt er natürlich, sein Schwiegervater hat mit Meier über den Inhalt des Briefes gesprochen. Ist aber natürlich viel zu fein, seinen Beamten nach so was zu fragen, und das wieder vermehrt noch den Ärger!

Der alte Herr steckt den Brief in die Joppentasche, nimmt Stock und Lodenhut und steigt langsam die Treppe hinunter. Die Abendandacht scheint endgültig vorüber zu sein, zwei von den Mädchen gehen an ihm vorbei die Treppe hoch. Sie sehen sehr amüsiert aus, gar nicht nach frommer Erbauung, sondern als könnte es bei der Andacht einen kleinen Zwischenfall gegeben haben. Von Teschow ist im Begriff, sich zu erkundigen, aber dann läßt er es lieber. Wenn Belinde ihn auf der Treppe sprechen hört, kommt sie womöglich dazu und fragt, wohin er noch will, und bietet ihm ihre Begleitung an - nee, lieber nicht.

Er tritt also allein hinaus in den Park, der schon ziemlich dunkel ist, gerade recht für sein Vorhaben. Er weiß natürlich genau, wo die Gänse seiner Frau immer ein Loch im Zaun suchen, er hat es ja erst vorgestern auf ihre Bitte hin zumachen lassen. Was man zumachen kann, kann man auch wieder aufmachen, denkt er und rüttelt bedächtig an den Latten. Er muß schließlich doch eine lockere finden, die er mit den Händen abreißen kann.

Während er so beschäftigt ist, hat er plötzlich das Gefühl, als sähe ihm jemand zu. Rasch dreht er sich um, und wirklich steht da neben dem Gebüsch so etwas wie ein menschlicher Schatten. Die kugligen großen Augen des alten Herrn sehen noch recht gut, selbst jetzt im Schummern - "Amanda!" ruft er.

Aber nichts antwortet, und wie er genauer hinsieht, ist es überhaupt kein menschlicher Schatten, sondern nur der Rhododendron und der Jasmin dahinter. Na, laß - und wenn sie's wirklich gewesen ist - ihr kann es gleich sein und ihr muß es gleich sein, er hat natürlich nur nachgesehen, ob die Latten festsitzen. Er verzichtet aber für diesen Abend auf das Lockern und macht sich auf den Weg zur Bude vom Negermeier.

Ins Beamtenhaus hinein geht er nun freilich lieber nicht - im Gegensatz zu seiner Frau hat der alte Geheimrat nicht die geringste Neigung, Dinge zu sehen, die wider die guten Sitten verstoßen. Er nimmt bloß den Stock und klopft gegen das offenstehende Fenster.

"He! Herr Meier - stecken Sie Ihre verehrte Birne mal durch die Gardinen!" ruft er.

6

Geflügelmamsell Amanda Backs hätte sich gerne, wie so manches Mal schon, von dem Besuch dieser Abendandacht gedrückt - wenn sonst aus den mehr allgemeinen Gründen der Langeweile und des

Wasanderesvorhabens, so diesmal, weil sie sich sehr genau denken konnte, wohin die Gnädige mit ihren Buß- und Betgedanken zielen würde. Aber die dicke Mamsell und die schwarze Minna ließen Amanda nicht aus den Augen.

"Komm, Manding, jetzt helfen wir dir schnell noch die Hühner durchzählen, und dann hilfst du uns die Pötte scheuern!"

"Ich versteh immer Bahnhof", sagte Amanda mit der beliebtesten Redensart der Zeit, und das meinte genau das gleiche, was ihre Mutter mit "Nachtigall, ich hör dir trapsen!" gemeint hatte.

Aber die beiden gingen einfach mit, todsicher hatte ihnen die Gnädige schon einen Vers vorgepfiffen.

"Immer dieselben!" schalt Amanda Backs die paar verspäteten Hühner, die eilfertig, unter aufgeregtem Gegacker, von der Wiese dem Hühnerhaus zustrebten. "Aber ich mach euch noch mal den Schlag vor der Nase zu, und dann könnt ihr sehen, wie euch der Fuchs gute Nacht sagt! - Und du solltest überhaupt nicht so dämlich tun, Minna! Was die Mamsell angeht, mit ihren netto zwei Zentnern, da wird es mit den Männern ja schon schwierig, und sie kann nichts dafür, wenn sie ewig dasteht wie ein Engel aus Waschseife! Aber du mit deinen sechs Rotzneesen, die mindestens zehn verschiedene Väter haben - -"

"Huch, Mandchen! Sei bloß nicht so gemein!" hatte die schwarze Minna protestiert. "Die gnädige Frau meint es doch wirklich so gut mit uns!"

"Ich versteh immer Bahnhof", hatte Amanda Backs wiederum gesagt und die Debatte abgebrochen. Denn mit der schwarzen Minna - daß die Gnädige ausgerechnet die ihr zur Aufpasserin bestellt hatte, das war nun wirklich zu lächerlich. Aber man wußte ja, wie kindisch sich die alte Gnädige mit diesem verzottelten, ältlichen Frauenzimmer hatte! Wenn wieder so ein Unfall passierte - und die Gnädige merkte es wirklich immer erst, wenn die Hebamme schon da war, obwohl es doch schon lange vorher bei dem dürren, knochigen Weibsbild für jedes Auge sichtbar war -, dann geriet die Gnädige in hellen Zorn und beschimpfte die schwarze Minna und verstieß sie für immer und ewig aus ihren Augen und aus dem Neuloher Armenkaten - als gänzlich unverbesserlich.

Dann schrie die schwarze Minna und spektakelte, aber sie lud auch weinend ihr bißchen Kram auf ein Handwägelchen - beileibe aber nicht alles, nur so viel, daß die Gnädige einen schönen Anblick hatte. Vor allem aber ihre sämtlichen Gören. Und so zog dann dieses Weib heulend und Gesangbuchlieder singend durch das Dorf. Und vorm Schloß hielt sie noch einmal an, drückte auf den messingnen Klingelknopf und bat den

Diener Elias unter vielen Tränen, er möge doch der lieben, guten gnädigen Frau ihre Segenswünsche sagen und ihren herzlichen Dank dazu! Und ob sie ihr nicht zum Abschied noch die Hand küssen dürfe -?

Der Elias, der dies Theater auch schon kannte, sagte dann immer nein. Da weinte die schwarze Minna noch bitterlicher und zog ab in die wilde, weite Welt, mit ihren vaterlosen Kindern - bis zum Prellstein an der Einfahrt zum Schloß. Da saß sie und weinte und wartete, und je nach dem Zorn, den die Gnädige auf sie hatte, mußte sie ein, zwei oder auch fünf Stunden warten, und manchmal sogar einen halben Tag.

Daß sie aber nicht umsonst warten würde, das wußte sie, und wenn sie's nicht aus Erfahrung gewußt hätte, dann sah sie's - nämlich an den Gardinen im Schloß. Denn die schob die alte Dame mit zitternden Händen hin und her und konnte es nicht lassen, auf ihr verirrtes Lieblingslamm zu schauen.

Wenn aber der Fall wieder einmal ganz schlimm lag, und Frau von Teschow wußte es vom Schulzen Haase über ihren Mann, daß dieses Mal bestimmt drei Männer in Frage kamen, und vielleicht waren es sogar fünf, nicht zu reden von denen, die die schwarze Minna aus "Sympathie" verheimlichte(denn die schwarze Minna unterschied bei ihrem Umgang genau zwischen "sympathischen" Männern und belanglosen Mitläufern) - dann verhärtete die Gnädige ihr weiches, weltunerfahrenes Herz und bedachte all dies Sodom und Gomorrha und erinnerte sich, wie oft die schwarze Minna ihr schon Besserung gelobt hatte.

Und sie ließ die Gardine aus ihrer Hand und sagte zu ihrer Freundin, dem alten Fräulein von Kuckhoff, die immer bei ihr lebte: "Nein, Jutta, diesmal lasse ich mich nicht wieder erweichen. Und ich will auch nicht mehr aus dem Fenster nach ihr sehen ..."

Und das alte Fräulein von Kuckhoff, mit dem schwarzen Samtband um den Hals, nickte energisch mit ihrem alten, kleinen Raubvogelkopf und sagte in ihrer blumigen, aber deutlichen Art: "Gewiß, Belinde - ein Kamel säuft schließlich auch einen Brunnen aus."

Ja, und dann verging sicher keine halbe Stunde, daß es sanft an die Tür klopfte und der alte Elias meldete: "Halten zu Gnaden, gnädige Frau, aber ich soll es ja melden: Jetzt macht sie sich frei."

Und richtig, wenn dann die beiden Damen jede an ein Fenster stürzten, da saß dann diese arme, heimatlose Person auf dem Prellstein, hatte die Bluse aufgeknöpft und nährte ihre jüngste Sündenfrucht.

Dann sagte die Gnädige seufzend: "Ich glaube, Jutta, wir können dies neue Ärgernis nicht verantworten."

Und Jutta erwiderte dunkel: "Es sind die schlechtesten Früchte nicht, an denen solche Wespen nagen!", was Frau von Teschow aber als eine Billigung ihrer Absichten auffaßte.

"Nein, Elias, ich gehe selbst", sagte sie eilig, denn wenn Elias auch schon hoch in den Sechzigern hielt, ob er einem solchen Anblick gewachsen war, blieb ungewiß. So ging die alte Frau von Teschow persönlich zu der Sünderin hinunter, die eilig die Bluse schloß, wenn sie nur die Gnädige aus dem Schloß treten sah. Denn vielleicht merkte die es doch, daß dies Nähren bloß Theater war; die schwarze Minna konnte nämlich gar nicht nähren und hatte alle ihre Kinder mit der Flasche aufgezogen. Das aber brauchte die Gnädige nicht zu wissen.

So zogen denn die beiden wieder in den Arme-Leute-Katen ein, und die alte Frau ging neben der lächerlichen Fuhre einher und kam gar nicht auf den Gedanken, daß die Leute über sie spotten oder lachen könnten. Sondern sie erweichte ihr Herz und machte es demütig und erinnerte sich daran, wie auch sie einmal fast der Versuchung unterlegen wäre, als der schneidige Leutnant von Pritzwitz ihr hinter der Tür vor nun über vierzig Jahren hatte einen Kuß geben wollen - und sie war damals doch schon mit Horst-Heinz so gut wie verlobt gewesen!

Und wenn sie dann mit der schwarzen Minna über die Türschwelle des Leutekatens trat, war sie soweit, alles zu verstehen und alles zu verzeihen, und wenn sie auch nicht dumm genug war, die Tränen der Sünderin völlig für bare Münze zu nehmen, so dachte sie doch in ihrem Herzen: Ein ganz klein bißchen ehrlich meint sie es ja doch, und ein ganz klein bißchen leid tut es ihr doch - und was weiß ich, wieviel Reue Gott von uns verlangt!

So dachte die alte Frau von Teschow, und so handelte sie - und selbst Amanda Backs hätte das ja ganz nett und freundlich finden können, wenn das gute Herz der gnädigen Frau nur allen Sündern so liebreich verzeihend geneigt gewesen wäre. Aber der Menschen Herzen sind alle wunderlich - und warum sollte da das Herz der alten Frau anders sein? Was sie einem durchtriebenen Frauenzimmer wie der schwarzen Minna zehnmal verzieh, das wollte sie einem jungen Mädchen nicht einmal nachsehen.

Und der Amanda Backs schon gar nicht! Denn die war frech und schamlos in ihren Worten; alle Männer lachte sie vergnügt an; trug Röcke, so kurz, daß es schon keine Röcke mehr waren; weinte nie über ihre Fehler; bereute nie und sang nie ein frommes Lied, aber sehr laut schreckliche Schlager wie: "Was machst du mit dem Knie, lieber Hans -?" und "Was eine Frau im Frühling träumt ..."

Nein, die Amanda wußte wohl, was ihr in der heutigen Abendandacht bevorstand! Daß ihr aber grade die schwarze Minna als Aufsicht beigegeben war, das empörte sie besonders, und sie erwog einen Augenblick ernstlich, die beiden in den Hühnerstall einzusperren und sich zum Hänseken zu verdrücken - es wäre ein herrlicher Witz gewesen!

Aber so vorlaut und frech die Amanda auch mit ihrem Mundwerk war, so überlegt und besonnen war sie schließlich in ihren Taten - was eine Geflügelmamsell ja überhaupt sein muß. Denn Geflügel ist das schwierigste Viehzeug von der Welt, zehnmal schwieriger als ein Zirkus voller wilder Tiere, und pariert nur einer besonnenen Natur. Ja, aus dem Fenster Meiers gestern abend, da hatte Amanda in der Rage groß angegeben und hatte der Gnädigen mit Fortzug drohen können - aber am Ende hatte sie doch(der Menschen Herzen sind alle wunderlich) ihr kleines, wulstlippiges Hänseken aufrichtig lieb, und der Garten Eden selbst wäre ihr öde erschienen ohne ihren Negermeier.

So schlug sie die Tür vom Hühnerstall nicht zu - sie jagte nur die beiden ungeflügelten Hühner hinaus und brachte mit Putt und Schnutt ihr Volk zur Ruhe und zählte die Häupter und fand, daß ihr nicht eines abging. Dann sagte sie ganz unmißverständlich: "So, ihr Hühner, und nun, wo ihr mir so mächtig geholfen habt, will ich euch auch eure Pötte schrubben."

"Gott, Mandchen", stöhnte die dicke Mamsell und krachte mit ihrem Fischbeinkorsett, "wenn man nicht wüßte, daß du bloß Spaß machst ..."

"Und woher weißt du denn das?!" fragte Amanda Backs sehr kriegerisch, und kriegerisch ging sie zwischen den beiden Verstummten, kriegerisch wippte sie in ihrem kurzen Röckchen.

Denn sie war blutjung, und die bitteren Jahre ihrer Kindheit hatten ihr nichts von dem Lebensappetit und der Frische ihrer Jugend rauben können, und Jungsein machte ihr Spaß, und Krieg machte ihr Spaß, und Liebe machte ihr Spaß - und wenn die Gnädige sich einbildete, sie könnte ihr mit Singen und Beten diesen Spaß austreiben - so hatte da ein Uhl gesessen!

Solche Gedanken wie die Amandas mögen ganz gut über das Schrubben auch des verrußtesten Topfes hinweghelfen, für eine Abendandacht im Neuloher Schloß waren sie nicht richtig. Da saßen sie nun schon eine ganze Weile, die gewohnte Schar, eine recht stattliche Schar. Denn die Gnädige hielt nicht nur darauf, daß alle, die bei ihr in Lohn und Brot standen, mit Kind und Kegel zu diesen Andachten kamen, sondern auch jeder aus dem Dorf, der im Winter mal ein paar Meter Holz umsonst haben, der im Sommer in der Teschowschen Forst Beeren und

Pilze sammeln wollte, mußte sich an manchem Abend das Anrecht darauf ersitzen. Der alte Pastor Lehnich hatte am Sonntag oft nicht so viel Pfarrkinder in der Kirche wie die gnädige Frau Abend für Abend in ihrem Betsaal.

"Und du, Amanda?" hatte Frau von Teschow gefragt, und Amanda war aus ihren sündigen Gedanken hochgefahren, hatte um sich gestarrt und von nichts was gewußt. Die Gänschen auf der hinteren Bank, die Vierzehn-, Fünfzehnjährigen, die über alles lachten, hatten natürlich gleich zu gniggern angefangen. Die Gnädige aber hatte ganz milde noch einmal gefragt: "Und dein Vers, Amanda?"

Ach ja, sie machten "Reihum-Singen"! Dabei hatte jeder einen Vers aus dem Gesangbuch zu nennen, den sie dann alle gemeinsam sangen. Das ging oft wild durcheinander mit Abendliedern, Sterbeliedern, Lobliedern, Buß- und Kreuzliedern, Jesusliedern und Taufliedern. Es machte aber allen meistens Spaß und brachte Fahrt in die verschlafene Abendlangeweile. Selbst die gnädige Frau bekam rote Bäckchen an ihrem Harmonium, so rasch mußte sie in ihrem Notenbuch umblättern und so flink von einer Melodie in die andere springen.

"Befiehl du deine Wege "..., rief Amanda rasch, ehe noch aus dem Gniggern ein Lachen wurde.

Die gnädige Frau nickte: "Ja, das solltest du tun, Amanda!"

Amanda aber biß sich auf die Lippen, daß sie grade so einen Liedanfang genannt und es der Gnädigen so leicht gemacht hatte. Sie war ein bißchen rot, als sie sich setzte.

Aber es gab wenigstens keine Pause, denn dieses Lied kannte Frau von Teschow aus dem Kopf. Gleich setzte das Harmonium ein, und gleich sangen alle. Und nun kam die schwarze Minna neben Amanda dran, und die Scheinheilige wählte natürlich wieder: "Aus tiefer Not schrei ich zu dir ..."

Und schon sangen sie wieder.

Amanda Backs aber erlaubte sich nun keine Träume mehr, sondern sie saß aufrecht da und wachsam, denn sie wollte sich nicht noch einmal auslachen lassen. Eine ganze Weile geschah gar nichts. Es wurde immer weiter gesungen - zuletzt ohne jeden Schwung, weil es den Leuten langweilig wurde und weil auch die müde Gnädige auf dem Harmonium immer häufiger danebengriff und aus dem Takt geriet. Dann fing das Harmonium an, seltsam zu pfeifen, zu flöten und zu ächzen, die Gänschen auf der hinteren Bank gniggerten wieder, und Frau von Teschow wurde rot, bis sie ihr Instrument von neuem an die Kandare

genommen hatte.

Sie wird müde, dachte Amanda. Viel ist sie ja überhaupt nicht mehr. Vielleicht ist ihr jetzt schon die Lust vergangen, ein langes Gequatsche um die Geschichte zu machen, und ich komme rasch zu meinem Hänseken!

Aber davon hatte Amanda Backs keine Ahnung, wie warm eine alte Frau die Sünden der andern machen können, wie sie wieder aufleben kann unter den Fehltritten ihrer Schwestern. Einen Augenblick lang sah es freilich so aus, als wollte die gnädige Frau Schluß machen. Aber dann besann sie sich. Sie trat vor ihre kleine Gemeinde, räusperte sich und sagte ein bißchen eilig und ein bißchen verlegen: "Ja, liebe Kinder, nun könnten wir wohl unser Schlußgebet sprechen und jedes von uns ruhig nach Haus und schlafen gehen, in dem guten Bewußtsein, daß wir unsern Tag recht beschlossen haben. Aber haben wir das wirklich -?"

Die kleine alte Frau sah von einem Gesicht zum andern, ihre Verlegenheit war schon wieder verflogen. Sie hatte auch schon die Regungen ihres bösen Gewissens unterdrückt, das ihr sagte, sie habe etwas vor, was ihr streng untersagt worden war.

"Ja, haben wir das wirklich -? Wenn wir nach Neulohe sehen, und nun gar nach Altlohe, wo sie womöglich noch in der Schenke sitzen, da können wir wohl mit uns zufrieden sein. Aber wenn wir in uns schauen, wie steht es dann mit uns -? Wir Menschen sind schwach, und jeder von uns sündigt jeden Tag. Da ist es gut, wir bekennen es immer wieder einmal öffentlich und sagen vor unsern versammelten Mitchristen, was wir gesündigt haben. Nur die Sünden von einem Tag - und ich selbst will den Anfang machen ..."

Damit kniete die alte Frau von Teschow schnell hin, und schon bereitete sie sich mit stillem Beten auf ihr lautes Sündenbekenntnis vor. Durch ihre Schäflein aber ging eine kaum unterdrückte Bewegung, denn es war nicht eines darunter, das nicht wußte, Herr Pastor Lehnich und sogar der Herr Superintendent in Frankfurt hatten der gnädigen Frau das öffentliche Sündenbekennen streng untersagt. Denn es sei ganz wider Christi und Lutheri Geist und rieche nach Heilsarmee, Baptistentum und vor allem nach der verwerflichen Ohrenbeichte der katholischen Kirche!

Wenn aber keiner von den Versammelten aufstand und zum Protest hinausging - und das alte Fräulein von Kuckhoff oder der Diener Elias waren die Leute, das ungescheut zu tun -, so war es eben doch, weil einer wie der andere gespannt war, zu hören, was kommen würde. Denn es ist ja wirklich kaum einer, der ganz ohne Prickeln von den Sünden der andern hört. Jeder hoffte, ihn werde es nicht treffen hinter der gnädigen

Frau, und jeder überschlug schnell bei sich die Sünden der letzten Zeit, heimliche und an den Tag geratene, und meinte, so schlimm werde es mit ihm wohl nicht werden.

Die eine aber, die wußte, sie werde bestimmt unter den zweien oder dreien sein, die nachher von der Frau von Teschow aufgerufen wurden, und die wußte, diese ganze Übertretung pastörlicher und superintendentlicher Verbote geschah nur um ihretwillen - die eine saß steif und starr da und ließ es sich nicht anmerken. Unmutig und ärgerlich hörte sie auf das Gestammel der alten Frau, die sehr aufgeregt sein mußte, denn sie warf alles durcheinander, und immer wieder fuhr ihr der Hickauf in der Kehle hoch, daß alles ohne die große Spannung gelacht haben würde. Sie zählte aber als ihre Sünden auf, daß sie den schlechten Roman in der Zeitung doch wieder gelesen habe - Hickup! - und daß sie ungeduldig gegen ihren lieben Mann - Hickup! - gewesen sei und ihn "unhöflich" genannt habe - Hickup! Hickup! - und daß sie doch wieder Margarine unter die Butter für die Dienstboten habe kneten lassen ... Hickup!

Amanda Backs hörte sich das an und zog einen ungeduldigen, ärgerlichen, abweisenden Flunsch. Da saßen die Leute und hörten auf dies alberne Gestammel, zehnmal gespannter als sie auf Gottes Wort gehört hatten, und es war doch alles nur Lüge! Das Richtige sagte die gnädige Frau auch nicht, so fromm sie tat. Das mit der Margarine hatten sie alle geschmeckt, das mußte ihnen nicht erst erzählt werden. Das mit dem Roman war Quatsch, und wie oft sie sich mit "ihrem lieben Mann" zankte, das wußte jedes hier im Hause. Alles Augenverblendung und Hudelei! Sie sollte mal lieber öffentlich gestehen, daß sie dies ganze Theater nur darum angestellt hatte, um ihr, der Amanda Backs, eins auszuwischen - das wäre eine richtige Sündenbeichte gewesen! Aber daran dachte sie gar nicht!

Trotzdem - die Mamsell hatte vor Aufregung wirklich knallrote Backen bekommen und schnaufte aus ihrer dicken Brust wie ein Dampfkessel, und das Fischbein krachte um sie. Und Minna hatte dumm und düsig das Maul so weit aufgesperrt, als erwarte sie gebratene Hühner!

Auch Amanda Backs bekam rote Backen, aber nicht vor Aufregung und Scham, sondern vor Trotz und Zorn. Jetzt fing die gnädige Frau in ihrer Schamlosigkeit wirklich an, von dem gestrigen Abend zu reden, daß sie ein Mädchen überrascht habe - ach, leider ein Mädchen aus diesem Hause! -, daß sie es überrascht habe, wie es im Dunkeln zu einem Manne ins Zimmer stieg -!(Hickup!)

Es ging ein förmlicher Ruck durch die ganze Versammlung, und

Amanda sah, wie die Gesichter dumm und starr wurden vor lauter Staunen und Erwartung: jetzt kommt es! Aber es kam noch nicht, sondern nun klagte sich die gnädige Frau, unterbrochen von manchem Schlucker, an, daß sie den Zorn über sich habe Herr werden lassen und das Mädchen hitzig gescholten und ihm mit Entlassung gedroht habe, statt zu bedenken, daß wir allzumal Sünder sind und daß auch dieses irrende Schaf mit Geduld in des Hirten Stall geführt werden müsse. Reuig bekannte sie, daß sie ihre Pflicht versäumt habe, denn dies junge Mädchen sei ihrer Obhut anvertraut gewesen, und sie bat, daß ER sie stärken möge mit Langmut und Geduld im Kampf gegen das Böse ...

Völlig verächtlich und sehr zornig hörte sich Amanda dies Gerede an, und wenn sie erst einen Entschluß gefaßt hatte, so faßte sie jetzt einen andern. Und kaum hatte Frau von Teschow das letzte Amen gesagt und war aufgestanden und hatte noch nicht einmal die Zeit gehabt, mit Wort und Finger den nächsten zu bezeichnen, der auf dem Buß- und Betbänkchen niederknien sollte - da erhob sich schon Amanda mit hochroten Backen, aber mit Augen, die ganz dunkel waren vor Zorn, und sie sagte, die gnädige Frau brauche sich nicht zu bemühen, sie wisse schon, wer mit all diesem Gerede gemeint sei, und da stehe sie nun also und ob die gnädige Frau nun zufrieden sei -?!!

Nach diesen Worten aber fuhr die Amanda Backs herum wie eine wahre Furie und giftete die schwarze Minna an, die mit ihren Händen am Rücken der Amanda schob und drückte, daß sie auch richtig nach vorn vor die Gemeinde trete: "Willst du wohl deine Dreckpfoten von meinem sauberen Kleide nehmen!? Ich lasse mich nicht nach vorn schieben - und von dir schon gar nicht! Und mit dem lieben Gott und mit Reue und Buße hat dies Theater schon gar nichts zu tun!"

Mit diesem zornigen Anpfiff hatte Amanda ihre Gegnerin, die schwarze Minna, klein, und jetzt wandte sie sich wieder an die Versammlung und sagte(denn nun war sie in Fahrt): Jawohl, sie sei die, die gestern abend in ein Fenster geklettert sei, und damit sie auch alles haarklein wüßten - es sei das Fenster im Beamtenhaus gewesen, das vom Inspektor Meier! Und sie schäme sich deswegen gar nicht, und sie könne auf mindestens zehn hier in der Versammlung zeigen, die in noch ganz andere Fenster stiegen, zu noch ganz andern Kerlen -!!!

Und damit hob sie den Finger und fuhr mit ihm auf die schwarze Minna zu, die sich kreischend auf ihrer Bank niederduckte. Und Amanda hob wiederum den Finger, aber ehe sie noch damit gezeigt hatte, stürzte die Bank hinten in der dunklen Ecke um, auf der die Gänseken saßen, die es alle übermäßig eilig mit dem Sichverstecken und Unterducken hatten.

Da fing Amanda Backs an zu lachen(und leider, leider lachte ein ganz Teil Leute mit), aber unversehens wurde bei ihr ein Weinen aus dem Lachen. Wütend rief sie: "Einen anständigen Lohn sollten Sie lieber zahlen!"

Und damit rannte sie haltlos weinend aus dem Saal in den dunklen Park. -

Im Saal aber war nicht nur die Bank umgestürzt, sondern der alten gnädigen Frau war auch viel eingestürzt. Zitternd und erbärmlich schluchzend saß sie in ihrem Sessel, und diesmal stand sogar ihre alte Freundin Jutta von Kuckhoff erbarmungslos vor ihr und sagte streng: "Siehst du, Belinde, wer Pech anfaßt, besudelt sich!"

Die Leute aber machten, daß sie aus dem Betsaal kamen. Jetzt sahen sie freilich sehr still und fast betreten aus, aber es war leider kein Zweifel, daß sie bis in ihr Daheim die Sprache wiederfinden würden. Über wen es dann aber hergehen würde, das konnte auch nicht zweifelhaft sein - die Amanda Backs war es sicher nicht, denn die war als Siegerin aus dem Gefecht hervorgegangen!

Sie freilich, die jetzt noch sehr aufgeregt und verheult im Park herumlief, fühlte sich gar nicht so, und sie schimpfte sich Esel und doofe Nuß, daß sie die eigene und Hänsekens Sache so schlimm verfahren hatte. Einmal blieb sie stehen, weil sie etwas am Zaun fuhrwerken sah, und das war der alte Geheimrat. Sie wollte sich schon ein Herz fassen und ihn um Gnade bitten, aber die Erfahrungen ihres jungen Lebens warnten sie, irgend etwas von irgend jemand zu erbitten.

So lief sie weiter durch den Park, und allmählich wurde sie ruhiger. Sie wusch sich am Teich das Gesicht im kühlen Wasser und ging zu ihrem Hänseken. Sie kam aber grade, als der Geheimrat an das Fenster klopfte und nach dem Inspektor Meier rief. Und hörte, wie drinnen beim Hänseken eine Frau erschreckt aufkreischte.

7

Draußen schwindet das letzte abendliche Dämmerlicht rasch in Dunkelheit hinüber. Es ist neun Uhr vorbei. Schon brennen auf den Straßen die Laternen. Die längst verwitwete Frau Pagel steht am Fenster von Wolfgangs Zimmer. Sie sieht hinaus in die Gärten, die nun schon fast dunkel sind. Aber hinten flammt und blinkt es, ein rötlicher Schein liegt über der Stadt - bedenkt sie, unter welcher Lampe der Sohn jetzt sitzen, das geraubte Geld vertun mag?

Sie wendet sich in das Zimmer hinein, wo im Lichtschein das Mädchen

Minna einen Koffer packt, und sagt ungeduldig: "Machen Sie doch zu, Minna! Er kann jeden Augenblick nach den Sachen kommen!"

Das Mädchen Minna sieht nicht auf von den Säckchen, in die sie die sorgfältig aufgeblockten Schuhe schiebt. "Er kommt doch nicht, gnä' Frau", sagt sie.

Frau Pagel wird ärgerlich - Minnas Antwort klingt ja fast so, als müsse ihr ein sehnlichst erwarteter Besuch ausgeredet werden! Sie sagt kurz: "Sie wissen ganz gut, was ich meine, Minna. Dann schickt er eben jemanden wegen der Sachen!"

Minna packt weiter, sehr geruhig, ohne alle Hast. "Den Schrankkoffer hätten gnä' Frau auch nicht gerade zu geben brauchen. Wenn nun gnädige Frau im Frühjahr nach Ems fahren, haben Sie keinen anständigen Koffer!"

"Dumme Person!" sagt die gnädige Frau bloß und sieht aus dem Fenster. - Man kann zwar - wegen der dichten Baumkronen - die Straße nicht sehen, aber man hört in der tiefen Stille hier jeden Schritt, jedes anfahrende Auto.

"Soll der Bademantel auch rein, gnä' Frau?" fragt die Minna.

"Wie -?!" fragt Frau Pagel. "Ach so, der Bademantel. - Natürlich. Alles, was ihm gehört, wird eingepackt."

Minna macht ein mucksches Gesicht. "Dann muß ich aber noch auf den Boden", sagt sie, "und die Bücherkisten holen. Ich weiß nicht, ob der Hausmann noch auf ist. Allein schaffe ich die Kisten nicht."

"Die Bücher haben Zeit", sagt die alte Frau, ärgerlich über diese ständigen Schwierigkeiten. "Sie können ihn ja fragen, ob er sie haben will, wenn er kommt."

"Er kommt doch nicht, gnä' Frau", sagt das alte Mädchen Minna eintönig, aber rechthaberisch.

Diesmal hat Frau Pagel nicht hingehört, diesmal braucht sie sich nicht über die Dickköpfigkeit des Mädchens zu ärgern. Sie lauscht auf die Straße, halb lehnt sie aus dem Fenster, sie horcht, sie lauscht ... ein Schritt ...

Das Mädchen, wenn es ihr auch den Rücken kehrt, hat gespürt, daß etwas vorgeht. Sie hält inne im Packen, einen Badeanzug in der Hand, wendet sie sich um, sieht die lauschende Gestalt, sagt bittend: "Gnädige Frau -!"

"Wolfgang -?!" ruft die aus dem Fenster. Zweifelnd erst, dann sicher. "Wolfgang! Ja, warte, Junge! Ich komme schon! Ich schließe dir gleich auf!"

Und sie fährt herum, ihr Gesicht ist gerötet, die Augen unter den weißen Haaren leuchten und flammen wie eh und je.

"Los doch, Minna! Die Schlüssel! Der junge Herr wartet unten! Lauf!"

Und ohne auf Minnas beschwörende Worte zu achten, läuft sie ihr voraus auf den dunklen Flur. Sie schaltet das Licht ein, greift aufs Geratewohl irgendwelche Schlüssel vom Brett neben der Spiegelkonsole und rennt, gefolgt von Minna, die Treppe hinunter.

An der Haustür probiert sie. Die Schlüssel wollen nicht passen. Fieberhaft ruft sie: "Rasch doch, Minna! Nur schnell - vielleicht überlegt er es sich wieder - er war immer schwach!"

Die stumm gewordene Minna drückt auf die Klinke, die Haustür, die nicht abgeschlossen war, öffnet sich. Frau Pagel läuft durch den schmalen Vorgarten, sie stößt das Eisentürchen zur Straße auf. "Wolfgang! Junge! Wo bist du denn?!"

Der einsame Nachtwanderer, ein Sonderling, der statt nach Bars und Betrieb sich nach frischer Luft und dem Geruch von grünem Gewächs gesehnt hat, fährt überrascht zusammen. Er sieht eine alte, weißhaarige, sehr erregte Dame vor sich im Flackerschein der einsamen Gaslaterne, dahinter ein ältliches Mädchen, einen Badeanzug in der Hand. Er fragt töricht: "Wie bitte?!"

Die alte Dame macht so plötzlich halt und kehrt, daß sie fast gefallen wäre. Das ältliche Mädchen mit dem Badeanzug wirft ihm einen ärgerlichen Blick zu und geht hinterdrein. Jetzt faßt sie die alte Dame unter den Arm, gemeinsam verschwinden die beiden in dem nahen Haus.

Schließen nicht ab, stellt der einsame Spaziergänger bei sich fest. Verdrehte Hühner, einen so zu erschrecken!

Er sucht sich eine noch stillere Straße für seine Erfrischung.

Die beiden alten Frauen steigen langsam, ohne ein Wort, die Treppen hinauf. Minna fühlt, daß die Hand der gnädigen Frau auf ihrem Arm wie im Krampfe zittert. Sie merkt, wie schwer der Gnädigen das Treppensteigen wird. Die Etagentür steht offen, der Vorplatz ist hell erleuchtet. Sie gehen in die Wohnung, Minna macht die Tür zu. Sie ist nicht ganz sicher, wohin die gnädige Frau gehen möchte, ob in das Zimmer des jungen Herrn oder in ihr eigenes Zimmer. Besser wäre es, wenn die Gnädige sich nach all den Aufregungen hinlegte. Aber Minna, die sture, dickköpfige Minna, hat in ihrem Leben eines gelernt, was die meisten Frauen nie lernen, nämlich, daß Reden seine Zeit hat und Schweigen seine Zeit. Jetzt ist die Zeit des Schweigens.

Sie geht sachte mit der gnädigen Frau den Flur entlang, und ein leises Ziehen am Arm verrät ihr, daß die Gnädige wieder in das Zimmer des jungen Herrn möchte. Als die beiden eintreten, steht vor ihnen der Schrankkoffer, weit aufgesperrt. Eine Lade ist herausgezogen, obenauf in ihr liegt der blauweiß gestreifte Bademantel des jungen Herrn.

Frau Pagel bleibt bei diesem Anblick stehen. Sie räuspert sich und sagt dann trocken: "Nimm den Bademantel raus, Minna!"

Minna tut es, sie legt den Bademantel auf das Sofa.

"Nimm alles raus!" sagt Frau Pagel noch böser. "Du mußt noch mal mit Packen anfangen, Minna. Ich kann den Schrankkoffer keinesfalls entbehren."

Wortlos macht Minna sich an das Auspacken. Die gnädige Frau steht dabei, mit einem strengen, harten Gesicht. Sie beaufsichtigt Minna. Vielleicht wartet sie sehnsüchtig auf einen zögernden Griff, auf die geringste Andeutung von Stellungnahme. Aber Minnas hölzernes Gesicht bleibt ausdruckslos, ihre Griffe nach Wäsche und Kleidern sind nicht zu rasch und nicht zu langsam.

Plötzlich dreht sich Frau Pagel um.

Sie möchte noch rasch durch die Tür in ihr dunkles Zimmer flüchten. Aber sie kommt nicht mehr so weit. Die stürzenden Tränen verschleiern ihr den Blick, haltlos weinend lehnt sie im Türrahmen.

"Ach, Minna, Minna", flüstert sie schluchzend. "Soll ich denn nun auch ihn verlieren, das letzte, was ich noch liebe -?"

Aber das alte Mädchen, das ein ganzes Leben lang, in der Küche, in der Dienstbotenkammer, nur für die gnädige Frau gedacht und gearbeitet hat, das immer geholt und das immer wieder weggeschickt worden ist, ganz wie ihrer Herrin zumute war, und das auch in dieser Stunde wieder vergessen ist - aber das alte Mädchen faßt beschwörend die Hand der Herrin. Es flüstert eindringlich: "Er kommt ja wieder, gnä' Frau. Bestimmt! Wolfi kommt doch wieder!"

8

Sophie Kowalewski, die ehemalige Zofe der Gräfin Mutzbauer, hatte den Abend im Christlichen Hospiz recht angenehm verbracht. Zuerst, bis es Zeit zum Abendessen war, hatte sie in ihren Sachen gekramt - es war doch ein schönes Gefühl, einmal als endgültige Besitzerin all das zu mustern, was sie ihrer Herrin entführt hatte. Das war nicht wenig - Sophie konnte von sich sagen, daß sie nicht nur reich, sondern auch

kostbar ausgestattet war. Neulohe würde vor Neid platzen, wenn es dies alles zu sehen bekäme.

Von selbst wurde aus dem Mustern ein Umkleiden. Sie mußte ja etwas Passendes für das Abendessen in diesem Hospiz anziehen. Mit der instinktiven Anpassung für ihre Umgebung, die Sophies Stärke war, wählte sie ein blaues Kostüm. Dazu zog sie eine gelbliche, rohseidene Bluse an. Der Rock war vielleicht für wirklich fromme Leute ein bißchen zu kurz, aber das ließ sich nicht ändern. Sophie besaß keine längeren Röcke, aber sie nahm sich fest vor, nicht die Beine überzuschlagen. Den zu tiefen Ausschnitt der Bluse korrigierte sie mit einem leichten bunten Seidentüchlein.

Nur ein ganz klein wenig Lippenstift, nur eine Andeutung von Rot auf die Backen -: Sophie war fertig und stieg in den Speisesaal hinunter. Die Sprüche an den Wänden, teils gebranntes Holz, teils bemalte Pappe, entzückten sie. Auf den Tischen mit den häßlichen, aber verschwenderisch gedrechselten Beinen lagen Tischtücher aus grauem, gewaffeltem Papier. Wo das Tischtuch einen Flecken bekommen hatte, war wieder eine Papierserviette darübergelegt. Das war sparsam, praktisch und, wie sich das gehörte, als Drittes im Bunde, grundhäßlich - fand Sophie.

Die Suppe war dünn und entstammte einem Würfel, an den Schoten war dafür das Mehl nicht gespart, das Schweinskotelett war klein, und das Fett roch. Sophie, die verwöhnte Sophie, aß diesen Fraß mit innigem Vergnügen. Es machte ihr Spaß, bei den Frommen zu Gaste zu sein. So lebten die also, solche Entbehrungen legten sie einander auf, bloß, um das Irdische zu verachten und mit dem lieben Gott gut zu stehen, den es doch gar nicht gab!

Mit besonderem Interesse musterte Sophie aber die bedienenden Saaltöchter. Sie suchte dahinterzukommen, ob das gebesserte gefallene Mädchen waren und ob ihnen ihre jetzige Tätigkeit gefiel. Wenn sie einmal gefallen waren, entschied Sophie, so mußte es sehr lange her sein, so ältlich waren sie. Und verdrießlich sahen sie eigentlich alle aus: dies konnte - entgegen dem Spruch über der Anrichte - keine sehr fette grüne Aue sein.

Als Sophie gegessen hatte, war es halb neun: unmöglich, jetzt schon ins Bett zu gehen. Eine Weile stand sie unentschlossen an dem Fenster des Speisesaals und sah auf die regenfeuchte Wilhelmstraße hinaus. Sie war immer nur im Westen ausgegangen, vielleicht konnte man sich einmal die Lokale im Zentrum ansehen? Aber nein! - Sie war entschlossen, heute zeitig ins Bett zu gehen und überhaupt ihren ganzen

Urlaub hindurch höchst solide zu sein. - Ausgehen kam heute abend unter keinen Umständen in Frage.

Gottlob entdeckte sie eine Tür mit der Aufschrift "Schreibzimmer" und wußte nun, wie sie ihren Abend verbringen würde. Sie mußte ihrem Freund Hans doch mitteilen, daß seine Schwester ihn bald besuchen würde.

In dem sehr kahlen, dürftig beleuchteten Schreibzimmer saß nur ein mit einem langen, schwarzen Schoßrock bekleideter, weißhaariger Herr - bestimmt ein Pastor. Bei ihrem Eintritt fuhr er verwirrt aus seiner Zeitung hoch, oder von seinem Schläfchen über der Zeitung, und stammelte etwas. Entschieden war er verlegen, wahrscheinlich war er sich im Zweifel, ob er allein mit einem so nett gekleideten Mädchen in einem Zimmer sein dürfe.

Während Sophie mit einem töchterlichen Lächeln - sie hielt es wenigstens dafür - an ihm vorbeiglitt und den Drehstuhl vor dem Schreibtisch erkletterte, dachte sie bei sich, daß dieser alte Sprüchemacher recht weich aussah. Pastor Lehnich in Neulohe war von härterem Schlage. Sie hatte eine genaue Erinnerung daran, wie fest der zuhauen konnte, wenn man seine Gesangbuchverse nicht gelernt hatte, oder mehr noch, wenn man mit "Jungens" abgefaßt worden war.

Weder Weichheit noch Alter, noch Frömmigkeit schienen aber den weißhaarigen Herrn dort zu hindern, alle naselang von der Zeitung hoch und nach ihren Beinen zu schielen. Sophie zog ärgerlich den Rock so weit herunter, wie es nur irgend ging - etwa bis zum Knie. Sie fand es unrecht von einem Pastor. Sonst machte es ihr immer Spaß, wenn die Herren nach ihren Beinen schielten. Aber für einen Pastor schickte sich das nicht, ein Pastor hatte anderes zu tun, als ihre Beine angenehm zu finden, dafür bekam er sein Gehalt nicht.

Als sie den alten Herrn zum dritten Male ertappte, warf sie ihm einen scharfen Blick zu. Sofort lief er rot an, mümmelte etwas und verließ überstürzt das Lesezimmer.

Sophie seufzte. So hatte sie es nun wieder nicht gemeint, ganz allein genossen, war dies Schreibzimmer reichlich trübselig.

Jedenfalls aber trugen die Briefbogen den Aufdruck "Christliches Hospiz". Das war erfreulich. Sie nahm an, ein solcher Brief werde im Zuchthaus mit Achtung behandelt werden, solcher Brief würde ihr bestimmt die gewünschte und ersehnte Besuchserlaubnis verschaffen. Vorsorgend schob sie gleich ein Dutzend solcher Bogen und Umschläge in ihre Handtasche, die würden ihr sicher noch einmal nützlich sein.

Freilich konnte auch der frömmste Aufdruck ihr nicht die Mühe des Schreibens abnehmen; wie am Morgen war es am Abend ein schweres Werk - lange saß sie darüber.

Aber schließlich war sie fertig. Sie hatte nicht eben viel geschrieben, nur vier oder fünf Sätze. Aber sie genügten, Hans Liebschner(und die Zuchthausverwaltung) auf den Besuch der "Schwester" vorzubereiten. Wie würde Hans über diesen Brief grinsen! Wie nett würde der Besuch werden, wenn er sie - er konnte so etwas fabelhaft! - ganz als Schwester behandeln würde. Sie fühlte schon seinen frechen geschwisterlichen Kuß vor den Augen des Polizisten - oder was in so einem Zuchthaus als Wächter herumlief.

Mittlerweile war es halb zehn Uhr geworden, nichts war mehr zu tun, man konnte allenfalls ins Bett gehen. Langsam zog sie sich aus. Jetzt war sie hellwach, wenn sie am Tage auch ewig müde gewesen war. Nicht die Spur von Schlafbedürfnis. Und draußen unter ihrem Fenster schliffen und hupten die Autos. Sie sah es förmlich - während sie sich verdrossen auszog -, wie die Männer jetzt lächerlich gravitätisch oder mit schlecht gespielter Nonchalance in die Bars traten, den Mädchen kurz zunickten und auf ihre hohen Stühlchen kletterten - ihren ersten Cocktail oder Whisky bestellend.

Aber nein! Heute würde unter keinen Umständen ausgegangen!

Da war es gut, daß auf dem Nachttisch neben ihrem Bett ein schwarzes Büchlein mit rotem Schnitt lag. Es trug den goldenen Aufdruck: "Die Heilige Schrift".

Seit ihrer Konfirmation hatte Sophie keine Bibel mehr in der Hand gehabt - und damals hatte sich ihre Beschäftigung mit diesem Buch auch nur auf das von Pastor Lehnich anbefohlene Sprüchelernen und - häufiger - auf das Suchen von verführerischen Stellen beschränkt. Heute abend aber hatte sie einmal Zeit, und so nahm sie die Bibel, und um es richtig zu machen, fing sie von vorn an.(Sagte es ihr zu, würde sie diese ausgezeichnete, kostenlose Lektüre für die Ferien in ihren Koffer packen.)

Sophie war gespannt, was an diesem berühmten Buche eigentlich dran war. Die Schöpfungsgeschichte fand nur ihr mäßiges Interesse - ihrethalben! Das konnte so gewesen sein, oder es konnte auch nicht so gewesen sein, wichtig war es nicht. Wichtig war, daß man selbst da war - und das war man ja, dank der Erschaffung von Adam und Eva im zweiten und dem Sündenfall im dritten Kapitel.

Dies war also der berühmte Sündenfall, mit dem gebildete Männer ein Mädchen in der Bar so oft anödeten(solange sie noch fein taten). Sophie

fand alles wieder, es war alles da: der Baum der Erkenntnis, der Apfel, weswegen man sicher heute noch "veräppeln" sagte, und die Schlange. Aber Sophie war keineswegs mit der Darstellung in der Bibel einverstanden. Wer richtig las, was da geschrieben stand, konnte sofort feststellen, daß Gott dem Weibe nie verboten hatte, von dem Baume der Erkenntnis zu essen. Jawohl, dem Manne hatte er's verboten, aber ehe noch das Weib erschaffen war. Das war eine feine Sache, die Frau für etwas zu bestrafen, das man ihr gar nicht verboten hatte! So etwas sah den Männern ähnlich!

Wenn das schon so anfängt, dachte Sophie ärgerlich, wie soll es dann weitergehen? Das ist ja alles Schwindel! Da muß man ja doof sein, um auf so was reinzufallen! Und das reden einem die Brüder heute noch vor! Na, mir soll noch einer mit so was kommen!

Ärgerlich klappte sie das Buch zu. Mitnehmen in die Ferien? Kommt ja gar nicht in Frage! Daß ich mich ewig ärgern muß! Darum lassen sie das Dings hier auch so offen liegen - keine Nachfrage danach!

Sie schaltete das Licht aus, sie lag im Dunkeln.

Ihr Ärger verging, aber es war zu warm unter der Decke, die Luft hinter den geschlossenen Fenstern war zu drückend. Sie stand auf und öffnete sie. Sie hörte die Bahnen klingeln; immer wenn sie in die Krausenstraße einbogen, klingelten sie. Sie hörte die Schritte der Fußgänger, mal vereinzelt, sehr laut - mal viele, ein verworrenes, vielfältiges Geräusch. Die Autos kamen und gingen, sie surrten und hupten, sie eilten weiter ...

Jetzt fing ihr Körper an zu jucken; sie kratzte sich hier, sie kratzte sich da. Sie warf sich her, sie warf sich hin. Dann zwang sie sich, ruhig zu liegen; sie nahm ihre Einschlafestellung ein: auf der rechten Seite, unter der rechten Backe beide Hände. Sie schloß die Augen. Der Schlaf war ganz nahe.

Aber gleich fiel ihr ein, daß sie durstig war; und sie mußte hoch und ein Glas Wasser trinken, das schal schmeckte. Sie lag wieder und wartete auf Schlaf. Aber es gab keinen Schlaf für sie, es schien überhaupt keinen Schlaf mehr für sie geben zu sollen. Umsonst stellte sie sich vor, wie müde sie heute früh in ihrer Kammer gewesen war, in dem zerdrückten Kleid, der Mund fade von all den Likören, die Füße brennend - wie sie mit dem Schlaf gekämpft hatte, als sie sich die paar Zeilen an den Hans abrang, während in ihrem Rücken die Köchin, das Trampel, schnarchte. Umsonst, es kam kein Schlaf. Sie fing an, bis hundert zu zählen.

So wie sie lagen Tausende in ihren Betten, gejagt, ruhelos. Es waren die, deren letztes Geld ausgegeben war. Es waren die, die im Kater des

Morgens geschworen hatten, nie wieder auszugehen, gründlich zu schlafen, Nacht für Nacht. Es waren die, die der ewigen Jagd müde geworden waren, die es aufgegeben hatten, Nacht für Nacht nach etwas zu suchen, dessen Namen sie nicht einmal wußten. Wie Sophie Kowalewski wälzten sie sich ruhelos in ihren Betten. Es war nicht der Durst nach Alkohol, nicht das Verlangen nach Umarmungen, was sie wach hielt, schließlich wieder hochtrieb. Sie konnten weder allein sein, noch konnten sie ruhen. Die Schwärze ihres Zimmers gemahnte sie an den Tod. Sie hatten genug vom Tode gehört und gesehen, vier Jahre war draußen und drinnen immerzu gestorben worden. Sie starben noch früh genug - viel zu früh starben sie. Aber jetzt lebten sie noch, und so wollten sie denn auch leben!

Wie die andern steht auch Sophie Kowalewski auf, zieht sich eilig an, als hätte sie die dringendste Verabredung, als dürfe sie etwas sehr Wichtiges um keinen Preis versäumen. Sie geht rasch die Treppe hinunter und tritt auf die Straße.

Wohin soll sie gehen? Sie sieht die Straße auf und ab. Es ist eigentlich gleichgültig, wohin sie geht. Innen weiß sie: überall ist es dasselbe. Aber sie erinnert sich, daß sie sich einmal die Lokale der Innenstadt ansehen wollte. So geht sie langsam(plötzlich, da sie unter Menschen ist, hat sie viel Zeit) auf die Innenstadt zu.

9

Ein langer, geruhiger Spaziergang durch den Tiergarten hatte dem ehemaligen Empfangschef von Studmann den Kopf wieder frei gemacht. Er hatte auch dem Rittmeister von Prackwitz Gelegenheit gegeben, dem Freunde ein Bild von Neulohe zu malen, wie es weit hinten in der Neumark lag, fast schon polnische Grenze, ganz von Wäldern eingezirkelt. Prackwitz hatte dabei nicht die Absicht, Neulohe rosiger zu schildern, als es war, er wollte den Freund nicht täuschen. Aber ganz von selbst ergab es sich, daß inmitten dieser taumelnden, verdorbenen, irren Stadt Rittergut Neulohe stiller und reiner aufstieg, jedes Gesicht bekannt, jeder Mensch letzten Endes übersichtlich - und weder Gewächs noch Getier vom Taumel der Zeiten angesteckt.

Von Prackwitz hatte es leicht, angesichts der unten mit marmornen Ladenausbauten, Leuchtschildern, Bildreklamen grell aufgeschminkten, oben aber zerbröckelnden und zerfallenden Häuserfassaden zu sagen: "Meine Gebäude sehen gottlob noch etwas anders aus! Nicht schön, aber solider, unverlogener, roter Backstein."

Wenn sie die verbrannten Rasenflächen, die verunkrauteten Beete des Tiergartens sahen, für deren Pflege kein Geld mehr da war(soviel Geld es auch gab), konnte er sagen: "Wir hatten es auch sehr trocken. Aber eine recht gute Ernte ist trotzdem gewachsen. Unberufen!"

Im Rosarium standen die Rosenstöcke geplündert, auch niedergebrochen. Es schien Blumenhändler zu geben, die ihren Bedarf nicht in der Markthalle, sondern hier deckten. "Bei uns wird auch geklaut, aber gottlob noch nicht verwüstet!"

Sie setzten sich auf eine Bank. Die trockene Luft hatte die Regenfeuchte schon wieder aufgesogen. Vor ihnen lag, mit seinem bebuschten Inselchen, der Neue See. Über ihnen standen lautlos die Kronen der Bäume. Vom Zoologischen Garten her klang unbestimmt Tiergebrüll.

"Mein Schwiegervater", sagte Herr von Prackwitz träumerisch, "hat sich seine achttausend Morgen Wald vorläufig noch vorbehalten. Aber so filzig der alte Herr in vielem ist, Jagderlaubnis erteilt er großzügig - du könntest da manchen schönen Bock schießen."

Ja, Neulohe, im stärker dunkelnden Abend, wurde zu einer stillen, weltentfernten Insel, und Herr von Studmann war ja auch gar nicht unempfänglich für solche Botschaft. Am Vormittag hatte er noch jeden Gedanken an eine Flucht auf das Land verworfen. Aber dann war der Nachmittag mit seinen mancherlei Erlebnissen gekommen und hatte bewiesen, daß diese Zeit sogar die Nerven eines vierjährigen Frontkämpfers erledigen konnte. Es war nicht einmal so sehr der groteske, peinliche Zwischenfall mit dem Reichsfreiherrn Baron von Bergen. Gottlob liefen völlig Irre noch nicht so häufig in der Weltgeschichte herum, daß man Zusammenstöße mit ihnen in seine Lebensrechnung einkalkulieren mußte.

Aber dieser Zwischenfall hatte auf eine betrübende, quälende Weise den stählern kalten Mechanismus des Hotelgetriebes bloßgelegt, dem von Studmann bisher Kraft, Eifer, Arbeit gegeben hatte. Er hatte geglaubt, durch peinlichste Pflichterfüllung wenn nicht Anhänglichkeit, so doch Achtung verdient zu haben. Er hatte erleben müssen, daß dem Gefallenen vom letzten Liftboy bis zum obersten Generaldirektor nur schamlose, freche Neugier bewilligt worden war. Wäre der temperamentvolle Geheimrat Schröck mit seinen etwas ungewöhnlichen Ansichten über Geisteskranke nicht eingesprungen, so hätte man ihn ohne alle Rücksicht mit der größten Schnelligkeit wie einen halben Verbrecher abgeschoben.

So hatte man ihn denn allerdings noch vor seinem Ausgang

abgefangen, Herr Generaldirektor Vogel hatte sich trotz aller grauen Fülle geschmeidig zwischen Einerseits und Andrerseits hindurchgewunden, eine - natürlich in Edelvaluta gezahlte - Abfindung war ihm erst einmal überreicht worden, wärmste Empfehlungen hatte man ihm zugesichert -: "Ja, ich glaube sogar, mein sehr verehrter Herr Kollege, dieser kleine, an sich recht unangenehme Zwischenfall schlägt Ihnen noch völlig zum Guten aus. Wenn ich Herrn Geheimrat Schröck recht verstanden habe, erwartet er von Ihnen sehr hohe Forderungen - höchste!"

"Nein", sagte Herr von Studmann auf seiner Tiergartenbank aus tiefsten Gedanken heraus. "Aus der moralischen Minderwertigkeit des Früchtchens möchte ich nun freilich keinen Honig saugen."

"Wie -?!" fragte von Prackwitz auffahrend. Er hatte grade von der Schwarzwildjagd gesprochen. "Nein, natürlich nicht. Das verstehe ich vollkommen. Du hast es auch nicht nötig."

"Verzeih schon", sagte von Studmann. "Ich war mit meinen Gedanken noch hier. In Berlin. Es ist eigentlich sinnlose Arbeit, die man hier getan hat. Irgend so was wie Reinmachen: man äschert sich ab, und am nächsten Morgen ist doch alles wieder dreckig."

"Natürlich", pflichtete der Rittmeister bei. "Frauenzimmerarbeit. Bei mir ..."

"Verzeih, bei dir könnte ich auch nicht sein, ohne etwas zu tun. Wirklich etwas zu tun ..."

"Du wärest mir eine große Hilfe", sagte von Prackwitz nachdenklich. "Ich sprach dir heute vormittag schon von diesen politisch-kriegerischen Verwicklungen. Ich bin manchmal etwas allein - recht ratlos."

"Es laufen", dachte der Oberleutnant seinen Gedanken laut weiter, "jetzt so viele Menschen aus ihrer Arbeit. Arbeiten, überhaupt etwas tun ist plötzlich für sie sinnlos geworden. Solange sie einen festen, greifbaren Wert dafür am Ende der Woche, des Monats in die Hand bekamen, hatte auch die ödeste Büroarbeit für sie einen Sinn. Der Marksturz hat ihnen die Augen geöffnet. Warum leben wir eigentlich? fragen sie sich plötzlich. Warum tun wir was? Irgendwas? Sie sehen nicht ein, warum sie etwas tun sollen, bloß um ein paar vollkommen wertlose Papierlappen in die Hand zu bekommen."

"Diese Entwertung ist der infamste Betrug am Volke "..., sagte von Prackwitz.

"Mir hat", fuhr von Studmann fort, "der heutige Nachmittag die Augen geöffnet. - Wenn ich wirklich zu dir ginge, Prackwitz, müßte ich richtige

Arbeit haben. Arbeit, verstehst du!"

Von Prackwitz zermarterte sich den Kopf.

Pferde zureiten, dachte er. Aber meine paar Kröpels haben schon jetzt mehr Bewegung, als ihnen lieb ist. - Schreiberei auf dem Büro? Aber ich kann Studmann doch nicht hinter die Lohnlisten setzen!

Er sah plötzlich das Gutsbüro vor sich mit dem grüngestrichenen, altmodischen Geldschrank, dessen Größe in keinem Verhältnis zu seinem Inhalt stand, die häßlichen Fichtenregale voll veralteter Gesetzsammlungen -: Eine widerlich verstaubte und verlotterte Bude, dachte er.

Von Studmann war viel praktischer als der Rittmeister. "Soviel ich weiß", half er ihm, "gibt es auf vielen Rittergütern Volontäre?"

"Die gibt es!" bestätigte Prackwitz. "Eine schreckliche Gesellschaft! Sie zahlen Pension - sonst würde sie niemand nehmen -, halten sich ihr eigenes Reitpferd, stecken ihre Nase in alles, verstehen nichts, fassen nichts an, können aber enorm klug über Landwirtschaft reden!"

"Also nicht", entschied von Studmann. "Und was gibt es sonst?"

"Mancherlei. Zum Beispiel Hofverwalter, die das Futter ausgeben, Füttern und Melken und Putzen beaufsichtigen, Lagerbücher führen, an der Dreschmaschine Dienst tun. Dann gibt es Feldverwalter, die draußen sind, Pflügen und Düngen und Ernten anordnen, eben alle Feldarbeiten, überall sein müssen ..."

"Reitpferd -?" fragte von Studmann.

"Fahrrad", antwortete von Prackwitz. "Wenigstens bei mir."

"Du hast also einen Feldinspektor?"

"Morgen setze ich ihn raus, einen faulen, versoffenen Kerl!"

"Aber doch nicht meinetwegen, Prackwitz! Ich kann bei dir doch nicht gleich Feldinspektor werden! Du sagst: ›Studmann, dünge mir da diesen Roggen.‹ Verdammt noch mal, es sollte mir sauer werden, ich habe doch nicht den geringsten Schimmer - außer von natürlicher Düngung, die unzureichend wäre, fürchte ich."

Die beiden Herren lachten herzhaft. Sie standen von ihrer Bank auf, von Studmanns Brummschädel war fort, Prackwitz war sicher, der Freund werde zu ihm kommen. Sie besprachen im Weitergehen das Projekt länger, sehr eingehend. Sie einigten sich dahin, daß von Studmann als ein Mittelding zwischen Lehrling, Vertrauensperson und Aufsichtsbeamter nach Neulohe kommen sollte.

"Du fährst gleich morgen früh mit, Studmann. Deine Sachen hast du in

einer halben Stunde gepackt, wie ich dich kenne. - Nun müßte ich noch einen vernünftigen Kerl kriegen, der die Leute beaufsichtigen und ein bißchen antreiben kann, die ich heute engagiert habe - und die Ernte ginge prima! Ach Gott, Studmann, bin ich froh! Die erste frohe Stunde, ich weiß nicht, seit wie lange! Höre mal, jetzt essen wir irgendwo nett, das wird dir guttun, nach der elenden Sauferei. Was meinst du zu Lutter und Wegner? Schön! - Nun noch einen Mann, am besten auch vom Kommiß, gewesener Spieß oder so was, der mit Leuten umgehen kann ..."

Sie gingen bei Lutter und Wegner in den Keller. Der Mann vom Kommiß, den der Rittmeister von Prackwitz brauchte, saß an einem Ecktischchen. Er war zwar nicht Spieß, aber doch Fahnenjunker gewesen. Zur Zeit war er ziemlich betrunken.

10

"Aber das ist ja Fahnenjunker Pagel!"

"Da sitzt ja Granaten-Pagel!"

Dies riefen von Studmann und von Prackwitz.

Und sofort stand ihnen beiden mit fast gespenstischer Klarheit eine Szene vor Augen, die ihnen unter den vielen Gestalten des Weltkriegs ebendiesen Pagel unvergeßlich gemacht hatte. Das heißt, es war nicht mehr der Weltkrieg gewesen, sondern jener letzte, verzweifelte Versuch deutscher Truppen, das Baltikum gegen den Ansturm der Roten zu halten. Es war im Frühjahr 1919 gewesen, es war jener wilde Angriff der Deutschen, Balten und Letten gewesen, der schließlich Riga befreite.

In der bunt zusammengewürfelten Abteilung des Rittmeisters von Prackwitz war damals auch der junge Pagel gewesen, kaum älter aussehend als ein großer Schuljunge. Vielleicht wirklich schon siebzehn, wahrscheinlicher erst sechzehn Jahre alt, aus der Kadettenanstalt Groß-Lichterfelde herausgesetzt, er, der für die Offizierslaufbahn bestimmt gewesen war, in eine tobende, zerkämpfte Welt gestoßen, die von Offizieren nichts mehr wissen wollte. Da hatte es sich von selbst ergeben, daß der Entwurzelte, sinnlos Gewordene immer weiter nach Osten geirrt war, bis er schließlich bei Männern landete, die er noch Kameraden nennen konnte, nicht Genossen anreden mußte.

Rührend und lächerlich zugleich war die Freude des Flaumwangigen, der noch nie zuvor Pulver gerochen hatte, gewesen, unter kampferprobten alten Leuten zu sein, die seine Sprache redeten, Uniform trugen, Befehle gaben und entgegennahmen - und sie dann

auch wirklich ausführten. Nichts konnte seinen Eifer ermüden, nichts seine Begierde, in kürzester Zeit alles kennenzulernen: Maschinengewehr, Minenwerfer und den einen, einzigen Panzerzug.

Bis es dann zum Angriff ging, bis zu den eigenen auch die fremden Maschinengewehre zu tacken anfingen, bis die ersten Granaten heulend über sie fortsausten, um weiter hinten zu krepieren. Bis aus dem eifrigen Kinderspiel des Schuljungen Ernst wurde. Prackwitz wie Studmann hatten den jungen Pagel blaß werden sehen, plötzlich war er still geworden. Bei jeder hohl über ihn wegheulenden Granate hatte er den Kopf zwischen die Schultern gezogen und eine tiefe Verbeugung gemacht.

Die beiden Offiziere hatten sich mit einem Blick verständigt - ohne ein Wort. Sie hatten auch dem Jungen nichts gesagt. Von ihm, der, grün im Gesicht, mit schweißnasser Stirn und feuchten Händen, gegen seine Angst ankämpfte, hatte sich eine Brücke geschlagen bis zu jenen unfaßbar fernen Augusttagen vierzehn, da sie selber zum ersten Male dies Heulen gehört, zum ersten Male den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatten. Jeder machte das einmal durch, jeder mußte einmal den Kampf mit dem Schweinehund in sich kämpfen. Viele gab es, die nie ganz mit ihm fertig wurden. Aber die meisten blieben doch Sieger, und von da an tat es ihnen nichts mehr.

Bei dem jungen Pagel war es zweifelhaft. Man hätte ihn jetzt ansprechen, anbrüllen können, er hätte nichts gehört. Er hörte nur das Heulen in der Luft, er sah hierhin, dorthin, wie ein im Traum Geängsteter, er zögerte beim Vorgehen. Nun sah er zurück.

"Jawohl, Pagel, es ist sicher, die verdammten Roten schießen sich ein, die Einschläge liegen immer näher. Sicher, Junker Pagel, jetzt kriegen wir Dunst!"

Und da ist sie schon in den Reihen, die erste Granate! Mechanisch werfen sich Studmann und Prackwitz hin - aber was ist mit Pagel? Der junge Pagel steht da, starrt, schaut auf den Erdtrichter, er bewegt die Lippen, als sagte er etwas Beschwörendes -

"Hinwerfen, Pagel!" schreit von Prackwitz.

Dann ist alles hochgewirbelte Erde, Staub, Feuer, Qualm - der Knall der Explosion zerreißt die Luft.

Schafskopf! denkt von Prackwitz.

Schade! denkt von Studmann.

Aber - und es ist nicht zu glauben - da steht, Schatten in Nebel und Dunst, noch immer die Gestalt, bewegungslos. Klarer wird es, die Gestalt

macht einen Satz, greift etwas von der Erde, schreit wütend: "Au verdammt!" - läßt es fallen, nimmt die Mütze zum Anfassen, stürzt zu Prackwitz, schlägt die Hacken zusammen: "Melde gehorsamst, Herr Rittmeister, ein Granatensprengstück!" Und völlig unmilitärisch: "Elend heiß!"

Er hatte - für immer - den Schweinehund in sich untergekriegt, der junge Pagel.

Für immer?

Diese Szene, diese etwas alberne und doch heroische Tat eines blutjungen Menschen, stand den beiden deutlich vor Augen, als sie Pagel da, scheinbar ein wenig angetrunken, am Ecktisch bei Lutter und Wegner sitzen sahen, als sie riefen: "Aber das ist ja der Granaten-Pagel!"

Der Granaten-Pagel sah hoch. Mit der vorsichtigen Gebärde des Angetrunkenen schob er erst Glas und Flasche etwas zurück, ehe er aufstand und ohne jede Überraschung sagte: "Die Herren Offiziere!"

"Aber stehen Sie doch bequem, Pagel!" sagte der Rittmeister lächelnd. "Mit den Herren Offizieren ist es vorbei. Sie sehen, Sie sind der einzige von uns, der noch eine Uniform trägt."

"Zu Befehl, Herr Rittmeister", sagte Pagel eigensinnig. "Aber ich tue keinen Dienst mehr."

Die beiden Freunde verständigten sich mit einem kurzen Blick.

"Dürfen wir uns zu Ihnen an den Tisch setzen, Pagel?" fragte von Studmann freundlich. "Es ist ziemlich voll hier unten, und wir hätten gerne etwas gegessen."

"Bitte! Bitte!" sagte Pagel und setzte sich rasch, als sei ihm das Stehen schon längst schwer geworden. Auch die beiden setzten sich. Eine Zeit verging mit dem Auswählen der Speisen und des Weines und dem Bestellen.

Dann hob der Rittmeister sein Glas: "Also auf Ihr Wohl, Pagel! Auf die alten Zeiten!"

"Danke gehorsamst, Herr Rittmeister! Herr Oberleutnant! Auf die alten Zeiten, jawohl."

"Und was tun Sie jetzt?"

"Jetzt?" Pagel sah langsam von einem zum andern, als müsse er erst sehr genau über seine Antwort nachdenken. "Ja, ich weiß selber nicht genau ... Irgendwas ..."

Er machte eine vage Handbewegung.

"Aber Sie müssen doch irgend etwas getan haben in den vier Jahren

seitdem!" sagte von Studmann freundlich. "Irgendwas angefangen, sich beschäftigt, ausgerichtet - wie?"

"Sicher, sicher!" stimmte Pagel höflich zu. Und fragte mit der klarsichtigen Bosheit des Angetrunkenen: "Wenn ich mir die Frage erlauben darf, Herr Oberleutnant - Sie haben viel ausgerichtet in diesen vier Jahren -?"

Von Studmann stutzte, wollte sich ärgern, dann lachte er. "Recht haben Sie, Pagel! Gar nichts habe ich ausgerichtet. Wie Sie mich hier sehen, habe ich vor sechs Stunden netto wieder einmal völlig Schiffbruch erlitten. Und ich wüßte wirklich nicht, was ich mit mir anfangen sollte, wenn der Rittmeister mich nicht auf sein Gut nähme - als eine Art Lehrling. Prackwitz hat nämlich ein großes Gut in der Neumark."

"Vor sechs Stunden Schiffbruch", wiederholte Pagel und überhörte völlig das Gut. "Komisch ist das."

"Wieso ist das komisch, Pagel -?"

"Ich weiß nicht ... Vielleicht, weil Sie jetzt hier Ente mit Weinkraut essen - vielleicht kommt es mir darum komisch vor."

"Was das betrifft", sagte von Studmann, jetzt seinerseits boshaft, "so sitzen Sie doch auch hier und trinken einen Steinwein. - Übrigens, in solchen Mengen genossen, viel zu schwer, Ente wäre Ihnen auch besser."

"Natürlich", stimmte Pagel bereitwillig zu. "Ich habe auch schon daran gedacht. Nur, Essen ist schrecklich langweilig, Trinken ist viel leichter. Und außerdem habe ich noch was vor."

"Was Sie auch vorhaben mögen, Pagel", meinte Studmann leichthin, "Essen wird Ihrem Vorhaben dienlicher sein als Trinken."

"Kaum, kaum!" antwortete Pagel. Und, wie um dies zu beweisen, trank er sein Glas leer. Doch blieb diese Beweisführung ohne Eindruck auf die andern, ihre Gesichter waren skeptisch - so setzte er erläuternd hinzu: "Ich muß nämlich noch viel Geld ausgeben."

"Mit Trinken werden Sie bestimmt nicht mehr viel Geld ausgeben können, Pagel!" fuhr von Prackwitz dazwischen. Ihn hatte die schlappe Haltung Studmanns, der diesen jungen Fant eher noch ermutigte, schon lange geärgert. "Mensch, merken Sie denn nicht, daß Sie randvoll sind?!"

Von Studmann winkte mit den Augen ab, doch blieb zu seiner Überraschung Pagel ganz ruhig. "Möglich", sagte er. "Aber das macht nichts. Um so leichter werde ich mein Geld los."

"Also Weibergeschichten!" rief von Prackwitz ärgerlich. "Ich bin gar kein Sittenprediger, Pagel, aber so besoffen, in diesem Zustande, nein,

das ist doch nichts!"

Pagel antwortete nicht. Statt dessen hatte er sein Glas wieder gefüllt, leerte es bedächtig und füllte es neu. Prackwitz machte eine wütende Bewegung, aber von Studmann war gar nicht mit seinem Rittmeister einverstanden. Prackwitz war ein famoser Kerl, ein anständiger Kerl, aber ein Psychologe war er bestimmt nicht, beobachten konnte er andere Menschen überhaupt nicht - er meinte immer, alle müßten empfinden wie er. Und ging es dann nicht nach seinem Kopfe, kochte er sofort über.

Nein, eben als Pagel sein Glas gefüllt und rasch geleert und wieder gefüllt hatte, war Studmann sehr peinlich, aber darum nicht minder lebhaft an ein gewisses Zimmer mit der Nummer 37 erinnert worden. Auch da hatte man die Gläser so gefüllt und so geleert. Studmann erinnerte sich auch noch sehr genau an einen gewissen Augenausdruck aus Angst und irrer Frechheit, den er dort beobachtet. Er war sich gar nicht so sicher, daß Pagel, so unsinnig er trank, überhaupt betrunken war. Sicher war allerdings, daß ihm das Gefrage der Herren nicht angenehm war, am liebsten hätte er wohl für sich allein gesessen. Studmann aber hatte nicht die Absicht, sich von dieser gleichgültigen oder gar feindlichen Stimmung Pagels beeinflussen zu lassen, er spürte, sie hatten den ehemaligen Fahnenjunker in einer gefährlichen Lage getroffen. Wie damals mußte man ein Auge auf ihn haben. Und von Studmann, der am Nachmittag eine Niederlage erlitten hatte, schwor sich, in dieser Nacht auf keinen Bluff reinzufallen, sondern die Handgranate in Sektflaschenform rechtzeitig zu werfen - es gab für solche Würfe viele Möglichkeiten und Arten.

Pagel saß jetzt ruhig da und rauchte, nachdenklich scheinbar, ohne sich der Anwesenheit der beiden andern recht bewußt zu sein. Studmann verständigte Prackwitz halblaut von seiner Absicht; von Prackwitz machte nur eine ungeduldig abwehrende Bewegung, war schließlich aber doch einverstanden.

Als die Zigarette zu Ende war, neigte Pagel wiederum die Flasche über das Glas, doch floß nichts mehr aus dem Hals, die Flasche war leer. Pagel sah hoch, er vermied den Blick der beiden andern, er winkte dem Kellner mit den Augen und bestellte bei ihm noch eine Flasche Steinwein und einen doppelten Kirschgeist.

Ungeduldig wollte von Prackwitz etwas sagen, aber Studmann legte ihm beschwörend die Hand aufs Knie - und der Rittmeister schwieg, wenn auch unwillig.

Als der Kellner das bestellte Getränk brachte, verlangte Pagel die Rechnung. Entweder schlug der Kellner im Hinblick auf den Zustand des

Gastes gewaltig auf, oder Pagel hatte hier schon Stunden getrunken: die Rechnung war sehr hoch. Pagel zog ein Bündel Banknoten aus der Hosentasche, nahm ein paar, gab sie dem Kellner und verzichtete auf Herausgeben. Der ungewohnt devote Dank des Kellners verriet die Höhe des Trinkgeldes.

Die beiden Herren verständigten sich wieder durch Blicke, durch einen ärgerlichen und durch einen zur Ruhe mahnenden. Doch sagten sie noch immer nichts, sondern sie beobachteten weiter Pagel, der jetzt aus allen Taschen und Täschchen Banknotenbündel zog und sie übereinanderpackte. Dann nahm er seine Papierserviette, wickelte sie um den Haufen, suchte wieder in der Tasche, brachte ein Ende Bindfaden zum Vorschein und verschnürte den Packen. Nun schob er ihn auf die Seite; wie nach getaner Arbeit sich zurücklehnend, brannte er eine Zigarette an, kippte den Kirschgeist und goß ein Glas Wein ein.

Jetzt sah er auf. Sein Blick, aus so hellen Augen merkwürdig dunkel und starr, lag mit leichtem Spott auf den Herren. Studmann war im Augenblick, da er so angesehen wurde, klar, daß Pagel nur theaterte. Sowohl das Trinken wie die scheinbare Nichtbeachtung, wie das herausfordernde Bloßlegen und Einpacken des Geldes - alles Theater, für sie beide aufgeführt!

Der Junge ist ja vollkommen verzweifelt, dachte er, merkwürdig angerührt. Vielleicht möchte er uns etwas erzählen oder um Hilfe bitten - nur bringt er es noch nicht über sich. - Wenn bloß nicht Prackwitz ...

Aber der weißhaarige, hitzige Prackwitz hatte schon nicht mehr an sich halten können. "Es ist eine Schweinerei, Pagel!" schrie er wütend, "wie Sie mit dem Gelde umgehen! So geht man nicht mit Geld um!"

Studmann hatte den Eindruck, als freue sich Pagel über diesen Ausbruch, wenn er auch unverändert ruhig blieb.

"Wenn ich mir die Frage erlauben darf, Herr Rittmeister", sagte er mit schwerer Zunge, aber immer größerer Höflichkeit, "wie geht man denn mit Geld um?"

"Wie?!" schrie der Rittmeister. Seine Stirnadern schwollen, und seine Augen wurden vor Zorn rötlich. "Wie man mit Geld umgeht?! Ordentlich geht man damit um!!! Herr Fahnenjunker Pagel!!! Ordentlich, gewissenhaft - wie es sich schickt, verstanden?! Man trägt es nicht lose in den Taschen, man tut es in eine Brieftasche -"

"Es ist zuviel, Herr Rittmeister", sagte Pagel entschuldigend. "Es geht in keine Brieftasche."

"Man schleppt überhaupt nicht soviel Geld mit sich rum, Herr!" schrie

der Rittmeister im hellen Zorn.(Von den Nebentischen guckten sie schon.) "Das ist nicht anständig. So etwas tut man nicht!"

"Nein?" fragte Pagel wie ein gehorsamer, wißbegieriger Schüler.

Studmann biß sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen. Von Prackwitz aber war zu humorlos, um zu begreifen, daß sein Fahnenjunker sich einen kleinen Scherz mit ihm erlaubte.

Pagel sagte entschuldigend: "Sobald ich meinen Wein ausgetrunken habe, will ich sehen, das Zeugs möglichst schnell loszuwerden."

Er trank. Nun glitt ein spitzbübisches, ganz jungenhaftes Lächeln über sein Gesicht. Studmann fand, er sah aus wie damals am ersten Tage in Kurland - kein Gedanke an eine Ähnlichkeit mit dem Reichsfreiherrn Baron von Bergen. Pagel griff nach dem Geldpacken, zögerte und hielt ihn dann mit raschem Entschluß dem Rittmeister über den Tisch hin. "Oder wollen Sie es haben, Herr Rittmeister?"

Der Rittmeister Joachim von Prackwitz fuhr halb von seinem Stuhle auf, sein Gesicht lief dunkelrot an. Das war eine Beleidigung, eine überlegt zugefügte Beleidigung, und es machte sie noch zehnmal schlimmer, daß sie von einem ehemaligen Fahnenjunker ausging. Ein Offizier, und unter allen Offizieren ganz besonders ein Rittmeister von Prackwitz, kann wohl seine Uniform ausziehen, er behält trotzdem an sich die alten Begriffe und Anschauungen. Von Studmann und von Prackwitz waren gute Freunde, trotzdem - die Freundschaft war unter dem Rangverhältnis Rittmeister - Oberleutnant entstanden, und so blieb sie auch. Wollte der Oberleutnant dem Rittmeister etwas Unangenehmes sagen, so mußte das unter vorsichtiger Wahrung all der Formen geschehen, die sich zwischen Vorgesetztem und Untergebenem gehören. Pagel aber war nicht einmal der Freund des Rittmeisters, er hatte etwas sehr Unangenehmes, ja etwas Beleidigendes gesagt, geradezu, ohne alle Vorbereitung und ohne jede Wahrung der Form. Also kochte der Rittmeister von Prackwitz.

Es konnte etwas Schreckliches geschehen. Von Studmann legte dem Rittmeister die Hand fest auf die Schulter, er zwang ihn auf seinen Stuhl zurück. "Er ist sinnlos besoffen", sagte er halblaut. Und scharf zu Pagel: "Entschuldigen Sie sich auf der Stelle!"

Das jungenhafte Lächeln auf dem Gesicht Pagels verblich langsam. Als sei er sich nicht ganz klar, was eigentlich geschehen, sah er grübelnd den zornigen Rittmeister, dann den Geldpacken in seiner Hand an. Sein Gesicht wurde finster. Er legte den Packen wieder neben sich auf den Tisch, griff nach dem Glas und trank hastig.

"Entschuldigen "..., sagte er dann plötzlich mürrisch. "Wer legt denn heute noch auf solche Faxen Wert ...?!"

"Ich habe, Herr Pagel", rief der Rittmeister, noch immer sehr zornig, "meine alten Lebensformen beibehalten, mögen andere sie auch veraltet und schlecht finden. Ich lege viel Wert auf diese Faxen!"

Oberleutnant von Studmann schlug vollkommen deutlich vor: "Laß ihn, Prackwitz. Er ist überreizt, er ist betrunken, und vielleicht hat er etwas Schlimmes vor."

"Er interessiert mich nicht!" rief der Rittmeister wütend. "Ich lasse ihn liebend gerne!"

Pagel hatte den Oberleutnant schnell einmal angesehen, aber nicht geantwortet.

Von Studmann beugte sich über den Tisch und sagte freundlich: "Wenn Sie mir das Geld anbieten würden, Pagel, ich würde es nehmen."

Der Rittmeister machte eine Gebärde fassungslosen Erstaunens, Pagel aber griff hastig nach dem Geldpaket und zog es näher an sich.

"Ich nehme es Ihnen nicht fort", sagte der Oberleutnant, ein wenig spöttisch.

Pagel wurde rot, nun schämte er sich. "Was würden Sie denn mit dem Gelde tun?" fragte er mürrisch.

"Es Ihnen aufbewahren - bis zu einer besseren Stunde."

"Das ist unnötig - ich brauche kein Geld mehr."

"Genau das, was ich annahm", bestätigte der Oberleutnant ruhig. Und er fragte, betont gleichgültig: "Wieso haben Sie eigentlich auch vor sechs Stunden Schiffbruch erlitten, Pagel?"

Diesmal wurde Pagel völlig rot. Mit einer gradezu qualvollen Langsamkeit breitete sich die Röte, von den Backen ausgehend, über sein ganzes Gesicht aus. Sie kroch unter den hohen, faltig gewordenen Kragen des Waffenrocks, sie stieg bis unter den Haaransatz über der Stirn. Plötzlich sah man, wie blutjung dieser Mensch war, wie schrecklich er jetzt unter seiner jugendlichen Verlegenheit litt.

Selbst der zornige Rittmeister sah mit andern Augen auf seinen Granaten-Pagel.

Der aber, erbittert über die so sichtbare Verlegenheit, fragte trotzig: "Wer hat Ihnen gesagt, daß ich Schiffbruch erlitten habe, Herr von Studmann?!"

Und Studmann: "Ich hatte Sie so verstanden, Pagel."

Und Pagel: "Dann haben Sie mich falsch verstanden - ich "... Aber er

brach unwillig ab, zu sichtbar verriet ihn seine Röte.

"Natürlich geht es Ihnen schlecht, Pagel", sagte von Studmann sanft, "das sehen wir doch beide, Herr Rittmeister wie ich. Sie sind doch kein Gewohnheitstrinker. Sie trinken aus einem bestimmten Grunde. Weil Ihnen irgend etwas schiefgegangen ist, weil Sie - nun, Sie verstehen schon, Pagel!"

Pagel drehte sein Weinglas in der Hand. Seine Haltung war entspannter, aber er antwortete nicht.

"Warum wollen Sie sich nicht von uns helfen lassen, Pagel?" fragte der Oberleutnant wieder. "Ich habe mir heute nachmittag auch unbedenklich vom Rittmeister helfen lassen. Ich war auch recht unangenehm gefallen ..."

Er lächelte in der Erinnerung an seinen Fall heute nachmittag. Er hatte keine Erinnerung an ihn, aber Prackwitz hatte es ihm recht drastisch geschildert, wie er vor die Füße der Gäste gerollt war. Studmann war sich klar, daß sein "Fall" wesentlich anders lag als der Pagels - physisch eigentlich nur, nicht so sehr psychisch. Aber diese kleine Übertreibung störte ihn nicht.

"Vielleicht können wir Ihnen raten", fuhr er mit sanfter, aber eindringlicher Überredung fort. "Besser wäre noch, wenn wir Ihnen irgendwie tatkräftig helfen könnten, Pagel", sagte er sehr eindringlich. "Als wir damals auf Tetelmünde vorgingen, fielen Sie mit dem Maschinengewehr hin. Sie haben sich nicht einen Augenblick besonnen, meine Hilfe anzunehmen. Warum soll in Berlin nicht gelten, was in Kurland galt -?"

"Weil", sagte Pagel finster, "wir damals für eine Sache kämpften. Heute kämpft jeder für sich allein - und gegen alle."

"Einmal Kamerad, immer Kamerad", sagte von Studmann. "Sie erinnern sich doch, Pagel?"

"Ja, natürlich", sagte Pagel. Er senkte das Gesicht, als denke er nach. Die beiden betrachteten ihn abwartend. Dann hob Pagel wieder den Kopf. "Man könnte viel dagegen sagen", sagte er mit seiner langsamen, mühsamen Aussprache sehr deutlich. "Aber ich mag nicht. Ich bin schrecklich müde. Kann ich Sie irgendwo treffen, morgen früh?"

Mit drei Worten hatten sich die beiden Freunde verständigt. "Wir werden morgen früh kurz nach acht vom Schlesischen Bahnhof abfahren, nach Ostade zu", sagte von Studmann.

"Gut", sagte Pagel. "Ich werde dann auch auf der Bahn sein - vielleicht ..."

Er sah vor sich hin, als sei alles erledigt. Er stellte keine Fragen, es schien ihn nicht zu interessieren, warum man fuhr, wohin man fuhr, was dann kam.

Der Rittmeister bewegte zweiflerisch die Achseln, unbefriedigt von dieser halben Zusage. Aber Studmann gab nicht nach.

"Das ist etwas, Pagel", beharrte er. "Aber nicht ganz das, was wir möchten. - Sie haben etwas vor, Pagel, Sie sagten vorhin etwas von Geldloswerden ..."

"Weibergeschichten!" murmelte der Rittmeister.

"Es ist gleich zwölf. Zwischen jetzt und morgen früh acht Uhr haben Sie etwas vor, Pagel, dessen Ausgang Ihnen selbst so ungewiß erscheint, daß Sie uns keine feste Zusage geben mögen, daß Sie uns auch nicht dabei haben wollen ..."

"Elende Weiber "..., murmelte der Rittmeister.

"Ich bin", sagte Studmann eiliger, als er merkte, Pagel wollte antworten, "anderer Ansicht als der Rittmeister. Ich glaube nicht, daß irgendeine zweifelhafte Weibergeschichte dahintersteckt. Für so etwas sind Sie nicht der Mann."

Pagel senkte den Kopf, aber der Rittmeister schnaufte.

"Ich wäre Ihnen dankbar, wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns erlaubten, gerade die nächsten Stunden mit Ihnen zu verbringen."

"Es ist nichts Besonderes", sagte Pagel, nun doch bezwungen von der sorgsamen Beharrlichkeit des andern. "Ich möchte nur eine Probe machen."

Der ehemalige Oberleutnant lächelte. "Eine Frage an das Schicksal, was, Pagel?" sagte er. "Gottesgericht, vom ehemaligen Fahnenjunker Pagel angerufen. - Ach, was sind Sie noch beneidenswert jung!"

"Ich finde mich nicht so beneidenswert!" knurrte Pagel.

"Nein, natürlich nicht, Sie haben ganz recht", beeilte sich Studmann. "Solange man jung ist, hält man Jugend nur für einen Fehler. - Erst später entdeckt man, daß Jugend ein Glück ist. - Also, wie ist es, kommen wir mit?"

"Sie hindern mich nicht, zu tun, was ich will?"

"Nein, natürlich nicht. Sie sollen handeln, als wären wir nicht dabei."

"Auch der Herr Rittmeister ist einverstanden?"

Der Rittmeister von Prackwitz murrte nur leise, aber schon diese Zustimmung genügte Pagel.

"Also, meinethalben, kommen Sie mit!" Etwas belebte er sich. "Es wird Sie vielleicht sogar interessieren. Es ist - nun, Sie werden ja sehen. Fahren wir ..."

Sie brachen auf.

SIEBENTES KAPITEL. Schwüle Vollmondnacht

1

Amanda Backs stand rasch atmend in den Büschen. Der Geheimrat quäkte mit seiner gequetschten Altersstimme in den höchsten Tönen: "Na, Herr Meier, was haben Sie sich denn für 'ne Stimme zugelegt?! Sie fiepen ja wie ein Weib!"

Negermeiers Kopf fuhr aus dem Fenster. "Das ist bloß, Herr Geheimrat", sagte er erklärend, "weil ich so aus dem Schlaf hochgefahren bin. Im Schlaf hab ich immer so 'ne hohe Stimme!"

"Mir kann's ja egal sein", sprach der Greis. "Die Hauptsache, Ihre Frau glaubt später mal an die hohe Stimme. - Ich hab hier 'nen Brief, Herr Meier."

"Jawohl, Herr Geheimrat, wird bestens besorgt."

"Nu warten Sie man bloß, junger Mann! Sie kommen noch früh genug zurück in Ihre Posen! - Den Brief geben Sie meinem Schwiegersohn!"

"Jawohl, Herr Geheimrat. Gleich morgen vormittag, wenn er von der Bahn kommt."

"Nee, das paßt mir nicht. Dann ist seine Frau dabei, das ist 'ne Geschäftssache, verstehen Sie, Herr Meier -?"

"Jawohl, Herr Geheimrat. Ich gebe ihn also ..."

"Nu warten Sie doch bloß, Jüngling! Lassen Sie doch das Bett knarren! Das Bett knarrt doch bloß aus Langeweile - oder wie?"

"Jawohl, Herr Geheimrat ..."

"Na also! - Und erkälten werden Sie sich ja hier auch nicht am offenen Fenster, so kühl, wie Sie's gewöhnt sind. - Schlafen Sie eigentlich immer ohne Hemde, Herr Meier -?"

"Herr Geheimrat, ich ..."

"Sagen Sie man lieber ›jawohl, Herr Geheimrat‹ - das ist doch Ihre sicherste Tour, nicht wahr? Sie denken, ich seh nicht im Dunkeln. Ich seh

im Dunkeln genausogut wie ein alter Kater, verstanden?!"

"Es war so heiß, Herr Geheimrat, entschuldigen Sie ..."

"Natürlich entschuldige ich, mein Sohn. Daß dir heute abend heiß ist, das entschuldige ich. Wo du nicht eingefahren hast, und nachher begießt du dir noch die Nase - wie soll dir da nicht heiß sein?!"

"Herr Geheimrat, ...!"

"Na, was soll denn der Geheimrat -?! Weißt du was, mein Sohn, ich habe mir das überlegt. Ich lasse den Brief lieber von meinem Elias rübertragen, ich denke beinahe, du hast morgen zuviel Butter auf dem Kopf, um noch an den Brief zu denken ..."

Flehentlich. "Herr Geheimrat -!"

"Also, guten Abend, Herr Meier, und zieh dir lieber ein Nachthemde an. Ich glaub, ich hab die Amanda vorhin im Park gesehen ..."

Der Olle schuffelte fort; Amanda stand in den Büschen, ihr Herz klopfte sehr. Sie hatte immer gewußt, ihr Hänseken taugte nicht viel und lief jedem Weiberrocke nach. Sie hatte gedacht, sie könnte ihn bei der Stange halten, wenn sie immer für ihn da war ... Nee, ist nicht, für unsereine wird so was nicht gereicht!

Der kleine Meier lehnte noch am Fenster. Einmal noch hatte er ganz kläglich gebettelt: "Aber Herr Geheimrat "... Als wenn der Geheimrat was helfen könnte, und als wenn es was geändert hätte, wenn ihm der Brief doch noch anvertraut worden wäre ...

Amanda konnte ihn von ihrem Platz aus ganz gut im Fenster liegen sehen. Gott, er war ja so dumm, ihr Meier! Wieso sie nur immer an so dumme, schlappe Kerls geriet -?! Die auch gar nichts taugten! Sie verstand es nicht. Sie war traurig.

Nun fing das Frauenzimmer drinnen an zu tuscheln und zu flüstern. Hänseken drehte sich halb um und sagte grob: "Ach, halt die Schnauze!"

Das freute Amanda wieder; daß er so keß zu der andern war, zeigte, daß er sich nicht viel aus ihr machte. Zu ihr hätte er nicht so reden dürfen, sie gab ihm immer gleich was aufs Dach. Aber sie hätte doch gar zu gerne gewußt, wer die andere war - vom Schloß war's keine, die waren alle in der Andacht gewesen.

"Zieh dich bloß schnell an!" hörte sie Hänseken sagen. "Wenn Amanda kommt, gibt es einen Heidenkrach! Den kann ich gerade noch brauchen."

Amanda hätte fast losgelacht. Dumm wie immer! Der Krach stand ihm vorm Fenster, aber er sah nicht nach, er merkte nichts. Hänseken war

hinterher immer furchtbar schlau! Aber dem Frauenzimmer hätte sie es gerne besorgt - jede im Dorf mußte wissen, daß sie mit Hänseken ging. Von denen auf dem Hof ganz zu schweigen!

Die da drinnen schien sich wirklich zu beeilen, Amanda hörte sie in der Stube poltern. Nun war ihr Kopf neben dem von Hänseken.

"Mach doch bloß das Fenster zu und schalt Licht ein. Ich kann meine Sachen nicht finden", schalt sie.

(Wer es bloß ist -? Wenn einer so flüstert, kann man überhaupt nicht raten, wer es ist!)

"Psst!" machte Meier so laut und scharf, daß sogar Amanda in ihrem Busch zusammenfuhr. "Kannst du nicht die Klappe halten -?! Wenn ich Licht mache, denken sie doch, ich bin wach!"

"Wer soll denn darüber nachdenken? Wohl deine Amanda?"

(Ob es die Hartig war -? Das wäre die Höhe! Die Kutschersche mit ihren acht Kindern spannt einem jungen Mädchen den Freund aus! Dann gab's aber was!)

"Das geht dich einen Dreck an! Mach jetzt bloß, daß du abhaust!"

"Aber meine Sachen ..."

"Ich mache kein Licht. Mir egal, wie du zurechtkommst!"

Schimpfend verschwand der zweite Kopf aus dem Fenster. Amanda war jetzt fast sicher, daß es die Hartig war. Aber fast sicher ist nicht ganz. Sie hatte keine Eile, Hänseken erwischte sie immer noch, erst mal mußte sie das Frauenzimmer fassen! Erwischen mußte sie die - und wenn sie die ganze Nacht hier stehen sollte! Vor ihren Augen kam die raus - entweder aus der Tür oder aus dem Fenster - also nur Geduld!

Es war komisch - aber nachdem sich Amanda im Betsaal so gründlich geärgert hatte, konnte sie jetzt, wo doch viel mehr Anlaß war, gar nicht mehr richtig wütend werden. Auf Hänseken schon gar nicht. Der war ein Schaf und blieb ein Schaf, und wenn sie nicht auf ihn paßte, machte er bloß Dummheiten. Aber so recht wütend war sie eigentlich auch nicht auf das Frauenzimmer. Amanda wunderte sich selbst. Aber vielleicht wurde sie noch wütend, wenn sie erst wußte, wer es war, und wenn sie mit ihr sprach. Sie hoffte, sie würde noch in Fahrt kommen -! Die sollte sich bloß nicht einbilden, daß sie sich irgend etwas wegnehmen ließ, was ihr gehörte!

So stand sie und wartete geduldig und ungeduldig, ganz wie ihre Gedanken gerade gingen. Bis sie schließlich - nicht ohne Vergnügen - sah, daß die Besucherin scheltend aus dem Fenster kletterte. Das Vergnügen aber kam daher, daß dieses Aus-dem-Fenster-Steigen

endgültig bewies, Hänseken machte sich nicht viel aus dem Frauenzimmer, und es hatte auch keine Gewalt über ihn. Denn wenn er sogar zu faul war, ihr die Haustür aufzuschließen -!

Das Frauenzimmer hielt sich nicht lange mit einem zärtlichen Abschied auf, es sah sich auch nicht um, sondern es steuerte gradenwegs auf die Hausecke am Hofe zu.

Nun also! dachte Amanda Backs und steuerte nach. In dem Inspektorenzimmer wurden die Fenster mit ziemlichem Geräusch geschlossen, und das brachte Amanda nun doch etwas in Fahrt. Denn dies Fensterschließen bei so warmer Nacht konnte ja nur heißen, daß dem Herrn Inspektor Meier weitere Besuche unerwünscht waren - und das bezog Amanda auf sich.

"Du, wart einmal, Hartigen!" rief sie also.

"Du, Mandchen?" fragte die Kutscherfrau und spähte nach der andern. "Was du mich erschreckt hast! Na, gute Nacht. Ich muß weiter. Ich hab's eilig."

"Nimm mich mit!" sagte Amanda und hastete neben ihr über den Hof, auf die Kutscherwohnung zu. "Ich hab den gleichen Weg wie du!"

"Hast du das?" fragte Frau Hartig und ging langsamer. "Ja, so eine wie du, von morgens bis in die Nacht auf den Beinen - so eine kriegt die gnädige Frau auch nicht leicht wieder!"

"Ich komme auch nicht so leicht von den Beinen wie manche andere", sagte Amanda voller Bedeutung. "Na, geh doch zu, dein Mann wird schon auf dich warten!"

Aber die Hartig blieb stehen. Es war mitten auf dem Hof. Rechts waren die Schweineställe, in denen es noch manchmal raschelte(die Stalltüren standen der Hitze wegen offen), links war die Miststätte. Die beiden Frauen aber standen so, daß Amanda grade das Licht in der Kutscherwohnung sah, an einem Ende des Hofes; Frau Hartig aber sah nach dem andern Ende hinüber, wo jetzt hinter den Inspektorenfenstern auch Licht brannte - und das mußte sie ja wirklich ärgern, daß er nun doch Licht gemacht hatte.

"Mandchen ist überhaupt keine Anrede für dich!" sagte Amanda Backs schließlich nach längerem Schweigen streitsüchtig.

"Ich kann ja auch Fräulein Backs sagen, wenn es dir lieber ist", gab die Hartig friedfertig zu.

"Ja, Fräulein", klang es zurück. "Ich bin noch keine Frau - ich kann immer hingehen, wohin ich mag!"

"Das kannst du", bestätigte die Kutscherfrau. "So eine

Geflügelmamsell, wie du bist, nimmt jede Herrschaft gerne."

"Wollen wir nun davon reden oder wollen wir nicht davon reden?!" rief Amanda zornig und stampfte mit dem Fuß auf.

Die Kutscherfrau schwieg.

"Ich kann ja auch mit deinem Mann darüber sprechen", sagte Amanda drohend. "Ich hab's gehört, er hat sich das letztemal schon sehr gewundert, weil du so karierte Kinder kriegst!"

"Karierte Kinder!" lachte die Hartig, aber ein bißchen gezwungen. "Wie spaßig du reden kannst, Mandchen, man muß sich bloß wundern!"

"Du sollst nicht Mandchen sagen!" befahl Amanda zornig. "Ich mag das von dir nicht hören!"

"Ich kann ja auch Fräulein Backs sagen."

"Dann tu es auch - und überhaupt ist es eine Schande, wenn eine verheiratete Frau einem Mädchen ihren Freund wegnimmt!"

"Ich hab ihn dir doch nicht weggenommen, Mandchen!" sagte die Hartig bittend.

"Das hast du doch -! Und so eine, die acht Kinder hat, du hast doch dein Teil weg, sollte man denken!"

"Gott, Mandchen!" sagte die Kutschern ganz friedfertig, "das kennst du bloß nicht, wie das ist, wenn man verheiratet ist. Das denkt man sich alles ganz anders."

"Mach bloß keine Redensarten, Hartigen!" rief Amanda drohend. "Mich kannst du nicht auf die süße Tour kriegen."

"Wenn man erst seinen Festen hat", erklärte die Hartigen bereitwillig, "denkt man, es ist vorbei. Aber dann wird einem doch wieder so komisch ..."

"Wie komisch -? Quatsch bloß keinen Rhabarber!"

"Gott, Mandchen, das tu ich doch auch nicht! Das kennst du doch auch, wenn einem so komisch wird, und man hat ein Kribbeln über den ganzen Leib, und bei nichts hat man Ruhe, und alles soll immer schnell gehen, als könnte man es nicht abwarten - und plötzlich hat man dagestanden, eine geschlagene Viertelstunde, den Eimer mit Schweinekartoffeln in der Hand, und weiß von nichts was ..."

"Ich habe nichts mit Schweinekartoffeln zu tun!" sagte Amanda Backs abweisend. Aber sie war eigentlich gar nicht mehr so abweisend, sie war eher nachdenklich.

"Nein, natürlich nicht!" sagte die Hartig eilig. Und sie setzte hinzu, weil sie es jetzt wohl wagen konnte: "Bei dir sind es dann die

Hühnerkartoffeln ..."

Aber die Geflügelmamsell spürte diese Bosheit gar nicht. "Dafür hast du dann deinen Mann", sagte sie mit neu erwachter Strenge, "wenn dir so komisch wird. Da darfst du unsereiner nicht mehr ins Gehege kommen!"

"Aber, Mandchen, das ist es ja gerade, was man vorher nicht weiß!" rief die Hartig ganz eifrig aus.

"Was weiß man vorher nicht?"

"Daß der eigene Mann dagegen gar nichts hilft! Hätt ich das als junges Mädchen gewußt, was ich heute weiß, ich hätt nie geheiratet, das darfst du mir glauben!"

"Ist das wirklich so, Hartigen?" fragte Amanda Backs tief nachdenklich. "Magst du denn deinen Mann gar nicht leiden?"

"Gott, ja, natürlich: ganz nett ist er ja soweit. Und ganz ordentlich auch. Aber sooo doch nicht. Schon lange nicht mehr."

"Da magst du also Hänse - den Inspektor Meier lieber -?"

"Gott, Mandchen, was du auch alles denkst! Ich hab dir schon gesagt, ich nehm ihn dir nicht weg!"

Amandas Stimme klang sehr böse: "Da hat er also angefangen, ich meine, der Meier?"

Die Hartig schwieg eine Weile und bedachte sich. Aber sie entschied sich doch für die Wahrheit. "Nee, Mandchen, ich will dir nichts vorkohlen. Ich hab zuerst gewollt - und so was spürt ein Mann doch. Und dann war er ja auch ein bißchen dun ..."

"So, dun war er auch noch! Aber ich versteh noch immer Bahnhof - wenn du ihn gar nicht magst?"

"Ja, weißt du, Mandchen, ich weiß doch auch nicht, aber wenn es einen dann so kribbelt, und neugierig ist man doch auch ..."

"Du sollst aber nicht -!" Amanda holte zu einer gewaltigen abschließenden Strafpredigt aus, die allerdings wesentlich milder ausgefallen wäre, als sie sich vorgenommen hatte. Denn am Ende verstand sie die Hartigen ganz gut ...

Aber Amanda brach ab.

Über den Hof kamen hintereinander gegangen drei Gestalten: erst ein Mann, dann eine Frau, dann noch ein Mann ...

Ganz still und sachte gingen die im Dunkeln über den Hof, ohne ein Wort - und Amanda Backs und Frau Hartig, die starrten.

Als der vorderste Mann bei den Frauen angelangt war, blieb er unwillkürlich stehen und fragte mit scharfer, befehlender Stimme: "Wer steht denn da -?!"

Zugleich wurden die beiden Frauen von einer elektrischen Taschenlampe, die die Frau in der Mitte hielt, angeleuchtet.(Denn der Mond war noch nicht hoch, die Stallgebäude fingen sein Licht noch ab.)

"Ich, Amanda", sagte Amanda Backs ruhig, während die Kutscherfrau unwillkürlich die Hände vors Gesicht hielt, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt.

"Macht man zu, daß ihr ins Bett kommt!" sagte der Mann vorne wieder, und lautlos und sachte gingen die drei an den beiden Frauen vorüber - über den Hof, um die Ecke des Inspektorenhauses herum - und die Hartig konnte sehen, daß dort, während ihres Disputes, das Licht wieder erloschen war.

"Wer war denn das?!" fragte die Kutscherfrau ganz verblüfft.

"Ich glaub, das war das gnädige Fräulein", sagte Amanda nachdenklich.

"Das gnädige Fräulein, mitten in der Nacht, und mit zwei Männern!" rief die Hartig. "Das glaub ich nie und nimmer im Leben!"

"Der hinten kann der Diener gewesen sein", überlegte Amanda weiter. "Den vorne kenn ich nicht. Der ist nicht von hier - die Stimme habe ich noch nicht gehört!"

"Komisch "..., sagte die Hartig.

"Komisch "..., sagte die Backs.

"Was geht es den denn an, daß wir hier stehen?" fragte Amanda laut. "Ist gar nicht von hier und schickt uns ins Bett!"

"Eben!" echote die Hartig. "Und das gnädige Fräulein läßt ihn ruhig kommandieren ..."

"Wo die bloß hingegangen sind?" fragte Amanda und starrte gegen das Hofende.

"Ins Schloß?" schlug die Hartig vor.

"I wo! Wieso denn hintenrum? Das gnädige Fräulein braucht doch nicht hintenrum ins Schloß!" sagte Amanda abweisend.

"Dann ist da nur noch das Inspektorhaus "..., sagte die Hartig probierend.

"Das hab ich eben auch gedacht", gab Amanda offen zu. "Aber was wollen sie da, so komisch, dreie hintereinander, und so sachte - als dürfte sie keiner sehen ..."

"Ja, komisch war es", gab die Hartig zu. Und schlug vor: "Wenn wir mal nachsähen -?"

"Du gehst jetzt endlich zu deinem Mann!" sagte Amanda Backs streng. "Wenn eine beim Inspektorhaus nachsieht, bin ich es."

"Aber ich wüßte doch so gerne, Mandchen ..."

"Du sollst doch Fräulein Backs sagen. Was willst du denn überhaupt deinem Mann erzählen, wo du so lange gewesen bist? Und deine Kinder ..."

"Och "..., machte die Hartigen gleichgültig.

"Und überhaupt, du läßt jetzt meinen Hans in Frieden! Noch mal geht es nicht so gut ab! Wenn ich dich noch einmal erwische ..."

"Bestimmt nicht, Mandchen, das schwör ich dir! Aber du erzählst mir auch morgen ..."

"Gute Nacht!" sagte Amanda Backs kurz und ging auf das dunkle Inspektorenhaus zu.

Die Kutscherfrau stand noch einen Augenblick und sah ihr neidisch nach. Sie bedachte, wie gut es solch junge unverheiratete Mädchen hatten und wie sie es gar nicht wußten. Dann seufzte sie leise und ging ihrem Heim entgegen, zu dem Kindergewusel und dem bestimmt schimpfenden Manne.

2

Nach der Erschütterung in der Abendandacht hatte Frau von Teschow ein tiefes Ruhebedürfnis empfunden. Sie wollte nichts mehr sehen und hören, schnell wollte sie ins Bett.

Auf der einen Seite von ihrer Freundin, Fräulein Jutta von Kuckhoff, auf der andern vom Diener Elias geleitet, war sie hinauf in das große, dreifenstrige Mahagonischlafzimmer gewankt. Fräulein von Kuckhoff hatte die Zitternde, Schluchzende ausgezogen, und nun lag sie in dem breiten Mahagonibett, klein anzusehen wie ein Kind, mit dem trocken gewordenen winzigen Vogelkopf, ein weißes Betthäubchen über den dünnen Haaren, eine weitmaschig gestrickte Bettjacke um die Schultern gelegt.

Sie jammerte: "O mein Herr und mein Gott - Jutta, was für eine Welt! Gott verzeihe es mir, daß ich richte - aber was für eine schamlose Jugend! Ach, was wird Lehnich sagen -?! Und erst Superintendent Kolterjan?!"

"Jedes Ding ist zu etwas gut, Belinde", sagte Jutta weise. "Rege dich

bloß nicht noch mehr auf! - Frierst du immer noch so?"

Ja, Frau von Teschow fror noch immer.

Fräulein von Kuckhoff klingelte nach dem Diener Elias. Er bekam den Auftrag, zwei Wärmflaschen aus der Küche zu besorgen.

Der Diener wollte gehen.

"Ach, Elias!"

"Bitte, gnädige Frau?"

"Sagen Sie doch der Mamsell, sie soll mir noch eine Tasse Pfefferminztee aufbrühen. Ja - und recht stark. Und mit viel Zucker. Ja - ach Gott!"

"Jawohl, gnädige Frau."

Der Diener wollte gehen.

"Ach, Elias!"

"Bitte, gnädige Frau?"

"Sie soll mir doch lieber einen Glühwein machen, keinen Pfefferminztee. Pfefferminztee stößt immer so auf! Aber ohne Wasser, nur Rotwein. Rotwein enthält schon sehr viel Wasser. Ach Gott - und ein bißchen Muskat. Und eine Nelke. Und sehr viel Zucker. Nicht wahr, Elias, Sie besorgen mir das richtig?"

"Jawohl, gnädige Frau."

"Und - ach - Elias, einen Augenblick noch! Sie soll einen kleinen Schuß Rum hineintun - mir ist wirklich sehr schlecht -, nicht viel. Aber man muß ihn natürlich schmecken, nicht so ganz wenig. Elias, Sie verstehen -?"

Der Diener Elias, bald siebzig, mit dem glatten Kopf, versteht. Er wartet noch einen Augenblick und will gehen, als ihn der schwache Ruf der Kranken unter der Tür noch einmal erreicht: "Ach, Elias!"

"Bitte, gnädige Frau -?"

"Ach, Elias, bitte, kommen Sie doch einmal näher ... Sie können sich einmal in der Küche erkundigen ... aber nicht so, als ob es von mir ausgeht, so ganz nebenbei ..."

Der Diener Elias wartet stumm. Der gnädigen Frau muß grade wieder sehr schlecht sein, sie kann kaum reden. Sicher wäre es gut, wenn sie ihren Glühwein rasch bekäme, aber er kann ihn noch nicht bestellen, Frau von Teschow hat noch etwas auf dem Herzen.

"Elias - fragen Sie doch einmal - aber unauffällig! -, ob sie - Sie wissen schon! - ins Bett gegangen ist. Ja, fragen Sie einmal, aber unauffällig ..."

Eine Weile noch geht es der Kranken sehr schlecht, und Fräulein von

Kuckhoff hat viel zu tun mit guten Sprüchen, weisem Zureden, die kalten Hände zwischen den ihren wärmen, die schmerzende Stirn streicheln. Aber dann kommen die Wärmflaschen, es kommt der Glühwein, der kräftig nach Rum duftet: schon der Geruch belebt Frau von Teschow. Im Bett sitzend, mit streng zusammengekniffenen Lippen, hört sie die Botschaft, daß "sie" ausgegangen ist.

"Es ist gut, Elias. Ich bin sehr traurig. Recht gute Nacht, Elias. Ich werde wohl kaum schlafen können."

Elias macht zu diesem Abschiedsgruß ein angemessen betrübtes Gesicht, wünscht ebenfalls eine gute Nacht und setzt sich dann ins Vorzimmer. Er muß noch auf den Geheimrat warten, um ihm die Stiefel auszuziehen. Dann ist sein Dienst zu Ende.

Aber das Warten wird dem alten Elias nicht zu lang, er hat seine Beschäftigung. Aus der Tasche zieht er eine dicke, ehemals braune, nun schon fast schwarze Brieftasche und eine lange Liste mit vielen Nummern, Namen, Wörtern. Aus der Brieftasche kommt ein Paket mit braunen Banknoten, die Liste wird aufgeschlagen, und nun wird verglichen, angestrichen, geschrieben.

Die alte gnädige Frau hat heute einen schlechten Abend, aber der Diener Elias hat einen guten: es ist ihm heute gelungen, fünf neue alte braune rotgestempelte Tausendmarkscheine aus der Friedenszeit aufzukaufen.

Wie viele deutsche, namentlich ältere Menschen, die die höllischen Wunder der Inflation erleben, weigert sich auch Elias, an eine allgemeine Entwertung zu glauben. Irgend etwas muß einem Menschen verbleiben, der über fünfzig Jahre emsig gespart hat; unmöglich ist es, daß der Strudel alles verschlingt.

Eine einfache Überlegung sagt, daß "richtiges Geld" aus der Zeit vor dem Kriege auch "richtig" geblieben sein muß. Dies beweist schon der Satz auf den Scheinen, daß sie gegen Gold von der Reichsbank eingelöst werden. Und Gold ist immer noch richtig. Unrichtig ist natürlich Geld, das im Kriege oder gar nach dem Kriege ausgegeben wurde. Im Kriege ging ja der Betrug schon los mit den Leinenhemden aus Papier und den Lederschuhen aus Pappe.

Als der alte Elias die ersten Anzeichen der Inflation spürte, fing er an, Tausendmarkscheine aufzukaufen. Es gab immer Leute, die Geld brauchten: er bekam welche. Es gab immer Leute, die nicht so gut nachdenken konnten wie der alte Elias. Jawohl, Elias hatte gehört, die Reichsbank in Berlin gab kein Gold mehr für diese Tausendmarkscheine. Aber das war natürlich nur Bluff, auf die Dummen berechnet. Die

Reichsbank wollte ihre eigenen Scheine billig bekommen - um das knappe Gold zu sparen. Elias aber war nicht dumm, er gab der Reichsbank seine Scheine nicht billig. Er wartete ab, er konnte es abwarten - eines Tages bekam er dann doch Gold dafür, ganz, wie es deutlich aufgedruckt war.

So fing es an bei dem Elias - zu Anfang war es eine Kapitalanlage. Aber dann kam hinzu, daß dies auch seine Wissenschaft hatte - der alte Elias entdeckte auf seine alten Tage die Wonnen des Sammlers(ohne es zu wissen).

Es gab so viele verschiedene braune Tausendmarkscheine! Zwar, das eine lernte man gleich: nur die mit dem roten Stempel taugten etwas. Die mit dem grünen stammten alle aus der Kriegs- und Nachkriegszeit - die durfte man nicht sammeln! Aber da gab es nun Scheine mit einem roten Stempel und welche, die trugen zwei rote Stempel! Es gab Banknoten, die trugen keinen Faserstreifen, und dann kamen Scheine mit einem blauen Faserstreifen links und Scheine mit einem blauen Faserstreifen rechts! Es gab Scheine mit acht Unterschriften, aber auch welche mit neun, und manche waren sogar von zehn Männern unterschrieben! Dann gab es Scheine mit den Buchstaben A, B, C, D und welche mit siebenstelligen und welche mit achtstelligen Ziffern. Es war immer genau derselbe braune Tausendmarkschein, an Bild und Schrift änderte sich nichts - aber welche verwirrende Menge von Unterschieden!

Der alte Diener Elias schreibt an und vergleicht, er sammelt schon längst nicht mehr nur braune Tausendmarkscheine, er sammelt Unterschiede, Kennzeichen, Merkmale. Sein großer, runder, glatter Kopf wird ganz rot dabei. Er strahlt, wenn er eine neue Spielart findet, die er noch nicht hat! Er ist fest davon überzeugt, daß diese Unterschiede geheime Merkmale sind, von Kennern für Kenner gemacht. Sie bedeuten bestimmt etwas; wer sie auszulegen versteht, wird viel Gold damit gewinnen!

Der alte Geheimrat mag ihn auslachen. So schlau der alte Herr ist, von diesen geheimen Dingen versteht er nichts! Er glaubt, was ihm die Leute auf den Banken erzählen, er glaubt, was in der Zeitung steht. Der alte Elias ist nicht so gläubig - dafür ist er heute auch schon reicher als sein Herr, er besitzt weit über hunderttausend Mark! Goldgeld! Geld wie Gold!

Heute ist er sehr glücklich: drei ganz neue Scheine hat er unter seinen neuen Ankäufen. Darunter einen aus dem Jahre 1876. Er hat nie gewußt, daß es so alte Tausendmarkscheine gibt, sein ältester war bisher aus dem Jahre 1884. Oh, er wird es sich sehr überlegen, ob er einmal, wenn

es eines Tages soweit ist, diese Scheine gegen Gold einwechseln wird! Sie sind so schön, diese Scheine mit den feierlichen Gestalten, die, wie er gehört hat, Industrie, Handel und Verkehr bedeuten.

"Industrie, Handel und Verkehr", flüstert er und starrt die Scheine ergriffen an.

Alles, was das Volk arbeitet, überlegt er. Nur die Landwirtschaft ist nicht dabei - und das ist schade!

Was soll er mit Gold? Für über hunderttausend Mark Gold kann er nicht mit sich herumtragen. Um Gold muß er sich bloß ängstigen - aber dieses Papier ist so schön!

Er ist glücklich, der alte Diener! Schein um Schein wird sorgfältig zusammengefaltet, ehe er in die Tasche zurückwandert. Die Banknotenpressen in Berlin jagen und hetzen das Volk in einen immer quälenderen Rausch - ihm haben sie Glück geschenkt, großes Glück! Schöne Scheine!! -

Der Glühwein hatte seine Wirkung getan. Frischer saß Frau von Teschow zwischen den Kissen, zu ihrer Freundin sagte sie: "Wenn du mir etwas vorlesen würdest, Jutta?"

"Aus der Bibel -?" fragte Fräulein von Kuckhoff bereitwillig.

Doch das war heute abend kein guter Vorschlag. Die Abendandacht mit der Bekehrung der Sünderin war mißglückt. Die Bibel war also samt ihrem Gott ein wenig in Ungnade.

"Nein, nein, Jutta - wir müssen doch endlich mit dem Goethe weiterkommen!"

"Gerne, Belinde. Bitte, die Schlüssel!"

Fräulein von Kuckhoff bekam die Schlüssel. Oben im Kleiderschrank, bei den Hüten, lag wohlversteckt ein schöner, dreißigbändiger, halblederner Goethe - unter Verschluß -, das Konfirmationsgeschenk der Frau von Teschow an ihre Enkelin Violet von Prackwitz. Violets Konfirmation lag schon weit zurück, aber noch war nicht abzusehen, wann ihr der Goethe ausgehändigt werden konnte.

Fräulein von Kuckhoff nahm aus dem Schrank den siebenten Band:

Die Gedichte - Lyrisch. I.

Er sah merkwürdig geschwollen aus. Neben den Band auf den Tisch legte Fräulein von Kuckhoff Schere und Papier.

"Kleister, Jutta!" mahnte Frau von Teschow.

Die Freundin setzte auch noch das Töpfchen mit Kleister dazu, schlug das Buch auf und begann an bezeichneter Stelle das Gedicht vom

Goldschmiedsgesellen zu lesen.

Nach dem ersten Vers nickte Frau von Teschow beifällig mit dem Kopf: "Diesmal haben wir Glück, Jutta!"

"Warte es ab, Belinde", sagte Fräulein von Kuckhoff. "Man soll das Schwein erst schlachten, ehe man seinen Speck lobt."

Und sie las den zweiten Vers.

"Gut, gut!" nickte Frau von Teschow und fand auch die folgenden Verse lobenswert.

Bis man zu den Zeilen kam:

"Das kleine Füßchen tritt und tritt,

Da denk ich mir das Wädchen,

Das Strumpfband denk ich auch wohl mit,

Ich schenkt's dem lieben Mädchen ..."

"Halt, Jutta!" rief Frau von Teschow. "Wieder!" sagte sie klagend. "Was meinst du, Jutta?" fragte sie.

"Ich hab es dir ja gleich gesagt", erklärte Fräulein von Kuckhoff. "Die Katze läßt das Mausen nicht."

"Und das will ein Staatsminister sein!" empörte sich Frau von Teschow. "Da sind die von heute auch nicht schlimmer. Was sagst du, Jutta?" Aber sie wartete die Antwort nicht ab. Das Urteil war gefällt. "Kleb es zu, Jutta! Kleb es gut und fest zu - wenn das Kind das läse!"

Fräulein von Kuckhoff war schon dabei, das unzüchtige Gedicht mit Papier und Kleister zu verpflastern. "Viel bleibt nicht, Belinde", sagte sie und hob den Band prüfend.

"Es ist eine Schande!" empörte sich Frau von Teschow. "Und so was will ein Klassiker sein! Ach, Jutta, hätte ich doch lieber einen Schiller für das Kind gekauft - Schiller ist viel edler, lange nicht so fleischlich!"

"Denk an den alten Spruch, Belinde: Kein Ochse ohne Horn. Schiller ist auch nichts für die Jugend. Denke an Kabale und Liebe, Belinde. Und dann diese Frauensperson, diese Eboli ..."

"Richtig, Jutta. Die Männer sind alle so. Du ahnst nicht, welche Mühe ich mit Horst-Heinz gehabt habe ..."

"Jawohl", sagte die Kuckhoff. "Gut Schwein liebt seinen Schmutz. - Na, ich lese weiter."

Gottlob folgte als nächstes das Gedicht von der rettenden Johanna Sebus. Das war zwar nun wieder edel, freilich blieb ganz unklar, warum der Dichter Johanna Sebus immer Schön-Suschen nannte.

"Er hätte doch Schön-Hannchen schreiben müssen, nicht wahr, Horst-Heinz?"

Denn der Geheimrat war eben eingetreten. Er sah vergnügt schmunzelnd den beiden Weiblein bei ihrem Werke zu.

"Hanne wird ihm zu gewöhnlich gewesen sein", schlug der Geheimrat nach genauer Prüfung des Falles vor. Er ging, das Buch in der Hand, auf Socken und in Hemdsärmeln im Zimmer auf und ab.

"Aber wieso Suschen?"

"Ich denke mir, Belinde, Suschen ist eine Abkürzung von Sebuschen. Und, Sebuschen, weißt du, Belinde - was meinen Sie, Jutta?" Der Geheimrat war ernst, nur die Fältchen in seinen Augenwinkeln zuckten. "Busen - Buschen - Sebuschen - es klingt doch auch anstößig, wie -?"

"Kleb es zu, Jutta, kleb es zu! Wenn das Kind auf diese Gedanken käme!" rief Frau von Teschow aufgeregt. "Ach, es bleibt einfach nichts! - Horst-Heinz, du mußt auf der Stelle die Backs raussetzen!"

"Auf der Stelle gehe ich bloß ins Bett. Außerdem -"

"Ich gehe ja schon", brummte die Kuckhoff. "Lassen Sie mich doch erst den Goethe einschließen!"

"- außerdem ist die Backs schon draußen. Ich hab sie vorhin im Park gesehen."

"Du weißt ganz gut, was ich meine, Horst-Heinz!"

"Wenn ich weiß, was du meinst, brauchst du es mir ja nicht mehr zu sagen, Belinde". Und mit einem drohenden Räuspern: "Fräulein von Kuckhoff, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich jetzt aus den Hosen steige!"

"Horst-Heinz! Laß ihr doch Zeit, sie muß mir doch erst gute Nacht sagen!"

"Ich gehe ja schon! Gute Nacht, Belinde, und mach dir bloß keine Gedanken mehr wegen der Andacht! Schlaf schön! - Liegen die Kissen richtig? Die Wärmflaschen ..."

"Fräulein von Kuckhoff -!!! Jetzt kommen die Unterhosen, und dann steh ich im Hemde! Sie werden doch nicht einen Preußischen Geheimen Ökonomierat im Hemde ..."

"Horst-Heinz!"

"Ich gehe sofort! Schlaf schön, Belinde, gute Nacht, und die Brausepulver ..."

"Suschen - Buschen - Sebuschen -!" schrie der Geheimrat. Ihm war nur noch das Hemd verblieben. Aber er schreckte davor zurück, diese letzte

Hülle fallen zu lassen ... "Jeden Abend dasselbe Theater mit den beiden alten Hühnern! Oh, diese Weiber!" schrie er.

"Wünsche eine gute Nacht, Herr Geheimrat", sagte Fräulein von Kuckhoff mit Würde. "Und er schuf Menschen zu seinem Ebenbilde - das ist lange her ..."

"Jutta!" protestierte Frau von Teschow schwach gegen diese Verunglimpfung ihres Horst-Heinz, aber die Tür fiel hinter der Freundin ins Schloß, und nicht einen Augenblick zu früh.

"Was war denn mit der Abendandacht?" fragte der Geheimrat und tauchte in sein Nachthemd.

"Weiche mir nicht aus, Horst-Heinz, du mußt morgen die Backs entlassen!"

Das Bett seufzte gewaltig unter dem alten Herrn auf. "Es ist deine Geflügelmamsell und nicht meine", sprach er. "Willst du eigentlich noch lange Licht brennen? Ich möchte schlafen."

"Du weißt, daß ich Aufregungen nicht vertrage - und wenn dann solche Person frech wird ... Du könntest mir gerne einmal den Gefallen tun, Horst-Heinz!"

"Ist sie in der Abendandacht frech geworden?" erkundigte sich der Geheimrat.

"Sie ist unsittlich", sagte Frau von Teschow wütend. "Immer steigt sie zu dem Inspektor ins Fenster."

"Ich glaube, heute abend auch", sagte der Geheimrat. "Deine Andacht hat wohl noch nicht gewirkt, Belinde ..."

"Sie muß eben weg. Sie ist unverbesserlich."

"Und dann geht wieder das Theater mit deinem Geflügel los. Du weißt, wie es ist, Belinde. Noch keine hat so wenig Abgang bei den Kücken gehabt, und so viel Eier hat es auch noch nie gegeben. Und Futter braucht sie weniger als jede andere!"

"Weil sie mit dem Inspektor unter einer Decke steckt!"

"Richtig, sehr richtig, Belinde!"

"Sie kriegt eben viel mehr Futter, als sie anschreibt!"

"Das kann uns doch nur recht sein, es ist das Korn unseres Schwiegersohnes! - Nein, nein, Belinde, sie ist tüchtig und hat eine glückliche Hand. Ich würde ihr nicht kündigen. Was geht es uns an, was sie nachts macht?"

"Aber das Haus soll rein sein, Horst-Heinz!"

"Sie geht doch zu ihm ins Beamtenhaus, er nicht zu ihr hier in den

Katen!"

"Horst-Heinz!"

"Na, was denn noch, Belinde? Es stimmt doch!"

"Du weißt ganz gut, was ich meine, Horst-Heinz! Sie ist so unverschämt!"

"Das ist sie", gab der Geheimrat gähnend zu. "Aber das ist eigentlich immer so. Die tüchtigsten Leute lassen sich auch am wenigsten sagen. Den kleinen Kerl, den Meier, ihren Freund, den kannst du stundenlang in den Hintern treten, der wird nur immer höflicher ..."

Bei ihrem Mann hörte Frau von Teschow ein grobes Wort meistens gar nicht, so überhörte sie auch den Hintern.

"So sag Joachim, daß er den Kerl rausschmeißt. Dann kann ich die Backs behalten."

"Wenn ich meinem Herrn Schwiegersohn sage, er soll seinen Beamten rausschmeißen", sprach der alte Herr nachdenklich, "so behält er ihn bestimmt bis an sein Lebensende. - Aber tröste dich, Belinde, ich glaube, Amandas Freund fliegt morgen ... Und tut er's nicht, werde ich ihn ein bißchen loben - dann muß er noch dieselbe Stunde die Koffer packen!"

"Das tu, Horst-Heinz!"

3

Der Mensch ist nicht ganz frei von der Eigenschaft, seine Fehler andern Geschöpfen anzudichten: An der Geschichte vom Vogel Strauß, der aus Furcht den Kopf in den Sand steckt, soll kein wahres Wort sein; dafür ist es bestimmt wahr, daß mancher Mensch vor der nahenden Gefahr die Augen schließt und dann behauptet, sie sei nicht da.

Inspektor Meier hatte nach dem Abgang von Frau Hartig nur darum Licht gemacht, weil er sich etwas zu trinken suchen wollte. Der ganz verdunte Schädel, der Reinfall beim alten Geheimrat(auf dessen Wohlwollen er immer gerechnet hatte), die nahende Rächerin Amanda - all dies rief bei ihm nichts anderes wach als den Wunsch nach Trinken. Er wollte "eben an den ganzen Dreck nicht mehr denken".

Nachdem er die Fenster gegen einen Überfall Amandas gesichert hatte, stand er einen Augenblick still in seinem recht wüst aussehenden Zimmer mit dem auseinandergewühlten Bett und den herumgestreuten Kleidungsstücken. Ebenso wüst sah es in seinem Schädel aus, dazu stach ein scharfer Schmerz von innen gegen die Stirn. Gedankenfetzen lösten sich aus dem Dunkel und waren vergangen, ehe er sie noch hatte

erkennen können. Er wußte, er hatte nicht eigentlich etwas zu trinken auf der Bude, keinen Kognak, keinen Korn, keine Flasche Bier - aber wenn einem so war, wie ihm jetzt war, gab es immer etwas zu trinken, es mußte einem nur einfallen.

Er runzelte die Stirn von der Anstrengung des Denkens, aber ihm fiel nur ein, daß er noch einmal in den Gasthof gehen und sich eine Flasche Schnaps holen könnte. Er bewegte unmutig den Kopf. Das hatte er sich doch schon längst überlegt, daß er sich dort wegen der drohenden Rechnung nicht sehen lassen wollte. Außerdem hatte er nichts an - schon das alte, schlaue Aas, der Geheimrat, hatte das gemerkt. Die andern würden es auch merken, wenn er so zum Gasthof ging!

Er sah an sich herunter, er fing trübselig zu lächeln an. Ein schöner Dreck, so ein Kerl! Ein Leib für die Feuerzange!

"Die Scham liegt nicht im Hemde" - sagte er laut einen Satz, den er mal gehört und den er behalten hatte, weil er ihm jede Schamlosigkeit zu rechtfertigen schien.

Also aber - jetzt mußte er sein Hemd suchen, und er fing an, mit den Füßen die Kleider auf der Erde hin und her zu stoßen, in der Hoffnung, das Hemd würde zum Vorschein kommen. Aber es kam nicht hervor, statt dessen stieß er sich in die Sohle einen Splitter ein.

"Schweinerei, elende", schimpfte er laut, und bei der Schweinerei fielen ihm die Schweine ein, bei den Schweinen aber die Viehapotheke auf dem Büro. Bei der Viehapotheke dachte er zuerst an Hoffmannstropfen. Aber die waren zuwenig, um sie mit Wirkung zu trinken, außerdem waren wahrscheinlich keine in der Apotheke!

Hoffmannstropfen - seit wann gab man denn den Schweinen Hoffmannstropfen -?!! Auf einem Stück Zucker, was?! Er mußte lachen bei dieser blöden Idee, sie war ja zu blöde, diese Idee!

Er drehte sich scharf um, Mißtrauen und Furcht im Gesicht. Hatte da jemand gelacht über ihn im Zimmer?! Es klang genauso, als hätte hier jemand über ihn gelacht! War er überhaupt allein? War die Kutschersche schon weggegangen? War die Amanda schon gekommen, oder kam sie erst? Er sah sich langsam, stieläugig um - der Weg zwischen Sehen und Erkennen war so mühsam. Lange mußte er auf einen Gegenstand schauen, bis das Hirn meldete: Schrank! Oder: Gardine! - Bett, keiner drin! Später: Auch keiner drunter!

Mühsam, langsam kam er auf das Ergebnis: es war wirklich keiner im Zimmer. Wie aber war es mit dem Büro? War da jemand drin und sah ihm zu? Die Tür zum Büro stand auf, der dunkle Raum nebenan war, als

liege jemand auf der Lauer ... War die Außentür zum Büro überhaupt verschlossen? Die Gardinen zugezogen? O Gott, o Gott, so viel zu tun, so viel zu erledigen, sein Hemd hatte er auch noch immer nicht gefunden! Kam er denn nie ins Bett -?

Mit hastigen, torkelnden Schritten, nackt, ging Negermeier auf das Büro und rüttelte an der Außentür. Die Tür war zu, hatte er doch gewußt, auch die Gardinen waren zu. Wer erzählte solchen Quatsch?! Er schaltete das Licht ein und sah die Gardinen feindlich an - natürlich waren sie zu - alles öder Schmus, nur gemacht, ihn reinzulegen. Die Gardinen waren zu, und sie blieben zu - ihm sollte mal einer kommen und seine Gardinen anrühren! Seine Gardinen waren es, seine! Er konnte damit tun, was er wollte - wenn er sie jetzt runterriß, war es allein seine Sache!

In höchster Erregung machte er ein paar Schritte auf die unseligen Gardinen zu - und die Viehapotheke, ein braungestrichenes, fichtenes Schränkchen, geriet in sein Blickfeld.

Hallo! Da bist du ja! Na endlich! Negermeier grinste zufrieden. Der Schlüssel steckte, das Türchen hatte parieren gelernt und ging auf den ersten Druck auf, und da haben wir ja, in zwei vollgestopften Fächern, den ganzen Salat. Ganz vornean steht eine große bräunliche Flasche, es steht auch was auf dem aufgeklebten Zettel - aber wer will solche Apothekerklaue lesen? Na, die ist gedruckt, aber das ist derselbe Dreck!

Negermeier nimmt die Flasche heraus, zieht den Stopfen und riecht in den Flaschenhals.

Er tut es gleich noch einmal. Hoch hinauf in die Nase zieht er den Ätherdampf, und so steht er da, während sein Leib leise zu zittern anfängt. Eine überirdische Klarheit dringt in sein Hirn, Erkenntnis und Einsicht, wie er sie nie gefühlt, erfüllen ihn - er atmet ein und atmet ein - das ist Seligkeit!

Sein Gesicht wird dabei immer schärfer, die Nase spitzer. Tiefe Falten furchen die Haut. Der Körper fängt an zu zittern. Aber er flüstert: "Oh, ich verstehe alles! Alles! Die Welt ... Klarheit ... das Glück ... blau ..."

Die Ätherflasche entfällt seinen zitternden Händen, hart schlägt sie auf den Boden und zerbricht. Er starrt darauf, noch berauscht. Dann geht er rasch zum Schalter, löscht das Licht im Büro, tritt in sein Zimmer, löscht wiederum das Licht, tastet sich auf sein Bett und wirft sich hin.

Er liegt bewegungslos, mit geschlossenen Augen, völlig dem Anblick der lichten Figuren hingegeben, die sich in seinem Hirn bewegen. Die Gestalten werden blasser, grauer Nebel weht über sie hin. Von den

Rändern des Hirns zieht Schwärze herbei, es wird dunkler und dunkler - plötzlich ist alles schwarz: Negermeier schläft.

4

"Sie müssen doch wissen, wer den Schlüssel zum Hause hat", schilt der Leutnant ärgerlich.

Die drei stehen vor dem dunklen Beamtenhaus, der Diener Räder hat auf die Klinke gedrückt, aber die Haustür ist verschlossen.

"Den Schlüssel hat natürlich der Herr Meier", sagt der Diener.

"Es muß doch noch einen Schlüssel geben", beharrt der Leutnant. "Gnädiges Fräulein, wissen Sie nicht, wer einen zweiten Schlüssel hat?"

Obwohl die Situation ganz eindeutig ist, bleibt der Leutnant dabei, Violet mit "gnädiges Fräulein" anzureden.

"Den zweiten Schlüssel wird Papa haben", sagt Weio.

"Und wo hat Ihr Herr Vater die Schlüssel?"

"In Berlin!" Auf eine ärgerliche Gebärde: "Papa ist doch in Berlin, Fritz!"

"Er wird den Schlüssel zu dieser Bude doch nicht mit nach Berlin geschleppt haben! - Und ich muß in die Versammlung!"

"Wenn wir nachher gingen -!"

"Und unterdes rennt er mit dem Briefe weiter! - Ist er überhaupt drinnen?"

"Ich weiß doch nicht!" sagt der Diener Hubert gekränkt. "Ich habe mit Herrn Meier nichts zu tun, Herr Leutnant!"

Der Leutnant vergeht vor Ungeduld, Ärger, Wut. Immer diese verfluchten Weibergeschichten, die dazwischenkommen. Er kann bei dieser Sache Weiber absolut nicht brauchen! Und wie hilflos steht jetzt diese Weio dabei! Keine Spur anders als dieser saublöde Diener! Alles soll er allein machen! Was wird sie jetzt wieder fragen -?

Sie sagt: "Oben steht ein Fenster offen, Fritz."

Er sieht nach oben. Wirklich, oben im Giebel steht ein Fenster offen!

"Großartig, gnädiges Fräulein! Jetzt werden wir dem Herrn gleich einen kleinen Besuch machen. Sie, he, junger Mann, ich heb Sie hier auf die Kastanie - von dem Ast kommen Sie leicht ins Fenster."

Doch der Diener Räder tritt zurück. "Wenn das gnädige Fräulein verzeihen - aber ich möchte jetzt lieber nach Hause gehen."

Der Leutnant flucht: "Seien Sie doch nicht albern, Mensch - wo das

gnädige Fräulein dabei ist!"

"Ich bin Ihnen gerne behilflich gewesen, gnädiges Fräulein", sagt der Diener Räder mit unerschütterlicher Festigkeit und kennt und hört überhaupt keinen Leutnant, "und ich hoffe, Sie werden es nicht vergessen. Aber jetzt muß ich wirklich ins Bett gehen ..."

"Ach, Hubert", bittet Weio, "tun Sie mir doch den Gefallen! Wenn Sie uns die Haustür aufgeschlossen haben, können Sie sofort nach Hause gehen. Es ist doch nur ein Augenblick!"

"Es ist gewissermaßen eine strafbare Handlung, Verzeihung, gnädiges Fräulein", wendet der Diener bescheiden ein. "Und eben standen zwei Frauen bei dem Dunghaufen. Ich möchte wirklich lieber ins Bett gehen ..."

"Ach, laß den albernen Kaffer doch gehen, Violet!" ruft der Leutnant wütend. "Der hat ja Schiß wie 'ne ganze Kompanie mit Ruhr! Ziehen Sie ab, Jüngling, und daß Sie sich nicht noch hier in den Büschen herumdrücken!"

"Ich danke auch vielmals, gnädiges Fräulein", sagt der Diener Räder mit unbeugsamer Höflichkeit. "Ich wünsche dann eine gute Nacht."

Und sicheren, unerschütterlichen Schrittes(er kennt keinen Leutnant) verschwindet er um die Hausecke.

"So ein Stiesel!" schilt der Leutnant. "Wahrhaftig, Violet, ich möchte einmal am Sonntag sehn, was der sich die ganze Woche lang einbildet! - So, und nun hilf mir auf den Baum. Wenn der Stamm von der Nässe nicht so elend rutschig wäre, würde ich es ja auch allein schaffen. Aber ich denke, was dieser Idiot kann, kannst du auch ..."

Während Weio ihrem Leutnant auf den Baum hilft, geht der Diener Räder, die Hände in den Taschen seines Jacketts, leise vor sich hin flötend, über den Gutshof. Er hat seine Augen überall, und so sieht er sehr gut die Gestalt, die im Schatten des Pferdestalls an ihm vorüber will.

"Guten Abend, Fräulein Backs", grüßt er sehr höflich. "Noch so spät unterwegs?"

"Sie sind ja auch noch unterwegs, Herr Räder!" antwortet das Mädchen kriegerisch und bleibt stehen.

"Ja, ich auch!" sagt der Diener. "Aber ich finde, jetzt ist es Zeit, ins Bett zu gehen. Wann stehen Sie denn morgens auf?"

Aber Amanda Backs überhört seine Frage. "Wo ist denn das gnädige Fräulein mit dem Herrn hingegangen, Herr Räder?" fragt sie neugierig.

"Alles nach der Reihe!" sagt der unjugendliche Hubert erzieherisch. "Ich hatte Sie gefragt, wann Sie morgens aufstehen, Fräulein Backs!"

Wäre die Amanda kein echtes Weib gewesen, so hätte sie geantwortet "um fünf" und hätte dann die Beantwortung ihrer Frage verlangen können. Nun aber sagt sie: "Das kann Sie doch gar nicht interessieren, Herr Räder, wann ich aufstehe!" und macht dadurch die Debatte uferlos.

Aber schließlich, nach längerem Hinundherreden, erfährt Herr Räder dann, daß Amandas Aufstehzeit sich nach dem Sonnenaufgang richtet, weil die Hühner mit Sonnenaufgang wach werden. Und er hört, daß jetzt im Juli die Sonne so um viere aufgeht und daß Amanda also spätestens um fünf draußen sein muß.

Er findet, daß dies ziemlich früh ist, er selbst steht erst um sechs, ja, oft noch später auf.

"Ja, Sie!" sagt Amanda ziemlich verächtlich, denn im Grunde ist ein Mann, der Zimmer reinmacht, verächtlich. Und nun meint er, sie solle jetzt lieber schlafen gehen.

"Und wo ist das gnädige Fräulein mit dem Herrn so spät noch hingegangen?" fragt Amanda recht spitz dagegen. "Die ist doch erst fünfzehn, die müßte doch längst im Bett liegen!"

"Ja, das weiß ich nicht, wann das gnädige Fräulein ins Bett geht", sagt Räder. "Das ist wohl verschieden!"

Amanda gibt es noch nicht auf. "Und was war das eigentlich für ein Herr, Herr Räder? Den kenn ich doch gar nicht."

Aber der Diener Räder ist der Ansicht, er hat seine Pflicht getan. Das gnädige Fräulein muß mit ihrem Leutnant jetzt im Haus sein. Mehr kann er nicht tun, sie vor Spionen zu schützen.

"Nein, den Herrn kennen Sie wohl nicht", bestätigt er. "Es kommen eben sehr viele Herren zu uns. - Also gute Nacht!"

Und ehe Amanda noch eine neue Frage stellen kann, ist er weitergegangen. Sie starrt ihm ärgerlich nach, ehe sie sich entschließt, nach Hause zu gehen. So schlau er ist, der junge Räder, in ihr ist doch das Gefühl aufgekommen, daß er sie an der Nase herumgeführt hat. Und da der Herr Räder ein ganz Eingebildeter ist, der sonst nie mit ihr redet, wird er sie schon nicht umsonst, so ganz ohne Zweck genasführt haben. Da steckt etwas dahinter!

Gedankenvoll geht Amanda weiter. Sie verläßt den Hof, biegt um die Ecke des dunklen Inspektorenhauses und bleibt überlegend vor den Fenstern ihres Freundes stehen.

Vorhin standen die Fenster offen, dann schloß er sie. Vorhin aber, als

sie einen Augenblick vom Hof hinübersah, brannte Licht in dem Fenster, jetzt brennt kein Licht mehr. Amanda sagt sich, daß dies alles völlig in Ordnung ist, daß ihr Hänseken jetzt schläft, daß man einen dunen Mann am besten schlafen läßt und daß dies Schlafenlassen grade auch im Hinblick auf die Aussprache mit der Hartig das Beste ist, was sie tun kann. Es hat wirklich keinen Sinn, diese Sache noch einmal umzurühren - so was liegt ihr gar nicht. Die Hartig läßt sich nicht wieder mit dem Hänseken ein - davon ist Amanda fest überzeugt.

Also könnte sie ihn schlafen lassen und könnte selber auch schlafen gehen - brauchen kann sie Schlaf auch - und feste! Aber es juckt ihr so in den Fingern, ihr ist so komisch, das Bett winkt noch gar nicht, wenn sie sich auch nach ihm sehnt. Sie weiß doch sonst, was sie will, aber jetzt, obwohl sie ihn schlafen lassen möchte, würde sie doch auch gerne mit den Fingern gegen die Scheiben trommeln, bloß um seine wütende, verschlafene Stimme zu hören, um zu wissen, es ist alles in Ordnung ... Ihr ist so, ihr ist auch wieder anders ...

Ach was! Ich trommel eben einfach! beschließt sie grade bei sich.

Da sieht sie in dem Zimmer von Hänseken einen kleinen, runden, weißen Lichtschein, wie von einer Taschenlaterne. Ganz unwillkürlich tritt sie schnell zur Seite, obwohl sie bei dem Lichtschein gesehen hat, daß die Gardinen vorgezogen sind. Genauso ein Lichtschein war vorhin auf sie gerichtet, als sie mit der Hartig beim Misthaufen stand. Genauso einer!

Sie steht überlegend da, sie zerbricht sich den Kopf, was die elektrische Taschenlampe, das gnädige Fräulein und der unbekannte Herr so spät und so heimlich im Zimmer ihres Hänseken zu suchen haben. Sie sieht den Lichtschein wandern, ausgehen, wieder aufleuchten, wieder wandern ...

Aber sie ist nicht die Person danach, lange tatenlos vor einem Fenster zu stehen und zu grübeln. Rasch geht sie zur Haustür und drückt vorsichtig auf die Klinke. Als sie sich mit der Schulter gegen die Tür lehnt, gibt sie nach.

Leise tritt Amanda auf den dunklen Flur und zieht die Haustür wieder hinter sich zu.

5

Über die Giebelstube und die Bodentreppe war der Leutnant bis auf den dunklen Flur des Inspektorenhauses gelangt. Ein Aufleuchten seiner Taschenlampe zeigte ihm, daß der Schlüssel gottlob innen in der Haustür

steckte - er schloß auf, und Weio huschte zu ihm herein.

Zwar war die Bürotür verschlossen, aber hier wußte Violet Bescheid: der Doppelschlüssel lag in dem blechernen Briefkästchen an der Bürotür, das sich leicht aufdrücken ließ - eine für Meier bequeme Regelung, so brauchte er morgens nicht aufzustehen, wenn sich der Hofmeister die Stallschlüssel aus dem Büro holte.

Die beiden traten in das Büro. Hier roch es betäubend - der Leutnant leuchtete die Flaschenreste an und sagte: "Chloroform oder Alkohol - er wird sich doch nichts angetan haben, der Kerl? Tritt nicht in die Scherben, Violet!"

Nein, er hatte sich nichts angetan. Schon das Gehör meldete es: Negermeier schnarchte und röchelte, daß es einen grausen konnte. Violet legte ihre Hand um den Arm des Freundes und fühlte sich nun in diesem wüsten, stinkenden, schwülen Zimmer geborgen.

Mehr noch: sie fand diesen ganzen nächtlichen Ausflug, diesen Aufstand um einen Brief von ihr "fabelhaft interessant" und den Fritz "unerhört schneidig"! Sie war fünfzehn, ihr Lebensappetit war groß und Neulohe unerhört langweilig. Der Leutnant, von dessen Existenz ihre Eltern nichts wußten, den sie selbst nur beim Vornamen kannte, den sie auf ihren Gängen durch die Forst getroffen und der ihr auf den ersten Blick gefallen hatte, dieser eilige, oft völlig geistesabwesende, meist kühle und schnoddrige Mann, aus dessen Kühlheit es ab und an, immer überraschend, wie verzehrendes Feuer brach - dieser Leutnant schien ihr der Inbegriff aller Männlichkeit, wortlosen Heldentums ...

Er war völlig anders als alle Männer, die sie je kennengelernt hatte. Wenn er auch Offizier war, so ähnelte er doch in keiner Weise den Offizieren der Reichswehr, die sie auf den Bällen in Ostade und Frankfurt zum Tanz aufgefordert hatten. Immer hatten sie sie mit äußerster Höflichkeit behandelt, stets war sie das "gnädige Fräulein" gewesen, mit dem ernst und unverbindlich von Jagd, Pferden und allenfalls noch von der Ernte geplaudert wurde.

Beim Leutnant Fritz hatte sie nichts von Höflichkeit zu spüren bekommen. Er war durch den Wald mit ihr gebummelt, darauflosschwatzend, als sei sie irgendein Mädel; er hatte ihren Arm genommen und sie untergefaßt, und hatte ihn wieder losgelassen, als sei dies keine Gunst gewesen. Er hatte ihr sein verbeultes Zigarettenetui mit einem gleichgültigen "bitte" hingereicht, als verstehe sich das streng verbotene Rauchen von selbst, und dann hatte er sie beim Anbrennen der Zigarette beim Kopf genommen und abgeküßt - ganz so, als gehöre das dazu ... "Stell dich bloß nicht an!" hatte er gelacht. "Mädels, die sich

anstellen, finde ich einfach widerlich!"

Sie wollte nicht, daß er sie "einfach widerlich" fand.

Man kann einen jungen Menschen vor Gefahren warnen und vielleicht sogar vor ihnen beschützen - aber wie ist es mit den Gefahren, die wie der liebe Alltag, wie die selbstverständlichste Sache von der Welt, die gar nicht wie Gefahren aussehen -?! Violet hatte beim Leutnant Fritz nie so recht das Gefühl, etwas wirklich Verbotenes zu tun, ernstlich in Gefahr zu sein. Damals, als es geschah und doch etwas wie ein instinktives Wehren, ein panischer Schrecken sie überkommen wollten, hatte er so ehrlich empört gesagt: "Ich bitte dich, Violet, mach bloß keine Geschichten! Ich kann diese alberne, gänsische Anstellerei auf den Tod nicht ausstehen! Glaubst du, irgendeinem Mädchen geht es anders?! Dazu bist du doch da auf der Welt! Also bitte -!"

Dazu bin ich da?! - hätte sie fragen mögen, aber dann wußte sie, sie war bloß dumm. Sie hätte sich geschämt, nicht zu tun, was er wollte. Grade, weil er so wenig Wert auf sie legte, weil seine Besuche so unregelmäßig und kurz waren, grade, weil all seine Versprechungen so unzuverlässig waren("Ich wollte Freitag hier sein? Sei bloß nicht albern, Violet, ich habe doch wahrhaftig noch an anderes zu denken als an dich!"), grade, weil er nie höflich zu ihr war, grade darum war sie ihm fast ohne Widerstand verfallen.

Er war so anders. Geheimnis und Abenteuer umwitterten ihn. All seine Fehler wurden ihr zu Vorzügen, weil die andern sie nicht besaßen. Seine Kälte, seine plötzliche Gier, die ebenso rasch erlosch, seine unverbindlichen Formen, die nur auf der Haut saßen, sein völliger Mangel an Achtung vor irgend etwas auf der Welt - für sie war das alles Sachlichkeit, wahnsinnige Liebe, Männlichkeit!

Was er tat, war richtig. Dieser windige Bursche, der mit einem unverbindlichen Auftrag, das Landvolk für alle Fälle zu mobilisieren, im Lande herumfuhr, dieser kalte Abenteurer, dem es nicht um das Ziel des Kampfes ging, sondern nur um den Kampf, dieser Landsknecht, der für gleichviel welche Partei gekämpft hätte, wenn es nur Unruhe gab - denn er liebte die Unruhe und haßte die Ruhe, in der er sofort leer dasaß, ausgehöhlt, nicht mehr wußte, was mit sich anfangen -, dieser schneidige Hans in allen Gassen, er war der Held!

Und er hätte eine Welt in Brand stecken können - er blieb der Held für sie!

Wie er jetzt, die Taschenlampe in der Hand, ihre leicht bebenden Finger um den Oberarm, das zerwühlte Bett anleuchtet mit dem nackten Mann darauf, wie er gleichgültig zu ihr sagt: "Sieh besser weg, Violet!" und

eine Decke über den Nackten zieht; wie er knurrt: "Schwein!" und sie dann auf einen Stuhl neben dem Bett hinsitzen heißt: "Paß auf, ob er wach wird! Ich seh schnell mal seine Sachen durch!" - diese Kameraderei, die Lumperei ist, die Rücksichtslosigkeit, Mangel an Achtung, Roheit kaum verbirgt - alles findet sie herrlich!

Sie sitzt auf ihrem Stuhl, es ist fast völlig dunkel, der Mond dringt kaum durch die graugelben Gardinen. Der im Bett röchelt, schnarcht, stöhnt, sie kann ihn nicht sehen, aber nun wirft er sich hin und her, als spüre er im Schlaf die Feinde. Der hinter ihr arbeitet zwischen den Sachen, er flucht halblaut; es ist schwer, mit einer Taschenlampe in der Hand in einem unbekannten Zimmer etwas zu finden. Er raschelt, stößt an Stühle, plötzlich tanzt der Lichtschein gegen das Fenster und erlischt. Nun geht das Rascheln wieder los ...

Jawohl, sie muß abends rechtzeitig im Bett liegen, gelegentlich darf sie auch mal auf einen Ball bis elf, spätestens zwölf Uhr mit oder mit Sondererlaubnis, von Förster und Diener begleitet, auf den Anstand gehen. Nachmittags spricht einen Tag um den andern die Mama französisch und englisch mit ihr -: "Damit du auf dem laufenden bleibst, Weio! Du wirst später eine Rolle in der Gesellschaft spielen müssen - anders als deine Mama, die nur eine Pächtersfrau ist!" - Oh, wie verblasen, wie verlogen, wie flach kommt ihr die Welt zu Hause vor! Hier sitzt sie in dem stinkenden Inspektorenzimmer, das Leben schmeckt nach Blut und Brot und Dreck. Es ist keineswegs, wie Eltern, Lehrerinnen, Pastoren behaupteten, eine sachte, freundliche, höfliche Angelegenheit, dunkel ist es ... ein wundervolles Dunkel ...

Und aus dem Dunkel kommt ein Mund mit schimmernd weißen Zähnen, die Eckzähne sind spitz; die Lippen sind schmal, trocken, so frech - o Mund, Männermund zum Küssen, Raubtierzähne zum Beißen! Aus dem Dunkel, mir entgegen -!

Die Eltern, die Großeltern, Alt- wie Neulohe, Ostade mit der Garnison, der Herbstmarkt in Frankfurt an der Oder, das Café Kranzler in Berlin - enge Welt, hörige Welt, die ewig stillesteht. Man sitzt an einem Marmortischchen, der Ober verbeugt sich, Papa und Mama diskutieren, ob die höhere Tochter noch einen Windbeutel mit Schlagsahne verträgt, der freche Kerl am Nebentisch fixiert sie, und die höhere Tochter schaut weg - geordnete Welt, die es schon längst nicht mehr gibt, stehengebliebene Ruine!

Denn ein anderes Leben ist hereingebrochen, in dem all das nicht mehr gilt, es jagt, glostet, blitzt - oh, unendliches Feuer, geheimnisvolle Abenteuer, herrliches Dunkel, in dem man nackt sein darf ohne Scham!

Arme Mama, die dies nie kennengelernt hat! Armer Papa - so alt mit deinen weißen Schläfen! Ich lebe, ich taumele, ich tanze - Wege über Wege - und welche Leichtigkeit, sie entlangzuwirbeln, immer neue Wege, stets andere Abenteuer! Dummer, häßlicher Negermeier, zu nichts gut, als eine Viertelstunde ein bißchen Prickeln zu verschaffen und lange, schwer gestraft zu werden!

"Ist das der Wisch?" fragt der Leutnant und leuchtet einen feuchten, verschmierten Lappen an. "Der Kerl hat ihn in Schnaps ersäuft!"

"Oh, bitte, gib ihn mir!" ruft sie, die sich plötzlich ihrer verstiegenen Schreiberei schämt.

Aber er: "Danke, nein, Kindchen! Daß du ihn noch mal auf Reisen schickst, und ich kann hinterherlaufen!" - Er hat ihn schon in der Tasche. - "Und das sage ich dir, Violet, du schreibst mir nicht noch einmal! Nie! Kein Wort!"

"Ich hatte doch solche Sehnsucht nach dir!" ruft sie und wirft die Arme um seinen Hals.

"Ja, natürlich. Versteh ich, verstehe alles. - Sag mal, du führst doch kein Tagebuch?"

"Ich -? Wieso -? Ein Tagebuch -? Nein, natürlich nicht!"

"Na -! Ich glaube, du kohlst! Ich werde einmal dein Zimmer revidieren müssen!"

"O ja! Bitte!! Bitte!! Bitte, Fritz, komm einmal in mein Zimmer, es wäre herrlich von dir, wenn du einmal in meinem Zimmer gewesen wärst!"

"Schön! Schön! Das läßt sich schon mal einrichten. Aber jetzt muß ich schnell machen, in die Versammlung, die werden schon schimpfen!"

"Heute - kommst du heute noch zu mir? Nach der Versammlung? Oh, bitte, Fritz, tu es!"

"Heute? Ist doch ausgeschlossen! Ich muß doch nach der Versammlung noch einmal hierher - mit dem Kerl quatschen, hören, ob er nicht noch andern von dem Brief erzählt hat ..."

Er denkt nach.

"Ja, Fritz, gib ihm ordentlich was aufs Dach! Er muß Angst haben, sonst redet er alles weiter. Er ist zu ekelhaft und gemein ..."

"Und du selbst hast ihn mir als Boten empfohlen!" Aber der Leutnant fängt sich, bricht ab. Es hat keinen Zweck, den Frauen einen gemachten Fehler vorzuhalten, mit ihnen einen Streit anzufangen. Das wird immer gleich uferlos. Dem Leutnant ist ein anderer, viel schrecklicherer Gedanke gekommen. Der da kann nicht nur über den Brief quatschen; er

weiß ja noch anderes, vielleicht hat Kniebusch nicht dichtgehalten ...

"Nein, ich muß nachher unbedingt mit ihm sprechen!" sagt er noch einmal.

Es ist, als hätte sie ihn erraten. "Und was tust du dann mit ihm, Fritz?! Wenn er euch verrät -?"

Der Leutnant steht ganz still. Selbst diese kleine dumme Gans ist auf den Gedanken gekommen, hat die Gefahr gefühlt, von der die "Sache" immer bedroht ist, die alle fürchten: Verrat. Es wird ja schon kaum etwas gesagt, außer dem engsten Kreis weiß kaum einer genau, um was es geht, was man vorhat. Man macht eine Andeutung, allgemeine Redensarten. Unzufriedenheit, Haß, Verzweiflung gibt es genug auf dem Lande. Die Banknotenpresse in Berlin schleudert mit jeder neuen Woge Papiergeld eine neue Woge Erbitterung ins Land - da genügen ein paar Worte, das verhaltene Geklirr von Waffen ... fast nichts!

Aber einer braucht gar nicht so helle zu sein, einer braucht gar nicht viel zu wissen, es genügt schon, wenn er dem Landrat erzählt: da fährt jemand im Land herum und putscht bei den Leuten. Er hat heute sogar gehört, daß die Waffen gezählt werden sollen im Dorfe ...

Der Leutnant läßt den Schein seiner Lampe auf das Gesicht des Schläfers fallen - es ist kein gutes Gesicht, keines, dem man trauen kann. Er hatte schon den richtigen Instinkt, als er diesen Burschen nicht dabeihaben wollte ... Aber da war diese Violet. Sie hatte ihn vorgeschlagen, er wäre ein so bequemer, unauffälliger Bote zwischen ihnen gewesen. Er allein hatte immer Zutritt zum Hause des Rittmeisters und war immer auf den Feldern, im Walde zu treffen ... Und beim ersten Botenweg ging die Sache schief! Ewig diese Weibergeschichten - immer mußte dieses langhaarige Gesindel dazwischenkommen! Nichts hatten sie im Kopf als ihre sogenannte Liebe!

Der Leutnant dreht sich kurz um und sagt böse: "Du gehst jetzt auf der Stelle ins Bett, Violet!"

Sie ist ganz erschrocken über seinen Ton. "Aber Fritz, ich wollte doch hier auf dich warten! Und dann muß ich doch auch noch mit dem Förster sprechen, wegen des Bocks ..."

"Hier -? Mach dich bloß nicht lächerlich! Wie denkst du dir das, wenn der Kerl aufwacht oder jemand kommt hier rein ..."

"Aber, Fritz, was willst du denn machen?! Wenn er nun aufwacht und er merkt, sein Brief ist weg, meinen Brief meine ich, und er hat eine Wut auf uns und läuft los und erzählt alles dem Großpapa oder Mama ..."

"Also, bitte, höre schon auf, Violet! Bitte! Das werde ich alles regeln.

Ich knöpfe ihn mir nach der Versammlung vor - und gründlich, das kann ich dir sagen -!"

"Aber wenn er vorher wegläuft -?!"

"Er läuft nicht weg! Er ist doch besoffen!!"

"Wenn er aber vorher wegläuft -?!"

"Himmelherrgott, halte jetzt den Mund, Violet!" schreit der Leutnant fast. Und, da er selbst einen Schreck bekommen hat, flüsternd: "Also, bitte, sei jetzt vernünftig. Hier kannst du unmöglich warten. Paß meinethalben vor dem Haus auf - ich bin in einer guten Stunde wieder hier."

Sie gehen zusammen. Sie tasten sich durch den dunklen Raum, über den dunklen Flur. Nun sind sie wieder draußen.

Es ist Nacht, Vollmondnacht, friedlich, die Luft ist sehr warm.

"Verdammter Mond! Jeder kann uns sehen! Geh dort in die Büsche. Also in einer Stunde ..."

"Fritz!" Ihm nachrufend: "Fritz!"

"Was denn? Willst du wohl ruhig sein?!"

"Fritz -! Gar keinen Kuß -?? Nicht einen Kuß?!"

O verdammt! O verflucht! Und laut: "Nachher, mein Kind, nachher holen wir alles nach."

Der Kies knirscht. Der Leutnant ist fort. Violet von Prackwitz steht in den Büschen, wo auch Amanda Backs stand. Wie diese hat sie die Augen auf die Fenster des Inspektorenhauses gerichtet.

Ein bißchen ist sie enttäuscht - aber doch auch wieder sehr stolz auf dieses Postenstehen.

6

Der Förster Kniebusch wanderte langsam, den Drilling auf dem Rücken, durch den nächtlichen Wald. Der Vollmond war schon ziemlich hoch, aber hier unten, zwischen den Stämmen, machte sein Schein die Sicht nur noch ungewisser. Der Förster kannte den Wald, wie ein Städter seine Wohnung kennt: zu allen Tages- und Nachtstunden war er hier schon gegangen. Er kannte jeden Knick des Weges, jeden Wacholderbusch, der - geisternd wie ein gespenstischer Mann - zwischen den hohen Kiefernstämmen auftauchte. Er wußte, das Rascheln eben kam von einem Igel, der auf der Mäusejagd war - aber wenn ihm auch alles vertraut und bekannt war, jetzt ging er nicht gerne durch den Wald.

Der Wald war derselbe geblieben, seit eh und je, aber die Zeiten waren anders geworden, und mit den Zeiten die Menschen. Jawohl, auch früher hatte es Holzdiebe gegeben. Doch das waren immer die gleichen fragwürdigen Gestalten gewesen, deren Erwerb dunkel und deren Ruf noch dunkler war. Man hatte sie gefaßt, sie waren, wie sie waren, und weil sie so waren, wanderten sie ab ins Kaschott. Man hatte es nicht nötig, sich über sie zu ärgern, am Ende hatten sie stets den Ärger und den Schaden von ihrer Dieberei.

Aber hatte es das früher gegeben, daß ein ganzes Dorf, Mann bei Mann und Haus bei Haus, Holz stehlen gegangen war? Man lief und paßte auf und ärgerte sich zu Tode, und erwischte man schließlich einen, so wurde daraus entweder eine Angst vor Rache oder eine Scham, daß solch ein Mann unter die Diebe gegangen war.

In den Jugendtagen des Försters Kniebusch, während seiner ersten Dienstjahre in der Neuloher Forst, hatte es hier auch einen berüchtigten Wilddieb gegeben: den Müller-Thomas, der sich nachher in der Zelle des Meienburger Zuchthauses erhängte. Es hatte einen langen Krieg auf Leben und Tod mit dem Kerl gegeben; List hatte gegen List und Gewalt gegen Gewalt gekämpft, aber es war doch ein Kampf irgendwie mit gleichen Mitteln gewesen ... Heute gingen sie ja gar rudelweise mit Armeepistolen und Karabinern auf die "Jagd"! Sie trieben das Wild hoch, wo sie es fanden, sie schonten kein tragendes, kein säugendes Muttertier - sie schossen auf Fasanen, ja, auf Feldhühner mit der Kugel! Wenn es ihnen noch auf die Jagd angekommen wäre wie dem Müller-Thomas oder auf den Braten zur Stillung ihres Hungers - aber sie mordeten einfach aus Mordlust, Mörder, die sie waren - Mörder und Verderber!

Der alte Mann ist jetzt aus dem Hochwald heraus, er geht auf einer schmalen Schneise zwischen Fichtenschonungen. Die Bäumchen sind fünfzehn Jahre alt, sie hätten schon seit zwei, drei Jahren durchforstet werden müssen - aber es sind ja keine Leute zu bekommen! So ist aus den Schonungen eine unsägliche Dickung geworden, ein Gesperr und Gestachel von Zweigen, umgebrochenen Stämmen die Kreuz und Quere - selbst bei Tage kann man keine drei Meter weit hineinschauen! Jetzt im Mondlicht steht das da wie eine schwarze Wand ... Wer einen Feind hat, der hier des Weges kommt, braucht sich nur hineinzusetzen in diese Dickung, er kann seinen Mann überhaupt nicht verfehlen!

Der Förster sagt sich umsonst, daß keiner erwarten kann, ihn diese Schneise entlangkommen zu sehen; es ist ein Pirschgang ganz außer der Reihe, und wenn er seinen Mund gehalten hätte, würde es auch diesen

Pirschgang nicht gegeben haben! Es kann ihm gar keiner in dem Gekuschel auflauern!

Und doch geht er leiser. Er weiß, wo der moosige Grasstreifen läuft, auf dem sich so sachte gehen läßt, und wenn doch ein Zweiglein unter seinen Tritten knackt, so bleibt er stehen und lauscht, und sein Herz klopft. Er hat die Pfeife längst in die Tasche gesteckt, denn man kann Tabak weit riechen im Walde. Er hält den Drilling schußfertig, denn auch ein unsicherer Schuß ist besser als keiner.

Er ist ein sehr alter Mann, er hätte sich gerne längst zur Ruhe gesetzt. Aber das hat nicht sein können, nun muß er nachts zwischen den Fichtenschonungen laufen, weil ein dummes junges Mädel nicht auf ihr Herz und ihre Briefe passen kann. Es ist ein ganz unsinniger Weg, er bekommt den Bock doch nicht vor die Büchse. Und bekommt er ihn vor die Büchse, trifft er ihn nicht. Und legt er ihn doch auf die Decke, ist es auch egal - die gnädige Frau nicht, der Herr Rittmeister nicht, keines würde sich darüber gewundert haben, wenn das Fräulein Violet erzählt hätte: ihr Pirschgang war umsonst. Siehst du wohl! würde der Rittmeister höchstens gesagt haben. Wärest du schlauer im Bett geblieben, Weio! Und würde sie nur ein bißchen ausgelacht haben.

Aber nein, daran dachten sie nicht. Sie schickten ihn wirklich los auf diesen Bock, er mußte laufen, während die drei die Geschichte mit dem verfluchten Kerl, dem Inspektor Meier, in Ordnung brachten! Wem verdankten sie denn all ihre Wissenschaft? Doch nur ihm allein! Wer hatte diesen pampigen, windigen Leutnant beim Schulzen Haase herausgeholt? Doch nur er allein! Und da sagte dieser junge Schnösel ganz hochnäsig: "Sie können wir hier nicht brauchen, Kniebusch. Sie gehen und schießen den Bock! Aber daß Sie mir hier nicht zwischen den Büschen Eselsohren machen! Ich fahre mit Ihnen Schlitten, Herr!"

Fräulein Violet hatte dabeigestanden, sie hatte jedes Wort dieser hochfahrenden Rede gehört. Es hätte ihr wohl angestanden, ein bißchen dankbar zu sein, aber nein, sie hatte nur gesagt: "Ja, tun Sie das, Kniebusch, und geben Sie sich ein bißchen Mühe, damit ich Papa morgen etwas zu zeigen habe!"

Da blieb nichts übrig, als "jawohl, gnädiges Fräulein" zu sagen, und kehrt marsch in die Wälder! So würde man nie richtig zu erfahren bekommen, was in dieser Nacht mit dem Feldinspektor Meier geschah! Der würde bestimmt nicht den Mund auftun, der Diener Räder würde auch dichthalten, der Leutnant war morgen schon wie weggeblasen, und das gnädige Fräulein war auch nicht für Erzählen, so gerne sie sich etwas erzählen ließ.

Was schaute also heraus bei dieser so genau überlegten Angeberei, die so viel hatte einbringen sollen? Ein nächtlicher Pirschgang durch den Wald und der ewige Haß des kleinen Meier! Und der konnte eine richtige Giftkröte sein, wenn er wütend war!!!

Der Förster Kniebusch bleibt leise seufzend stehen, er trocknet sich die Stirne - es ist heiß, sehr heiß! Aber es ist nicht die schwüle, regendampfende Hitze der stehenden Luft hier im Walde, die ihm so warm macht, es ist der Ärger hier über sich selbst, der ihn erhitzt. Zum tausendsten, zum zehntausendsten Male in seinem Leben nimmt er sich fest vor, nichts mehr zu sehen und zu hören, was ihn nichts angeht, nichts mehr zu reden von dem, was er doch etwa erfährt. Nur noch seinen Weg für sich zu gehen, die paar Jahre, die er noch das Leben hat, nicht mehr klug und weise und schlau und vorausberechnend zu sein - nichts mehr!

Wie um einen Punkt unter diesen unverrückbaren Entschluß zu setzen, wie das Amen in der Kirche, hallt plötzlich ein Schuß durch den Wald!

Der Förster fährt zusammen, er steht da und horcht, ohne den Fuß zu rühren. Es war ein Büchsenschuß: der Knall war scharf wie ein Peitschenknall. Und es war der Büchsenschuß eines Wilddiebes - denn wer sonst soll um diese Zeit noch im Walde unterwegs sein -?

Dies beides ist sicher, aber nicht ganz so sicher kann der Förster die Richtung bestimmen, aus der der Schuß kam. Die hohe Waldwand rings um die Schonung wirft den Schall hierher und dorthin, sie spielt Ball mit ihm. Doch möchte der Förster fast schwören darauf, daß der Schall von dort kam, wohin der Förster unterwegs ist: vom Serradellaschlag des Schulzen Haase! Wo der Sechser sich äste! Ein anderer hatte auf den Bock des gnädigen Fräuleins geschossen!!

Der Förster steht noch immer auf dem gleichen Fleck, auf dem er stand, als der Schuß fiel. Er hat es nicht eilig, innen ist er ganz stahlhart vor Entschlossenheit. Er ist ein Mann, er tut genau das, was er will - sonst nichts! Langsam hängt er den Drilling über die Schulter, langsam zieht er die halblange Pfeife aus der Tasche. Er stopft sie und läßt - nach einem kurzen Zögern - das Streichholz aufflammen. Er zieht kräftig, drückt dann das Streichholz zwischen den Kuppen von Daumen und Zeigefinger aus, klappt, den Tabak noch einmal vorsichtig andrückend, den Nickeldeckel der Pfeife zu und setzt sich in Marsch. Zielbewußt, stahlhart vor Entschlossenheit, entfernt er sich Schritt für Schritt von dem Punkt, auf dem der Schuß gefallen ist! Was dich nicht brennt, das blase nicht. Punktum. Amen.

Nun ist es doch aber so, daß manche Menschen geradezu von

Neuigkeiten verfolgt werden, sie mögen wollen oder nicht, während andere durchs Leben wandern und von nichts was hören. Sie bekommen das Brot immer erst, wenn es altbacken ist. Genau besehen, hatte der Förster schon am Nachmittag nicht das geringste dazu getan, Wissenschaft vom Brief des gnädigen Fräuleins zu bekommen. Im Gegenteil, er hatte das Meiersche Geschwätz mit Abscheu zurückgewiesen, er hatte von dieser ekelhaften Prahlerei nichts hören wollen - und schon erfuhr er alles über den Brief!

Der Förster, der sich so gemütlich schmauchend vom Wilddieb entfernt, der alte Kniebusch, der, über seine eigene Schlauheit grinsend, recht geruhig die ungefährlicheren Partien des Waldes so langsam zu begehen entschlossen ist, bis er völlig glaubhaft versichern kann, alle Mühe und aller geduldige Ansitz seien umsonst gewesen, es war kein Bock zu schießen - dieser alte Angstmeier Kniebusch war verurteilt, doch seinen Bock zu schießen - und nun gar ohne Büchse!

Die Neuigkeit, von der er sich so eifrig fortpirschte, kam leise und eilig den Hohlweg zwischen den hohen Tannen, den kein Mondstrahl erhellen konnte, hinuntergeradelt. Der Förster ging schmauchend den Hohlweg hinauf.

Der Anprall war heftig. Aber während für den alten Förster Kniebusch weicher Sand genug dalag, seine alten Knochen zu schonen, hatte auf den Radler ein kräftiger Steinbrocken gewartet: er schlug erst mit der Schulter dagegen, was ihm einen kräftigen Fluch entlockte, trotzdem er noch gar nicht wußte, daß sein Schlüsselbein in diesem Augenblick brach. Dann schrammte er mit seiner Backe auf der recht körnigen Außenseite des Steines entlang. Die Haut ging davon ab, und das rohe Fleisch brannte wie Feuer. Aber das spürte der gestürzte Radler kaum noch, denn unterdes hatte seine Schläfe mit einer vorspringenden scharfkantigen Steinwulst Bekanntschaft geschlossen - und eine Schläfe ist genauso empfindlich wie der Schlaf: von rauhen Störungen sind beide leicht verletzt. Der Radler sagte noch einmal, schon ganz geistesabwesend: "Uch", und ward nicht mehr gehört.

Der brave Förster Kniebusch saß im Sand und rieb sich sein Dickbein, das die Hauptsache von dem Zusammenprall abbekommen hatte. Er hätte gerne gesehen, daß der andere auf sein Rad gestiegen und weitergefahren wäre, er, der Kniebusch, hätte keinen Einspruch erhoben und keine Fragen gestellt, so stahlhart war sein Entschluß, sich nicht mehr einzumengen.

Er spähte in der Dunkelheit nach dem andern. Da es aber in der Schlucht zwischen den Tannen viel zu dunkel war, überhaupt irgend

etwas zu sehen(nur einer, der den Wald wie seine Tasche kannte, durfte es wagen, diesen pechrabenschwarzen Hohlweg hinunterzuradeln!), so bildete sich der Förster allmählich ein, er sähe was. Was er aber zu sehen meinte, war eine dunkle Gestalt, die ebenso wie er im Sande saß und sich den Leib rieb.

Der Förster Kniebusch saß also still und spähte. Er war jetzt ganz sicher, daß der andere auch saß und spähte, daß der andere auch saß und nur auf sein Fortgehen wartete. Zuerst war der Förster unentschlossen, dann aber überlegte er sich den Fall und erkannte: der andere hatte recht. Er als die Behörde gewissermaßen mußte zuerst gehen und dadurch zum Ausdruck bringen, daß er auf die Verfolgung des Falles verzichtete.

Langsam, leise und vorsichtig stand der Förster auf, immer den schwarzen Fleck genau im Auge behaltend. Er machte ein Schrittchen, noch ein Schrittchen - doch beim dritten Schrittchen kam er ein zweites Mal zu Fall, und natürlich gerade über den Mann, von dem er fortging. Der schwarze Fleck war gar nichts gewesen; direkt neben seine allerneueste Neuigkeit setzte sich der Förster, ja teilweise sogar darauf!

Er wäre gerne gleich wieder hochgefahren und losgelaufen, aber er hatte sich in den Rahmen des gestürzten Fahrrades gesetzt, und das hatte mit Kleidern, Pedalen, Kette, Büchsenriemen und Satteltasche einige Verwirrung gegeben, ganz abgesehen von dem Schmerz, den das hastige Niedersitzen auf die dünnen Stahlstangen und zackigen Pedale hervorgerufen hatte.

So saß der Förster da, recht durcheinandergeschüttelt, körperlich wie seelisch, und wenn er zuerst noch gedacht hatte: Ich muß weg!, so konnte er doch allmählich nicht umhin, zu bemerken, daß der Leib, auf dem sein Arm lag, etwas regungsloser war, als er bei einem bewußten, wartenden Menschen gewesen wäre.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der stahlharte Entschluß anderen Entschlüssen Platz machte. Aber schließlich brachte es Kniebusch doch über sich, seine elektrische Taschenlampe einzuschalten. Als das aber erst einmal geschehen und der Lichtkegel auf das bleiche, einseitig geschundene Gesicht des Bewußtlosen gefallen war, da ging es schon rascher, und von der Erkenntnis, daß dies der berüchtigte Schubbejack Bäumer aus Altlohe war, wehrlos wie ein Lamm in seine Hände gegeben, bis zu dem Entschluß, diesen elenden Raufbold und Wilddieb ins Kittchen zu bringen, war nur ein Schritt.

Während der Förster mit Stricken und Riemen aus dem Bäumer ein Paket machte, wie es besser und sicherer keine Packerin eines

Warenhauses schnüren kann, dachte er darüber nach, daß er mit dieser "Verhaftung" nicht nur beim alten Geheimrat und jungen Rittmeister großen Ruhm ernten würde. Weil nämlich der Bäumer ein Erzlump, ein Rädelsführer, ein Oberdieb, ein Wilderer und völlig ein Pfahl in jedem Besitzerfleische war - was alles der Sechserbock in seinem Rucksack und der Karabiner am Fahrrad klar bewies! Aber viel wichtiger als dieser Ruhm war dem alten Kniebusch doch, daß er auf diese risikolose Art seinen gefährlichsten Feind für lange Zeit aus dem Wege räumte, der ihm schon oft Prügel angedroht, wenn der Förster es wagen sollte, sein Holzwägelchen einmal zu durchsuchen. Daß dieser gefährliche Feind, der stark für drei war, so wehrlos ihm in die Hände gegeben war, dies mußte wahrhaftig eine Schickung des Himmels sein, die jeden stahlharten Entschluß zu Recht umstieß und weich machte.

Und so zog und schnürte der Förster die Knoten mit einem so innigen Behagen fest, als habe er eben den größten Glücksfall seines Lebens erfahren.

Fräulein Jutta von Kuckhoff hätte ihm freilich sagen können, daß man den Speck erst loben soll, wenn man das Schwein geschlachtet hat.

7

Wolfgang Pagel sah die dunkle Straße in der Nähe des Wittenbergplatzes auf und ab. Wenige eilige Fußgänger passierten sie noch. Es war kurz nach Mitternacht. Dort hinten, wo weißlich leuchtend der Platz sich weitete, lehnte irgendein männliches Individuum gegen eine Hauswand, mit Schiebermütze und Zigarette und, trotz der sommerlichen Hitze, die Hände in den Taschen - alles, wie es sich gehörte.

"Das ist er", sagte Wolfgang und nickte. Plötzlich fror ihn - er war so nahe am Ziel. Spannung und Erwartung hatten ihn gefaßt.

"Wer ist das?" fragte von Studmann, ziemlich uninteressiert. Es war eine langweilige Sache, nachts durch halb Berlin geschleppt zu werden, todmüde, um schließlich einen Kerl mit Schiebermütze anschauen zu dürfen.

"Der Spanner!" sagte Wolfgang, ohne jedes Gefühl für die Müdigkeit seiner beiden Begleiter.

"Ihre Kenntnis Berlins in allen Ehren!" schalt der Rittmeister von Prackwitz. "Hochinteressant zweifelsohne, daß man solchen Kerl einen Spanner nennt - aber wollen Sie uns nicht endlich erklären, was Sie eigentlich vorhaben?!"

"Gleich!" sagte Pagel und spähte weiter.

Der Spanner pfiff und verschwand in die Helle des Wittenbergplatzes hinaus. Ganz in der Nähe der drei Herren knackte ein Schlüssel in einem Haustor, aber es erschien niemand.

"Sie haben die Haustür abgeschlossen; es ist noch immer das alte Haus, Nummer 17", erklärte Pagel. "Jetzt kommt Schupo. Wir wollen unterdes einmal ums Viereck gehen."

Aber der Rittmeister wurde rebellisch. Er stampfte mit dem Fuß auf und rief hitzig: "Ich weigere mich, Pagel, diesen Quatsch länger mitzumachen, wenn Sie uns nicht sofort erklären, was Sie vorhaben. Wenn es lichtscheue Sachen sind, dann danke ich bestens! Ich sehne mich offen gestanden nach einem Bett, und Studmann wird es nicht anders gehen."

"Was ist ein Spanner, Pagel?" fragte Studmann sanft.

"Ein Spanner ist jemand", erklärte Pagel bereitwillig, "der spannt, ob die Schupo kommt und ob überhaupt die Luft rein ist. Und der die Haustür eben schnell abschloß, das war der Schlepper, der schleppt die Gäste rauf ..."

"Es handelt sich also um etwas Verbotenes!" rief der Rittmeister noch hitziger. "Danke schön, mein verehrter Herr Pagel, da mache ich nicht mit! Ich will nichts zu tun haben mit der Polizei, darin bin ich wieder mal altmodisch ..."

Er brach ab, denn die beiden Schupos waren herangekommen. Sie schlenderten nebeneinander, ein stämmiger Großer und ein dicker Kleiner, den Sturmriemen des Tschakos unter dem Kinn; leise klirrten die Kettchen, an denen die Gummiknüttel hingen. Der Lärm ihrer eisenbeschlagenen Schuhsohlen hallte von den Hauswänden wider.

"Guten Abend", sagte Pagel halblaut, höflich.

Nur der Große, der am nächsten an den dreien vorüberging, wandte ein wenig den Kopf. Aber er antwortete nicht. Langsam gingen die beiden Hüter der Ordnung vorüber, die Straße hinab. Ferner schallte der Lärm ihrer Schuhnägel in die Stille der drei hinein. Dann bogen die Schupos in die Augsburger Straße ein, und Pagel machte eine kleine, erleichterte Bewegung.

"Ja", sagte er und fühlte, daß das Herz wieder ruhiger klopfte, denn er hatte doch gefürchtet, es könnte in letzter Minute noch ein Hindernis geben. "Jetzt sind sie weg, jetzt können wir gleich hinauf."

"Fahren wir also nach Haus, Studmann!" sagte der Rittmeister ärgerlich.

"Was ist da oben?" fragte Studmann und nickte mit dem Kopf gegen das dunkle Haus.

"Nachtklub", sagte Pagel und sah nach dem Wittenbergplatz. Der Spanner enttauchte neu der Helle und kam langsam, die Hände in den Taschen, die Zigarette im Mundwinkel, die Straße herunter.

"Pfui Deubel!" schrie der Rittmeister. "Ausgezogene Weiber, gepanschter Sekt, Nackttänze, ich sage es ja! Ich habe es gleich gesagt, als ich Sie sah! Kommen Sie, Studmann!"

"Nun, Pagel?" fragte Studmann, ohne auf den Rittmeister zu achten. "Ist das so?"

"Keine Ahnung!" antwortete Pagel. "Roulett! Bloß ein bißchen Roulett!"

Der Spanner war fünf Schritt von ihnen unter einer Laterne stehengeblieben und sah tiefsinnig, "Mucki, sag doch Schnucki zu mir!" flötend, ins Licht. Pagel wußte, daß der Kerl zuhörte, er wußte, daß er, der schlechteste Kunde aller Spielklubs, erkannt worden war, er zitterte, daß ihm der Einlaß verweigert werden würde.

Unwillig über die Verzögerung, schwenkte er das Geldpaket in der Hand.

"Roulett!" rief der Rittmeister erstaunt und trat wieder einen Schritt näher. "Ja, ist denn das erlaubt -?!"

"Roulett!" sagte auch von Studmann überrascht. "Und mit dieser Nepperei stellen Sie Fragen an das Schicksal, Pagel -?!"

"Es wird fair gespielt", widersprach Pagel halblaut, das Auge auf dem Spanner.

"Es hat noch keinen gegeben, der zugab, daß er sich betrügen ließ", wandte Studmann ein.

"Ich habe früher mal Roulett gespielt, als blutjunger Leutnant", sagte der Rittmeister träumerisch. "Vielleicht sieht man es sich einmal an, Studmann. Natürlich setze ich keinen Pfennig!"

"Ich weiß nicht!" meinte Studmann zögernd. "Es muß ja Nepp sein. Diese ganze düstere Aufmachung. - Verstehst du, Prackwitz", erklärte er etwas verlegen, "ich hab natürlich auch dann und wann Glücksspiele mitgemacht. Und ich möchte nicht gerne ... weiß der Henker, wenn man da erst Blut geleckt hat, und in der Verfassung, in der ich heute bin ..."

"Ja, natürlich "..., sagte der Rittmeister, ging aber nicht.

"Also, gehen wir -?" fragte Pagel die beiden Unentschlossenen.

Die beiden sahen sich fragend an, wollten, wollten nicht, fürchteten sich vor dem Nepp, mehr noch vor sich selbst.

"Sie können sich's ja ansehen, meine Herren!" sagte der Spanner und schlenderte, die Mütze nachlässig aus dem Gesicht schiebend, näher. "Entschuldigen Sie, daß ich mich einmische."

Er stand da, das bleiche Gesicht zu ihnen erhoben. Die kleinen, dunklen Mausaugen liefen musternd von einem zum andern.

"Ansehen kostet nischt. Kein Spielgeld, meine Herren, keine Garderobe, kein Alkohol, nischt von Weibern ... Bloß solides Spiel ..."

"Also, ich geh jetzt rauf", sagte Pagel entschlossen. "Ich muß heute spielen."

Er ging hastig - er konnte es nicht mehr erwarten - zur Haustür, wurde eingelassen.

"Warten Sie doch, Pagel!" rief der Rittmeister ihm nach. "Wir kommen auch gleich ..."

"Sie sollten wirklich mit Ihrem Freund mitgehen", sagte der Spanner überredend. "Der ist doch helle, der weiß doch, was gespielt wird. Da ist kein Abend, wo der nicht mit seinem Gewinn abgeschoben ist ... Den kennen wir doch alle ..."

"Den Pagel?" rief der Rittmeister erstaunt.

"Wie er richtig heißt, wissen wir natürlich nicht, bei uns stellen sich die Herren nicht vor. Wir nennen ihn bloß den Pari-Panther, weil er immer nur die Parichance spielt ... Aber wie! Der ist doch ein Spieler, noch und noch! Den kennt jeder von uns. Lassen Sie ihn ruhig voraus, der findet auch im Dunkeln seinen Weg, ich leuchte Sie rauf ..."

"Also er spielt viel?" erkundigte sich von Studmann vorsichtig, denn der Fall Pagel interessierte ihn mehr und mehr.

"Viel -?!" sagte der Spanner mit immer unverkennbarerer Achtung. "Der Mann läßt doch keinen Abend aus! Und immer serviert er den Rahm ab! Eine Wut haben wir manchmal auf ihn -! Aber der ist kalt, sage ich Ihnen, so kalt wie der Mann könnte ich nicht sein! Da muß man bloß staunen, wie der Mann Schluß machen kann, wenn er genug in der Tasche hat! Den darf ich eigentlich gar nicht rauflassen, so geladen sind die oben auf den! Na, heute macht's nichts, weil Sie dabei sind, meine Herren ..."

Von Studmann fing herzlich an zu lachen.

Verständnislos fragte der Rittmeister: "Warum lachst du denn so?"

"Ach, verzeih, Prackwitz", sagte Studmann, noch immer weiter lachend. "So ein schönes Kompliment höre ich immer gerne. Verstehst du nicht: sie lassen den schlauen, den kalten Pagel rauf, weil er uns

Dumme mitbringt. - Komm, jetzt habe ich auch Lust! Wir wollen doch sehen, ob wir beide nicht auch schlau und kalt sein können."

Und immer noch lachend, faßte er den Rittmeister unter den Arm.

Auch der Spanner lachte. "Da hab ich ja schönen Mist gemacht. Na, Sie nehmen's nicht übel, meine Herren. Und da Sie nicht so sind, geben Sie mir vielleicht gleich ein kleines Trinkgeld. Ich weiß nicht, so wie Sie beide aussehen: mit einem Rittergut in der Tasche kommen Sie auch die Treppe nicht wieder runter ..."

Er leuchtete geschickt auf dem Treppenabsatz die Brieftasche Prackwitzens an, der nach einem Trinkgeld suchte.

"Er traut uns wirklich zu, daß wir ohne einen Pfennig wieder rauskommen, Studmann", sagte der Rittmeister ärgerlich. "So ein Unglücksrabe!"

"Ein bißchen Miesmachen hat noch immer beim Spiel geholfen", meinte der Spanner. Und sanft zuredend: "Na, noch einen kleinen Schein, Herr Baron. Ich sehe, Sie kennen unsere Sätze noch nicht. Wo ich doch immer mit einem Bein gewissermaßen im Polizeigefängnis Alexanderplatz stehe!"

"Und ich?!" wollte der Rittmeister aufbrausen, sehr ärgerlich, daß er wieder an das Illegale dieses Unternehmens erinnert wurde.

"Sie?!" sagte der Spanner mitleidig. "Ihnen passiert doch nichts! Wer spielt, wird höchstens sein Geld los. Aber wer zum Spiel verführt, muß brummen. Ich verführe Sie doch, Herr Baron ..."

Eine dunkle Gestalt kam die Treppe herunter.

"Psst, Emil! Das sind die beiden Herren zum Pari-Panther. Jeleite sie nach oben, ick jeh spannen. Ick habe heute so 'n dußlijet Jefühl im Magen, es könnte noch wat jeben!"

Die drei stiegen schon höher hinauf. In hohlem Flüstern rief der Spanner ihnen nach: "Du, Emil! Hör noch mal!"

"Ja, wat denn? Du sollst doch keinen Lärm machen!"

"Abkassiert ha' ick se schon! Daß du mir nich zum zweiten Male melkst!"

"Ach, hau ab - spann lieber dufte!"

"Jemacht, Emil! Spanne ruhig weiter, wenn der Mast auch bricht."

Er entschwand in die dunklen Regionen.

8

Wolfgang Pagel saß schon im Spielzimmer.

Auf eine rätselhafte Weise war die Kunde von der großen Summe Geldes, die der Pari-Panther gegen Spielmarken eingewechselt hatte, aus dem Vorplatz zu dem raubvogelhaften Croupier und seinen beiden Assistenten gedrungen und hatte ihm einen Sitzplatz nahe dem Kopfende des Tisches verschafft. Dabei hatte Pagel nur ein Viertel seines Geldes bei dem traurigen Wachtmeister eingewechselt. Den Rest der Scheine hatte er achtlos und hastig in die Taschen zurückgestopft und war eingetreten, mit der Hand zwischen den beinernen, kühlen Jetons in der Rocktasche wühlend. Leise, mit einem angenehm trockenen Laut klapperten die Spielmarken.

Dies Geräusch rief sogleich die Vorstellung des Spieltisches herauf: das etwas nachlässig gespannte grüne Tuch mit den flach aufgestickten, gelben Zahlen unter dem elektrischen Licht, das über dem Spieltisch trotz aller Geräusche umher stets besonders still und weiß wirkte - und nun das Schnurren und Klappern der Kugel, während das Rad leise schwirrte.

Mit einem tiefen, wie erlösten Atemzug sog Wolfgang die Luft ein.

Das Spielzimmer war schon sehr gefüllt. Hinter den auf Stühlen Sitzenden standen trotz der zeitigen Stunde schon wieder zwei dichte Reihen Spieler. Wolfgang hatte nur eine undeutliche Vorstellung von all diesen weißen, gespannten Gesichtern.

Ein Helfer des Croupiers führte ihn - eine noch nie genossene Gunst - zu dem für ihn frei gemachten Stuhl.

Als Pagel an einer Frau vorüberging, roch er plötzlich fast überwältigend stark ihr Parfüm, ein Duft, der ihm seltsam bekannt vorkam. Er hätte jetzt gerne an das Spiel gedacht, aber zu seinem Ärger entdeckte er, daß er recht zerstreut war. Sein Hirn wollte durchaus den Namen des Parfüms finden. Eine Menge Wörter wie Houbigant, Mille fleurs, Patschuli, Ambra, Mystikum, Juchten schossen ihm durch den Kopf. Erst als er sich hinsetzte, fiel ihm ein, daß er den Namen dieses Parfüms wahrscheinlich gar nicht wußte, daß es ihm nur darum bekannt vorgekommen war, weil es das Parfüm seiner Feindin, des Valutenvamps, war. Er glaubte sich zu erinnern, daß diese Frau ihm zugelächelt hatte.

Pagel saß nun. Aber noch verbot er sich jeden Blick auf seine Umgebung und die Spielfläche. Langsam und sorgfältig legte er ein Päckchen Lucky Strike, die er bei Lutter und Wegner erstanden, eine Schachtel Streichhölzer und einen silbernen Zigarettenhalter vor sich hin, eine Art kleiner Gabel, die man sich mit einem Ring über den kleinen

Finger streifte und die das Gelbwerden der Finger verhindern sollte. Dann zählte er dreißig Spielmarken ab und legte sie in Fünferhaufen vor sich. Er hatte noch eine ganze Menge weiterer Spielmarken in der Tasche. Immer noch ohne hochzusehen, spielte er mit ihnen, freute sich an dem trockenen Klappern wie an einer schönen Musik, die ganz ohne Widerstand in ihn einging. Dann plötzlich - der Entschluß war so überraschend in ihm entstanden, wie der erste Blitz aus einem Gewitterhimmel fährt -, dann plötzlich setzte er eine ganze Handvoll Spielmarken, soviel er eben fassen konnte, auf die Zahl 22.

Ein rascher, dunkler Blick des Croupiers traf ihn, die Kugel schepperte, schepperte endlos - und die scharfe Stimme erklang: "Einundzwanzig - Ungleich - Rot ..."

Vielleicht irre ich mich, dachte Pagel, seltsam befreit. Vielleicht ist Petra erst einundzwanzig.

Plötzlich war er guten Mutes, seine Zerstreutheit war verschwunden. Ohne Bedauern sah er, wie die Harke des Croupiers seinen Einsatz heranharkte, er verschwand - und dunkel war ihm, als habe er sich mit diesen auf die Lebensjahre Petras geopferten Jetons von ihr freigekauft, könne nun - ohne alle Rücksicht auf sie - spielen, wie er wollte. Schwach lächelte er dem Croupier zu, der ihn aufmerksam ansah. Der Croupier erwiderte dieses Lächeln, fast unmerklich, kaum daß sich die Lippen unter dem gesträubten Bart verzogen.

Pagel sah um sich.

Ihm direkt gegenüber, an der andern Seite des Tisches, saß ein älterer Herr. Das Gesicht war so scharf geschnitten, daß die Nase im Profil wie das Blatt eines Messers wirkte, ihr Ende war wie eine drohende Spitze. Das unbewegte Gesicht war erschreckend bleich, in dem einen Auge saß ein Monokel, über das andere hing schlaff das wohl gelähmte Lid. Der Herr hatte ganze Stöße von Jetons vor sich liegen, aber auch Banknotenpäckchen.

Der Croupier rief, und die langen, dünnen, sehr gepflegten Hände des Herrn griffen mit den aufgebogenen Spitzen hastig nach Spielmarken und Geld. Sie verteilten die Sätze über eine ganze Anzahl von Nummern. Pagel folgte mit dem Blick diesen Händen. Dann sah er rasch und verächtlich fort: dieser blasse Herr mit dem beherrschten Gesicht hatte vollständig den Kopf verloren! Er spielte gegen sich selbst, setzte gleichzeitig auf Null und Zahlen, Gleich und Ungleich.

"Elf - Ungleich, Rot, erstes Dutzend "..., rief der Croupier.

Wiederum Rot!

Pagel war überzeugt, daß jetzt Schwarz kommen würde; mit einem raschen Entschluß setzte er seine sämtlichen dreißig Spielmarken auf Schwarz und wartete.

Es dauerte endlos lange. Irgend jemand nahm im letzten Augenblick seinen Einsatz zurück und setzte dann doch wieder. Eine tiefe, tödliche Unlust ergriff Wolf. Es ging alles zu langsam, dieses ganze Spiel, das sein Leben seit einem Jahr ausgefüllt hatte, schien ihm plötzlich idiotisch. Da saßen sie herum wie die Kinder und lauerten atemlos darauf, daß eine Kugel in ein Loch fiel. - Natürlich fiel sie in ein Loch! In eines oder das andere, es war doch gleich! Da lief sie und schnurrte, ach, wenn sie doch aufhörte zu laufen, wenn sie erst gefallen wäre, daß es vorbei sei! Das Monokel gegenüber erglänzte tückisch und böse, das grüne Tuch hatte etwas Saugendes - daß er doch sein Geld erst los wäre -! Welche Albernheit, nach diesem Spiel gehungert zu haben -!

Pagel war sein Geld los. Unter der Harke des Croupiers entflohen die dreißig Jetons, "Siebzehn" war ausgerufen worden. Siebzehn, auch eine ganz schöne Zahl! Siebzehn-und-vier war immer noch besser als dieses alberne Spiel. Für Siebzehn-und-vier brauchte man ein wenig Verstand. Hier hatte man nur zu sitzen und sein Urteil zu erwarten. Das Dümmste von der Welt - etwas für Sklaven!

Mit einem Ruck stand Pagel auf, schob sich durch die hinter ihm Stehenden und brannte eine Zigarette an. Oberleutnant von Studmann, der unbeteiligt an einer Wand gestanden hatte, fragte mit einem raschen Blick auf sein Gesicht: "Nun? Schon fertig?"

"Ja", sagte Pagel mißmutig.

"Und wie ist es gegangen?"

"Mäßig". Er rauchte gierig, dann fragte er: "Gehen wir?"

"Gern! Ich will von diesem Betrieb nichts sehen und hören! - Ich werde gleich Herrn von Prackwitz loseisen! Er wollte spaßeshalber einen Augenblick zusehen ..."

"Spaßeshalber! - Also ich warte hier."

Studmann schob sich zwischen die Spieler. Pagel nahm seinen Platz an der Wand ein. Er war schlaff und müde. So also sah der Abend aus, den er immer erhofft hatte, der Abend mit dem großen Spielkapital, an dem er würde setzen können, wie er wollte. Die Dinge kamen nie zusammen! Heute, da er hätte spielen können, solange er wollte, heute hatte er keine Lust zum Spielen! Dann fehlt uns der Becher, dann fehlt uns der Wein, klang es in ihm.

Es war also endgültig vorbei mit dem Spielen, er fühlte es, er würde es

nie mehr wollen. So konnte er also morgen früh geruhig mit dem Rittmeister aufs Land fahren, als eine Art Sklavenvogt vermutlich - er versäumte nichts hier in Berlin. Keine Chance! Man konnte eines tun, man konnte auch etwas anderes tun: alles war gleich sinnlos. Es war nachdenksam zu beobachten, wie einem das Leben unter der Hand zerfloß, gleichsam sich selbst sinnlos machte und entleerte(wie auch das immer eiliger strömende, fließende Geld sich sinnlos machte und leer wurde): an einem kurzen Tage waren Mutter und Peter, nein, Petra!, verloren, und nun auch noch das Spiel ... Reichlich inhaltslos geworden, diese Angelegenheit ... Wahrhaftig, ebensogut konnte man von einer Brücke unter den nächsten Stadtbahnzug springen - es war genauso sinnvoll und sinnlos wie alles andere -!

Gähnend brannte er sich eine neue Zigarette an.

Der Valutenvamp schien nur darauf gewartet zu haben. Die Frau trat an ihn heran. "Schenken Sie mir auch eine -?"

Wortlos hielt ihr Pagel das Päckchen hin.

"Englische -? Nein. Die vertrage ich nicht, die sind mir zu schwer! Haben Sie keine andern -?"

Pagel schüttelte den Kopf, schwach lächelnd.

"Daß Sie die rauchen mögen! Da ist doch Opium drin!"

"Opium ist auch nicht schlechter als Koks", sagte Pagel herausfordernd und betrachtete ihre Nase. Sie konnte heute noch nicht viel geschnupft haben, die Nase war nicht weiß. Freilich mußte man an den Puder denken, natürlich war die Nase gepudert ... Er sah sie mit einer ruhigen, sachlichen Neugier an.

"Koks! - Denken Sie etwa, ich kokse?"

Etwas von der alten Feindschaft machte ihre Stimme scharf, obwohl sie sich jetzt alle Mühe gab, ihm zu gefallen. Und sie sah wirklich gut aus. Sie war groß und schlank, die Brust in dem weit ausgeschnittenen Kleid schien klein und fest. Nur, daß diese Frau böse war, durfte man nicht vergessen, böse: geizig, gierig, streitsüchtig, verkokst, kalt. Urböse - Peter war nicht böse gewesen, oder doch, Petra war doch böse gewesen. Aber man hatte es nicht so gemerkt, sie hatte es lange verstecken können, bis er ihr draufgekommen war. Nein, auch Petra war erledigt.

"Also, Sie koksen nicht? Ich dachte!" sagte er gleichgültig zu dem Valutenvamp und sah sich nach Studmann um. Er wäre gerne gegangen. Diese wohlgebaute Kuh langweilte ihn zu Tode.

"Nur mal dann und wann", gab sie zu. "Wenn ich abgespannt bin. Das

ist auch nichts anderes, als wenn man eine Pyramidon nimmt, finden Sie nicht auch? Mit Pyramidon kann man sich auch ruinieren. Ich hatte mal eine Freundin, die nahm zwanzig Pyramidon den Tag. Und die ist ..."

"Geschenkt, mein Schatz!" sagte Pagel. "Interessiert mich nicht. Willst du nicht ein bißchen spielen gehen?"

Aber so leicht war sie nicht loszuwerden. Sie war auch nicht die Spur beleidigt; sie war immer nur dann beleidigt, wenn sie gar nicht gemeint war.

"Sie sind schon mit dem Spiel fertig?" fragte sie. "Jawohl", sagte er. "Keine Valuten mehr zu holen. Völlig pleite!"

"Kleiner Schäker!" lachte sie albern.

Er sah ihr an, sie glaubte ihm nicht. Sie hatte etwas über den Inhalt seiner Taschen gehört, nie würde sie sonst so viel Zeit und Liebenswürdigkeit an einen schäbigen Kerl im Waffenrock verschwenden, da doch für sie nur Kavaliere im Frack in Frage kamen -!

"Tun Sie mir einen Gefallen!" rief sie plötzlich. "Setzen Sie einmal für mich!"

"Wozu soll das denn gut sein?" fragte er ärgerlich. Dieser Studmann blieb endlos, und er wurde die Gans nicht los! "Ich denke, Sie wissen mit dem Spiel auch ohne mich Bescheid!"

"Sicher bringen Sie mir Glück!"

"Möglich. Aber ich spiele nicht mehr."

"Och, ich bitte Sie - seien Sie einmal nett zu mir!"

"Sie hören doch, ich spiele nicht mehr."

"Wirklich nicht -?"

"Nein!"

Sie lachte.

Und Pagel ärgerlich: "Was lachen Sie so dumm?! Ich spiele nicht mehr!"

"Sie - und nicht spielen! Ich glaube, eher ..."

Sie brach ab, gab ihrer Stimme einen sanften, überredenden Ton: "Komm, Liebling, setze einmal für mich - ich will dann auch sehr nett zu dir sein ..."

"Danke bestens für deine Nettigkeit!" sagte Pagel grob. Und ausbrechend: "Gott, kann ich Sie denn überhaupt nicht loswerden?! Gehen Sie weg, sage ich Ihnen, ich spiele nicht mehr, und Sie kann ich schon überhaupt nicht ausstehen! - Ekelhaft sind Sie mir!" schrie er.

Sie sah ihn aufmerksam an. "Jetzt siehst du reizend aus, Kerlchen. Ich hab nie gesehen, wie hübsch du eigentlich bist - immer hast du wie ein Stockfisch beim Spiel gesessen!" - Sie schmeichelte: "Komm, Liebling, setze einmal für mich! Du bringst mir Glück!"

Pagel warf die Zigarette fort und beugte sich ganz nahe zu ihr. "Wenn du noch ein Wort zu mir sprichst, du verdammtes Hurenluder, schlage ich dir ein paar in die Fresse, daß du ..."

Er zitterte vor sinnloser Wut am ganzen Leibe. Ihre Augen waren ganz dicht bei den seinen. Sie waren auch braun - jetzt verschwammen sie in einer hingebenden Feuchte.

"Hau los!" flüsterte sie hingegeben. "Aber setze einmal für mich, Süßer ..."

Er drehte sich mit einem Ruck um und ging rasch an den Spieltisch. Er faßte von Studmann am Ellbogen. Rasch atmend fragte er: "Gehen wir nun, oder gehen wir nicht?"

"Ich kriege den Rittmeister nicht los!" flüsterte Studmann ebenso erregt zurück. "Sehen Sie bloß!"

9

Höchst ungern hatte der Rittmeister von Prackwitz seinen ehemaligen Fahnenjunker auf seiner geheimnisvollen Reise durch das nächtliche Berlin begleitet, sehr widerwillig hatte er schon bei Lutter und Wegner seine Gesellschaft und das herausfordernde Geschwätz ertragen, kaum ihm die Beleidigung mit dem angebotenen Geld verziehen. Ganz unangebracht hatte er des Freundes Studmann Interesse für diesen recht verbummelten und schlaffen jungen Burschen gefunden, dessen reicher Geldbesitz zum mindesten fragwürdig erschien. Wenn jener kleine Zwischenfall mit dem apportierten Granatsplitter im Gefecht vor Tetelmünde Herrn von Studmann ein wenig lächerlich, aber bestimmt - und noch dazu bei einem so jungen Burschen - ziemlich heldenhaft erschien, so überwog für Herrn von Prackwitz das Lächerliche alles Heldische - und ein Charakter, der solcher Extravaganzen fähig war, konnte ihm nur verdächtig erscheinen.

Der gute Rittmeister Joachim von Prackwitz - er fand nur die Extravaganzen anderer Leute verdächtig, über die eigenen dachte er vollkommen wohlwollend. Von dem Augenblick an, da er gehört hatte, es handele sich nicht um irgendwelche dreckigen, nackten Weibersachen - sein Horror! -, sondern bloß um ein Spielchen, besser noch gesagt, um Jeu -, in demselben Augenblick hatten die beiden Schupos mit ihren

nägelbeschlagenen Schuhen alles Warnende verloren, das dunkle Haus hatte etwas Einladendes bekommen, der freche Spanner war von Humor umwittert gewesen, und Fahnenjunker Pagel war aus einem Verführer und zweifelhaften Früchtchen zu einem echten Kerl und welterfahrenen Burschen geworden.

Als der Rittmeister nun gar auf dem kleinen bürgerlichen Vorplatz gestanden hatte, mit den viel zu voll gehängten Kleiderhaken, als der schnauzbärtige Herr hinter seinem Klapptischchen freundlich gefragt hatte: "Spielmarken gefällig, meine Herren?", und als der Rittmeister nach einem raschen, orientierenden Blick dagegen gefragt hatte: "Altgedient, was? Wo?", und der Schnauzbärtige mit Hackenzusammenschlagen geantwortet hatte. "Zu Befehl! Neunzehner Sächsischer Train - Leipzig", da hatte sich der Rittmeister allerbester Laune und ganz zu Hause gefühlt.

Kein Gedanke an das Verbotene solches Spiels hatte noch diese gute Laune getrübt; angeregt hatte er sich Verwendung und Wert der ihm neuartigen Spielmarken erklären lassen - zu seinen Zeiten hatte man nur gegen Bargeld oder allenfalls gegen Visitenkarten mit aufgeklierter Zahl gejeut. Wenn er überhaupt noch an seinen Fahnenjunker gedacht hätte, hätte er höchst wohlwollend sich seiner erinnert. Aber kein Gedanke an diesen jungen Menschen kreuzte noch sein Hirn.

Dafür hatte er Spiel und Spielergesellschaft viel zu interessant gefunden. Mit Bedauern mußte er zwar feststellen, daß die Gesellschaft hier lange nicht so erstklassig war wie die in einem Offizierskasino des Friedens. Da saß zum Beispiel ein dicker, rotgesichtiger Mann am Spieltisch, der unaufhörlich halblaut vor sich hin murmelte und mit dicken, edelsteingeschmückten Fingern Einsätze verteilte - wenn er dessen Specknacken mit vielen Falten betrachtete, konnte kein Zweifel obwalten, daß dies eine Art Bruder oder Vetter des Viehhändlers aus Frankfurt war, den er nie in sein Haus lassen mochte. Übrigens hatte ihn dieser Bruder auch ein paarmal reingelegt, der in Frankfurt natürlich. Feindlich blickte der Rittmeister auf den Dicken, hier also blieben die dem Grundbesitz zu Unrecht abgejagten Gewinne - und nicht einmal mit Anstand vermochte dieser Kerl zu verlieren! Deutlich war ihm die Angst vor jedem Verlust anzumerken, den er doch mit jedem neuen Einsatz wieder neu herausforderte.

Auch störte den Rittmeister die große Anzahl von Frauen, die sich um den Spieltisch drängten - Frauen hatten seiner Ansicht nach beim Jeu nichts zu suchen. Jeu war eine reine Männersache, nur ein Mann brachte Kaltblütigkeit und Verstand genug auf, um mit Erfolg zu jeuen. Auch

waren sie zwar sehr elegant, aber für seinen Geschmack doch etwas zu extravagant an- oder vielmehr ausgezogen. Diese Manier, ein Paar junge Brüste gewissermaßen in einem weitgeöffneten Seidenetui jedem Beschauer zur Musterung vorzulegen, ließ an die ihm so verhaßten Straßenmädchen denken. Sicher hatten solche Frauenzimmer hier keinen Zutritt, aber schon an sie erinnert zu werden war peinlich!

Es gab auch Angenehmes zu sehen, zum Beispiel einen älteren, weißhäutigen Herrn mit merkwürdig scharfer, spitzer Nase und Monokel - wo dieser Herr spielte, wo dieser Herr Platz nahm, wo dieser Herr zu Gaste war, da konnte sich auch ein Rittmeister von Prackwitz setzen.

Es war bezeichnend, daß der Rittmeister den direkt daneben sitzenden Fahnenjunker Pagel überhaupt nicht sah, sein sonst so scharfes Auge bemerkte schäbig gekleidete Gestalten nur schwer!

Was nun das Roulett anging - und der Rittmeister nahm höflich dankend auf einem ihm scheinbar bereitwillig, allerdings nur auf höheren Wink geräumten Stuhl Platz -, was nun das Roulett anging, so war es schwierig, sich damit zurechtzufinden. Es gab da eine überraschende Anzahl von Möglichkeiten - zudem wurde mit einer gradezu unziemlichen Hast gespielt. Der Rittmeister war sich kaum klargeworden, wie die Einsätze verteilt waren, so surrte schon die Scheibe, die Kugel lief, der Croupier rief, hier regnete es Jetons, dort brach Dürre aus, vorbei, weiter, setzen, drehen, laufen, surren, rufen - verwirrend!

Des Rittmeisters eigene Erfahrungen mit dem Roulett lagen weit in seine Leutnantsjahre zurück. Sie waren auch damals spärlich genug gewesen, mehr als drei- oder viermal war das Spiel nicht gespielt worden. Das kam daher, daß es besonders streng verboten war, noch strenger als alle anderen Glücksspiele, es wurde für besonders gefährlich angesehen. Eigentlich hatten die jungen Offiziere damals nur ein Glücksspiel gekannt, das "Gottes Segen bei Cohn" hieß und das für verhältnismäßig ungefährlich gehalten wurde. Immerhin war es dem Rittmeister, damals noch unverheiratetem jungem Leutnant, doch so gefährlich geworden, daß er nach einer turbulenten Nacht Hals über Kopf zu seinem Vater hatte reisen müssen, einem womöglich noch hitzigeren Herrn im Generalsrang. Dort hatte er innerhalb einer halben Stunde Wutausbruch, Enterbung und Verstoßung erfahren, schließlich aber hatten die beiden - nach reichlichen Tränenergüssen - bei einem schwärzlichen Herrn eine ganze Reihe von Wechseln unterschrieben, für die sie so viel Geld erhielten, daß die Spielschuld mit Ach und Krach abzudecken war. Seit dieser Zeit hatte der Rittmeister nicht wieder gespielt.

So saß er denn jetzt verwirrt vor dem grünen Tuch, sah die Zahlen an, sah die Inschriften an, rasselte leise mit den Spielmarken in seiner Tasche - und wußte nicht, was er anfangen sollte, so gerne er angefangen hätte.

Als ihn aber von Studmann fragte: "Nanu, Prackwitz, willst du wirklich spielen?" - antwortete er ärgerlich: "Du etwa nicht? Wozu haben wir denn Spielmarken eingewechselt -?!"

Und er setzte auf Rot.

Natürlich kam Rot. Ehe er sich noch recht besonnen hatte, fiel trocken prasselnd ein Häuflein Marken auf die seinen. Der unsympathisch wie ein gesträubter Geier aussehende Kerl rief etwas, wieder drehte sich das Spielrad. Der Rittmeister war unentschlossen, was er nun setzen sollte - da war schon wieder die Entscheidung gefallen.

Wiederum war Rot gekommen, jetzt besaß er schon einen ganzen Berg von Spielmarken.

Er zog sie zurück, sah sich, wie erwachend, um: der beste Mann am Spieltisch war noch immer der Herr mit dem Monokel. Er sah den langen, dünnen, ein wenig aufwärts gekrümmten Fingern zu, die mit unglaublicher Schnelligkeit Markenhäufchen auf die verschiedenen Zahlen und auf die Schnittpunkte von Zahlenfeldern verteilten, und ohne lange zu überlegen, machte er es diesem Herrn nach. Setzte auch auf Zahlen, auf Schnittpunkte von Zahlenfeldern, wobei er aber aus einem Gefühl von Ritterlichkeit(um den andern nicht zu stören) die von jenem besetzten Felder mied.

Wieder rief der Croupier etwas aus, wieder begaben sich Marken zu den von ihm gesetzten, während andere Häufchen unter der Harke verschwanden und mit leisem Klappern in einen Beutel am Tischende fielen.

Von nun an war der Rittmeister wie verzaubert. Das Rollen der Kugel, die Ausrufe des Croupiers, das grüne Tuch mit den Zahlen, Inschriften, Quadraten und Rechtecken, auf denen sich immer neu die vielfarbigen Jetons ordneten - all dies hielt ihn gänzlich gefangen. Er vergaß sich selbst, vergaß die Zeit und den Raum, in dem er saß. Er dachte nicht mehr an Studmann und an den fragwürdigen Fahnenjunker Pagel. Es gab kein Neulohe mehr. Hurtig mußte er sein, das Auge, schneller noch als die Hand, mußte freie Felder ausspähen, auf die Spielmarken zu werfen waren; eilig mußten die Gewinne herangeholt werden, mußte entschieden werden, was stehenzubleiben hatte.

Einen Augenblick entstand eine unliebsame Pause dadurch, daß der

Rittmeister, wie er zu seiner Überraschung merkte, gänzlich ohne Spielmarken war. Ärgerlich fingerte er in seiner Jackettasche herum, ärgerlich deswegen, weil er nun ein Spiel auslassen mußte. Daß er keine Marken mehr hatte, rief aber in ihm nicht etwa den Gedanken an einen erlittenen Verlust herauf, nur die Verzögerung störte ihn. Gottlob erwies sich, daß er beobachtet worden war; ein Adlatus des Croupiers hielt schon weitere Jetons für ihn bereit. Und mit völliger Geistesabwesenheit, die überhaupt nicht den Gedanken aufkommen ließ, daß er hier Geld, und zwar fast alles Geld, das er bei sich trug, hergab, zog er die Scheine aus der Tasche und tauschte dafür beinerne Spielmarken ein.

Kurz nach dieser ungewollten, ärgerlichen Spielpause, grade als der Rittmeister im schönsten Setzen war, fand sich plötzlich von Studmann ein und flüsterte über die Schulter des Spielenden, daß Pagel jetzt gottlob genug habe und gehen wolle.

Recht gereizt fragte der Rittmeister zurück, was in aller Welt der junge Pagel ihn anginge? Er säße ausgezeichnet hier und habe nicht im geringsten die Absicht, schon nach Hause zu gehen.

Ganz erstaunt fragte von Studmann wiederum zurück, ob der Rittmeister denn wirklich spielen wolle -?

Von Prackwitz war - fast bestimmt - der Ansicht, daß jenes Häufchen Marken auf dem Schnittpunkt der Zahlen 13, 14, 16 und 17, das eben gewonnen hatte, von ihm gesetzt worden sei - eine mit einem Perlenring geschmückte Frauenhand hatte danach gelangt und das Häufchen fortgenommen. Von Prackwitz begegnete dem Blick des Croupiers, der ihn ruhig beobachtend ansah. Sehr gereizt bat er von Studmann, er möge nun endlich gehen und ihn in Frieden lassen!

Studmann antwortete nicht, und der Rittmeister spielte weiter. Aber es war nicht möglich, sich auf das Spiel zu konzentrieren, er fühlte, ohne es zu sehen, daß Studmann in seinem Rücken stand und sein Setzen beobachtete.

Er drehte sich mit einem Ruck um und sagte scharf: "Herr Oberleutnant, Sie sind nicht mein Kindermädchen!"

Dieses Wort, das einen alten Gegensatz aus den Kriegszeiten wieder aufriß, tat seine Wirkung: Studmann machte eine ganz leichte, entschuldigende Verbeugung und zog sich zurück.

Als der Rittmeister aufatmend auf das grüne Tuch zurückblickte, sah er, daß mittlerweile auch die letzte seiner Spielmarken verschwunden war. Er warf einen ärgerlichen Blick auf den Croupier, es kam ihm vor, als verkrieche sich ein Lächeln in dem gesträubten Schnurrbart. Von

Prackwitz öffnete das mit einem doppelten Verschluß gesicherte Innenfach seiner Brieftasche und entnahm ihm siebzig Dollar - alles, was er noch an Devisen besaß. Der Gehilfe des Croupiers stapelte mit ungeheurer Geschwindigkeit Haufen und Haufen von Marken vor ihm auf. Der Rittmeister strich sie eilig, ohne sich mit Zählen aufzuhalten, in die Tasche. Einen Augenblick hatte er, als er merkte, viele Gesichter sahen ihn prüfend an, das vage Gefühl: Was tue ich da -?!

Aber es waren mehr die Worte, die in ihm klangen, als ihr Sinn. So viele Marken gaben ihm Sicherheit, Vergnügen erfüllte ihn. Er dachte freundlich: Dieser törichte, ewig besorgte Studmann -!, rückte fast lächelnd auf seinem Stuhle zurecht und fing wieder an zu setzen.

Doch diese gute Stimmung hielt nicht lange an. Immer gereizter sah er Einsatz auf Einsatz unter der Harke des Croupiers entschwinden, fast gar nicht mehr hörte er das trockene Niederprasseln der gewonnenen Marken auf die von ihm besetzten Felder. Immer häufiger mußte er in die Tasche greifen, die schon nicht mehr prall war. Es war noch nicht der Gedanke an Verlust, der ihn irritierte, es war der unbegreiflich rasche Ablauf des Spieles ... Nahe schon sah er vor sich den Augenblick, da er aufstehen und dieses kaum erst gekostete Vergnügen würde aufgeben müssen. Mit der Zahl der Einsätze, meinte er, müßten seine Gewinnaussichten steigen - immer hastiger verteilte er Marken über das ganze Spielfeld.

"So spielt man nicht!" sagte eine ernste Stimme mißbilligend neben ihm.

"Wie -?!" fuhr der Rittmeister hoch und sah den jungen Pagel empört an, der sich auf den Stuhl neben ihm gesetzt hatte.

Aber hier war der junge Pagel nicht unsicher und verlegen. "Nein, so spielt man nicht!" sagte er noch einmal. "Sie spielen ja gegen sich selbst."

"Was tue ich?!" sagte der Rittmeister und wollte sehr wütend werden, dem jungen Burschen, genau wie dem Studmann vorher, gründlich Bescheid sagen! Aber zu seiner Überraschung kam der sonst stets auf der Lauer liegende Zorn nicht, statt dessen ergriff ihn Verlegenheit, als habe er sich wie ein törichtes Kind benommen.

"Wenn Sie Rot und Schwarz gleichzeitig setzen, können Sie doch nicht gewinnen", sagte Pagel tadelnd. "Entweder gewinnt Rot oder Schwarz - beides nie!"

"Wo habe ich -?" fragte der Rittmeister verwirrt und sah über den Spieltisch. Doch grade fuhr der Rechen des Croupiers dazwischen, die

Marken klapperten ...

"Da nehmen Sie doch!" flüsterte Pagel streng. "Sie haben Dusel gehabt. Das da ist Ihres - und da - und da - gnädige Frau, ich bitte sehr, das ist unser Einsatz!"

Irgendeine Frauenstimme sagte sehr aufgeregt etwas, Pagel achtete nicht darauf. Er ordnete weiter an, und wie ein Kind folgte der Rittmeister seinen Weisungen.

"So - und diesmal werden Sie gar nichts setzen - wir wollen erst sehen, wie das Spiel läuft. Was haben Sie noch an Marken? - Das reicht nicht für einen großen Schlag - warten Sie, ich kaufe noch ..."

"Sie wollten gehen, Pagel!" ließ sich die unausstehliche Erzieherstimme Studmanns vernehmen.

"Bloß einen Augenblick, Herr von Studmann", sagte Pagel, liebenswürdig lächelnd. "Ich will Herrn Rittmeister nur schnell zeigen, wie man richtig spielt."

"Bitte, fünfzig zu fünfhunderttausend und zwanzig zu einer Million ..."

Studmann machte eine Gebärde der Verzweiflung ...

"Wirklich nur einen Augenblick", sagte Pagel freundlich. "Sie können mir glauben, mir macht das Spielen überhaupt keinen Spaß, ich bin kein Spieler. Es ist nur wegen des Rittmeisters ..."

Aber von Studmann hörte nicht mehr. Er hatte sich ärgerlich umgedreht und war fortgegangen.

"Passen Sie auf, Herr Rittmeister", sagte Pagel. "Jetzt wird Rot kommen."

Sie warteten gespannt.

Dann kam - Rot.

"Wenn wir jetzt gesetzt hätten -!" klagte der Rittmeister.

"Nur Geduld!" tröstete Pagel. "Erst muß man sehen, wie der Hase läuft. Jetzt kann man gar nichts Bestimmtes sagen - immerhin wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Schwarz kommen."

Es kam aber Rot.

"Sehen Sie!" sagte Pagel triumphierend. "Wie gut, daß wir nicht gesetzt hatten! Jetzt fangen wir aber bald an. Und Sie sollen sehen - in einer guten Viertelstunde ..."

Der Croupier lächelte unmerklich. Von Studmann, in einem Winkel, verfluchte den Augenblick, da er bei Lutter und Wegner den jungen Pagel angesprochen hatte.

ACHTES KAPITEL. Es verwirrt sich in der Nacht

1

In ihrem Busch vor der Tür des Beamtenhauses steht Violet von Prackwitz Wache; drinnen im Büro tritt ein anderes Mädchen, Amanda Backs, aus ihrem Versteck. Sie hat längst nicht alles verstanden, was die beiden, der Leutnant und das gnädige Fräulein, miteinander verhandelten. Aber vieles ließ sich erraten - von dem Leutnant, der durch das Land reist und die Leute zu irgendeinem Putsch sammelt, hatte sie auch schon früher gehört; und durch die deutschen Lande geht zu jener Zeit ein Spruch, düster drohend: Verräter verfallen der Feme!

Es ist nicht angenehm, an den Liebsten als an einen Verräter denken zu müssen, und Amanda Backs mag ein so handfestes Stück Pöbel sein, wie nur ausdenkbar, sie würde nie eine Verräterin sein. Sie liebt und sie haßt, ohne Hemmungen, aus ihrer kräftigen, nicht zu brechenden Natur heraus, aber sie könnte nie verraten. Darum steht sie ja auch weiter zu ihrem Hänseken, trotz allem, was sie von ihm weiß. Er ist eben auch bloß ein Mann, und mit den Männern, mit allen, ist weiß Gott nicht viel Staat zu machen - ein Mädchen muß sie nehmen, wie sie eben sind!

Sie huscht rasch in sein Zimmer hinüber, kniet nieder neben seinem Bett und schüttelt den Schläfer kräftig. Aber so leicht ist der aus seiner Trunkenheit nicht wachzuschütteln. Amanda muß zu kräftigen Mitteln greifen, und als auch der nasse Waschlappen nichts verschlagen will, reißt sie ihn einfach kurz entschlossen mit der einen Hand bei den Haaren, während sie ihm die andere vorsichtig über den Mund legt, damit er nicht laut werden kann.

Diese Kur hilft wirklich - der kleine Feldinspektor Meier wird wach von dem wütenden Schmerz, denn sie reißt und zerrt mit allen ihren nicht geringen Kräften an seinem Haar. Wie der Mensch nun einmal ist und wie besonders der Negermeier ist, setzt er sich erst einmal instinktiv zur Wehr: Negermeier beißt in die Hand, die über seinem Munde liegt.

Sie unterdrückt ihren Schrei und flüstert hastig in sein Ohr: "Werd wach! Werd wach, Hänseken! Ich bin's, Amanda!"

"Das merk ich", grunzt er wütend. "Wenn du wüßtest, wie dicke ich euch Weiber habe! Nie könnt ihr einen in Frieden lassen -!"

Er möchte weiterschimpfen, verschwiemelt, mit aufgeschwollenem

Kopf und dem wüstesten Haarweh ... Aber sie hat Angst vor der Lauscherin draußen, und ihre Hand legt sich von neuem fest über seinen Mund. Gleich beißt er wieder -!

Doch nun ist es mit ihrer Geduld vorbei. Sie reißt die Hand aus seinen Zähnen und schlägt zu, blindlings, im Dunkeln, wie es trifft. Ihr Gefühl aber leitet sie richtig, sie trifft ausgezeichnet, hageldicht fallen die Schläge auf ihn, rechts, links - da, dies muß die Nase gewesen sein! Und jetzt der Mund ...

Und dabei stöhnt sie halblaut, atemlos, hingerissen von diesem Schlagen im Dunkeln auf etwas Weiches, Stöhnendes: "Willst du vernünftig sein! Willst du kuschen! Sie schlagen dich sonst tot!"

(Sie ist selbst auf dem besten Wege, dies zu besorgen.)

Atemlos, fast völlig ernüchtert, feige, ohne Gegenwehr - jetzt bettelt der kleine Meier: "Aber ja doch, Mandeken! Mein Mandchen! Ich will ja auch alles tun, was du möchtest. Aber laß jetzt - ach, nein, nimm dich doch ein bißchen in acht ...!"

Keuchend, mit fliegender Brust, hört sie auf. "Ob du parieren wirst, du Dummkopf?!" stöhnt sie mit zorniger Zärtlichkeit. "Der Leutnant war hier -!!!"

"Wo - hier?" fragt er blöde.

"Hier, in deiner Stube! Er hat was gesucht - er hat einen Brief aus deiner Jacke genommen."

"Einen Brief "... Er versteht noch immer nicht ganz. Aber dann kommt langsam, noch nicht völlig klar, die Erinnerung. "Ach, den -!" sagt er verächtlich. "Den soll er ruhig behalten, den Lappen!"

"Aber, Hänseken, sei doch vernünftig! Denk einmal nach!" bittet sie. "Du mußt irgend etwas ausgefressen haben - er hat so eine Wut auf dich! Er will noch wiederkommen - heute nacht."

"Er soll nur wiederkommen!" prahlt er, trotzdem ihn ein ungemütliches Gefühl beschleicht. "Den Affen habe ich ja schon in der Tasche, ihn und sein feines Fräulein von Prackwitz ..."

"Aber, Hänseken, die war doch auch hier! Sie hat doch mit nach dem Brief gesucht ..."

"Die Weio -?! Das gnädige Fräulein - Fräulein Tochter vom Herrn Brötchengeber -?! In meinem Zimmer?!! Wo ich besoffen und nackt im Bett gelegen habe - o wei, o wei! O Weio!"

"Ja - und jetzt steht sie vor deinem Fenster Wache, damit du nicht ausreißt!"

"Ich und ausreißen!" sagt er prahlerisch. Aber er dämpft unwillkürlich seine Stimme. "Das möchten sie wohl, daß ich wegliefe! Das würde den beiden so passen! Aber nee, ich bleibe, ich gehe morgen früh zum Rittmeister und reiß sie rein mit ihrem feinen Leutnant ..."

"Hänseken, hör doch endlich auf mit deinem Stuß! Er will wiederkommen, heute nacht noch. Der wird dich schon morgen nicht zum Rittmeister gehen lassen ..."

"Was soll er denn machen? Anbinden kann er mich doch nicht!"

"Nein, anbinden kann er dich nicht ..."

"Und wenn ich dem Rittmeister von dem Brief erzähle!"

"Ach, laß doch endlich den dußligen Brief! Du hast ihn ja gar nicht mehr! Er hat ihn!"

"Aber der Kniebusch kann bezeugen ..."

"Unsinn, Hänseken! Alles Unsinn! Was ist denn der Förster Kniebusch für ein Zeuge, wenn er gegen das gnädige Fräulein aussagen soll -?!"

Der kleine Meier schweigt einen Augenblick, er fängt wirklich an nachzudenken. Dann sagt er kleinlauter: "Aber er kann mir doch gar nichts wollen! Er hat doch selber soviel Dreck am Stecken!"

"Hänseken, aber doch gerade darum! Weil er Dreck am Stecken hat, will er dir doch was! Er hat ja Angst, daß du redest ..."

"Was soll ich denn reden? Ich werd schon meine Flappe halten von dem dämlichen Brief ..."

"Aber es ist ja nicht nur der Brief, Hänseken!" ruft sie verzweifelt. "Es ist doch noch die andere Sache, der Putsch -!"

"Was für 'n Putsch -?" fragt er verblüfft.

"Ach, Hänseken, tu doch nicht so! Vor mir brauchst du doch nicht so zu tun! Den Putsch, den ihr machen wollt - er hat Angst, du verrätst das!"

"Aber ich weiß doch gar nichts von seinem blöden Putsch, Mandchen!" ruft der Meier aus. "Mein heiliges Ehrenwort, Mandchen! Ich hab keine Ahnung, was die Brüder vorhaben!"

Sie denkt einen Augenblick nach. Beinahe glaubt sie ihm. Aber dann sagt ihr wieder ihr Gefühl, daß alles, was er erzählt, gleichgültig ist, daß ihm Gefahr droht und daß er darum sofort weg muß.

"Hänseken!" sagt sie darum sehr ernsthaft, "es ist ja gleich, ob du wirklich was weißt oder nicht. Er denkt, du weißt was. Und willst ihn verraten. Und er hat eine Wut auf dich wegen dem Brief. Er will dir was tun, glaub es mir doch!"

"Was kann er mir denn schon tun -?!" sagt er matt.

"Aber, Hänseken, tu nur nicht so! Du weißt, und es hat ja neulich auch in der Zeitung gestanden, und ein Bild war auch dabei, alle mit weißen Kapuzen, daß man sie nicht erkennt, wie sie Gericht halten, und darunter hat gestanden: Femegericht. - Verräter verfallen der Feme, Hänseken, so heißt es doch!"

"Aber ich bin kein Verräter", sagt er, aber er sagt es nur, um etwas zu sagen, sagt es ohne rechte Überzeugung.

Sie geht auch gar nicht mehr darauf ein. "Hänseken!" bittet sie, "warum willst du denn nicht weggehen? Er ist jetzt fort ins Dorf, zu einer Versammlung, und sie will ich schon wegkriegen vom Fenster. Jetzt kannst du noch gut weg - warum willst du denn nicht?! Aus mir machst du dir doch nicht so viel, daß du darum partout bleiben willst, wo du heute sogar dich mit der Hartig eingelassen hast". -(Sie hat es nicht über sich gebracht, ganz davon zu schweigen, aber schon tut es ihr leid.) - "Und, sieh mal, morgen kommt der Rittmeister wieder, und du hast nur Mist gemacht, wie er weg war, und besoffen hast du dich auch im Krug während der Arbeitszeit - warum willst du nicht freiwillig gehen, wo er dich doch raussetzt -?"

"Ich hab keinen Pfennig Geld", sagt er mürrisch. "Wo soll ich hin -?"

"Nun, ich hab gedacht, wenn du dich hier irgendwo auf ein Dorf setzt in einen kleinen Gasthof, nach Grünow vielleicht - da ist ein netter Gasthof, den kenn ich vom Tanzen her. Und am Sonntag hab ich frei, da komm ich rüber zu dir und besuch dich. Ich hab noch ein bißchen Geld, das bring ich dir mit. Und dann suchst du dir so sachte eine neue Stellung, in der Zeitung stehen immer welche, aber nicht so nahebei ..."

"Am Sonntag in Grünow, da weiß ich auch einen, der in den Mond kiekt!" sagt er nörgelig. "Und wer auf sein Geld warten kann, das bin ich!"

"Aber, Hänseken, sei doch nicht so doof -! Ich brauch es dir doch nicht anzubieten, wenn ich nicht kommen will! Also, nicht wahr, du gehst -?"

"Du hast es ja plötzlich mächtig eilig, mich loszuwerden - wen hast du denn jetzt auf dem Kieker?"

"Du hast grade Ursache, eifersüchtig zu tun - ja, zu tun, denn du bist nicht die Spur eifersüchtig!"

Er schweigt eine Weile, dann fragt er: "Wieviel Geld hast du denn?"

"Ach, viel ist es nicht, wegen der Geldentwertung. Aber ich kann dir ja immer weiter geben, ich werd jetzt schon dafür sorgen, daß die Gnädige mir wertbeständig zahlt - in Birnbaum sollen sie ja ihren Lohn schon in Roggen kriegen ..."

"Du und Lohn in Roggen ... Da denkt die Alte nie daran! Du bildest dir immer nur Blödsinn ein!" Er lacht verächtlich, es ist ihm sehr nötig, sich wieder ein bißchen obenauf zu fühlen. "Weißt du was, Mandchen, geh jetzt lieber gleich und hol dein Geld. Ich kann doch nicht ohne Geld im Wirtshaus sitzen. Und die Weio schickst du dabei auch gleich weg. Ich muß ja noch packen, das kann ich doch nicht so im Dunkeln! O Gott!" stöhnt er plötzlich auf. "Zwei schwere Handkoffer bis Grünow schleppen - so einen Quatsch kannst nur du dir ausdenken!"

"Ach, Hänseken!" tröstet sie ihn. "Das ist ja alles nicht so schlimm, wenn du bloß heil davonkommst! Denk doch immer daran! Und ich trag auch ein Weilchen, ich brauch mich ja nicht mehr hinzulegen. Was denkst du, wie frisch ich bin, wenn ich mich morgens von oben bis unten kalt abwasche -?"

"Na ja", sagt er mürrisch, "wenn du man bloß frisch bist, das ist die Hauptsache. Gehst du nun also oder gehst du nicht?"

"Doch, ich geh jetzt. Es kann aber ein Weilchen dauern, erst muß ich das Fräulein wegkriegen. - Und, nicht wahr, Hänseken, du eilst dich ein bißchen? Ich weiß ja nicht, wann der Leutnant zurückkommt."

"Ach der!" sagt Negermeier verächtlich. "Der soll bloß nicht so angeben! Was denkst du denn, wie lange so 'ne Versammlung dauert? Mindestens zwei, drei Stunden! So schnell lassen sich die Bauern nicht rumschwatzen!"

"Also mach schnell, Hänseken!" mahnt sie ihn noch einmal. "Ich bin auch ganz rasch wieder da! - Kuß, Hänseken!"

"Hau bloß ab", sagt er ärgerlich. "Du denkst nur an deine Knutscherei, und bei mir geht es auf Leben und Tod! Aber so seid ihr Weiber! Immer bloß eure sogenannte Liebe im Kopf - ja, Scheibe."

"Ach, du Schafskopf", sagt sie und reißt ihn bei den Haaren, diesmal aber zärtlich. "Ich bin ja bloß froh, daß du hier wegkommst! Endlich kann man wieder ordentlich arbeiten. Es ist schon verrückt, aber wenn es einem so in den Knochen sitzt und man muß ewig gucken und denken ... Was bist du denn schon -? Gar nischt bist du - denkst du, ich weiß das nicht? Aber darum wird es doch nicht anders, wenn man das auch weiß. Ein reines Affentheater ist das Leben, und du bist bestimmt der größte Affe von allen ..."

Und damit drückt sie ihm einen Kuß auf, er mag wollen oder nicht, und geht aus der Stube, fast munter, fast vergnügt.

2

Der Feldinspektor Meier wartete nicht lange, ob Amanda das gnädige Fräulein nun wirklich von ihrem Wachtposten weggelotst hatte. Er warf nur einen flüchtigen Blick aus dem Fenster in den Mondschein draußen und schaltete, als er niemanden sah, das Licht ein. Wie alle phantasielosen Menschen konnte er sich keine Vorstellung von der ihm drohenden Gefahr machen. Es war ja noch immer alles soweit ganz gut gegangen in seinem Leben, mit Dickfelligkeit kam man weit, und so würde es ja auch dieses Mal wieder gut gehen.

Eigentlich war es gar keine so üble Aussicht, jetzt erst einmal eine Weile den Rentier zu spielen - und für die Zukunft hatte er plötzlich sogar seine Pläne! Wofür so ein Leutnant alles gut ist! Er hatte heute nacht, ehe er hier abtrümmerte, noch einiges zu erledigen, eigentlich mußte er wirklich fix machen. Aber das geht auch wieder nicht so recht, einmal ist sein Kopf noch dumm und dösig, und dann macht das Anziehen der stadtfeinen Kluft mit Oberhemd, Kragen und Schlips ziemliche Schwierigkeiten. Meier stellt fest, daß er einen Tatterich hat. "Muß vom Äther sein", entscheidet er. "Vom Saufen hab ich doch noch nie 'nen Tatterich gekriegt. Dreckzeug!"

Seufzend macht er sich an das Einpacken. Es ist schon so eine Aufgabe, aus einem verwüsteten, unaufgeräumten Zimmer seine sieben Zwetschen herauszusuchen und die, dreckig und zerknüllt, wie sie sind, in zwei Koffer zu pressen. Reingegangen sind sie mal, angeschafft hat er sich hier in Neulohe nichts, also müssen sie auch wieder reingehen! Mit Pressen, Drücken und Würgen schafft er es schließlich - aufatmend sperrt er die Koffer ab und verschnürt die Riemen - seine nächste, die das Zeug aufzuplätten und zu waschen kriegt, hat nichts zu lachen!

(Wieviel Geld ihm Mandchen wohl mitbringt? Tüchtiges Mädchen, das Mandchen, bißchen viel Angabe, aber sonst ganz nett! Na, laß, viel Geld wird sie schon nicht bringen, viel Geld fährt man auf 'nem Wagen - aber als Zuschuß kann man's brauchen.)

Wüst fluchend entdeckt der kleine Meier, daß er in Socken im Zimmer steht - und die Schuhe sind im Koffer! Verfluchter Dreck! Er ist es so gewohnt, ganz zum Schluß seiner Anzieherei in die Langschäfter zu fahren, daß er nicht an die Schuhe gedacht hat. Natürlich zieht er zu der Stadtkluft die spitzen Halbschuhe, die rötlichen Tangoschuhe an. In welchem Koffer aber sind sie? Einen Augenblick kommen ihn leise Bedenken an, als ihn aus dem geöffneten ersten Koffer seine Langschäfter ansehen - immerhin ist der Weg nach Grünow mit zwei Koffern in den Flossen ziemlich weit, und die Tangoschuhe sind ziemlich eng. Aber der Gedanke, was er vor den Mädchen in Grünow für eine

Figur machen würde, in Stadtanzug und Langschäftern, entscheidet: es müssen die Halbschuhe sein!

Natürlich findet er sie erst im zweiten Koffer. Er kriegt sie ziemlich schwer an. Die weiten sich beim Gehen! tröstet er sich.

Negermeier marschiert, dies vollbracht, ins Büro. Aus Fächern und Mappen sucht er sich seine Papiere heraus; die Angestellten-Versicherung klebt er gleich für alle Fälle ein halbes Jahr voraus. Marken gibt's ja genug in diesem Stall, und ist das Zeug nachher entwertet, schadet es auch nichts.

Nun schreibt er sich mit Bedacht eine polizeiliche Abmeldung, Herr Hans Meier geht "auf Reisen". Der Gutsvorsteherstempel wird daruntergedrückt - so, der Kitt ist auch in Ordnung.

Doch ein Augenblick Nachdenken überzeugt Meier von der Richtigkeit des Satzes, daß doppelt genäht besser hält, und so schreibt er gleich noch eine zweite Abmeldung. Auf ihr ist Meier ein Schmidt geworden, Verzeihung! -: von Schmidt, Hans von Schmidt, Beruf: Administrator, ebenfalls auf Reisen. "So, ihr Quatschköppe, nun sollt ihr mich mal finden!"

Meier grinst höchst befriedigt. Die Befriedigung über seine große Schlauheit vertreibt Kopfdruck und Haarweh - es ist eine herrliche Sache, schlauer zu sein als die andern und sie reinzulegen! Prost!

Meier klappt die Schreibmaschine auf und macht sich daran, auf einem Briefbogen der Gutsverwaltung Neulohe ein Zeugnis für sich zu tippen. Natürlich ist er die Perle aller Beamten, weiß alles, kann alles, tut alles - und ehrlich, zuverlässig, fleißig ist er auch noch! Es ist eine Wonne, sich dies alles schriftlich zu geben. Aus den Zeilen dieses Zeugnisses steigt ein Meier auf, wie Meier ihn gerne kennte, wie Meier gerne ein Meier wäre, ein untadeliger, tüchtiger Meier mit einer schönen, aussichtsreichen Zukunft, wirklich geeignet für eine Administratorstelle, kurz, der Meier aller Meier!

Dies Zeugnis ist eigentlich zu schön - es ist nicht recht verständlich, warum man einen solchen Beamten je gehen läßt, man müßte ihn behalten bis an sein Lebensende! Aber der kluge, der weise, der witzige Meier ist auch dieser Lage gewachsen. "Wegen Aufgabe der Pachtung", schreibt er hin - siehste wohl, da gibt es dann auch keine Rückfragen des neuen Chefs an den alten. Hat ja die Pachtung aufgegeben, weiß nicht, wohin er jetzt gezogen ist. Nun noch Stempel der Gutsverwaltung, Unterschrift: Joachim von Prackwitz, Rittmeister a. D. und Rittergutspächter - noch einen Stempel des Gutsvorstehers zur Unterschriftsbeglaubigung - Stempel sind immer gut. Knorke sieht das

Dings aus - darauf fängt sich der geschliffenste Fuchs!

Rein mit den Papieren in die Brieftasche. Die vorrätigen Briefmarken stecken wir gleich dazu, Marken kann man immer brauchen - zu was soll das Zeug hier liegen -? Der Geldschrank ächzt nicht sehr laut, wie gesagt, es ist nicht übermäßig viel, aber für 'ne Weile langt es. Und wenn Mandchen noch fleißig zubuttert, kann ich ein paar Wochen fett leben! Gott, ich bin der richtige geschwollene Oskar, rechts die Papiere, links das Geld - Busen, Busen, mein Kind, muß man haben! Busen ist die große Mode - nee, eigentlich gar nicht! Aber von mir aus ist Busen immer nett. Nun noch den Geldschrank zu, es sieht besser aus morgen früh ...

"Lassen Sie 'n offen, Liebling! Immer offenlassen, junger Mann - es sieht besser aus. Der Rittmeister ist dann morgen früh gleich im Bilde!" ruft der Leutnant von der Tür her.

Einen Augenblick verzieht sich Meiers Gesicht. Aber es ist wirklich nur ein Augenblick. "Das mach ich genau, wie ich will", sagt er frech und schließt die Tür. "Und übrigens haben Sie nachts hier gar nichts zu suchen ... Vorhin haben Sie mir schon in meinem Zimmer einen Brief geklaut ..."

"Jungchen!" sagt der Leutnant drohend und tritt zwei Schritte näher. Aber etwas fassungslos ist er doch über diese sagenhafte Frechheit. "Jungchen, sehen Sie dies?"

"Natürlich seh ich das Dings", erklärt Meier, und kaum ein Zittern seiner Stimme verrät, wie ungemütlich ihm der Anblick der Pistole ist. "Und ich hätt mir ja auch so eine Kanone nehmen können, da im Schub liegen genug. Aber ich denk immer, es wird auch so gehen. - Ich habe ja gewußt, daß Sie kommen!" setzt er etwas prahlerisch hinzu.

"So, das haben Sie gewußt -?" sagt der Leutnant leise und sieht den kleinen, häßlichen, boshaften Menschen aufmerksam an.

"Sie wollen ein Verschwörer sein?! Sie wollen einen Putsch machen?" höhnt der kleine Meier und fühlt sich schon wieder ganz sicher und obenauf. "Und Sie merken nicht mal, daß ein Mädchen die ganze Zeit hier im Nebenzimmer gestanden hat, hier im Büro, wie Sie in meinem Zimmer waren. Und sie hat alles mit angehört, was Sie und die Weio geredet haben - ja, da staunen Sie!"

Aber es sieht nicht so aus, als staunte der Leutnant. "So", sagt er ruhig, "da ist also ein Mädchen hier versteckt gewesen? Und wo ist das Mädchen jetzt? Wieder im Nebenzimmer?"

"Nee!" sagt Meier kühn. "Diesmal nicht. Wir sind ganz unter uns,

deswegen brauchen Sie sich nicht zu genieren. Ihr Fräulein Braut geht mit meinem Fräulein Braut noch ein bißchen spazieren. - Aber Sie können sich natürlich denken", setzt er warnend hinzu, als er eine unbeherrschte Bewegung des Leutnants sieht, "was mein Mädchen morgen erzählt, wenn mir was passiert ist. - Oder wollen Sie uns beide totschießen?!" sagt er kühn, freut sich seiner Frechheit und lacht.

Der Leutnant wirft sich in einen Stuhl, schlägt die braunen Gamaschenbeine übereinander und brennt sich bedachtsam eine Zigarette an. "Dumm sind Sie nicht, mein Junge", sagt er. "Fragt sich nur, ob Sie nicht zu schlau sind. - Darf man sich nach Ihren Plänen erkundigen?"

"Das dürfen Sie!" sagt Meier bereitwillig. Nachdem er nun den Leutnant davon überzeugt hat, daß es klüger ist, ihm nichts zu tun, hat er nur den Wunsch, mit dem Manne im guten auseinanderzukommen. "Ich hau hier ab!" sagt er. "Hab schon Feierabend gemacht - na, Sie haben es ja gesehen, vorhin am Geldschrank "... Er sieht den Leutnant an, aber der Leutnant zuckt nicht.

"Das ist mein gutes Recht, daß ich mir das Geld genommen habe. Erst mal krieg ich noch Gehalt, und dann, was denken Sie, was der mir hier für einen Schandlohn durch die Entwertung bezahlt hat!?! Wenn ich mir ein bißchen nehme, ist es noch lange nicht so viel, wie der Rittmeister mir gestohlen hat."

Er sieht den Leutnant auffordernd an, als solle der zustimmen.

Aber der meint nur: "Das interessiert mich nicht. - Wo wollen Sie denn hin?"

"Ein bißchen weiter weg", sagt Meier und lacht. "Ich find, die Gegend hier riecht sauer. Ich hab gedacht, Schlesien oder auch Mecklenburg ..."

"Schönschön", sagt der Leutnant. "Ganz vernünftig. Schlesien ist nicht schlecht. - Aber wo wollen Sie jetzt hin?"

"Jetzt -?"

"Na ja", sagt der Leutnant etwas ungeduldig. "Daß Sie morgen früh nicht von der Kreisstadt aus fahren, wo Sie jeder kennt, das kann ich mir eigentlich denken. Wo wollen Sie also jetzt hin?"

"Jetzt -? Ach, bloß hier auf ein Dorf in der Nähe."

"So, auf ein Dorf? Welches denn zum Beispiel?"

"Was geht das eigentlich Sie an?!" fragt Meier, denn diese Ausfragerei, hinter der irgend etwas Verborgenes steckt, macht ihn ganz nervös.

"Oh, das geht mich schon ein bißchen an, mein Junge", antwortet der

Leutnant kühl.

"Wieso denn -?"

"Nun, wo zum Beispiel einer sitzt, der von meinen Beziehungen zu Fräulein von Prackwitz weiß. In Schlesien interessiert das kein Aas, aber hier in der Nähe könnte der ja auf die Idee kommen, aus seiner Wissenschaft Geld zu schlagen."

"Auf die Idee wär ich nie gekommen!" empört sich Meier. "Nee, so ein Schwein bin ich nun doch nicht! Da dürfen Sie ganz sicher sein, Herr Leutnant! Ich halte dicht, in solchen Sachen bin ich Kavalier!"

"Ja, ich weiß", sagt der Leutnant ungerührt. "Also - wie heißt das Dorf?"

"Grünow", sagt Meier zögernd und weiß eigentlich gar nicht, warum er den Namen nicht nennen soll, wo der Leutnant doch schon alles weiß.

"So, Grünow", sagt der Leutnant. "Wieso grade Grünow! Sie meinen doch das Grünow bei Ostade?"

"Ja, das hat mir mein Mädchen so vorgeschlagen. Sie will da am Sonntag zu mir zum Tanz kommen."

"Tanzen wollen Sie da auch? Sie wollen da wohl länger bleiben?"

"Bloß ein paar Tage. Montag hau ich dann ab - von Ostade aus. Sie können sich darauf verlassen, Herr Leutnant."

"Ja, kann ich das?" sagt der Leutnant gedankenvoll, steht auf und geht auf die Schublade zu, die ihm Meier vorhin bezeichnet hat. Er zieht sie auf und betrachtet ihren Inhalt. "Na, da haben Sie ja ein paar ganz nette Donnerbüchsen", sagt er gönnerhaft. "Wissen Sie was, Herr Meier, ich würde mir doch so ein Dings einstecken."

Aber der wehrt ab. "Was soll ich denn damit? Nee, danke schön!"

"Sie gehen durch den Wald, Herr Meier, und Gesindel treibt sich jetzt genug herum. Ich würde das Dings mitnehmen, Herr Meier, ich gehe nie ohne Schußwaffe. Besser ist besser!"

Der junge Leutnant - er ist ganz redselig geworden, so besorgt ist er um das Leben seines Freundes Meier.

Aber der bleibt abwehrend. "Mir tut doch keiner was!" sagt er. "Mir hat noch nie einer was getan. Das olle Dings reißt einem ja bloß die Taschen kaputt."

"Meinetwegen! Tun Sie, was Sie wollen!" sagt der Leutnant plötzlich ärgerlich und legt die Pistole offen auf den Schrank.

Er nickt dem kleinen Meier kurz zu, sagt "'n Abend!" und ist schon aus dem Büro, ehe der noch antworten kann.

"Komisch", sagt Meier und starrt auf die Tür. Richtig komisch war der zum Schluß. Na, tröstet er sich dann, so sind diese Brüder alle. Erst groß angeben und dann nischt dahinter.

Er dreht sich um und betrachtet die Pistole.

Nee, entscheidet er sich, mit solchen Dingern will ich nichts zu tun haben. Die kann einem ja mal in der Tasche losgehen. - Wo bloß Mandchen bleibt? Ich muß mal nachsehen. Ein Stück weit kann sie die Koffer gut tragen ...

Er geht zur Tür.

Nee, erst die Pistole wieder weglegen. Das sieht sonst so dämlich aus, morgen früh.

Er hat die Waffe in der Hand, und wieder zögert er.

Eigentlich hat er ja recht, schießt es ihm durch den Kopf, eine Waffe ist immer gut.

Er geht zur Tür, schaltet das Licht aus, tritt aus dem Beamtenhaus. Bei jedem Schritt merkt er das Gewicht der Pistole in seiner Gesäßtasche.

Komisch - gibt doch ein Gefühl von Kraft, so ein Dings, denkt er, nicht unzufrieden.

3

Nur ein paar Schritte hat Feldinspektor Meier zu gehen, da sieht er die beiden Mädchen auf einer Bank sitzen. Neben ihnen steht redend der Leutnant.

Bei dem Geräusch der Schritte sieht der Leutnant hoch und sagt: "Da kommt er ja!"

Sein nahes Stehen bei den Mädchen, sein Tuscheln mit ihnen, diese Ankündigung - alles ärgert den kleinen Meier. Hinzutretend, sagt er gereizt: "Wenn ich störe, kann ich ja wieder gehen."

Niemand scheint ihn gehört zu haben, niemand antwortet.

"Ihr drei habt wohl ein süßes Geheimnis miteinander?!" sagt Meier herausfordernd.

Wieder keine Antwort. Aber jetzt steht Violet auf und sagt zu dem Leutnant: "Kommen Sie -?"

"Von meinswegen", ruft der kleine Meier gereizt, "können Sie ruhig du zu ihm sagen. Wir wissen Bescheid - und noch von ganz andern Dingen!"

Erstaunlich friedlich nimmt der Leutnant den Arm des Fräuleins und geht wortlos mit ihr fort, in den Park hinein.

Meier ruft höhnisch hinterdrein: "Gute Nacht, meine Herrschaften! Wünsche eine angenehme Ruhe!"

Der Leutnant wendet sich um und ruft Amanda zu: "Also reden Sie ihm nur gut zu. Zureden hilft immer!"

Amanda nickt nachdenklich.

Gereizt fährt Meier sie an: "Was hast du dem Affen noch zuzunicken?! Was hast du überhaupt mit dem Kerl zu reden?!"

Sie sagt ganz ruhig: "Du denkst auch, jeder andere ist ein Affe, bloß du nicht!"

"So! Ich bin also in deinen Augen ein Affe!"

"Das habe ich nicht gesagt!"

"Red doch nicht! Gerade eben hast du's gesagt!"

"Nein!" Und nach langem Nachdenken: "Das gnädige Fräulein hat ganz recht."

"Mit was hat denn die Weio recht -? Die kann doch auch bloß Quatsch reden - so ein Siebenmonatskind wie die!"

"Daß man sich mit so einem, wie du bist, besser nicht einläßt!"

"So, das hat sie gesagt?" Meier krepiert fast vor Wut. Die verletzte Eitelkeit jagt ihm die Galle ins Blut, fast zitternd sagt er: "Und ihr Kerl, der Leutnant - ist der etwa was Besseres als ich?! Wie -? Das findest du wohl?! So ein Schwein! Fuchtelt mir auf meinem Büro mit einem Revolver vor der Nase herum! Aber dem habe ich Bescheid gesagt! Der soll mir noch einmal kommen, der dämliche Speckjäger, jetzt habe ich auch einen Revolver! Und ich - ich droh nicht bloß wie der Affe - ich schieß!"

Er reißt die Pistole aus der Tasche und fuhrwerkt damit in der Luft herum.

"Du bist wohl verrückt geworden?!" schreit Amanda ihn wütend an. "Gleich steckst du das Ding wieder ein! Mir mit so was ins Gesicht zu fahren, das liebe ich gerade! Du denkst wohl, das imponiert mir -?!"

Er ist zusammengeschreckt bei ihrem wütenden, verächtlichen Geschimpfe. Etwas betreten, freilich noch völlig trotzig, steht er vor ihr, die Pistole mit zur Erde gesenktem Lauf in der Hand.

Sie befiehlt: "Jetzt gehst du auf der Stelle wieder rein und packst das Geld zurück in die Kasse! Pfui Deibel, ich kann viel vertragen, und eklig bin ich gar nicht, aber Geld aus der Kasse klauen - nein, danke! Ich nicht! Nicht bei mir!"

Meier ist rot geworden - freilich kann sie das nicht sehen.

"So, hat er dir das geklatscht, der feine Junge, der -?!" ruft er zornig. "Ich will dir was sagen, das geht ihn und das geht dich einen Dreck an! Das habe ich allein mit dem Rittmeister abzumachen. Wenn ich mir mein Gehalt nehme, da hast du mir gar nichts reinzureden, verstanden?"

"Hans!" sagt sie sanfter. "Du mußt das Geld wieder in die Kasse legen, sonst ist es aus mit uns! So was vertrag ich nicht."

"Aber ich scheiß drauf, ob es aus mit uns ist oder nicht! Ich bin froh, daß es mit uns aus ist! Was denkst du denn, wozu du gut bist?! Denkst du, ich mach mir was aus dir! Die Hartigen hab ich heute abend im Bett gehabt, jawohl, die Hartigen, da hast du es! Und so 'ne olle Frau mit acht Kindern - die ist mir immer noch zehnmal lieber als du ...! Au, verdammt!"

Es war ein ganz ungeschminkt derber Schlag, aus allen ihren Kräften, er saß mitten in seinem Gesicht - Meier taumelt richtig.

"Du Schwein, du!" sagt sie atemlos. "Du elender Kerl!"

"Du schlägst mich -?" sagt er noch ganz leise, halb besinnungslos vor Schmerz. "Du schlägst mich - du jämmerliches Hühnermädchen schlägst mich, den Inspektor -?! Jetzt sollst du mal sehen ..."

Er selber aber sieht fast nichts. Es dreht sich ihm vor den Augen, im Mondlicht zerfließt ihre Gestalt, und plötzlich ist sie wieder da ... Jetzt, jetzt sieht er sie ganz deutlich ... Sie hat ihn geschlagen!

Er hebt rasch die Pistole und drückt mit zitterndem Finger los ...

Unerträglich laut peitscht der Schuß in sein Ohr ...

Das Gesicht Amandas kommt, immer größer werdend, ganz nahe auf ihn zu, weiß und schwarz im Mondlicht ...

"Du!" flüstert sie. "Du, Hänseken, schießt auf mich ..."

Und nun wird es ganz still zwischen den beiden. Nur die hastigen, stoßweisen Atemzüge des andern hört ein jedes. Lange, lange stehen sie so ...

Längst ist der Schuß verhallt. Sein Geräusch ging aus ihren Ohren, andere Geräusche kamen dafür, lindere ... sie hören wieder den leisen Wind in den Wipfeln der Bäume ... Nun rasselt hinten im Stall eine Halfterkette langsam durch den Ring ...

"Mandeken", sagt Negermeier. "Mandeken ... ich ..."

"Aus!" sagt sie mit harter Stimme. "Ganz aus!"

Sie sieht ihn noch einmal an.

Schießt auf mich - und dann sagt er Mandeken ... Es ist, als nehme ihr dieser Gedanke von neuem den Atem. Was er wohl gesagt hätte, wenn

er mich getroffen hätte -?

Und die schwere Gefahr, in der sie geschwebt, die unfaßbare Errettung überwältigen sie so plötzlich, daß sie in ein leises, wimmerndes Weinen ausbricht. So weinend läuft sie von ihm weg, die Schultern hochgezogen ...

Unter dem hellen Rocksaum sieht er ihre derben Beine sich immer schneller bewegen - sie läuft, sie rennt, sie eilt fort von ihm ... Sie biegt in den Weg zum Schloß ein, jetzt sieht er nicht mehr ihr Laufen, er hört nur noch ihr Weinen, dieses unterdrückte, jämmerliche Klagen - und nun ist auch das weg ...

Meier steht noch einen Augenblick da und starrt ihr nach. Dann hebt er die Pistole, die noch immer schwer in seiner Hand hing, und betrachtet sie. Er verschiebt den Flügel der Sicherung - so, nun ist die Pistole gesichert, mit dem Dings kann nichts mehr passieren ...

Mit einem verdrossenen Achselzucken schiebt er sie in seine Hosentasche und geht eilig auf das Büro, seine Koffer zu holen.

4

Der Leutnant und Weio sitzen auf einer Bank im Park. Sie sitzen nicht wie ein Liebespaar da - oder vielleicht doch wie ein Liebespaar, aber wie ein verzanktes, nämlich weit auseinander, nämlich ohne ein Wort.

"Dir so was von dem Feigling bieten zu lassen!" hat sie zum Schluß ihrer Auseinandersetzung gesagt. "Ich versteh dich nicht!"

"Natürlich verstehst du mich nicht, Schafel", hat er sehr von oben herab geantwortet. "Das ist nur gut. Dann versteht er mich nämlich auch nicht."

"Vor dem Kerl auszureißen - was der sich jetzt einbilden wird! Wo ich ihn nicht riechen kann!"

"Geh nicht so nah an ihn ran!" hat er gelangweilt gesagt. "Dann stört dich sein Geruch nicht."

"Bitte, Fritz, wann bin ich zu nah an ihn herangegangen?!" hat sie empört gerufen. "Fritz, das war gemein von dir!"

Aber Fritz hat nicht mehr geantwortet, und so brach Schweigen unter ihnen aus.

Der Knall des Schusses hat diese zänkische Stille gestört. Der Leutnant fuhr hoch aus seinen Gedanken.

"Er hat geschossen!" rief er und lief los.

"Wer -?" fragte sie, bekam keine Antwort und lief hinterher.

Über die im Mondlicht liegenden Parkwiesen ging der Lauf; ihr langes, feuchtes Gras näßte die Strümpfe; dann durch Gebüsch, querweg über die Wege, mitten durch Blumenbeete! Der Buchsbaum der Wegekanten läßt sie straucheln. Weio keucht atemlos, möchte rufen und kann nicht, da sie weiterlaufen muß.

Nun hält der Leutnant inne und bedeutet ihr, leise zu sein. Über seine Schulter fort späht sie zwischen Flieder- und Schneeballstrauch durch. Eben sieht sie noch, wie die Geflügelmamsell weinend zum Schloß entschwindet, Inspektor Meier steht bewegungslos vor dem Beamtenhaus.

"Hat sie nicht getroffen, Gott sei Dank!" flüstert der Leutnant.

"Warum heult sie denn?"

"Der Schreck!"

"Der Kerl muß ins Kittchen!" sagt Weio mit Nachdruck.

"Sei bloß nicht dumm, Weio! Was er dann alles ausquatschen würde, he? Das hätte dir wohl gefallen?"

"Na, und jetzt?"

"Jetzt werden wir abwarten, was er tut."

Die kleine, dunkle Gestalt geht rasch auf das Beamtenhaus zu, bis in die Büsche hören sie das Geräusch der kräftig zugeworfenen Tür. Feldinspektor Meier ist weg.

"Nun ist er weg", sagt Fräulein von Prackwitz unzufrieden, "und ich darf von jetzt an besonders höflich zu ihm sein, damit er vor Papa den Mund hält."

"Wart es ab, Violet", sagt der Leutnant bloß.

Sie brauchen nicht einmal lange zu warten. Kaum drei, vier Minuten. Da öffnet sich die Haustür wieder, und hervor tritt der kleine Meier, in der rechten Hand einen Koffer, in der linken Hand einen Koffer. Er nimmt sich gar nicht erst die Zeit, die Haustür wieder zu schließen, schwarz gähnt ihre Öffnung - Meier aber marschiert, zwar ein wenig behindert, dennoch in forschem Tempo auf den Hof zu, in die Welt hinaus - ab!

"Haut ab!" flüstert der Leutnant.

"Gott sei Dank!" atmet sie auf.

"Den siehst du nicht wieder "..., sagt der Leutnant und schweigt so plötzlich, als ärgere ihn schon das, was er gesagt.

"Wollen wir hoffen", antwortet sie.

"Violet!" sagt der Leutnant nach einer Weile.

"Ja, Fritz?"

"Bleib hier einen Augenblick stehen, ja? Ich will bloß was auf dem Büro nachsehen."

"Was willst du denn da nachsehen?"

"Ach, nur so ... Wie es da aussieht."

"Wieso? Das kann uns doch egal sein."

"Also laß mich schon -! Entschuldige - also, hier wartest du!"

Der Leutnant geht eilig hinüber zum Beamtenhaus. Er tritt ein, tastet sich über den dunklen Vorplatz, schaltet auf dem Büro das Licht ein. Er sieht sich nicht lange um - schnurstracks geht er auf die Schublade mit den Schußwaffen zu. Sie steht halb offen, aber das genügt dem Leutnant nicht. Er zieht sie ganz auf und betrachtet sehr aufmerksam ihren Inhalt.

Nein, der Neunmillimetermauser ist nicht darunter. Er schiebt die Schublade wieder zu. Bedachtsam löscht er das Licht und geht hinaus über den dunklen Vorplatz in den Mondschein, zu ihr.

"Nun, wie sieht es drinnen aus?" fragt Violet ein wenig boshaft. "Er hat wohl noch schnell aufgeräumt?"

"Wie soll es denn aussehen -? Ach so, ja, natürlich. Schweinestall, immer noch Schweinestall, so sieht es aus, mein klein Schafel."

Der Leutnant ist merkwürdig aufgeräumt.

Sie benutzt dies gleich: "Du, Fritz ..."

"Na, Violet -?"

"Weißt du auch noch, was du heute wolltest -?"

"Nun, was wollte ich denn? Dir einen Kuß geben? - Na, denn komm!"

Er kriegt sie beim Kopf, und eine Weile sind sie beide beschäftigt, bis sie völlig atemlos an seiner Brust liegt.

"So", sagt der Leutnant, "und nun muß ich eiligst nach Ostade!"

"Nach Ostade -?! Och, Fritz - du wolltest doch bei mir nachsehen, ob ich nicht ein Tagebuch führe -!"

"Aber, Schafel, doch nicht heute -! Ich muß wirklich Volldampf machen - um sechs muß ich schon in Ostade sein!"

"Fritz -!"

"Was denn?"

"Geht es denn gar nicht -?"

"Nein - heute ganz ausgeschlossen! Aber ich komme, ganz bestimmt.

Übermorgen, vielleicht morgen schon!"

"Ach, das sagst du immer! Heute abend hast du auch nichts davon gesagt, daß du gleich wieder nach Ostade mußt -!"

"Ich muß, ich muß aber wirklich ... Komm, Violet, bring mich noch bis zu meinem Rad. Bitte, bitte, mach jetzt keine Geschichten, Schafel ..."

"Ach, Fritz, du ... was machst du bloß aus mir ..."

5

Lange, lange Zeit hatte Petra wie erstarrt gesessen.

Erschöpft lag auch die kranke Feindin lange still, bis von neuem Rastlosigkeit sie überkam. Alle Beschimpfungen, die sie nur wußte, hatte sie Petra ins Gesicht geschleudert; nach ihr speiend, hatte sie mit einem Jauchzen bösesten Triumphes daran erinnert, wie sie einmal von ihr aus einer Autotaxe herausgeholt worden war -: "Weg von dem feinen Pinkel, und dein Schirm ging auch noch flöten, du Aas!"

Mechanisch hatte Petra getan, was zu tun war: hatte ein bißchen Wasser gegeben, einen Umschlag auf die Stirn gelegt, ein Handtuch über den Mund, das doch immer wieder zurückgestoßen wurde. Wie sehr auch die andere schalt und schimpfte, höhnte und zu verletzen trachtete, es traf sie nicht mehr, wie auch die stiller werdenden Geräusche der Stadt nach Mitternacht sie nicht mehr betrafen. Die Stadt draußen, die Feindin hier drinnen - beide gingen sie nichts an.

Ein Gefühl äußerster Verlassenheit hatte sie mit seinem Eiseshauch angeblasen und alles in ihr erstarren lassen. Am Ende war jeder ganz für sich allein - was die andern taten, sagten, trieben, es war nichts. Einen einzelnen, einzigen Menschen auf sich, schwingt die Erde durch die Ewigkeiten von Zeit und Raum ihre Bahn, immer nur einen einzigen allein auf sich!

So sitzt Petra, denkt und träumt, Petra, unverehelichte Ledig. Sie beweist ihrem Herzen, daß sie den Wolf nicht wiedersehen wird und daß es so sein muß und daß dies gerade die Ordnung ist und daß sie sich damit zufriedenzugeben hat. So wird sie in den kommenden Tagen und Wochen noch manches Mal sitzen und denken, träumen und beweisen. Wenn auch Liebe, die sich sehnt, sich nichts beweisen läßt, etwas wie Trost, wie eine leiseste Erinnerung an Glück liegt doch schon darin, daß sie so sitzen und träumen kann.

Darum ist Petra beinahe unwillig, als sich eine Hand auf ihre Schulter legt und eine Stimme sie ihren Träumen entführt mit den Worten: "Du,

Kittchen, erzähl doch was! Ich kann nicht schlafen. Mein Kopf tut mir weh, so hat mich deine Freundin an den Haaren gerissen, und ich muß auch immer an mein Geschäft denken. An was denkst du denn?"

Es ist die dicke, ältliche Frau vom unteren Bett, über die vorhin die Hühnerweihe herfiel. Sie rückt sich einen Schemel neben Petra, sieht das Mädchen mit ihren dunklen, mäuseflinken Augen musternd an und flüstert, des Alleinsitzens und Grübelns müde, mit einem Kopfdeuten auf die Kranke: "Die kann ja angeben wie eine Tüte Mücken! Ist es denn wahr, was sie von dir sagt, Kittchen?"

Plötzlich ist Petra zufrieden, daß die Frau sie angesprochen hat, daß es etwas Unterhaltung in der langen Nacht gibt. Auf einmal gefällt ihr die Frau gar nicht schlecht, schon darum, weil sie ohne Haß auf die Kranke schaut, die ihr doch Schmerzen genug gemacht hat.

Darum antwortet Petra ganz willig: "Manches ist wahr, und manches ist nicht wahr."

Die Frau fragt: "Aber daß du auf den Strich gehst, das ist doch nicht wahr -?"

"Ein paarmal "..., fängt Petra zögernd an.

Aber die alte Frau hat sofort verstanden. "Najadoch, najadoch, meine Kleene!" sagt sie begütigend. "Ick bin doch auch in Berlin großgezogen! Ich wohn doch in der Fruchtstraße. Ich habe doch auch diese Zeiten mitgemacht, was Zeiten sind, wie es noch keine Zeiten gegeben hat! Ich kenn doch die Welt, und Berlin kenn ich auch! Du hast dir mal einen angelacht, wenn du Kohldampf gehabt hast - was?"

Petra nickt.

"Und das nennt so 'ne Zicke auf den Strich gehen! Und wegen so was verpfeift sie dich! Sie hat dich doch verpfiffen?"

Wieder nickt Petra.

"Na also - das ist so ein futterneidisches Biest - das siehste schon an der Neese! Welche, die so 'ne dünne Neese haben, die sind immer scharf und gönnen keiner andern nichts! Da mußt du dir nichts bei denken, die kann nichts dafür, daß sie doof ist, die hat sich ihre Neese auch nicht ausgesucht. - Und was tust du sonst?"

"Schuhe verkaufen ..."

"Na also, das kenn ich doch, das ist auch so 'n Brot mit Tränen für die jungen Dinger. Da gibt es ja solche Lebegreise, wenn die das Fell juckt, dann laufen sie von einem Schuhgeschäft ins andere, und immer bloß Schuhe probieren, und dann die jungen Mädchen mit der Schuhspitze piken - na, das kennst du natürlich alles auch ... Oder -?"

"Ja, solche gibt es", sagt Petra, "und wir kennen sie auch schon. Und die wir nicht kennen, denen sehen wir es an, und dann will keine ans Bedienen. Und manche sind noch schlimmer, die piken nicht nur, die reden auch noch dazu, so gemein wie kein Mädchen vom Strich ... Und wenn man sich das verbittet, so beschweren sie sich, die Verkäuferin bedient schlecht - und sie haben eine richtige Freude, wenn einen der Geschäftsführer anschnauzt ... Sich verteidigen hat gar keinen Zweck, es wird einem ja doch nicht geglaubt, daß so ein feiner Herr so gemeine Wörter gebraucht ..."

"Kennen wir doch, Kindchen", sagt die alte Frau beschwichtigend, denn die Erinnerung an manche angetane Schmach war in Petra wieder wach geworden, daß sie fast hitzig gesprochen hatte. "Das kennen wir doch alles! Glaubst du, in der Fruchtstraße ist es anders? Da ist es auch nicht anders. Und wenn es eben nicht Schuhladen ist, dann ist es Konditorei oder Eisdiele - den Letzten beißen die Hunde überall. - Aber jetzt wird es doch vorbei sein mit den Schuhen, jetzt, wo du sitzt, oder nehmen sie dich wieder, wenn du rauskommst?"

"Es war ja schon lange vorbei mit den Schuhen", berichtet Petra. "Fast schon ein ganzes Jahr. Ich hab doch mit einem Freund gelebt, und grade heute, nein, gestern mittag wollten wir heiraten."

"Nein so was!" wundert sich die alte Frau. "Und ausgerechnet an so 'nem Ehrentag muß die kleine Giftkröte mit ihrer Anzeige dazwischenfunken?! Nun sag mal wirklich, Kindchen, was hast du denn Schlimmes ausgefressen, daß sie dich hier gleich in Kittchenkluft gesteckt haben? Das tun sie doch eigentlich nur bei den Räuberbräuten, wo sie denken, die türmen in Zivil?! Aber wenn du nicht willst, dann laß es lieber. Angesohlt mag ich auch nicht gerne werden, und merken tu ich es allemal, wenn du schwindelst ..."

So kam es, daß Petra Ledig in der Nacht zwischen ein und zwei Uhr, genau um die Stunde, da ihr Wolf endgültig den großen "Sieg" seines Lebens errungen zu haben meinte, einer ihr auch namentlich völlig unbekannten, ältlichen Frauensperson die ziemlich jämmerliche Geschichte von dem Zusammenbruch ihrer Hoffnungen erzählte und wie sie jetzt wieder ganz allein im Leben dastehe und eigentlich gar nicht so recht wisse, warum und wieso.

Die alte Frau hörte sich das alles ganz geduldig an, nickte mal mit dem Kopf, schüttelte mal kräftig und sprach: "Das kennen wir alles!" und: "Das gibt es!" oder auch: "Das sollte man dem lieben Gott mal erzählen, aber der hat sein Geschäft in den letzten fünf Jahren auch überbekommen und hört auf dem Ohre schlecht ..."

Als aber Petra fertig war und still auf die Kranke am Boden starrte oder auch nur vor sich hin oder auf all die Trümmer, deren Umfang ihr erst jetzt durch die eigene Erzählung so recht bewußt geworden war, so daß sie wirklich überhaupt nicht mehr verstand, warum und wieso und weshalb und wohin - da legte ihr die alte Frau sachte die Hand auf den Arm und sagte: "Kindchen - also Petra heißt du, und er hat immer ›Peter‹ zu dir gesagt -?"

"Ja", sagte Petra Ledig ziemlich trostlos.

"So werd ich auch Peter zu dir sagen, wenn er's auch nicht verdient hat. Und ich bin die Frau Krupaß, Mutter Krupaß, sagen sie zu mir in der Fruchtstraße, und so sollst du auch sagen ..."

"Ja", antwortete Petra.

"Und was du mir erzählt hast, das glaub ich dir sogar, und das ist mehr, als dir der Herr Polizeipräsident selber sagen kann. Wenn's aber so ist, wie du sagst(und es ist so, das sehe ich dir an), dann kommst du heute oder morgen schon wieder raus - denn was können sie dir wollen? Gar nichts können sie dir wollen! Gesund bist du, und auf den Strich bist du nicht gegangen, und auf dem Standesamt hängst du auch - vergiß bloß nicht, das denen zu erzählen, Standesamt zieht bei denen immer ..."

"Ja", sagte Petra.

"Nun also, heute oder morgen kommst du raus, und ein paar Kledaschen von der Wohlfahrt werden sie ja auch noch für dich finden - also raus kommst du - und was machst du dann?"

Petra bewegte nur ungewiß die Achseln, aber sie sah die Sprecherin jetzt schon recht aufmerksam an.

"Ja, das ist die Frage. Alles andere ist Blech, Kindchen. Zurückdenken und Sichgrämen und Bereuen - das alles ist Blech. Was machst du, wenn du rauskommst - das ist die Frage!"

"Freilich", sagte Petra.

"Für Gas oder den Landwehrkanal bist du ja nicht, wie du aussiehst, und dann möchtest du das Wurm wohl ganz gerne kriegen, was?"

"Das will ich!" sagte Petra entschlossen.

"Und wie ist es denn mit den Schuhen?" erkundigte sich Mutter Krupaß. "Willst du denn das wieder anfangen?"

"Ich krieg ja nicht wieder Stellung", sagte Petra. "Ich habe kein Zeugnis über die letzte Zeit, und aus der letzten Stellung bin ich einfach fortgeblieben, von heute auf morgen. Da liegen sogar noch alle meine

Papiere, ich hab Ihnen doch erzählt, das kam so schnell mit Wolf ..."

"Weiß ich, weiß ich", sagte Frau Krupaß. "Die Papiere holst du dir noch mal, Papiere sind immer gut. Also mit den Schuhen ist es nichts mehr, und wenn es auch was wäre, es reicht ja doch nicht, und dann kommt das andere bloß wieder, und ob du das grade jetzt möchtest -?"

"Nein, nein", sagte Petra hastig.

"Nein, natürlich nicht, das weiß ich doch. Ich sag ja auch nur so. Und nun kommt da noch eins, Kindchen - weißt du was, Kindchen, ich werd doch lieber zu dir Kindchen sagen und nicht Peter - Peter steht mir nicht im Munde. Also, da ist nun dein Freund, wie ist es denn nun mit dem, Kindchen?"

"Er ist ja weggeblieben."

"Das ist er, da hast du recht. Und wahrscheinlich kommt er auch nicht wieder. Er wird denken, er kriegt Schwierigkeiten mit seiner Spielerei, wenn er sich zu sehr bei der Polizei nach dir erkundigt, und vielleicht denkt er auch, du hast ihn verpfiffen ..."

"Das denkt Wolf nicht!"

"Also, dann denkt er das nicht, auch gut", sagte die Frau Krupaß fügsam. "Er kann ja genauso ein feiner Kavalier sein, wie du sagst, und ich red kein Wort dagegen, und er bleibt doch weg. Männer sind nun mal nicht anders. Willst du ihn denn nun suchen gehen?"

"Nein", sagte Petra. "Suchen nicht ..."

"Und wenn er nun morgen kommt und besucht dich?"

Die alte Frau schoß einen schnellen, dunklen Blick auf das Mädchen. Sie sah, wie Petra aufstand und hin und her ging, und jetzt blieb sie sogar stehen, und es war, als lauschte sie hinaus in das Gefängnis. Dann schüttelte das Mädchen unmutig den Kopf und ging wieder auf und ab. Blieb an der Wand stehen, lehnte den Kopf gegen die Steine, stand lange so.

"Das ist so", sagte die Frau Krupaß schließlich berichtend. "Da klopft der Wachtmeister an die Tür und sagt: ›Ledig, mitkommen, Besuch!‹ Und dann gehst du hinterher, so auf Schlurren, wie du jetzt bist, in deiner blauen Kittchenkluft. Und dann kommst du in ein Zimmer, in der Mitte ist ein Holzzaun, und er steht auf der einen Seite, fein in Schale, und du auf der andern, in Kluft, und in der Mitte sitzt ein Wachtmeister und paßt auf dich. Und dann redet ihr miteinander, und wenn der Wachtmeister sagt: ›Die Zeit ist rum‹, dann geht er wieder raus ins Freie, und du gehst wieder auf deine Zelle ..."

Petra hat sich längst umgewandt und sieht die alte Frau mit blassem

Gesicht gespannt an. Als die nicht weiterspricht, bewegt Petra die Lippen, als wolle sie etwas sagen, fragen, aber sie sagt nichts, sie fragt nichts.

"Ja, Kittchen", sagt Frau Krupaß plötzlich mit harter, böser Stimme, "nu sage mir bloß, was hast du denn eigentlich ausgefressen, daß du wieder uff de Zelle latschst?! Und wat hat er denn so Rühmenswertes jetan, det er wieda ins Freie darf?!"

Es ist ganz still in der Zelle. Schließlich aber sagt Petra mühsam: "Er kann doch nichts dafür ..."

"Nee!" sagt die Olle triumphierend. "Da kann er nischt dafür, daß du immer Kohldampf geschoben hast und daß du ewig hast warten müssen und daß er dir deine Kleider verkloppt hat und ohnedem wärst du ja gar nicht hierhergekommen. Da kann er nischt für! Er hat sich ja die Pelle von den Pfoten gearbeitet mit Kartenmischen, ein ruheloser Nachtarbeeter is das jewesen -!"

Petra will etwas sagen.

"Stille biste!" schreit die Olle. "Den Zahn zieh ick dir! Du bist ja doof! Sein Vajniejen hat er bei dir jehabt - und wenn er nich mehr Lust zu 's Vajniejen gehabt hat, denn is er abjehauen und hat jedacht: nu 'en andern Film, laß den ersten Film man für sich alleene sorgen! So wat lieb ick, sage ick dir, so wat rührt mir die Galle um! Haste denn gar keine Ehre mehr im Leibe, Mächen, daß de da stehen willst im Besuchszimmer wie ein Primelpott mit rosa Serviette und willste ihn anstrahlen - bloß, weil er dir wirklich besuchen kommt! Is denn det Ehe, frage ick dir, is det denn Kameradschaft?! Is det ooch nur Freundschaft?! Bloße Bettlägrigkeit is det, sage ich dir! Schäm dir wat, Mächen!"

Petra steht ganz still und weiß in der Zelle. Sie zittert am ganzen Leibe. So freilich ist ihr noch nie der Star gestochen, der Zahn gezogen worden, in diesem Lichte hat sie noch nie das Verhältnis mit Wolf gesehen - alle Schleier, die Liebe darüberzog, zerrissen. Halte ein! möchte sie rufen. Aber sie ruft es nicht.

"Es mag ja sein", fährt Frau Krupaß friedfertiger fort, "daß er ein ganz guter Mann ist, wie du sagst. Er tut was für deine Bildung, sagst du - na schön, soll er das tun, wenn es ihm Spaß macht. Besser wär es, er tät was für dein Herze und was für deinen Magen, aber da kommt er sich natürlich nicht so klug vor wie bei den Büchern. Ein guter Mann, sagst du. Aber Kindchen, das ist doch kein Mann, das soll vielleicht mal einer werden! Was im Bett ein Mann is, das is noch lange kein Mann, das glaub 'ner alten Frau. Das bildet ihr jungen Mädchen euch bloß ein! Und wenn du das so weiter machst mit ihm, mit Verwöhnen und Immerparatsein,

und Muttern is auch noch im Hintergrunde mit 'nem hübschen, dicken Geldsack - dann wird ooch nie ein Mann daraus, aber aus dir wird ein Misthaufen, Gott verzeih mir meine Worte!"

Sie schnauft richtig vor Anstrengung und Erbitterung, immer wieder schießt sie scharfe Blicke auf Petra, die blaß und stille an ihrer Wand steht.

Jetzt sagt Frau Krupaß ruhiger: "Ich verlang ja gar nicht, daß du ihn überhaupt nicht mehr wiedersiehst. Nur jetzt laß ihn mal eine Weile allein zurechtekommen. Du kannst ja abwarten, ein Jahr oder meinethalben auch nur ein halbes Jahr(ich bin gar nicht so!), was er macht. Ob er mit der Spielerei fortmacht - faul! Oder ob er bei Muttern unterkriecht - oberfaul! Oder ob er sich 'ne andere beibiegt - dann hat er mit dir auch nie was Richtiges im Sinne gehabt. Oder ob er was Vernünftiges zu arbeiten anfängt ..."

"Ich muß ihm aber doch wenigstens Bescheid sagen, was mit mir geworden ist, oder ihm schreiben", bittet Petra.

"Zu was denn? Was hilft denn sagen oder schreiben? Er hat dich doch ein Jahr gesehen, alle Tage, wenn er dich da noch nicht kennt, dann nützt auch alles Schreiben nichts. Und er kann ja auf der Wache fragen - die werden ihm schon erzählen, daß du hier bist, da machen die doch kein Geheimnis draus. Wenn er dann hier angesockt kommt - meinethalben, dann gehst du eben mal runter und sagst ihm: so und so, mein lieber Spitz, ich will mich erst mal bewähren, und du sollst dich auch erst mal bewähren ... Und außerdem krieg ich ein Kind, sagst du, nicht etwa: kriegen wir ein Kind ... Denn du kriegst es und sollst es auch behalten, und ich möcht, daß das Kind 'nen richtigen Mann zum Vater hat, der auch mal für ein bißchen Happenpappen sorgen kann, weißte, mal was zu essen, was gegen den Kohldampf, daß man nicht grade auf der Straße umfällt, im Umgang mit dir, verstehst du ..."

"Mutter Krupaß!" bittet Petra, denn die alte Frau gerät schon wieder in Zorn.

"Na ja, Kindchen", grollt sie, "das darfst du ihm ruhig sagen, davon geht ihm die Vergoldung nicht ab, so was muß ein Mann mal hören, das ist ihm nur gut ..."

"Ja", sagt Petra, "und was mache ich das halbe Jahr -?"

"Siehste, Kindchen", sagte die Krupaß erfreut, "das war das erste verständige Wort, was du heute abend gesagt hast. Und nun setzt du dich hier gemütlich neben mich aufs Bette - die olle Zicke da schläft wohl -, und jetzt reden wir mal richtig miteinander. Von den Männern sprechen

wir überhaupt nicht mehr, eine richtige Frau sollte überhaupt nicht so viel von den Männern reden, die bilden sich da bloß was ein, und so wichtig sind sie gar nicht ... Was du in dem einen Jahr machen sollst? Das will ich dir sagen -: mich vertreten sollst du!"

"Ach!" sagte Petra, ein wenig enttäuscht.

6

"Ja, du sagst ach!" sagte die alte Frau Krupaß ganz freundlich und schlug ächzend ein Bein über das andere, wobei ersichtlich wurde, daß sie nicht nur ganz unmodern lange, faltenreiche Röcke trug(und es gab sogar noch einen Unterrock unter dem Rock), sondern auch völlig unmögliche, dicke, selbstgestrickte Wollstrümpfe, jetzt mitten im Sommer.

"Du sagst ach!, Kindchen, und recht hast du! Denn wie soll so ein hübsches, junges Ding solchen alten Kehrbesen wie mich vertreten können - und wie 'ne olle Puffmutter und Schlafbosten seh ich auch noch aus, was -?!"

Petra schüttelt verlegen, aber doch lächelnd den Kopf.

"Aber recht hast du doch nicht, Kindchen. Und warum hast du nicht recht? Darum, weil du auf den Kassenblock geschrieben hast bei den Schuhen und rechnen kannst, und Augen hast du auch im Kopf, die sehen, was sie ansehen. Das habe ich mir doch gleich gesagt, wie du hier reinkamst in die Zelle; kieke, habe ich gesagt, endlich mal wieder eine, die Anseh-Augen hat, nicht solche Plieraugen wie bei den Kälbern heute: überall und nirgend ..."

"Habe ich wirklich solche Augen?" fragte Petra neugierig, denn auf den Gedanken, daß sie andere Augen als die andern haben könnte, hat sie ihr Spiegel noch nicht gebracht, und Wolfgang Pagel hat ihr das auch noch nicht gesagt, obwohl er ihre Augen doch schon dann und wann zu fühlen bekommen hatte.

"Wenn ich es dir doch sage!" erklärte die Krupaß. "Auf Augen habe ich gelernt in der Fruchtstraße, wo ich fünfzig, sechzig Leute gehen habe, und alle lügen sie mich an mit dem Mund, aber mit den Augen lügen, das können sie nun doch nicht! Und ich sitze hier in diesem elenden Wanzenstall und grübele und sinniere, was es mir dieses Mal einträgt, und ich möcht ja glauben, drei Monate, aber es wird schon ein halbes Jahr werden. Killich sagt auch, ein halbes Jahr, und Killich irrt sich selten und muß es wissen, denn der ist mein Rechtsbeistand ..."

Petra sieht etwas fragend drein, aber die Alte nickt energisch mit dem Kopfe und sagt: "Das kommt alles noch. Du erfährst alles zu seiner Zeit, Kindchen. Und wie du vorhin ach! gesagt hast, kannste nachher nee sagen, da mach ich mir nichts draus. Bloß, du sagst es nicht ..."

Sie sieht so sicher und so energisch und dabei doch wieder gutmütig aus, daß Petra erst einmal wirklich alle Bedenken aufgibt, die ihr bei so frommer Fügung in eine Gefängnisstrafe aufsteigen wollen.

Frau Krupaß aber fährt fort: "Und da sitze ich also und denk: sechs Monate Kittchen sind ja soweit ganz gut, Ruhe brauchst du auch einmal wieder - aber was wird mit dem Geschäft, noch dazu in diesen Zeiten? Der Randolf ist reell, aber mit dem Rechnen ist er schwach, und jetzt, wo alles gleich in die Millionen geht, und dann bloß Schiefertafel und Kreide - das geht nicht, Kindchen, das siehst du auch ein!"

Und Petra sieht es ein und nickt mit dem Kopf und schüttelt ihn, ganz wie es Frau Krupaß hören will, obwohl sie noch gar nicht klarsieht.

"Ja, da sitze ich also und grübele über Stellvertreter, was ein schönes Wort ist, bloß, daß sie alle klauen wie die hungrigen Raben, und keiner denkt an die olle Frau im Kittchen. Da aber kommst du nun rein, Kindchen, und ich seh dich und deine Augen. Und ich seh ja, was mit euch beiden los ist, und ich hör ja, was sie dir vorschmeißt - und dann die Attacke auf mich und das Ziepen an den Haaren und das In-Decken-Wickeln - und alles ordentlich gemacht, ohne Zorn und doch nicht wie Heilsarmee ..."

Petra sitzt ganz still und verzieht nicht das Gesicht. Aber es tut einem jeden Menschen gut, wenn sein Tun ein bißchen Anerkennung findet, und einem geschlagenen, herumgestoßenen Menschen tut es besonders gut.

"Ja, da habe ich gedacht, die ist richtig, die wär was für dich. Aber so was steckt natürlich in Kittchenkluft, so was wird nicht gereicht. Das mach dir bloß ab, Mutter Krupaß. Die flickt noch Hemden, wenn du schon längst wieder draußen bist. - Und dann hör ich, was du erzählst, und es ist ja wohl nicht die Möglichkeit, denke ich, das Kind müssen sie dir ja direkt aus dem Himmel geschickt haben in deine Verlassenheit ..."

"Mutter Krupaß!" sagt Petra zum zweitenmal.

"Na ja, natürlich Mutter Krupaß, wie denn sonst?" sagt die Alte ganz vergnügt und schlägt Petra derb aufs Knie. "Hab ich dir vorhin ordentlich Saures gegeben, was?! Na, laß man, das macht nischt. Mir haben sie in meiner Jugend so viel Saures gegeben und später auch noch, nicht zu knapp, wie die Jungen im Krieg gefallen sind, und mein Oller hat sich aus Schwermut aufgebammelt. Aber nicht bei mir in der Fruchtstraße, da war

er schon in Dalldorf, was jetzt Wittenau heißt - laß man, denk ich, sauer macht lustig ..."

Sie lehnt sich vor, sie sieht Petra mit ihren überbuschten Augen an. "Aber sehr lustig bin ich nun auch wieder nicht, Kindchen, das verstehst du? Das sieht man bloß so aus - im ganzen finde ich den Betrieb ziemlich belämmert ..."

Und Petra nickt, vollständig einverstanden, mit dem Kopf, und ihr ist ganz klar, daß mit dem Betrieb nicht das Polizeipräsidium Alexanderplatz gemeint ist. Sie versteht vollkommen die Einstellung der Mutter Krupaß, daß man das Leben ziemlich belämmert finden kann und doch nicht den Kopf hängenläßt. Sie hat ja eine ziemlich ähnliche Einstellung, und wenn man solche Sympathie entdeckt, ist man immer erfreut.

"Jaha - aber den Betrieb führ ich darum doch weiter, der hält mich lebendig. Und wenn man sich nicht lebendig hält und was schafft, Kindchen, das ist nichts, da verfault man bei lebendigem Leibe. Und so wie du das gemacht hast, immer hocken in der möblierten Stube, und vielleicht mal, wenn's viel ist, ein bißchen Aufwasch für die möblierte Schlummermutter, das ist kein Leben, Mädchen, davon muß jede doof und trübsinnig werden ..."

Und wieder nickt Petra mit dem Kopf, und wieder findet sie, daß Frau Krupaß völlig recht hat und daß es ganz unmöglich ist, zu dem alten Leben bei der Pottmadamm zurückzukehren. Und jetzt hätte sie bloß gerne gewußt, was für eine Arbeit denn Frau Krupaß so frisch und lebendig erhalten hat, und sie wünscht aus ganzem Herzen, daß es irgendeine Arbeit ist, die anständig und zu verantworten ist.

Und da sagt Frau Krupaß auch schon: "Und nun will ich dir auch sagen, Kindchen, was ich für ein Geschäft habe. Und wenn die Leute die Nase darüber rümpfen und sagen: es stinkt! - es ist doch ein gutes Geschäft! Und mit Kittchen hat es gar nichts zu tun, denn es ist ein anständiges Geschäft - mit Kittchen hat bloß meine Dummheit zu tun, weil ich nämlich ein gieriger Mensch bin, ein geldgieriger Mensch. Ich kann es nicht lassen, und hundertmal sag ich mir: laß es, Auguste(ich heiß nämlich Auguste, aber ich mach keinen Gebrauch davon), laß es, du verdienst auch so genug Geld, liefere es ab - ich kann es nicht lassen! Und dann fall ich rein - nun schon das drittemal! Und Killich sagt ja, es wird ein halbes Jahr kosten."

Jetzt sitzt sie sehr zusammengefallen da, die geldgierige Frau Krupaß, und Petra sieht ihr wohl an, daß das vorhin mit den sechs Ruhemonaten nur ein Schwindel war, daß Frau Krupaß gar nicht abgebrüht ist, sondern eine höllische Angst vor diesen sechs Monaten Kittchen hat. Und sie

möchte der alten Frau gerne etwas Tröstliches sagen, aber sie weiß ja noch immer nicht, um was es eigentlich geht. Sie kann sich auch nicht die geringste Vorstellung von dem gutgehenden, aber übelriechenden Geschäft der Frau Krupaß machen, das doch wieder anständig sein soll.

So schweigt Petra Ledig lieber und wartet. Und nach einer Weile nimmt sich Frau Krupaß wieder zusammen und sagt mit einem fast entschuldigenden Lächeln: "Gott, nun sitze ich auch noch da und blase Trübsal. Aber das kommt davon, wenn man sich rühmt mit Lustigsein und so. Aber nun sollst du hören, Kindchen! Weißt du, was ein Produktengeschäft ist?"

Petra nickt ein wenig und hat eine Vorstellung von einem muffigen, stinkenden Keller.

"Siehst du, Kindchen, das habe ich, und da brauchst du die Nase nicht zu ziehen, es ist ein gutes Geschäft und nährt einen, und Frechheiten von alten Lustgreisen braucht man sich dabei nicht gefallen zu lassen. Altpapier und altes Eisen und Knochen und Lumpen, und Felle habe ich auch ... Aber nicht so mit kleinem Handwagen auf die Müllplätze, nee, einen großen Hof habe ich, mit Lastauto, und sechs Mann arbeiten bei mir. Und dann is noch der Randolf da, was mein Aufseher über den Lagerplatz ist, ein bißchen düsig, aber reell, wie ich dir schon erzählt habe. Und dann kommen sie zu mir, fünfzig, sechzig Handwagen jeden Tag. Ich bezahle, was richtig ist, und das wissen sie auch, daß Mutter Krupaß die richtigen Preise bezahlt. Und jetzt wird es überhaupt alle Tage mehr, wo jeder mit 'nem Handwagen geht, weil die Arbeit immer weniger wird ..."

"Aber Mutter Krupaß, davon versteh ich doch gar nichts!" sagt Petra schüchtern.

"Das brauchst du ja auch gar nicht, mein Mädchen. Der Randolf weiß alles und kennt alles, bloß, daß er nicht rechnen kann und düsig ist. Rechnen sollst du und anschreiben sollst du und Geld auszahlen sollst du, und da hab ich ein großes Vertrauen zu dir, Kindchen, aber es wird schon stimmen. Und abends rufst du die Spinnereien und Fabriken an, was sie zahlen für alles, jede ihren Kram, ich sag dir noch die Nummern und Namen von den Leuten, und danach zahlst du, ganz reell. Und dann geht es mit dem Lastauto in die Fabrik, liefern, und dann kriegst du Geld, und das Papier verladen wir, wenn wir genug für einen Waggon haben. Das sagt dir Randolf alles. Das gibt dann auch wieder Geld. Das macht Laune, Kind, wenn du das Geld einnimmst, und heutzutage kann überhaupt jedes Kind handeln, wo der Dollar immerzu steigt ..."

Petra sieht die alte Frau an, plötzlich, da sie deren Eifer, die

leuchtenden Augen sieht, scheint ihr das alles gar nicht mehr ganz unmöglich. Es ist doch Arbeit - was heißt das: stinkige Lumpen?! Es ist doch geradezu etwas wie eine Zukunft.

Aber dann fällt ihr wieder ein, daß die Frau Krupaß ja im Gefängnis sitzt und daß die Sache also irgendeinen Haken haben muß, und ihre Freude vergeht sachte wieder.

Aber die alte Frau redet weiter, und was sie redet, facht die Freude von frischem wieder an. "Und denk dir nicht", sagt sie, "daß es sonst Bruch ist bei mir. Alles reell und solide. Ordentliche Geschäftsbücher und mit dem Finanzamt nicht mehr Krach als jeder. Und ein Häuschen auf dem Platz, tipptopp, fein mit Ei, mit Blumen und Laube, ganz, wie es richtig ist. Unten wohnt Randolf, und oben wohne ich, drei Zimmer mit Bad und Küche - prima! Und die Randolfen kocht mir 's Essen, und so soll sie's dir auch kochen. Ich esse gerne was - die kocht nicht schlecht! - Und ich habe mir gedacht, du wohnst in meiner Wohnung und schläfst in meinem Bett, und im Badezimmer wäschst du dich ... Aber in der Wanne badest du nicht, da geht die Emaille von kaputt oder wird streifig, mit der Emaille weiß ich allein Bescheid. Das mußt du mir in die Hand versprechen, daß du mir die Wanne nicht anrührst! - So schmutzig wirst du ja auch gar nicht, daß du dich baden mußt - die Dreckarbeit machen der Randolf und die Männer ..."

Wieder nickt Petra, und jetzt möchte sie schon sehr gerne, daß es etwas würde - aber da ist ja noch das eine, der eine Punkt.

"Und morgen früh kommt Killich hierher in die Sprechstunde, was mein Rechtsbeistand ist, und das ist ein gerissener Hund, sage ich dir, Kindchen! Dem werde ich sagen: Killich, Herr Killich, Herr Rechtsanwalt Killich - morgen oder übermorgen oder heute noch kommt eine zu Ihnen in die Sprechstunde, Petra Ledig heißt sie, das ist meine Stellvertreterin. Sehen Sie nicht, was sie auf dem Leibe trägt, das ist Wohlfahrt oder Fürsorge, sehen Sie ihr ins Gesicht, und wenn die mich anscheißt, Killich, dann glaub ich keinem Menschen mehr auf der Welt, mir nicht und Ihnen schon gar nicht, Herr Killich ..."

"Mutter Krupaß!" sagt Petra, legt ihre Hand auf die Hand der andern und ist fest überzeugt, daß es wirklich nicht so schlimm sein kann mit den Verbrechen der Alten.

"Na, wat denn, mein Mächen?! Wat denn, wat denn?! Es ist doch so! Und dann fährt Killich mit dir zu Randolfen und sagt ihm, daß du bist wie ich, mit Geld und Verfügung und Wohnung und Essen und Befehl ganz wie ich, und was du an Kleidern und Wäsche und Sachen brauchst, das kaufst du dir. Und auf der Stadtbank, wo ich mein Konto habe, da kannst

du auch unterschreiben wie ich, das macht Killich alles fertig für dich ..."

"Aber, Mutter Krupaß ..."

"Na, wat denn aber -? Essen kriegst du und Kleider kriegst du und Wohnung kriegst du, und dein Kind kannst du auch kriegen bei mir(aber dann bin ich hoffentlich schon wieder draußen), nur das eine kriegst du nicht: Gehalt kriegst du nicht, Geld kriegst du nicht. Und warum nicht? Weil du es ihm nur gibst! So dußlig bist du, das weiß ich doch, dafür bin ich selbst Frau. Wenn er kommt und macht 'nen treuen Hundeblick, dann gibst du ihm, was du hast. Aber was du nicht hast, nämlich mein Geld, das gibst du ihm nicht - dafür kenne ich dich nun auch schon! Darum kriegst du kein Gehalt - nicht aus Knietschigkeit nicht! Und nun sag, Kindchen, bist du einverstanden oder bist du nicht einverstanden -?"

"Ja, Mutter Krupaß, natürlich bin ich einverstanden. Aber da ist noch die eine Sache, die Sache ..."

"Was für 'ne Sache?! Mach mir keine Geschichten, Mächen! Mit dem Kerl? Von dem Kerl reden wir nicht mehr, der soll erst mal ein Kerl werden!"

"Nein, Ihre Sache, Mutter Krupaß, Ihre -!"

"Was, meine Sache?! Ich hab dir doch alles erzählt, Kindchen, und wenn dir das nicht genug ist ..."

"Nein, Ihre Sache, die Sache, weswegen Sie sitzen!" rief Petra. "Die Sache, weswegen Sie ein halbes Jahr kriegen wollen, Mutter Krupaß!"

"Ich und wollen, Kind! Du bist ja gut, Mächen!! Du hast ja einen Begriff von meinem Wollen, das muß ich wirklich sagen -! Also: die Sache geht dich gar nichts an, damit hast du nischt zu tun, und damit hat auch das Geschäft nischt zu tun, damit hat nur meine Happigkeit zu tun. Also: wenn wir Lumpen sortieren, da steh ich meistens dabei, daß zwischen die Leinenlumpen nichts aus Baumwolle fliegt, denn Leinen ist teuer, und Baumwolle ist billig, das verstehst du doch?"

"Ja", sagte Petra.

"Na also!" meinte die Alte befriedigt. "Köpfchen bleibt Köpfchen. Und wie ich da so steh, und die Lumpen fliegen durch die Luft, da seh ich mit meinem gierigen Rabenblick was blinkern. Ich sachte mich angepirscht, und da ist doch ein richtiges Frackhemde dazwischen, und der Dussel, der das weggeschmissen hat - aber es ist sicher das Mädchen von dem Dussel gewesen, das sich mit Leinenlumpen ein bißchen Geld hat machen wollen(das machen heute viele, weil der Lohn nicht hin und her reicht) -, hat doch vorne im Brettchen drei Diamantknöpfe

steckenlassen! Kein Pofel, seh ich gleich, richtig Brillanten, und nicht kleine! Na, ich tu, als seh ich nichts, aber ich pul mir die Dinger leise raus. Und dann zu Hause freu ich mich. Wunderbar - ich bin so, über so was, und wenn's nun sogar nichts gekostet hat, kann ich mich freuen wie ein Kind! Ich weiß, ich darf es nicht, ich bin ja schon zweimal reingefallen mit so was, aber ich kann es nicht lassen. Immer denk ich, es hat keiner gesehen, liefer es nicht ab, hast du doch deine kleine Freude dran ..."

Sie sieht Petra an, und Petra sieht die alte Frau an, und Petra ist sehr erleichtert, aber die Frau Krupaß ist sehr bekümmert.

"Und das ist das Gemeine an mir, Kindchen, daß ich es nicht lassen kann. Daß ich dies nicht unterkriege, darüber ärgere ich mich noch mal tot! Killich sagt auch zu mir: ›Was soll denn das, Frau Krupaß! Sie sind doch 'ne reiche Frau, Sie können sich doch 'ne Sechsertüte voll Brillantknöpfe kaufen, lassen Sie doch so was!‹ - Und recht hat er, aber lassen kann ich es nicht! Ich werd damit nicht fertig, ich schaff und schaff es nicht. Was würdest du denn in so 'nem Falle tun, Kindchen?"

"Ich würd sie abliefern", sagt Petra.

"Abliefern? Die schönen Knöppe?! Nee, so dumm!" Sie will sich wieder ereifern, aber sie besinnt sich gleich. "Na, reden wir nicht mehr von, ich ärgere mich auch ohne Reden genug. Was soll ich noch viel erzählen? Einer von meinen Leuten muß es doch gesehen haben, gierig sind sie ja alle, und schon ist der Krimsche da und ist ganz höflich. ›Na, Frau Krupaß, wie ist denn das wieder mit 'ner kleinen Fundunterschlagung?‹ sagt er und grient noch dabei, der Affe! ›Haben Sie's vielleicht wieder ins Spiegelschränkchen gelegt? Machen Sie mal auf!‹ Und ich Hornochse hab die Knöppe doch wirklich wieder da rein gelegt wie 's letztemal, recht hat der Mann, und ein Affe ist er gar nicht! Der Affe bin immer bloß ich! Na ja, was nicht als Verbrecher geboren ist, wird sein Lebtag keiner!"

Die Krupaß sitzt da, in Gedanken verloren, und Petra sieht ihr an, daß sie jetzt noch, trotz aller Selbsterkenntnis, trotz der Angst vor den sechs Monaten, den Verlust der Knöpfe bedauert. Und Petra möchte beinahe lächeln über die kindische, törichte alte Frau. Aber dann denkt sie an Wolfgang Pagel, und wenn sie auch gleich sagen will: Das ist doch etwas anderes als Knöpfe! - sie denkt doch: Vielleicht bilde ich mir das nur ein, daß es was anderes ist. Was für mich der Wolf ist, das sind für Mutter Krupaß die Knöpfe.

Und nun fällt ihr wieder ein, daß es mit dem Wolf erst einmal vorbei ist, und sie denkt an das Häuschen auf dem Produktenlagerplatz, von dem sie sich schon eine richtige Vorstellung machen kann(an der Laube wachsen Feuerbohnen hoch), und sie weiß nun ganz fest, es gibt keine

Pottmadamm mehr und kein überhitztes Hofzimmer, nicht mehr das Schreien des geschnittenen Blechs aus der Fabrik im Erdgeschoß, nicht mehr das tatenlose Warten, keine Bettruhe mehr wegen Kleidermangel, kein Hofieren mehr um ein paar Schrippen. - Sondern statt dessen Sauberkeit, Ordnung, ein planmäßig eingeteilter Tag mit Arbeit, Essen und Ruhe ... Und diese Aussicht überwältigt sie so, daß das Glück sie fast mit einem Weinen anfaßt. Sie schluckt einmal, sie schluckt noch einmal, dann aber besinnt sie sich. Sie geht auf die alte Frau zu, reicht ihr die Hand und sagt: "Also, ich will, Mutter Krupaß, und gerne! Und ich danke Ihnen auch schön!"

7

Eine lange Zeit, eine unermeßlich lange Zeit, fast eine Stunde lang hatten der Rittmeister und sein Junker gemeinsam gespielt. Mit Flüstern hatten sie einander verständigt, Pagel hatte die Vorschläge des Rittmeisters angehört und hatte sie befolgt, oder er hatte sie auch nicht befolgt, ganz wie er das Spiel beurteilte.

Die Kugel war gelaufen und hatte geklappert, das Rad hatte geschnurrt, der Croupier hatte gerufen, eilig hatte man einzuziehen und neu zu setzen. Die Zeit lief hastig, sie rannte, immer war sie ausgefüllt gewesen - und jener eine Augenblick, da die Kugel am Rande eines Loches zu verharren schien, unentschlossen, ob sie hineinfallen oder weiterlaufen sollte - dieser eine Augenblick, da die Zeit mit dem Atem, mit dem Herzen in der Brust stillezustehen schien - dieser eine Augenblick ging immer viel zu schnell vorüber.

Der junge Pagel, wie er beherrscht und rechnend setzte, war für Herrn von Prackwitz kein schlechter Lehrmeister gewesen; der Rittmeister sah ein, während Pagel ihm mit ein paar halben Worten die Chancen erläuterte, wie sinnlos, wie kindisch er vorher gespielt hatte. Nun, da er das Spielfeld klarer überblickte, schon beurteilen konnte, daß der blasse, scharfnasige Herr mit dem Monokel, so beherrscht er aussah, doch wie ein Narr spielte - nun konnte der Rittmeister schon vernünftigere Vorschläge machen, die, wie schon gesagt, von dem Exfahnenjunker häufig nicht befolgt wurden.

Eine leise gereizte, später richtig erbitterte Stimmung wurde langsam in dem Rittmeister stärker und stärker. Der junge Pagel spielte mit wechselndem Erfolge, aber im ganzen gesehen befand er sich trotz einiger Treffer auf einer absteigenden Linie. Wenn es ihm vielleicht nicht zum Bewußtsein kam, der Rittmeister merkte wohl, wie der Fähnrich

immer wieder aus der Waffenrocktasche für Nachschub von Marken sorgen mußte. Der Junge hatte alle Ursache, seinen, des Älteren und ehemals Vorgesetzten, Ratschlägen zu folgen! Zehnmal hatte es der Rittmeister schon auf der Zunge, zu sagen: Nun tun Sie endlich einmal, was ich Ihnen sage! - Jetzt haben Sie schon wieder verloren!

Wenn der Rittmeister diesen Satz(mit großen Schwierigkeiten) immer wieder verschluckte, so nicht darum, weil der junge Pagel ja schließlich mit seinem eigenen Gelde spielen konnte, wie er wollte. Pagel spielte unzweifelhaft mit seinem eigenen Gelde, der Rittmeister war bloß ein geduldeter Zuschauer, mit drei oder vier Spielmarken in der Tasche und mit kaum etwas Geld in der Hinterhand. Darüber war sich Herr von Prackwitz sehr klar. Aber dies war es nicht, was ihn davon abhielt, den Junker als sein Vorgesetzter gehörig zur Ordnung zu rufen. Sondern es war die dunkle Befürchtung, Pagel könne bei dem geringsten Zwischenfall das Spiel abbrechen und nach Haus wollen. Davor zitterte er, das war das Schlimmste, was er denken konnte - hier nicht mehr sitzen zu dürfen, das Rollen der Kugel nicht mehr beobachten zu können, nicht die Stimme des Croupiers zu hören, die endlich, endlich, vielleicht schon beim nächsten Spiele, den großen Schlag verkündete. Diese Befürchtung allein, dunkel nur und ihm kaum bewußt, war's, die den explosiven Rittmeister stets von neuem zurückhielt. Immerhin war es fraglich, wie lange selbst eine so starke Hemmung ihn bei seiner ständig steigenden Erbitterung noch zurückhalten konnte. Ein Streit zwischen beiden war unvermeidlich. Doch kam es zu diesem Streit natürlich ganz anders als erwartet.

Das Spiel, dem man sich hingibt, verlangt die völlige Aufmerksamkeit seiner Anhänger. Das Auge, das nur einen Augenblick abgeirrt ist, hat bereits die Übersicht verloren. Der Zusammenhang ist zerrissen - unverständlich ist nun, warum dort die Marken sich häufen, hier die Spieler erloschene Augen haben. Das Spiel ist ein unerbittlicher Gott - nur wer sich ihm völlig hingibt, dem schenkt es alle Wonnen des Himmels, alle Verzweiflung der Hölle. Die Halben, die Lauen werden auch hier - wie überall - ausgespien.

Es war für Pagel schon schwer genug, bei dem ständigen Geschwätz des Rittmeisters unbeirrt weiterzuspielen. Als aber nun direkt vor seinen Augen, die den Lauf der Kugel verfolgten, eine weiße, sehr parfümierte Frauenhand mit vielen prahlenden Ringen erschien, eine Hand, die ein paar Jetons hielt, als eine Stimme einschmeichelnd bat: "Also siehst du, Liebling, ich sagte es dir doch! Nun setze auch für mich, wie du mir versprochen hast -!"

Da riß bei dem jungen Pagel die Geduld! Wild herumfahrend, starrte er den hold lächelnden Valutenvamp an und schnauzte: "Sie sollen sich zum Teufel scheren!"

Er erstickte fast vor sinnlosem Zorn.

Was der Rittmeister von Prackwitz bei diesem Vorfall beobachtet hatte, war dies: eine junge, sehr reizvoll aussehende Dame hatte ihren Einsatz, vielleicht etwas ungeschickt, über die Schulter des Fahnenjunkers machen wollen und war dafür von ihm in der unhöflichsten, beleidigendsten Weise angeschrien worden.

Dem Rittmeister war Unhöflichkeit gegen Frauen verhaßt, er rührte den jungen Pagel bei der Schulter an und sagte sehr scharf: "Herr Pagel, Sie als Offizier -! Sofort bitten Sie die Dame um Entschuldigung!"

Der Croupier am oberen Tischende sah diesen Zusammenstoß nicht ohne Besorgnis.

Zwar kannte er den Valutenvamp recht gut, von irgend etwas Damenhaftem an diesem Frauenzimmer war ihm nichts bekannt. Immerhin durfte es in einem solchen verbotenen Spielklub unmöglich zu einem lauten Streit kommen. Da waren die Nachbarn in diesen ehemals hochherrschaftlichen Mietshäusern des Westens. Da waren die Wohnungsinhaber selbst in ihrem ehelichen Schlafgemach, die nur die Not der Inflationszeit dazu gebracht hatte, ihre gute Stube für solchen lichtscheuen Zweck herzugeben. Da war der Portier unten in seiner Loge, der zwar Geld bekommen hatte als sicheres Schlafmittel, der es aber eben schon bekommen hatte - sie alle konnte ein lauter Streit neugierig, argwöhnisch, ängstlich machen.

So warf der Croupier seinen beiden Helfern einen warnenden, weisenden Blick zu. Und diese beiden Helfer eilten auch sofort auf den Kampfplatz, der eine zu dem weißnasigen Valutenvamp, dem er unterdrückt: "Mach uns bloß keinen Zores, Walli!" zuflüsterte, während er laut sagte: "Aber bitte schön, gnädige Frau, Stuhl gefällig?" Der andere drängte sich an den zornroten Pagel heran, der wütend aufgesprungen war, entfernte sacht, aber unwiderstehlich des Rittmeisters Hand von Pagels Schulter, denn er wußte, daß nichts einen zornigen Mann zorniger macht, als wenn er festgehalten wird. Dabei überlegte er sorgenvoll, ob, falls der junge Mann im schäbigen Waffenrock weiter angeben würde, ein kräftiger Kinnhaken in dieser vornehmen Gesellschaft mißfallen würde oder nicht.

Der Croupier selbst wäre auch gerne als Schlichter aufgetreten, nur konnte er noch nicht vom Spieltisch fort. Er bat mit halblauter Stimme die Spieler, ihre Einsätze wieder an sich zu nehmen, bis die kleine

Meinungsverschiedenheit zwischen den Herrschaften dort geregelt sei. Dabei dachte er ununterbrochen darüber nach, wen von den beiden Streitenden dort er vor die Tür werde setzen müssen. Denn einer von beiden mußte hinaus, soviel war klar.

Der Tisch vor dem Croupier war jetzt fast leer, und der Spielhalter schickte sich eben an, sein Vorhaben durchzuführen, nämlich den jungen Pagel(der ihm natürlich namentlich nicht bekannt war) höflich oder gewaltsam, gleichviel, vor die Tür zu bitten, als sich die gespannte Lage leider in einer Weise löste, die den Absichten des Croupiers nicht völlig entsprach.

Der Valutenvamp nämlich oder besser die Walli - die in der letzten Stunde von einem spät eingetroffenen Spieler wirklich ein paar Briefchen Schnee hatte kaufen können und die ihre gesamte Erwerbung in einem unsinnigen Tempo aufgeschnupft hatte - wollte, unberechenbar, wie Süchtige nun einmal sind, dieses Mal den zornigen Pagel nur komisch finden. Reizend komisch, himmlisch komisch, zum Verlieben komisch! Sie wollte sich ausschütten vor Lachen über seine fahrigen, zornigen Gebärden, sie forderte die Umstehenden auf, mitzulachen, sie zeigte mit dem Finger auf ihn: "Er ist ja zu süß, der Bubi, wenn er wütend ist! Ich muß dir einen Kuß geben, Liebling!"

Und selbst als der vor Wut sinnlose Pagel sie vor der ganzen Gesellschaft "Hurenluder, verdammtes!" schimpfte, verstärkte auch dies nur ihre Heiterkeit. Vor hysterischem Lachen fast schluchzend, schrie sie: "Nicht für dich, Schatzi, nicht für dich! Du brauchst mir nichts zu zahlen!"

"Ich habe dir gesagt, daß ich dir in die Fresse schlagen werde!" schrie Pagel und schlug zu.

Sie kreischte auf.

Der Unterhaltungston zwischen den beiden, die Art, wie sie sich beschimpften, hatte den Gehilfen des Croupiers längst zu der Überzeugung gebracht, daß ein Kinnhaken hier ebenso am Platze sein müsse wie daheim am Wedding. Auch er schlug zu - aber leider in die zurücktaumelnde Walli, die ohne einen weiteren Laut umsank.

Sowohl von Studmann, der unaufmerksam und verdrossen als Wandhalter geraucht hatte, wie der Croupier kamen zu spät. Der Valutenvamp lag, plötzlich sehr gelb und spitz aussehend, an der Erde, besinnungslos. Der Gehilfe versuchte zu erklären, wie alles gekommen war. Von Prackwitz stand finster dabei und kaute zornig an seiner Lippe.

Studmann fragte ziemlich diktatorisch: "Also jetzt gehen wir wohl endlich -?!!"

Pagel stand rasch atmend, sehr weiß da und hörte sichtlich nicht auf den Rittmeister, der ihm jetzt erregt und scharf Vorhaltungen über sein unkavaliermäßiges Benehmen machte.

Der Croupier sah den Spielabend bedroht, viele Gäste und grade die eleganteren, zahlungsfähigeren, die der Ansicht huldigten, daß man wohl die Gesetze übertreten dürfe, aber nur bei Wahrung aller Formen, schickten sich zum Aufbruch an. Mit drei Worten verständigte er seine Leute: das bewußtlose Mädchen wurde in ein dunkles Nebenzimmer getragen, schon drehte sich wieder surrend die Scheibe, die Kugel rasselte und sprang magisch, sanft, verführerisch leuchtete das grüne Tuch unter der abgeschirmten Lampe. Der Croupier sang: "Hier liegen noch zwei Einsätze auf dem Tisch ... Machen Sie Ihr Spiel ... Zwei Herrschaften haben ihre Einsätze vergessen ..."

Viele wandten sich zurück.

"Also gehen wir doch!" rief von Studmann nochmals ungeduldig. "Ich verstehe euch wirklich nicht ..."

Der Rittmeister sah den Freund scharf und böse an, aber er folgte, als Pagel wortlos aus der Tür ging.

Auf dem Flur saß der traurige Wachtmeister an seinem Tischchen. Der Rittmeister angelte in seiner Tasche, fischte die zwei oder drei Spielmarken, die ihm noch geblieben waren, warf sie auf den Tisch und rief in einem Tone, der unbekümmert klingen sollte: "Da -! Für Sie, Kamerad! Alles, was ich besitze!"

Der traurige Wachtmeister hob langsam seine kugligen Augen gegen den Rittmeister, sah ihn an, schüttelte den Kopf und legte für die drei Marken drei Scheine auf die Tischplatte.

Herr von Studmann hatte die Tür zum dunklen Treppenhaus geöffnet und lauschte hinunter.

Der Mann am Wechseltisch sagte: "Sie müssen sich einen Augenblick gedulden. Es wird Ihnen sofort geleuchtet. Er ist eben mit ein paar Herrschaften runter."

Pagel stand bleich und abgespannt vor dem grünlichen Garderobenspiegel und betrachtete sich gedankenlos. Er meinte drinnen das Klappern der Kugel zu hören, jetzt rief der Croupier, er hörte es deutlich: "Siebzehn - Rot - Ungleich ..."

Natürlich: Rot, seine Farbe. Seine Farbe! Gleich würde er die Treppen hinuntersteigen, um mit dem Rittmeister aufs Land zu fahren, drinnen spielten sie seine Farbe, für ihn aber würde es mit dem Spielen vorbei sein.

Der Rittmeister sagte in einem Ton, der andeuten sollte, daß alles Geschehene vergeben und vergessen sei, der aber doch wieder recht gereizt klang: "Pagel, Sie haben doch auch noch Marken einzuwechseln. Es ist doch schade darum!"

Pagel griff in seine Tasche und sammelte mit den Fingern blind alle Jetons in die Hand.

Warum kommt der Kerl nicht, um uns rauszulassen? dachte er. Natürlich möchten sie, daß wir weiterspielen!

Er versuchte mit den Fingern in der Tasche zu zählen, wie viele Spielmarken es waren.

Wenn es sieben oder dreizehn sind, werde ich noch ein letztes Mal spielen. Ich habe heute noch gar nicht richtig gespielt, dachte er seltsam trübe.

Es mußten mehr als dreizehn sein, er bekam die Zahl nicht heraus. Er zog die Hand mit den Spielmarken aus der Tasche und begegnete dem Blick des Rittmeisters. Dieser Blick schien nach der Tür zu deuten, irgend etwas sagen zu wollen.

Es sind ja nicht sieben oder dreizehn, dachte er bedrückt. Ich muß ja nach Haus gehen!

Ihm fiel ein, daß er kein Zuhaus mehr hatte. Er sah nach der Tür. Der ahnungslose von Studmann war ins Treppenhaus getreten und hallote unterdrückt nach dem Leuchter.

Pagel sah die Jetons auf seiner Hand an, er zählte sie. Es waren siebzehn. Siebzehn -! Seine Zahl -!!

In diesem Augenblick durchrieselte ihn ein unfaßbares Glücksgefühl. Er hatte es geschafft - die große Chance war da!(O Leben - herrliches, unerschöpfliches Leben!)

Er trat auf den Rittmeister zu und sagte halblaut, mit einem Blick zu der offenen Tür ins Treppenhaus: "Ich gehe noch nicht. Ich spiele noch."

Der Rittmeister schwieg. Ganz rasch zwinkerte er einmal mit dem Auge - als sei ihm etwas hineingeflogen.

Wolfgang trat an den Wechseltisch, er zog ein Banknotenpaket, das zweite, aus der Tasche und sagte: "Spielmarken - für alles!"

Während gezählt und aufgezählt wurde, drehte er sich zu dem stumm dabeistehenden Rittmeister und rief, fast triumphierend: "Ich werde heute abend ein Vermögen gewinnen! Ich weiß das -!"

Der Rittmeister bewegte sachte den Kopf, als wisse er das auch, als sei es eigentlich selbstverständlich.

"Und Sie -?" fragte Pagel.

"Ich habe kein Geld mehr bei mir", antwortete der Rittmeister. Es klang merkwürdig schuldbewußt, dabei sah er fast angstvoll nach der offenen Tür.

"Ich kann Ihnen aushelfen - spielen Sie auf eigene Rechnung!" Pagel hielt dem Rittmeister einen Geldpacken hin.

"Nein, nein", sagte der Rittmeister abwehrend. "Es ist zuviel - ich möchte nicht soviel ..."

(Keiner von beiden erinnerte sich in diesem Augenblick der Szene bei Lutter und Wegner, da der junge Pagel dem Rittmeister auch Geld angeboten hatte und mit der verächtlichsten Empörung zurückgewiesen worden war.)

"Wenn Sie wirklich gewinnen wollen", erklärte Pagel mit Nachdruck, "müssen Sie genug Betriebskapital haben. Ich kenne das!"

Wieder nickte der Rittmeister. Langsam griff er nach dem Geldpaket. -

Als von Studmann aus dem Treppenhaus zurückkam, war der Vorplatz leer.

"Wo sind die Herren?"

Der Wachtmeister machte eine Bewegung mit dem Kopf zur Tür des Spielzimmers.

Von Studmann stampfte wütend mit dem Fuß auf. Er ging gegen die Tür. Aber er drehte sich entschlossen wieder um, er dachte zornig: Aber ich denke ja gar nicht daran! Ich bin nicht sein Kindermädchen! So nötig er eines hätte ...

Er ging zur Flurtür.

Direkt neben ihm öffnete sich eine Tür, das Mädchen, mit dem Pagel den Streit gehabt hatte, trat heraus.

"Können Sie mich die Treppe runterbringen?" fragte sie tonlos, undeutlich, als rede sie im Schlaf, als sei sie nicht ganz bei sich. "Mir ist schlecht, ich möchte an die Luft ..."

Von Studmann, das ewige Kindermädchen, bot ihr den Arm. "Aber gewiß. Ich wollte sowieso gehen!"

Der Wachtmeister nahm aus der Garderobe einen silbergrauen Umhang und hing ihn der Frau über die nackten Schultern. Die beiden stiegen wortlos die Treppe hinab, das Mädchen lehnte sich schwer auf Studmanns Arm.

8

Natürlich hatte der Spanner, und zwar derselbe, der den Herren hinaufgeleuchtet hatte, unten an der Tür gestanden und hatte sich nur nicht errufen lassen. Denn jedem Spieler, der fortgehen will, muß man die Möglichkeit geben, sich lange zu besinnen.

Jetzt aber, da von Studmann mit dem Mädchen am Arm im Hausflur erschien, in den von außen der Schein einer Gaslaterne fiel, war er auch dieser Situation völlig gewachsen. Den Valutenvamp, die Walli, kannte er, und daß Geld und Liebe häufig miteinander Ringelreihe oder Bäumchen verwechselt spielen, war ihm auch nicht neu.

"Auto?" fragte er, schwenkte jovial die trinkgeldgeöffnete Hand und erklärte, ehe von Studmann noch antworten konnte: "Warten Se man hier. Ich hol eines vom Wittenbergplatz."

Damit verschwand er, und von Studmann hatte Zeit, über das Verfängliche seiner Situation nachzudenken, hier im dunklen, unverschlossenen Flur eines unbekannten Hauses, mit einem unbekannten Mädchen am Arm. Oben aber war ein Spielklub - und nun brauchte nur noch ein Mann der Wach- und Schließgesellschaft zu kommen -!

Es war wieder einmal alles recht peinlich, und der heutige Tag hatte von Studmanns Bedarf an peinlichen Situationen voll und ganz gedeckt! Es war ein verfluchtes Leben in dieser Zeit; ein Mann konnte nie wissen, was in der nächsten Viertelstunde passieren würde; ob noch Geltung besitzen würde, was eben galt.

Studmann hatte sich ehrlich gefreut, als er heute morgen seinen alten Regimentskameraden getroffen hatte. Prackwitz hatte sich dann fabelhaft anständig benommen, ohne sein Dazutun wäre nie etwas von einem Geheimrat Schröck an Studmanns Ohr gedrungen, sondern man hätte ihn ziemlich mit Schimpf und Schande davongeschickt. Auch die Aussicht, mit Prackwitz aus diesem Höllenpfuhl auf das ruhige Land zu gehen, war sehr schön gewesen - und nun saß dieser selbe Prackwitz da oben, verschluderte in der dümmsten Weise sein Geld - und hatte ihn bereits "Kindermädchen" geschimpft!

Er brauche kein Kindermädchen - wahrhaftig, er brauchte eines, und das sofort! Wenn von Studmann daran dachte, daß die beiden nun wieder in dem Spielzimmer saßen, wenn er sich der unsinnigen Geldpakete des jungen Pagel erinnerte, und die Geiernase und der Raubvogelblick des Spielhalters kamen ihm sehr deutlich vor die Augen, so wußte er, daß er - Kindermädchen oder nicht Kindermädchen - sofort die Treppe hinaufzusteigen und dieser selbstmörderischen Spielerei ein Ende zu machen hatte.

Aber dieses Mädchen, dieses unselige Mädchen an seinem Arm -!

Es schien nicht ganz bei Besinnung - kein Wunder übrigens nach dem harten Schlag! Es zitterte, riß an seinem Arm, klapperte mit den Zähnen, flüsterte wieder und wieder etwas von "Schnee". Von Schnee! - bei einer stinkenden, schwülen, feuchten Hitze, die zum Umkommen war! Es blieb klar, daß Studmann sofort nach oben zu gehen und den Freund zu befreien hatte, ebenso notwendig war es freilich, dieses Mädchen erst einmal irgendwo sicher hinzubringen - zu Verwandten. Er hätte gerne ihre Adresse erfahren, aber sie hörte nicht auf seine Fragen, antwortete nur einmal unwirsch, er solle sie in Frieden lassen, sie wolle nicht, ihre Wohnung ginge ihn einen Dreck an!

Unterdessen fuhr draußen ein Auto vor und hielt. Studmann war ungewiß, ob es das für ihn bestimmte war. Der Spanner ließ sich nicht sehen, das Mädchen flüsterte von Schnee, von Studmann stand unentschlossen.

Schließlich schlüpfte der Spanner doch aus dem Auto in den Hauseingang. "Entschuldigen Se man, daß Se haben warten müssen. Mir war das so, als ob die Luft sauer roch. Sie wissen - das Spielerdezernat von der Kripo! Die Jungens können keine Nacht ruhig schlafen, die hält bei ihre Bezüge der Kohldampf so munter!"

Er pfiff: "Und ich schlafe so schlecht, und ich träume so schwer ..."

"Na ja, nun man rasch, Herr Graf, in die Schaukeltüte! Vergessen Sie mir auch nicht! Na schön. Wieda Geld, wovon die Olle nischt weiß. Na - und wohin nun, gnädige Frau -?"

Er wartete umsonst.

Von Studmann sah zweifelhaft auf das Mädchen, das neben ihm in der Wagenecke lehnte.

"In de Mulle, Walli?" brüllte der Spanner plötzlich. "Wo pennste denn jetzt?"

Sie murmelte irgend etwas von Zufriedenlassen.

Der Spanner zum Chauffeur: "Also hau ab, Mensch! Kurfürstendamm runter! Da wird sie schon munter werden ..."

Der Wagen fuhr an, als Studmann sich ärgerte, daß er nicht ausgestiegen war.

Später, in der Erinnerung, war es ihm, als wären sie Stunden und Stunden gefahren. Straßen auf, Straßen ab, dunkle Straßen, lichterglänzende Straßen, leere Straßen, Straßen, gedrängt voller Menschen. Ab und zu klopfte das Mädchen gegen die Scheibe, stieg aus, ging in ein Lokal oder sprach mit einem Mann auf der Straße ...

Langsamer kam sie zurück, sagte zu dem Chauffeur: "Weiter!" Und der Wagen fuhr wieder los. Das Mädchen schluchzte, seine Zähne klapperten lauter, dann flüsterte es abgerissen vor sich hin.

"Wie bitte?" fragte von Studmann.

Aber sie antwortete nicht. Sie achtete überhaupt nicht auf ihn, für sie war er nicht da. Längst hätte er aussteigen, wieder in den Spielklub fahren können. Wenn er doch sitzen blieb, so nicht um ihretwillen. Er war kein so unbedingter Verehrer der Frauenwelt wie der Rittmeister von Prackwitz, er wußte sehr wohl, neben wem er saß. Ja, er wußte jetzt auch, er hatte es erraten, auf was das Mädchen Jagd machte. Er hatte sich erinnert, daß von "Schnee" auch einmal im Hotel die Rede gewesen war. Ein Toilettenpächter des Hotel-Cafés hatte es plötzlich geführt. Natürlich war der Mann geflogen, so weit kam selbst das modernste Hotel den Wünschen seiner Gäste in dieser irren Zeit nicht entgegen - aber immerhin, von Studmann wußte Bescheid.

Nein, wenn er noch immer saß, wenn er noch immer fuhr, wenn er von Mal zu Mal gespannter wartete, ob die Nachfrage des Mädchens endlich Erfolg hätte - so darum, weil er um einen Entschluß kämpfte. Sobald das Mädchen Erfolg hätte, würde er sich entschließen, so oder so. Er würde es!

Die Bemerkung des Spanners über das Spielerdezernat der Kripo hatte von Studmann auf den Gedanken gebracht, vorsichtige Nachfragen bei dem Chauffeur dieser Taxe hatten ihn sicher gemacht - es würde das beste sein, dieses Spielerdezernat einmal anzurufen. Den Spielklub ausheben zu lassen. Was er früher über diese Dinge gehört hatte, was ihm der Chauffeur bestätigte, war immer wieder, daß die Spieler kaum etwas zu fürchten hatten. Ihre Namen wurden festgestellt, im schlimmsten Fall bekamen sie ein kleines Strafmandat - das war alles! Wer hart angefaßt wurde, das waren die Raubvögel, die Ausbeuter, die Spielhalter - und das war nur recht so!

Wieder und wieder sagte sich Studmann, daß diese Lösung die beste sei.

Was hat denn das für einen Sinn, daß ich noch einmal raufgehe?! überlegte er wieder und wieder. Ich verkrache mich ja bloß mit Prackwitz, und er spielt erst recht weiter! Nein, vom nächsten Kaffeehaus anrufen bei der Polizei! Ich weiß doch, das wäre Prackwitz die heilsamste Lehre, nichts haßt er mehr, als aufzufallen - und wenn da nun seine Personalien von der Polizei festgestellt werden, das würde ihm jede Lust am Spielen austreiben -! Er denkt immer noch, er sitzt im Kasino - und es sind doch lauter Gauner und Betrüger ... Es wird ihn heilen!

Nichts, kein Wort war gegen diese Überlegungen zu sagen, sie waren richtig! Die Spielhalter wurden bestraft, der leichtsinnige Prackwitz aber mitsamt dem jungen Pagel, der ja jede Direktion verloren zu haben schien, sie wurden gewarnt. Und doch kämpfte von Studmann immer weiter um die Kraft zur Ausführung dieses Entschlusses. Es wehrte sich in ihm, das Richtige zu tun, weil es unkameradschaftlich war. Man brachte einen Freund nicht mit der Polizei in Berührung - selbst nicht in der besten Absicht. Er schob es hinaus, erst sollte einmal das Mädchen versorgt sein.

Er sieht ihr erwartungsvoll entgegen, aber sie hat wieder nichts. Sie flüstert lange mit dem Chauffeur.

"Det is zu weit, Frollein", hört er den Mann sagen. "Ick hab Ablösung."

Sie flüstert eindringlicher, schließlich gibt er nach.

"Aber, Frollein, wenn det wieder nischt is ..."

Sie fahren, endlos, endlos. Verlassene, fast dunkle Straßen. Zerbrochene Laternen, aus Sparsamkeit brennt nur jede sechste oder achte.

Das Mädchen neben ihm flüstert automatisch vor sich hin: "O Gott - o Gott - o Gott -", immer weiter, und nach jedem "o Gott" schlägt sie mit dem Kopf gegen die Wagenrückwand.

Von Studmann sieht sich in der Zelle eines Kaffeehauses den Hörer abnehmen: Bitte, geben Sie mir das Polizeipräsidium, Spielerdezernat ...

Aber vielleicht haben sie nicht einmal eine Zelle, und er muß am Büfett telefonieren; die Leute werden denken, er ist ein gerupfter Spieler, der sich rächen will ... Es sieht sehr unanständig aus, aber es ist das Anständige, es - ist - das - An - stän - di - ge!!! Studmann sagt es sich immer wieder. Früher hatte man es besser, da sah das Anständige auch anständig aus. Heute nachmittag war er auch anständig gewesen; er hätte diesen Bengel von einem Baron totschlagen können, und für seine Anständigkeit ist er betrunken die Treppe hinuntergerollt - verfluchtes Leben!

Wäre er doch erst mit dem geretteten Prackwitz auf dem Lande - in der Ruhe, im Frieden, in der lange währenden Geduld!

Endlich hält der Wagen, das Mädchen steigt aus, geht zögernd auf ein Haus zu, einmal stolpert sie und unterbricht ihren Weg mit Schelten. Von Studmann sieht im unsicheren, flackernden Licht nur dunkle Häuserfronten. Kein Lokal. Kein Mensch. Irgend etwas wie ein Laden, Drogerie scheinbar.

Das Mädchen klopft an ein ebenerdiges Fenster neben der Ladentür,

wartet, klopft wieder.

"Wo sind wir?" fragt von Studmann den Chauffeur.

"Bei de Warschauer Brücke", sagt der Mann unzufrieden. "Zahlen Sie die Taxe? Das kost 'ne Stange Gold!"

Studmann sagt ja.

Das Fenster im Erdgeschoß hat sich geöffnet, ein bleicher, dicker Kopf über einem weißen Nachthemd ist erschienen, er scheint zornig Verwünschungen zu flüstern. Das Mädchen fleht, bettelt, eine Art heulendes Klagen dringt bis zum Wagen.

"Der rückt ooch nischt raus", sagt der Chauffeur. "Na ja, so mitten in de Nacht aus 't Bette. Und Kittchen jibt es ooch dafür. So eene hält doch nich die Flappe. - Na also, hab ick's doch jesagt!"

Der Mann hat wütend: "Nein! Nein! Nein!" geschrien und das Fenster zugeworfen. Das Mädchen steht noch einen Augenblick da; sein Weinen, trostlos und dabei doch böse, ist bis zum Wagen zu hören. Von Studmann, das Kindermädchen, hält sich bereit - er sieht das Mädchen schon fallen. Er steigt aus dem Wagen, will ihr zu Hilfe ...

Aber da ist sie schon bei ihm, mit vielen, ganz schnellen, ganz kurzen Schritten.

"Was soll das?" ruft er ...

Aber sie hat ihm schon den Spazierstock aus der Hand gerissen, läuft, ehe er ihn ihr wieder fortnehmen kann, zurück zum Fenster - alles wortlos, leise schluchzend. Dieses leise Schluchzen ist besonders gräßlich. Und nun hat sie mit einem Schlage die Fensterscheibe zertrümmert. Klirrend, laut scheppernd prasselt das Glas auf das Pflaster ...

Und dazu schreit das Mädchen: "Schieber! Fettes Schwein!" schreit sie. "Gibst du den Schnee heraus?!"

"Rücken wir, Herr!" schlägt der Chauffeur vor. "Wenn das die Schupo nicht gehört hat! Sehen Se, jetzt werden die Fenster schon hell ..."

Wirklich leuchten in den dunklen Hausfronten da und dort Fenster auf, eine schwache, hohe Stimme schreit: "Ruhe!"

Aber es ist schon Ruhe, denn die beiden dort am zerschlagenen Fenster flüstern nur miteinander. Jetzt schimpft der bleichgesichtige Mann nicht mehr, oder nur leise.

"Jaha!" sagt der Chauffeur gedehnt. "Wer sich mit solchen erst mal einläßt, muß tun, was se wollen! Der is es doch ejal, ob die Schupo kommt und dem seinen Laden zumacht, die Hauptsache, sie kann weiter

koksen. Fahren wir, Herr -?"

Aber wieder einmal kann Studmann sich nicht zu so etwas entschließen. Wenn das Mädchen auch unverantwortlich, gemein gehandelt hat, er kann darum doch nicht losfahren und sie hier auf der Straße stehenlassen, wo jeden Augenblick um die nächste Ecke Polizei biegen kann. Und dann will er ja auch seinen Urteilsspruch: Bekommt sie ihr Koks, muß er in das nächste, noch offene Kaffeehaus. Wieder sieht er sich, den Hörer in der Hand: Bitte das Spielerdezernat der Kriminalpolizei ...

Es hilft eben alles nichts. Man muß Prackwitz retten, man hat seine Verpflichtungen ...

Nun kommt das Mädchen zurück, und von Studmann braucht gar nicht erst zu fragen, ob ihr Weg erfolgreich war. Schon aus der Art, wie sie ihn plötzlich ansieht, wie er wieder für sie da ist, wie sie ihn anspricht, ist unschwer zu erkennen: sie hat Koks bekommen und auch schon geschnupft.

"Na?!" fragt sie herausfordernd und hält ihm seinen Stock hin. "Wer sind Sie denn? - Ach so, Sie sind der Freund von dem jungen Mann, der mich geschlagen hat. Nette Freunde haben Sie, muß ich sagen, die eine Dame in die Fresse hauen!"

"Aber nein", sagt von Studmann höflich. "Nicht der junge Mensch, der übrigens nicht mein Freund ist, hat Sie so geschlagen - das war ein anderer, einer von den beiden, die immer beim Spielhalter standen."

"Lockenwilli meinen Sie? Ach, erzählen Sie mir bloß keinen Stuß, ich bin gestern schon konfirmiert! Ihr Freund war das, der Sie mitgebracht hat - na, dem Jungen besorge ich es noch!"

"Wollen wir nicht fahren?" schlägt von Studmann vor.

Er kann es nicht leugnen, plötzlich ist er todmüde, müde dieses Frauenzimmers und seines frechen, pöbelnden Tones, müde des planlosen Umherirrens in dieser Riesenstadt, müde all der Unordnung, des Schmutzes, der Streiterei.

"Natürlich fahren wir", sagt sie sofort. "Denken Sie, ich tipple bis in den Westen?! Chauffeur, zum Wittenbergplatz!"

Aber jetzt revoltiert der Chauffeur, und da er es nicht nötig hat, als Kavalier zu reden, und da der Herr sich bereit erklärt hat, die Fuhre zu bezahlen, nimmt er kein Blatt vor den Mund. Er sagt ihr gründlich, was er von so 'ner ollen Kokse denkt, die Fensterscheiben einschlägt; er verkündet, daß er "nicht einen Schritt weiterfahren wird, nicht ums Verrecken!", er erklärt, er hätte sie längst rausgesetzt, wenn nicht der

Herr wäre ...

Auf die Dame macht dies Geschimpfe wenig Eindruck. Schimpfen ist sie gewohnt, Streiten ist gewissermaßen ihr Lebenselement. Es macht sie frisch, und das eben genommene Gift beflügelt dabei ihre Phantasie, so daß sie dem brummigen, langsamen Chauffeur weit überlegen ist. Sie wird ihm die Fahrerpapiere fortnehmen lassen, sie wird ihn seinem Fuhrherrn melden, sie hat einen Freund, sie merkt sich seine Wagennummer - er soll sich bloß nicht wundern, wenn seine Reifen morgen früh zerschnitten sind -!

Endloses, albernes Gewäsch, wüste Strohdrescherei, die Stimmen erheben sich lauter. Todmüde steht von Studmann dabei - er möchte eingreifen, ein Ende machen, er protestiert, aber er hat keinen Schwung, er kommt nicht auf gegen die, er ist zu müde. Wann hat dies ein Ende? Schon werden wieder Fenster hell. Schon rufen wiederum Stimmen um Ruhe ...

"Aber ich bitte doch sehr "..., sagt von Studmann schwach und wird wiederum nicht gehört.

Plötzlich ist der Lärm vorüber, der Streit zu Ende, und das Geschwätz ist nicht einmal sinnlos gewesen: die Parteien haben sich gütlich geeinigt. Zwar wird nicht bis zum Wittenbergplatz gefahren, aber es wird eben doch noch "ein Schritt" gefahren, nämlich bis zum Alexanderplatz.

"Da hab ich nämlich meine Garage dichte bei", erklärt der Chauffeur und verhindert durch diese Erklärung, daß von Studmann weiter über dieses Ziel "Alexanderplatz" nachdenkt. Denn sonst hätte es ihm ja unbedingt einfallen müssen, daß am Alexanderplatz eben jenes Polizeipräsidium steht, dessen Spielerdezernat er jetzt, da das Mädchen seinen Willen hat, sofort anrufen muß.

Aber von Studmann denkt an gar nichts mehr, er ist froh, daß er wieder in den Wagen steigen, daß er sich endlich wieder bequem in die gepolsterte Wagenecke setzen kann. Er ist wirklich unendlich müde. Es wäre schön, wenn er jetzt ein Nickerchen machen könnte. Nirgend schläft es sich so gut wie in einem sacht rüttelnden Auto. Aber er fürchtet, die Strecke bis zum Alexanderplatz lohnt das Einschlafen nicht, nachher ist man dann um so müder. So brennt er sich lieber eine Zigarette an.

"Sie dürfen einer Dame ruhig eine Zigarette anbieten!" sagt das Mädchen böse.

"Bitte sehr!" sagt von Studmann und hält ihr sein Etui hin.

"Danke!" sagt sie scharf. "Denken Sie, ich brauch Ihre popligen

Zigaretten?! Ich hab selbst welche. Höflich sollen Sie sein zu einer Dame -!"

Sie kramt aus ihrer Tasche ein Etui, kommandiert "Feuer!", raucht und sagt etwas sprunghaft: "Was glauben Sie, wie ich es Ihrem Freund besorgen werde!"

"Er ist nicht mein Freund!" sagt von Studmann mechanisch.

"Der soll noch an mich denken, der Junge! Kiebig wird das Aas, haut 'ner Dame in die Fresse!" Und wieder ganz unvermittelt: "Wieso hat er denn heute abend soviel Geld? Sonst hat er doch nie was gehabt, der kleine Schisser?!"

"Ich weiß es wirklich nicht", sagt von Studmann müde.

"Na!" sagt sie mit freudigem Nachdruck. "Wenn die im Klub ihm sein Geld nicht abnehmen, ich sorge dafür, daß er's los wird. Darauf können Sie sich verlassen, von mir aus behält er keinen Pfennig!"

"Liebes Fräulein!" bittet von Studmann ziemlich verzweifelt. "Würden Sie mich nicht in Ruhe meine Zigarette rauchen lassen? Ich habe Ihnen doch schon gesagt, der Herr ist nicht mein Freund."

"Jawohl, Sie und Ihre Freunde -!" sagt sie zornig. "'ne Dame schlagen! Aber ich laß ihn hochgehen - Ihren Freund!"

Von Studmann schweigt.

Noch zorniger: "Hören Sie nicht -? Ich laß Ihren Freund hochgehen!"

Stillschweigen.

Verächtlich: "Wissen Sie denn überhaupt, was das heißt: hochgehen lassen?! Verpfeifen tu ich Ihren Freund!"

Durch die offene Glasscheibe klingt die Stimme des Chauffeurs: "Hauen Se der doch eine in die Fresse, Herr! Immer in die Fresse - was anderes gehört so einer nicht. Ihr Freund hat ganz recht gehabt, Herr, der ist richtig, der weiß Bescheid! Immer druff, bis die olle Schandschnauze mal stehenbleibt. Wo Sie sich all die Spesen machen mit das Auto, und dann noch unjebildete Redensarten von wejen Verpfeifen ..."

Wieder erhebt sich der Kampf zwischen den beiden, abwechselnd wird die Glasscheibe zum Führersitz aufgerissen und wieder zugestoßen, die enge Taxe hallt von dem Gekreisch und Geschrei wider.

Er sollte man lieber ein bißchen auf die Steuerung aufpassen, denkt Studmann. Na, es ist auch egal, wenn wir irgendwo anfahren, dann ist wenigstens dieser Lärm vorbei.

Aber sie fahren gegen nichts, sie halten ganz normal auf dem

Alexanderplatz. Das Mädchen klettert, immer weiter schimpfend, an seine Beine stoßend, aus dem Auto. Dann schreit sie noch einmal zurück in den Wagen: "Und so was will nun Kavalier sein!" Und rennt quer über den Platz auf ein großes, nur in wenigen Fenstern erleuchtetes Gebäude zu.

"Da geht se hin!" sagt der Chauffeur, der ihr nachgeschaut hat. "Aber die piept noch 'ne ganze Weile, wenn der Posten se rinläßt. Die macht det wahr, wat se jesacht hat, und hat selber Dreck am Stecken, noch und noch. Wenn die se nu fragen, ob se kokst, gleich is se drin! Vielleicht behalten se se gleich da, na, mich soll's freuen!"

"Was ist denn das?" fragt von Studmann nachdenklich und sieht das große, fast dunkle Gebäude an, unter dessen Torweg das Mädchen eben verschwunden ist.

"Na, Herr", wundert sich der Chauffeur. "Sie sind wohl ooch nich von hier, det is doch das Präsidium! Das Polizeipräsidium, wo die Ihren Freund verpfeifen will!"

"Was will sie da?" fragt von Studmann und wird plötzlich wacher.

"Na ja doch - Ihren Freund verpfeifen!"

"Aber warum denn -?"

"Ick jloobe, Sie haben jeschlafen, Herr, bei dem Krach! Weil der ihr eine geklebt hat, das habe doch sogar ich kapiert!"

"Nein", sagt Studmann, plötzlich sehr erregt. "Wegen was denn? Wegen einer Ohrfeige läuft man doch nicht auf das Polizeipräsidium!"

"Weiß ich das?" fragt der Chauffeur vorwurfsvoll. "Was Ihr Freund ausgefressen hat?! Aber Sie haben ja auch so komisch gefragt, wegen Spielklub und so - da wird sie wohl Lampen machen wollen bei der Krimschen!"

"Halt!" ruft von Studmann hellwach und springt aus dem Wagen und will ihr nach. Denn ebenso entschlossen, wie er vor einer Weile war, den Spielklub anzuzeigen, ebenso überzeugt ist er jetzt, daß die Anzeige dieses bösartigen Mädchens verhindert werden muß.

"Halt!" schreit aber auch der Taxichauffeur, der sein Fahrgeld, und zwar viel Fahrgeld, weglaufen sieht. Und nun kommt für den unruhigen, ungeduldigen, fiebrigen Studmann eine endlose Verhandlung, eine nicht aufhörende Rechnerei, bis er erfährt, was er eigentlich zu zahlen hat. Taxe mal soundso viel, mit dem Bleistift ausgerechnet, und dreimal verschieden ausgerechnet, und dann noch die Zuschläge ...

Schließlich, endlich darf von Studmann über den Platz laufen, und nun muß er erst wieder mit dem Posten verhandeln, der gar nicht kapiert,

was von Studmann eigentlich will, ob er eine Dame sucht oder das Spielerdezernat, ob er eine Anzeige machen oder verhindern will - -

Ach, der ruhige, der besonnene - ach, der überlegte Oberleutnant a. D. und Empfangschef a. D. von Studmann! Er hat völlig den Kopf verloren bei dem Gedanken, daß jemand seinen Freund und den jungen Pagel bei der Polizei wegen verbotenen Glücksspiels anzeigen will - und er hat doch selber noch vor einer halben Stunde den gleichen Gedanken gehabt -!

Schließlich aber bekommt er von dem Posten Erlaubnis zum Eintritt in das Präsidium, und es wird ihm auch beschrieben, wie er zu gehen hat, um zur "Nachtbereitschaft" zu kommen, denn die scheint sein Ziel zu sein, nicht das Spielerdezernat, wie er bisher glaubte. Doch er hat natürlich nicht genau auf die Beschreibung gehört und verläuft sich in dem ungeheuren, nur spärlich beleuchteten Gebäude. Er läuft über Gänge und Treppen, hohl läuft der Schall seiner Füße mit ihm. Er klopft an Türen, hinter denen keine Antwort erklingt, und an andere, von denen er ungnädig oder brummig oder verschlafen weitergeschickt wird. Er läuft und er läuft, und in seiner Müdigkeit ist es ihm, als liefe er in einem Traum, der nie enden wird. Bis er dann endlich doch vor der richtigen Tür steht und drinnen die scharfe Stimme des bösen Mädchens hört.

Und in demselben Augenblick fällt ihm ein, wie unsinnig es ist, daß er hier steht; daß er ja kein Wort zur Entkräftung der Anzeige sagen kann, nein, daß er sie noch bestätigen muß. Denn es ist ja ein Spielklub, und es ist ja verbotenes Glücksspiel. Daß er vielmehr loszulaufen hat, so schnell er nur kann, in den Spielklub und die beiden zu warnen und herauszuholen hat, ehe die Polizei kommt.

Wieder macht er kehrt, wieder irrt er durch das Präsidium und findet schließlich hinaus und schleicht schuldbewußt an dem Posten vorüber. Er weiß, daß er eilen muß, um der Polizei zuvorzukommen, und glücklicherweise fällt ihm ein, daß er hier direkt an der Stadtbahn ist und daß er mit der Stadtbahn schneller nach dem Westen kommt als mit jedem Auto. Und er läuft hinüber zum Stadtbahnhof und irrt dort herum an den geschlossenen Schaltern, bis ihm einfällt, daß in dieser Nachtstunde ja kein Zug mehr fährt. Daß er also doch ein Auto nehmen muß. Und er findet auch schließlich ein Auto, und aufatmend läßt er sich in die Polster sinken.

Aber gleich fährt er wieder hoch. Er kann sich der Ruhe nicht hingeben, er muß sitzen und lauschen -: hat nicht eben der Wagen des Überfallkommandos getrillert -?

Er sitzt, und er lauscht, und plötzlich kommt ihm das Aberwitzige

seines Handelns heute den ganzen Abend über so recht zum Bewußtsein, und er sitzt starr da und denkt erschrocken: Bin ich denn das noch, Oberleutnant von Studmann, der im Kriege nie den Kopf verlor?

Und es ist ihm, als sei er sich völlig entglitten, als sei er nicht mehr er selbst, sondern ein völlig anderer, ein hassenswerter, zappliger, sinnloser, widersinniger anderer. Und er schlägt mit der Faust gegen seine Brust und sagt: "Verfluchte Zeit! Verdammte Zeit, die den Menschen sich selber stiehlt! Aber ich will raus aus alldem - ich gehe aufs Land, und ich werde wieder ein Mensch, so wahr ich von Studmann bin!"

Und dann sitzt er wieder und horcht, ob das Überfallkommando trillert, und denkt: Ich muß zuerst ankommen - ich kann sie doch nicht reinfallen lassen!

9

Siegessicher tritt Wolfgang Pagel, neben sich den Rittmeister, in den Spielsaal. Die siebzehn Jetons vom ersten Spiel hält er lose in der geschlossenen Hand. Er rüttelt sie leise, sie klappern mutwillig und fröhlich.

Während er auf den Spieltisch zugeht, wie so viele Male in dem letzten Jahr, ein köstlich trockenes, hohles Gefühl im Munde, weiß er, daß er diesmal dem Spiel ganz anders entgegengeht als je zuvor. Immer, immer hat er falsch gespielt, idiotische Systeme sich ausgeklügelt, die versagen mußten. So wie heute muß er es machen, eine Eingebung abwarten und dann setzen. Warten, bis wieder eine Eingebung kommt, vielleicht endlos warten, aber die Geduld haben zu warten, und dann sofort wieder setzen.

"Jawohl, sehr schön! Sehr!" sagt er, antwortet er dem Rittmeister, der irgend etwas gefragt hat, und er lächelt bei dieser Antwort freundlich. Der Rittmeister sieht ihn erstaunt an, wahrscheinlich hat er irgendeinen Quatsch geantwortet, aber das ist egal, er ist dem Spieltisch nun schon ganz nahe.

Um diese Zeit ist der Tisch dichter denn je belagert. Es geht auf die letzte Stunde, um drei, spätestens halb vier Uhr morgens machen die hier Schluß. Alles, was von Spielern erschöpft, übermüdet an den Wänden stand und rauchte, was unentschlossen auf Sesseln und Sofas saß - das drängt sich jetzt um den Tisch. Die entfliehende Zeit bietet noch einmal die Aussicht auf großen Gewinn - nütze sie! Wenn in

wenigen Stunden die Stadt erwacht, wirst du reich oder arm sein - möchtest du denn nicht lieber reich sein -?!

Der Zwischenfall von vorhin ist längst vergessen, niemand beachtet Pagel.

Er sieht keine Möglichkeit, nahe an den Tisch heranzukommen, so geht er ganz um ihn herum, bis an sein Kopfende. Mit einer Schulterbewegung zwängt er sich zwischen Croupier und Gehilfen. Der Gehilfe, Lockenwilli, der untersetzte Schläger aus dem Wedding, will wütend gegen diese Ungehörigkeit protestieren - ein leises Wort des Croupiers verweist ihm das.

Wolfgang Pagel rüttelt leise seine siebzehn Marken in der Hand, er will sie setzen - ein dünnes, spöttisches Lächeln unter dem Bart, belehrt der Croupier den alten Spieler, daß bei rollender Kugel nicht gesetzt werden darf.

Zeit - lange, stillstehende Zeit muß Wolfgang warten. Dann endlich kommt die Kugel zur Ruhe, eine Zahl wird ausgerufen. Gewinne, lächerliche, belanglose, unwichtige Gewinne werden ausgeteilt und eingestrichen - und nun senkt sich Wolfgangs Hand auf das grüne Tuch:

Siebzehn Spielmarken liegen auf der Zahl siebzehn.

Der Croupier sieht ihn kurz von der Seite an und lächelt schwach. Mit seinem Anruf treibt er ein letztes Mal die Spieler zum Einsatz, er faßt das Kreuz, die Scheibe beginnt, sich schnurrend zu drehen, die Kugel läuft ...

Sein Spiel beginnt - es beginnt das Spiel von Wolfgang Pagel, Fahnenjunker a. D., Exliebhaber eines Mädchens namens Petra Ledig, zur Zeit beschäftigungslos - es beginnt jenes Spiel, auf das er seit einem Jahr, nein, ein Leben lang gewartet hat, für das er eigentlich geworden ist, was er wurde; um dessentwillen er sich mit der Mutter verstritten hat; um dessentwillen er ein Mädchen zu sich nahm, das ihm die Wartezeit verkürzte, das nun aber auch ging, als es soweit war. Wir haben Siebzehn gesetzt, siebzehn Spielmarken auf die Nummer Siebzehn ...!

Achtung, wir spielen! Siebzehn bringt sechsunddreißigfachen Gewinn - endlos läuft die Kugel, scheppert, scheppert ... Wir hätten noch Zeit, uns in Millionen und Milliarden auszurechnen, was wir gewinnen werden, wenn die Siebzehn gekommen ist ... die Kugel scheppert so - wenn sie aus Bein wäre, könnten wir sagen, so scheppern die Knochen der Toten in ihren Grüften, wir aber leben, wir spielen und spielen ...!

"Siebzehn!" ruft der Croupier.

Ja, schreit er es denn nicht? Es ist die Stunde des Gerichtes - die Böcke

werden geschoren, aber die Gerechten - sie werden gekrönt! Es prasselt nieder von Marken, ein Regen, eine Flut, eine Sintflut! In die Taschen damit -!

Warten Sie! Ich will auch setzen - ist für einen Spieler wie mich kein Stuhl frei?!

Was setze ich -? Ich muß ruhig sein, nachdenken ... Ich setze Rot. Rot ist richtig, ich habe das einmal ausgerechnet, lang, lang ist's her! Siehst du, da ist schon ein Stuhl -!

Hier, mein Sohn, dies sind zehn Dollar, gute, amerikanische Dollar - weißt du noch, wie du mich vorhin in die Fresse schlagen wolltest? Hä - hä - hä!

Ich soll nicht so laut sein, ich störe die andern? Die andern sollen verrecken! Was gehen mich die andern an mit ihren lumpigen Einsätzen. Sie spielen, um zu gewinnen, um dreckiges Papiergeld zu hamstern, ich spiele um des Spieles willen, um des Lebens willen ... Ich bin der König!

Rot!

Er sitzt da und starrt, plötzlich finster geworden, argwöhnisch. Sind das auch genug Marken? Er kann sie schon nicht mehr in den Taschen lassen, er stapelt sie in Zehnerhäufchen vor sich auf, und seine vor Erregung zitternden Hände stoßen die Häufchen gleich wieder um. Alle wollen sie ihn hier betrügen, bestehlen, er ist ja nur der Pari-Panther, ein Garnichts in einem schäbigen Waffenrock! Dieser Hund, der Croupier, hat ihn immer wie einen Dieb behandelt - ihm wird er es heimzahlen!

Und er setzt wieder und gewinnt wieder, und das Glück kehrt wiederum bei ihm ein, ihm ist so leicht! Seliger Rausch, nie noch gefühlt, wenn du dahinfliegst wie eine Wolke am Sommerhimmel, drunten die schwere, dunkle Erde mit den niedrigen Menschen und ihren schweren, verkrampften Gesichtern - du aber fliegst dahin, selige Wolken, selige Götter - o Glück!

Was fiel da? Was rinnt? Was fällt?

Wie ein Bach gleiten lustig klappernd die Jetons, die er nicht mehr bergen kann, unter seinen Armen durch auf die Erde. Laß sie fallen, das Glück lächelt mir zu! Laß andere sich danach bücken ...!

Laß sie einsammeln, wir haben genug, und wir kriegen noch mehr!

Wie finster der Croupier ausschaut, wie sich sein Bart sträubt! Ja, heute beuteln wir dich, mein Sohn, kahl wie eine Ratte wirst du in dein Loch schlüpfen - bald hast du keine Marken mehr und wirst das Papiergeld herausrücken müssen, heute holen wir alles!

Was will der Rittmeister? Er hat alles verspielt? Ja, man muß spielen

können, mach es wie ich, Rittmeister, ich habe es dir doch gezeigt! Hier hast du Papiergeld, amerikanische Dollar, zweihundertfünfzig Dollar, nein, zehn gingen ab für Lockenwilli, zweihundertvierzig also! Jawohl, morgen früh regeln wir es, aber in einer halben Stunde schon wird auch dieses Geld, auf dem Umweg über den Croupier, wieder bei mir sein!

Das Spiel wendet sich -? Die Kugel rollt nicht mehr, wie er es will -?

Ja, es ist eben doch so: Man soll kein Geld unter dem Spiel weggeben, es bringt Unglück. Er sitzt finster da, er versucht die Parichancen wieder, die Dreifachchancen. Er spielt vorsichtig, besonnen. Aber die Marken zwischen seinen Armen verlieren sich, die Regimenter werden dünn. Immer von neuem rasselt unter dem Rechen des Croupiers das Heer der Geschlagenen, der Spielhalter lächelt wieder.

Und die Spieler schauen nicht mehr auf Pagel, sie beachten ihn nicht mehr. Ungeniert machen sie wieder über seine Schultern fort ihre Einsätze. Er ist kein begnadeter Spieler mehr, er ist ein Spieler wie alle: Das Glück lächelt ihm einmal, aber dann vergißt es ihn wieder, er ist der Ball des Glücks, nicht sein Bettgenoß.

Was hat er nur die ganze Zeit getan? Wie lange sitzt er hier?

Schon fischt er in den Taschen, der Strom ist versiegt. Vergißt er denn sofort jede Lehre, die ihm das Schicksal gab? Siebzehn muß er setzen, siebzehn Spielmarken auf Siebzehn - so heißt das!

Siebzehn -!

Und das Prasseln der Marken!

Und der Rausch kommt zurück, die Seligkeit des Fliegens, Weltenferne und Sonne! Er sitzt da, den Kopf leicht vorgeneigt, ein verlorenes Lächeln auf den Lippen. Er kann setzen, wie er will, jetzt strömt der Strom wieder. Und nun kommt es, wie er erwartet hat: die Spielmarken gehen zu Ende. Jetzt kommen schon die Scheine auf ihn zu, mehr und mehr. Sie knistern, mattfarbig sehen sie ihn an -: lächerliche Papiermark, wertvolle Pfunde, köstliche Dollars, satte, dicke Gulden, nahrhafte Dänenkronen - Raub aus den Brieftaschen von fünfzig, sechzig Gästen! Alles strömt ihm zu!

Der Croupier sieht todesfinster aus, als sei er von einer Krankheit erfaßt, leide unsinnige, unerträgliche Schmerzen. Kaum kann er sich noch beherrschen, zweimal schon ist der Lockenwilli um neues Geld auf den Vorplatz gelaufen, die Tageskasse muß heran - bald geht es an deine Brieftasche, Croupier!

Der murmelt etwas von Schlußmachen, aber die Spieler widersprechen, sie drohen ... Sie spielen ja kaum noch, aber sie sehen

dem Zweikampf zwischen Croupier und Pagel zu. Sie zittern um den jungen Menschen - wird das Glück ihm treu bleiben? Er ist einer der Ihren, der geborene Spieler, alle ihre Verluste rächt er an dem alten, bösen Raubvogel, dem Croupier. Dieser junge Mensch liebt nicht das Geld, wie es der Croupier tut - er liebt das Spiel! Er ist kein Ausbeuter!

Und der junge Pagel sitzt da, immer lächelnder, immer ruhiger. Fortgerissen flüstert der Rittmeister an seiner Schulter, Pagel bewegt nur verneinend den Kopf.

Der Rittmeister schreit: "Pagel, Mensch, machen Sie Schluß! Sie haben ja ein Vermögen!"

Nein, der Rittmeister geniert sich nicht mehr zu schreien in diesem Raum, aber Pagel lächelt nur taub.

Er ist hier, und er ist sehr weit fort. Er möchte, daß dies immer weiterginge, zeitlos durch Ewigkeiten - darum leben wir! Die Welle des Glücks trägt uns, wir schwimmen befreit!

Unaussprechliche Wollust des Daseins - so muß ein Baum fühlen, der nach Tagen zerrenden, quälenden Saftanstiegs in einer Stunde alle seine Blüten entfaltet! Was ist noch der Croupier -?! Was ist Geld -?! Was ist selbst Spiel -?! Rolle weiter, kleine Kugel, rolle, rolle - habe ich gedacht, so schepperten die Knochen der Toten?

Trommeln und Trompeten! Rot? Natürlich Rot, und noch einmal Rot. Und wiederum Rot. Aber nun nehmen wir Schwarz - sonst schmeckt das Leben nicht - ohne ein wenig Schwarz dazwischen schmeckt das Leben nicht. Noch mehr Banknoten - wo soll ich sie denn alle lassen? Ich hätte einen Koffer mitbringen müssen - aber wer kann denn so etwas vorher wissen -?

Was will denn Studmann schon wieder? Was schreit er? Polizei -? Was soll Polizei - wozu braucht er Polizei -? Was rennen alle -? Halt, laßt die Kugel auslaufen - ich gewinne noch einmal, ich gewinne wieder, immer wieder! Ich bin der ewige Gewinner ...

Da sind schon die Polizisten! Nun stehen die Spieler alle so stumm, wie ihre eigenen Gespenster. Was will der komische Mann mit dem steifen Hut? Er sagt etwas zu mir. Alles Spielgeld ist beschlagnahmt, alles Geld? Aber natürlich ist alles Spielgeld - Geld zum Spielen, sonst hätte es ja keinen Sinn - zu was denn sonst?!

Wir sollen uns fertigmachen und mitkommen? Natürlich kommen wir mit; wenn doch nicht mehr gespielt wird, können wir ebensogut mitkommen. Warum streitet sich der Rittmeister mit dem Blauen? Das hat doch keinen Sinn! Wenn man nicht spielen kann, ist alles egal!

"Kommen Sie, Herr Rittmeister, seien Sie friedlich. Sehen Sie, Studmann kommt auch mit, und er hat nicht einmal gespielt. Also los!"

Wie sterbensbleich der Croupier aussieht! Ja, für ihn ist es schlimm. Er war im Verlust - ich aber, ich habe gewonnen wie nie in meinem Leben! Es war über die Maßen herrlich! Gute Nacht!

Endlich kann ich ruhig schlafen, ich habe erreicht, was ich ersehnt habe, meinethalben für immer schlafen. - Gute Nacht!

10

In einem kleinen Sitzungszimmer des Polizeipräsidiums Alexanderplatz brannte eine jämmerliche, funzlige Glühbirne. Sie warf ihren rötlichen Schein auf die verdrossen hingelümmelten, betreten schweigenden, schlafenden oder eifrig schwatzenden Gestalten der im Spielklub Sistierten. Nur der Spielhalter und seine beiden Assistenten waren gesondert abgeführt worden - sonst hatte man sie alle, wie sie vom Transportauto der Polizei gestiegen waren, in dieses Zimmer getrieben, die Türen waren von außen abgeschlossen worden, um Bewachung zu ersparen - fertig! Nun wartet, bis ihr an die Reihe kommt!

Von Zeit zu Zeit, in langen Abständen, öffnete sich die Tür zu einem Nebenzimmer, ein übermüdet aussehender, gelblicher, faltiger Schreiber winkte dem zunächst Stehenden mit dem Finger - er verschwand und kam nicht wieder. Dann, nach endloser Zeit, wurde der nächste herangewinkt.

Es war Hochbetrieb auf dem Präsidium, es fehlte an Beamten, an Polizisten. Die Ermordung des Oberwachtmeisters Leo Gubalke hatte den Anlaß zu einer Reihe von Razzien gegeben, an Zielen für diese Razzien fehlte es leider gar nicht: Ringvereine waren ausgehoben worden; Hehlernester visitiert; Nachtklubs besucht; Nackttanzlokale durchgekämmt worden; Absteigequartiere, Stundenhotels hatte man überprüft; die Wartesäle der Bahnhöfe, die Obdachlosenasyle revidiert ...

Ununterbrochen hörte man vom Platz her das erregende, nervöse Trillern der Streifenwagen, die ausfuhren oder mit neuen Scharen von Sistierten heimkehrten. Man stopfte alle Zimmer, alle Säle voll - erschöpfte Sekretäre, halb schlafende Schreiber, grau aussehende Stenotypisten schoben immer neue Bogen in die Schreibmaschinen, falzten gelbliches Aktenpapier, vernahmen mit heiserer Stimme so leise, daß sie kaum noch zu verstehen waren.

Schlägerei

Unzucht

Widernatürliche Unzucht

Leichter Diebstahl

Taschendiebstahl

Einbruchdiebstahl

Leichenfledderei

Bettelei

Straßenraub

Verbotenes Führen von Waffen

Falschspiel

Verbotenes Glücksspiel

Hehlerei

Verbreitung von Falschgeld

Rauschmittelhandel

Kuppelei, leichte wie schwere

Erpressung

Zuhälterei

... eine endlose Liste, die ermüdende, tödliche Speisekarte von Verbrechen, Lastern, Vergehen, Übertretungen ... Die Beamten nickten fast ein hinter ihren Maschinen, über ihren Protokollen ... Dann plötzlich schrien sie los, bis ihnen die Stimme wieder völlig versagte ... Und eine ununterbrochen steigende Flut von Lügen, Ausreden, Verdrehungen, Bemäntelungen, Denunziationen ...

(Und in der Reichsdruckerei, in fünfzig, in hundert Hilfsdruckereien rauschten die Papiergeldpressen, bereiteten den neuen Tag vor, die neue Fülle Geld, großmütig ausgeschüttet in betörendem Überfluß auf verhungerndes, verlumpendes Volk, dem alles Ehrgefühl, jeder Anstand Tag um Tag mehr abhanden kamen ...)

"Es ist zum Teufelholen!" schrie der Rittmeister von Prackwitz, sprang auf und raste zum zehntenmal durch den Raum. Daß er dabei einem halben Dutzend anderer, sich ebenfalls peripatetisch Betätigender ausweichen mußte, verbesserte seine Stimmung keineswegs. Schnaufend blieb er vor seinem Oberleutnant stehen. "Wie lange, denkst du eigentlich, daß wir hier noch warten müssen -?! Bis die Herren geruhen, was?! Es ist unerhört, mich zu verhaften ..."

"Ruhe! Nur Ruhe!" bat von Studmann. "Übrigens glaube ich gar nicht, daß wir verhaftet sind."

"Natürlich sind wir verhaftet!" schrie der Rittmeister noch zorniger. "Die Fenster sind vergittert, und die Türen sind verschlossen das nennst du nicht verhaftet -?! Lächerlich! Dann möchte ich mal wissen, wie bei dir eine Verhaftung ausschaut, ja bitte -?!!"

"Ruhe, Prackwitz!" bat von Studmann noch einmal. "Deine Aufregung bessert nichts."

"Ruhe, natürlich Ruhe", sagte Prackwitz plötzlich verdrossen. "Du hast gut reden - du hast keine Familie, du hast keinen Schwiegervater. Ich möchte mal sehen, wie ruhig du wärest, wenn du den Geheimen Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow zum Schwiegervater hättest!"

"Er wird ja nichts erfahren", tröstete der Oberleutnant. "Ich sage dir, wir brauchen uns nur auszuweisen, und schon läßt man uns gehen. Es erfolgt nichts."

"Warum läßt man mich dann nicht?! Hier habe ich meine Papiere - hier habe ich sie in der Hand! Ich muß weg, mein Zug geht, ich habe einen Leutetransport! - Sie, hören Sie mal, Sie! Herr Sowieso!" stürzte er sich auf den Schreiber, der gerade aus dem Nebenzimmer auftauchte. "Ich verlange, daß ich auf der Stelle vorgelassen werde. Erst wird mir all mein Geld abgenommen ..."

"Nachher, nachher", sagte der Schreiber gleichgültig. "Beruhigen Sie sich erst ein bißchen. Kommen Sie jetzt mal!" Und er winkte einem Dicken.

"Ich soll mich erst beruhigen", sagte von Prackwitz aufgeregt zu Studmann. "Das ist doch einfach lächerlich! Wie soll ich mich bei dieser Art Betrieb beruhigen können?!"

"Nein, wirklich, Prackwitz", sagte von Studmann ernsthaft. "Nimm dich zusammen. Wenn du weiter so tobst, werden wir als die letzten drankommen. Und dann bitte ich dich noch um eins: schrei die Beamten nicht an ..."

"Warum soll ich die denn nicht anschreien -?! Kräftig werd ich die anhauchen! Mich hier seit Stunden festzuhalten -!"

"Seit einer halben Stunde."

"Übrigens sind die das Anbrüllen gewöhnt. Das sind alles alte Unteroffiziere und Wachtmeister - das sieht man doch."

"Aber du bist hier nicht als ihr Vorgesetzter, Prackwitz. Sie können nichts dafür, daß du beim Glücksspiel erwischt bist."

"Nein, die nicht. Aber sieh dir bitte den Pagel an, diesen Lebejüngling! Sitzt da, als ginge ihn der ganze Dreck nichts an, schmökt und grinst wie so 'n Buddha. - Warum grinsen Sie denn so, Pagel -?"

"Ich denk gerade darüber nach", sagte Pagel lächelnd, "wie verrückt heute alles gekommen ist. Seit einem Jahr strample ich nach einem bißchen Geld - heute kriege ich es, Massen und Massen, schwapp! wird's beschlagnahmt, und weg ist es -!"

"Und darüber lachen Sie noch -? Na, Sie haben einen Geschmack für das Lächerliche, Pagel ..."

"Und dann noch eins", fuhr Pagel unbeirrt fort. "Heute mittag wollte ich heiraten ..."

"Sehen Sie, Pagel", sagte der Rittmeister triumphierend und ist plötzlich glänzender Laune, "das habe ich Ihnen doch gleich bei Lutter und Wegner angesehen, daß Sie Kummer wegen Weibergeschichten haben ..."

"Ja", sagte Pagel. "Und heute abend hörte ich, daß meine Zukünftige wegen irgendwas verhaftet ist und daß man sie auf den Alex gebracht hat ... Und nun sitze ich auch hier ..."

"Wegen was denn verhaftet?" fragt der Rittmeister neugierig, denn die Betrachtungen über Ereignisse interessieren ihn nicht so sehr wie die Ereignisse selbst.

Aber von Studmann schüttelt mit dem Kopf, und Pagel schweigt.

Der Rittmeister besinnt sich: "Verzeihen Sie, Pagel, das geht mich natürlich einen Dreck an. Aber wieso Sie gerade darum hier so vergnügt sitzen und grinsen, das versteh ich, offen gestanden, nicht. Die Sache ist doch höchst traurig ..."

"Ja", sagt Pagel zustimmend. "Das ist sie. Komisch ist sie. Sehr komisch. Wenn ich das Geld nur vierundzwanzig Stunden früher gewonnen hätte, wär sie nicht verhaftet worden, und wir wären jetzt verheiratet. Wirklich sehr komisch ..."

"Ich würde nicht mehr darüber nachdenken, Pagel", schlägt von Studmann vor. "Das ist ja nun alles Gott sei Dank ausgestanden und erledigt. In ein paar Stunden sitzen wir alle zusammen in der Bahn und fahren aufs Land ..."

Pagel schweigt, und auch der Rittmeister schweigt diesmal.

Dann räuspert sich Prackwitz. "Geben Sie mir 'ne Zigarette, Pagel", sagt er milde. "Mir ist so trocken im Hals. Nee, geben Sie mir lieber keine - ich bin Ihnen schon so viel schuldig ..."

Pagel faßt lachend in die Luft: "Das ist ja doch alles futsch ..."

Doch der Rittmeister protestiert: "Aber, Mensch, reden Sie doch nicht so was! Sie haben mir Geld geliehen! Wissen Sie überhaupt, wieviel Sie

mir gegeben haben?"

"Ist ja egal", sagt Pagel. "Von dem Geld soll ich doch nichts haben, das hat sich ja nun gezeigt."

"Spielschulden sind Ehrenschulden, Herr Pagel!" erklärt der Rittmeister streng. "Ihr Geld bekommen Sie wieder, darauf verlassen Sie sich! Freilich, sofort wird's nicht gehen, erst müssen wir die Ernte drin haben und mit Dreschen anfangen ... Wie ist es, kommen Sie nun mit -?"

"Ach, nur so, um auf das Geld zu warten "..., meint Pagel mißmutig. "Ich möchte jetzt endlich was Richtiges anfangen. Mir ist ja so blöd, ganz leer ... wenn ich nur wüßte, was! Ja, wenn Sie richtige Arbeit für mich hätten, Herr Rittmeister -?"

"Natürlich habe ich Arbeit für Sie, Mensch", sagt der Rittmeister ganz aufgeregt. "Sie ahnen ja nicht, wie ich mich nach ein paar verläßlichen Menschen gesehnt habe -! Futter rausgeben und Leute löhnen und Deputat verteilen und nachts ab und zu mal ein Kontrollgang durch die Felder - Sie können sich ja nicht vorstellen, was bei mir alles geklaut wird! Wenn man sich darauf verlassen könnte, auf ein paar Menschen, daß man nicht immerzu von einer Stelle zur andern läuft, weil man ewig denkt, jetzt wirst du wieder betrogen ..."

"Und Wald und Felder", setzt von Studmann hoffnungsvoll hinzu. "Bäume, Tiere - keine Halbwelt, keine Steinbaukästen mit runtergefallenen Fassaden, kein Kokain, kein Spielklub ..."

"Nein, das natürlich", sagt der Rittmeister eifrig, "das müßten Sie mir in die Hand versprechen, Pagel, daß Sie nicht spielen, solange Sie bei mir sind. Das ist nämlich ganz unmöglich "... Er bricht ab und wird rot.

"Na ja, natürlich", sagt er dann ein wenig poltrig, "es geht auch ohne Versprechen. Ich kann Ihnen ja wirklich keins abnehmen. Also ja -?"

"Ich komme jedenfalls morgen früh auf die Bahn und sage Ihnen Bescheid", meint Pagel zögernd. "Acht Uhr, Schlesischer - so war es doch, nicht wahr -?"

Prackwitz und Studmann sehen sich an. Wieder macht der Rittmeister eine ärgerliche, fast wütende Gebärde. Studmann aber fragt freundlich: "Ist denn Ihre Frage an das Schicksal noch immer nicht beantwortet, Pagel?" Und als Pagel schweigt: "Denn das Spiel war doch Ihre Frage, nicht wahr, Pagel?"

"Ich habe aber gewonnen", sagt Pagel trotzig.

"Und sitzen ohne alles auf dem Alex!" lacht der Rittmeister spöttisch. "Seien Sie ein Mann, Pagel!" spricht er mahnend. "Ich finde dieses Schwanken gräßlich. Reißen Sie sich zusammen, Mensch, arbeiten Sie

was! Hören Sie auf mit der Spielerei!"

"Sie machen sich Sorgen um das Mädchen?" fragt Herr von Studmann sanft.

"Ein wenig", gibt Pagel zu. "Es ist wirklich so seltsam, daß ich hier nun auch auf dem Alex sitze ..."

"Also tun Sie, was Sie nicht lassen können!" ruft der Rittmeister zornig. "Kniefällig werde ich Sie nicht bitten, nach Neulohe zu kommen!"

"Jedenfalls sehen wir uns um acht auf dem Bahnhof!" nickt von Studmann eilig, denn Geschrei ist laut geworden, ein Geschimpfe, es wird gerufen. Durch die offene Tür des Verhandlungszimmers kommt ein untersetzter Mann, rennt an Türen, Fenster, faßt zu, guckt nach, schüttelt den Kopf, schreit: "Bande! Mausehaken! Freche Gesellschaft, die Polizei beklauen ...!"

Er hämmert gegen die Tür. "Wachtmeister, aufschließen! Hallo, Tiede, passen Sie auf, daß keiner ausreißt -!"

Trubel, Geschrei, Gelächter.

Von außen kommen Blaue herein, die Tür ist geöffnet. Der dicke Kriminalkommissar stürmt auf und ab: "Alle in Reihen stellen! Abtasten! Bist du ruhig, mein Junge! Auch unter den Tischen und Bänken nachsehen -!"

Es stellt sich heraus, daß einer oder ein paar Sistierte die Wartezeit auf dem Polizeipräsidium nicht nutzbringender zu verwenden wußten, als die bronzenen Tür- und Fensterbeschläge abzuschrauben. Keine Klinken, keine Fensterdrücker, keine Schloßbeschläge mehr. Das geplünderte Polizeipräsidium - es grinst, es lacht. Selbst die Blauen lachen, jetzt fängt auch der Kommissar an zu schmunzeln ...

"So eine Frechheit - hat man so was schon gehört! Und natürlich ist der Kerl schon weg, oder die Kerle, denn es müssen ein paar gewesen sein, einer kann das gar nicht verstecken. - Haben bei mir im Vernehmungszimmer gestanden, und ich merke nichts -! Na, wenn ich euch erwische! Ich muß doch gleich mal die Personalien nachsehen ..."

"Einen Augenblick, Herr Kommissar", ruft von Studmann.

Sehr ungnädig: "Was wollen Sie denn -?! Sie hören doch, ich habe jetzt keine Zeit!" Erkennend: "Ach, Sie sind das, Mensch! Verzeihung, Herr Oberleutnant von Studmann! - Das Licht ist so schlecht! Was machen Sie denn in unserm Laden, alter Baltikumer, Eiserne Division?! - Na, denn kommen Sie mal mit, natürlich kommen Sie gleich dran. Nur ein paar Formalitäten, ein Strafmandat werden Sie wohl kriegen. Na, darüber lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen, das bezahlt die Entwertung

von selber. - Das sind Ihre Freunde -? Sehr angenehm, Herr Rittmeister. Sehr angenehm, Fahnenjunker. Gestatten Sie, Kommissar Künnecke, früher etatmäßiger Wachtmeister bei den Rathenower Husaren. - Ja, so trifft man sich wieder - elende Zeiten, wie? Und Sie sind also der junge Mann, der den ungeheuren Rebbach gemacht hat -? Unglaublich! Und gerade da muß die böse Polizei dazwischentrillern! Ja, das Geld ist flöten, das geben wir nicht wieder raus, was wir haben, das behalten wir auch, hähä! - Aber seien Sie bloß froh, so 'n Geld hat noch keinem Glück gebracht - danken Sie Ihrem Schöpfer, daß Sie's los sind! - Nee, die Türklinken, nein, so was - was sagen Sie, Tiede -? Die werden uns morgen schön durch den Kakao holen, die Kollegen! Ich muß noch immer lachen. War gute Bronze - da kriegen die 'nen Sack Geld beim Althändler! - So, und nun mal die Personalien. Herr von Studmann - Beruf?"

"Empfangschef ..."

"Sie -?!! O Gott, o Gott, o Gott -! Wo sind wir hingekommen -? Sie - Empfangschef! Entschuldigen Sie, Herr Oberleutnant ..."

"Bitte, bitte - ich bin dazu auch noch Empfangschef a. D., jetzt landwirtschaftlicher Lehrling ..."

"Landwirtschaftlicher Lehrling, das ist besser. Das ist sogar sehr gut. Land ist heute das einzig Richtige. Wann geboren -?"

11

Vor einer mit Stahlblech beschlagenen Tür steht ein Tisch, ein gewöhnlicher, fichtener Tisch. Auf dem Tisch liegt ein Stullenpaket neben einer Thermosflasche, an dem Tisch sitzt ein alter Mann in Polizeiuniform und liest durch einen Klemmer bei sehr schwachem Deckenlicht in einer Zeitung. Als der Mann einen langsamen Schritt den Gang entlangkommen hört, läßt er die Zeitung sinken und sieht über den Klemmer fort dem Ankömmling entgegen.

Der junge Mann kommt langsam näher. Erst sieht es aus, als wolle er an Tür und Tisch vorübergehen, dann aber bleibt er doch stehen. "Entschuldigen Sie", sagt er, "geht es hier in das Polizeigefängnis?"

"Das geht es", sagt der Beamte, faltet seine Zeitung sorgsam zusammen und legt sie auf den Tisch. Als der junge Mann aber unentschlossen zaudert, setzt er hinzu: "Es ist aber nur eine Tür für den Dienstgebrauch."

Der junge Mann zögert immer noch, der alte fragt: "Nun, was haben

Sie denn auf dem Herzen? Wollen Sie sich stellen?"

"Wieso stellen?" fragt Pagel zurück.

"Ja "..., sagt der Alte gedehnt. "Es geht jetzt auf vier - um die Stunde kommt manchmal einer, dem es keine Ruhe läßt, weil er was ausgefressen hat, und stellt sich. Aber da müssen Sie auf die Bereitschaft gehen. Ich bin nur Außenwache."

"Nein", sagt Pagel langsam. "Ich habe nichts ausgefressen". Wieder schweigt er. Dann unter dem ruhigen Blick des Alten: "Ich möchte nur gerne meine Freundin sprechen. Die ist nämlich da drinnen". Und er deutet mit dem Kopf auf die Tür.

"Jetzt?!" ruft der Alte fast entrüstet. "Nachts zwischen drei und vier?!"

"Ja", sagt Pagel.

"Dann haben Sie doch wohl was ausgefressen, daß es Ihnen keine Ruhe läßt -?"

Pagel schweigt.

"Daraus kann nichts werden. Jetzt gibt es keine Besuche. Und überhaupt ..."

"Geht es denn gar nicht?" fragt Pagel nach einer Weile.

"Ausgeschlossen!" sagt der andere. Er überlegt, er sieht den Jungen an. Schließlich sagt er: "Und das wissen Sie auch ganz gut. Sie stehen hier nur so, weil es Ihnen keine Ruhe läßt ..."

"Ich bin ganz zufällig hier auf dem Präsidium. Ich bin nicht extra hergekommen."

"Aber zu dieser Tür sind Sie doch extra gekommen? Die haben Sie doch nicht leicht gefunden, jetzt in der Nacht?"

"Nein", antwortet Pagel.

"Da sehen Sie es", sagt der alte Mann. "Es ist mit Ihnen genau wie mit denen, die sich stellen kommen. Die sagen auch alle, sie kommen nicht wegen des schlechten Gewissens - schlechtes Gewissen, so was gibt es doch heute nicht mehr. Aber warum kommen sie dann nachts um zwei, drei?! Das ist eine besondere Zeit, da ist der Mensch allein mit sich, da hat er plötzlich ganz andere Gedanken als am Tage. Und da kommen sie denn."

"Ich weiß nicht", sagt Pagel trübe. Er weiß wirklich nichts. Er möchte nur nicht abreisen, ohne sie wenigstens gefragt zu haben, ob es denn wirklich wahr ist. Manchmal sagt er sich, der Beamte muß ihm die Unwahrheit gesagt haben, es ist unmöglich, er kennt doch Petra! Und dann sagt er sich wieder, daß ein Beamter ihm nichts Unrichtiges sagt,

daß er gar kein Interesse hat, ihm etwas Unrichtiges zu sagen, daß es wahr sein muß. Ach, das Spiel ist vorbei, der Rausch ist verflogen, Sieg wurde zur Niederlage - wie allein ist er jetzt! Peter, Peter - es war doch jemand neben ihm, etwas Lebendiges, das an ihm hing - soll denn alles verloren sein?

"Ich will morgen früh abreisen", sagt er bittend. "Geht es denn gar nicht zu machen heute nacht? Es braucht ja keiner etwas zu merken."

"Was denken Sie?!" ruft der Alte. "Drinnen sind doch auch Nachtwachen. Nein, es ist ganz unmöglich". Er denkt einen Augenblick nach, sieht Pagel prüfend an und sagt dann wieder: "Und überhaupt ..."

"Was heißt das: und überhaupt -?" fragt Pagel ein wenig ärgerlich.

"Und überhaupt gibt es bei uns eigentlich keine Besuchserlaubnis", erklärt der Beamte.

"Und uneigentlich -?"

"Uneigentlich auch nicht."

"So", sagt Pagel.

"Wir sind doch hier Polizeigefängnis", sagt der Alte in einem Bedürfnis, die Sachlage zu erklären. "Im Untersuchungsgefängnis kann der Untersuchungsrichter Besuchserlaubnis geben, aber hier bei uns gibt es das nicht. Bei uns bleiben die meisten ja nur ein paar Tage."

"Ein paar Tage "..., wiederholt Pagel.

"Ja. Vielleicht erkundigen Sie sich nächste Woche mal in Moabit."

"Das ist ganz sicher, daß ich morgen früh hier nicht zu ihr kann? Da werden keine Ausnahmen gemacht?"

"Bestimmt nicht. Aber wenn Sie natürlich irgend etwas wissen, daß Ihre Freundin unschuldig sitzt, und sagen das morgen dem Kommissar, dann kommt sie raus, das ist klar."

Pagel schweigt nachdenkend.

"Aber so sehen Sie ja auch nicht aus, als ob Sie so 'ne Botschaft hätten, nicht wahr? Mit so einer Botschaft stellt man sich ja nicht in der Nacht hierher zu mir. Sie möchten mit Ihrer Freundin nur sprechen, nicht wahr - privat?"

"Ich wollte sie etwas fragen", sagt Pagel.

"Aber dann schreiben Sie ihr doch einen Brief", sagt der alte Mann begütigend. "Wenn in dem Brief nichts von der Sache steht, wegen der sie hier ist, dann wird er ihr ausgehändigt, und dann darf sie Ihnen auch antworten."

"Aber ich will sie ja grade wegen der Sache was fragen!"

"Ja, junger Mann, da müssen Sie sich schon gedulden. Wenn Sie sich wegen der Sache erkundigen wollen, das dürfen Sie auch im Untersuchungsgefängnis nicht. Bis die Sache nicht abgeurteilt ist, darf mit ihr nicht darüber geredet werden."

"Und wie lange kann das dauern?" fragt Pagel verzweifelt.

"Ja, das kommt doch ganz auf die Sache an. Hat sie denn gestanden?"

"Das ist es ja eben. Sie hat es gestanden, aber ich glaube es ihr nicht. Sie hat was gestanden, was sie gar nicht getan hat."

Der Alte greift sehr ärgerlich nach seiner Zeitung. "Jetzt gehen Sie man schlafen", sagt er. "Wenn Sie eine Geständige dazu überreden wollen, ihr Geständnis zurückzuziehen, da können Sie noch ziemlich lange auf Besuchserlaubnis warten. Und schreiben dürfen Sie ihr dann auch nicht, das heißt, sie bekommt Ihre Briefe nicht. Das ist ja noch schöner! Und ich soll mich dazu hergeben, Ihnen hier heimlich einen Besuch zu verschaffen. Nein, nun gehen Sie man nach Haus. Jetzt habe ich genug davon."

Pagel steht wieder zögernd. Dann sagt er bittend: "Aber das gibt es doch, das kommt doch vor, daß jemand etwas gesteht, was er gar nicht getan hat. Das habe ich schon oft gelesen."

"So, haben Sie das gelesen?" fragt der Alte fast giftig. "Dann will ich Ihnen sagen, junger Mann, daß jemand, der was Falsches gesteht, immer was viel Schlimmeres ausgefressen hat. Jawohl, einer gesteht einen Einbruch, weil er zur selben Stunde einen Mord begangen hat. So ist das. Und wenn Ihre Freundin gestanden hat, so wird sie auch wohl wissen, warum. Da würde ich mich sehr hüten, ihr dreinzureden. Sonst fällt sie noch viel schlimmer rein!"

Sehr zornig schielt der Alte, jetzt schon wieder durch den Kneifer, auf Pagel. Der aber steht wie vom Donner gerührt. Die Worte des Alten, die ganz anders gemeint sind, haben ein neues Licht auf Petras Geständnis geworfen. Jawohl, jawohl, etwas gestanden, um etwas Schlimmeres zu vermeiden, Krankheit und Straße gestanden, um Wolfgang zu vermeiden. Gefängnis besser als Gemeinschaft. Vorbei, vorbei! Glauben verloren, Vertrauen endgültig verloren - fort von ihm, fort aus der Welt, hinaus aus dem Unerträglichen in das zu Ertragende! Ein hoher Gewinn wiederum verloren. Blank, alle ...

"Ich danke Ihnen auch", sagt Pagel sehr höflich. "Sie haben mir wirklich einen guten Rat gegeben."

Und langsam geht er den Gang hinunter, von der Pforte fort, verfolgt von den mißtrauischen Blicken des Alten.

Es ist grade die rechte Zeit, seine Sachen aus der Tannenstraße abzuholen. Um diese Stunde erwartet ihn die Mutter bestimmt nicht. Um diese Zeit schläft sie fest. Auf dem Alexanderplatz findet er bestimmt eine Taxe. Gottlob, daß Studmann mit Geld ausgeholfen hat, Studmann, der Nichtspieler, der einzige Kapitalist, Studmann, der Hilfreiche, Studmann, die Vorsehung der verregneten Hühner, die Hilfskasse der Abgebrannten. - Übrigens im Ernst, der Umgang mit Studmann muß wohltuend sein, beinahe ist es so, als könnte man sich auf Neulohe und Studmann freuen.

NEUNTES KAPITEL. Ein neuer Start am neuen Tag

1

In einem Hotelzimmer, auf einem Bett, liegen ein Mädchen und ein Mann. Der Mann schläft dicht an der Wand, in dem nicht breiten Bett bläst er leise pfeifend den Atem durch die Nase. Das Mädchen ist eben wach geworden, das Kinn auf die verschränkten Arme gelegt, auf dem Bauche liegend, blinzelt es zu den beiden Fensterrechtecken, die schon hell sind.

Das Mädchen hört: Das Geräusch von Schnellbahnzügen, die in einen Bahnhof einfahren; das stöhnende Gepuff einer Lokomotive; Geschilp von Spatzen; viele Fußgängerschritte, eilig, hastig, eilig; nun schüttert das Zimmer mit allem, was darin ist, von einem schnell fahrenden, schweren Gefährt - das muß ein Autobus sein, überlegt das Mädchen -, und jetzt, ungewohntes Geräusch unter so vielen gewohnten, tutet ganz nah ein Dampfer, zwei-, dreimal, fordernd, ungeduldig ...

Das Mädchen, Sophie Kowalewski, ist ihrem Entschluß treu geblieben: zum Abschied ist sie in der Altstadt bummeln gegangen, und nun ist sie in einem Hotel an der Weidendammer Brücke gelandet - daher das Dampfertuten, auf der Spree fahren Dampfer - oder ist dies hier gar nicht die Spree -?

Leise, behutsam, den Mann nicht zu wecken, schlüpft Sophie Kowalewski aus dem Bett, läuft, wie sie ist, ans Fenster und hebt einen Zipfel des Vorhangs. Strahlend blau steht der Himmel über den Eisenbogen der Brücke.

Herrliches Wetter werde ich in Neulohe haben, denkt Sophie. Großartige Sache: am Eingang des Waldes unter einem Baum liegen und

sich schmoren lassen ... keine Gnädige ... Badeanzug Fehlmeldung ... Und abends, wenn der Mond hochkommt, ganz nackt in den kalten Krebsteich mitten im Walde ...

Sie läßt den Zipfel des Vorhangs fahren und macht sich rasch an Waschen und Anziehen. Sie spült sich nur so ein bißchen ab, gurgelt flüchtig - all das kann sie noch gründlich im Hospiz besorgen, sie hat Zeit genug, bis ihr Zug geht. Eine freudige Spannung, etwas wie das Vorgefühl eines nahen Glückes erfüllen sie ... Neulohe, der alte, verwilderte Fliederbusch hinter dem Spritzenhaus, wo sie ihren ersten Kuß bekam, o Gott! Sie wird im Hospiz auch frische Wäsche anziehen. All dies Zeugs ekelt sie ...

Sophie Kowalewski ist fertig, ihr Täschchen in der Hand, steht sie und späht unschlüssig zum Bett. Sie macht zwei Schritte in der Richtung und sagt halblaut, sehr vorsichtig: "Du, Bubi ..."

Nichts.

Noch einmal: "Ich geh jetzt, Schatzi ..."

Nichts, nur das leise Pfeifen durch die Nase ...

Es ist keine plötzliche Eingebung, wenn Sophie jetzt scharf zu den Kleidern des Schläfers hinschaut, die unordentlich über den Stuhl geworfen daliegen. Nebenbei hat sie die ganze Zeit, seit sie wach ist, daran gedacht, daß bei dieser dämlichen Nacht wenigstens das Reisegeld nach Neulohe herausschauen könnte. Sie muß jetzt ein bißchen auf ihr Geld sehen, in Neulohe gibt es kein frisches. Rasch ist sie bei dem Stuhl, auf den ersten Griff faßt sie die Brieftasche(sie hat schon heute nacht darauf geachtet, wohin er sie steckt), sie macht sie auf ...

Es ist nicht viel Geld in der Tasche - ach, es ist eigentlich sehr wenig darin für einen Mann, der gestern abend viele Millionen für Sekt ausgab! Einen Augenblick zögert Sophie. Sie wirft einen Blick auf die Kleider, und mit dem Auge der Frau sieht sie, daß es wohl sorgfältig geschonte, aber gar nicht neue Kleider sind, vielleicht hat der Mann all sein Geld zusammengescharrt für diesen einen großen Ausgang. Es gibt solche Männer, Sophie weiß es, sie sparen und sparen, sie versprechen sich die Welt von einem solchen Abend, ein Glück, wie sie es noch nie erlebten ...

Dann erwachen sie am nächsten Morgen, ernüchtert, verzweifelt, ausgeleert ...

Zögernd steht Sophie, die Geldtasche in der Hand. Ihr Blick geht hin und her zwischen den paar Scheinen, den Kleidern, dem Schläfer ...

Das bißchen Geld hilft mir auch nichts, denkt sie. Schon will sie die Scheine in die Brieftasche zurücklegen.

Aber der Hans würde mich auslachen! denkt sie plötzlich. Der Hans ist nicht so dumm. Man muß alles mitnehmen, sagt er immer. Die Anständigen sind die Doofen. Nein, es ist ihm grade recht, wird er das nächste Mal besser aufpassen ...

Sie nimmt das Geld. Und noch einmal ein Überlegen: Wenigstens das Fahrgeld müßte ich ihm lassen. Sicher muß er auf sein Büro. Daß er wenigstens rechtzeitig auf seinem Büro ist!

Und wieder die andere Stimme: Aber was geht das mich an, ob er rechtzeitig auf dem Büro ist?! Wer hat sich je um mich gekümmert, wie ich nach Haus kam?! Auf der Straße haben mich die Herren Kavaliere stehenlassen, zu faul waren sie, mir die Haustür aufzuschließen, aus der Taxe haben sie mich gesetzt, wenn sie erst ihren Willen hatten! Was heißt hier Fahrgeld?!

Ordentlich stolz ist sie auf ihren Entschluß. Mit zorniger Entschlossenheit stopft sie das kümmerliche Geld in ihr Täschchen. Recht hast du! würde der Hans sagen. Und recht habe ich auch! Wer nicht nimmt, dem wird genommen. Wer nicht beißt, der wird gebissen. Guten Morgen!

Und leichtfüßig, vergnügt läuft sie die Treppe hinunter.

2

Es ist schon hell - auch im Walde. Der kleine ehemalige Feldinspektor Meier stapft wütend die Schneise entlang: die Koffer sind zu schwer, die Schuhe drücken, er hat zu wenig Geld, der Weg nach Grünow ist viel zu weit, er ist unausgeschlafen, der Kopf schmerzt wie sieben Affen - es gibt nur bescheidene Dinge, an die er denken kann.

Das Allerbescheidenste steht plötzlich, wie aus der Erde geschossen, am Wege, es ist der Leutnant.

Aber er ist ganz freundlich. "Morgen, Meier", sagt er. "Ich wollte Ihnen doch noch adjüs sagen."

Meier starrt ihn argwöhnisch an. "Also adjüs, Herr Leutnant!"

"Gehen Sie ruhig weiter. Nehmen Sie Ihre Koffer und gehen Sie weiter, wir haben ein Stück gemeinsamen Weg."

Meier aber bleibt stehen. "Ich gehe ganz gerne alleine", sagt er.

"Aber! Aber!" meint der Leutnant lachend. Sein Lachen klingt falsch, findet Meier, und seine Stimme flackert. "Sie werden doch keine Angst vor mir haben, jetzt, wo Sie sogar eine Pistole in der Tasche tragen."

"Es geht Sie einen Dreck an, was ich in der Tasche trage!" schreit

Meier gereizt, aber seine Stimme zittert.

"Eigentlich ja", gibt der Leutnant zu. "Aber wichtig ist es doch für mich, weil ich nämlich nun nicht in Verdacht komme."

"Wieso nicht in Verdacht komme -?" stottert Meier.

"Wenn Sie hier irgendwo tot im Walde liegen, Herr Meier", sagt der Leutnant sehr höflich, aber bitterernst.

"Ich - tot - lächerlich "..., stammelt der kleine Meier aschfahl und späht in das Gesicht seines Gegenübers. "Ich hab Ihnen doch gar nichts getan, Herr Leutnant!"

Flehend, angstvoll späht er in das Auge des andern, aber darin ist nichts zu lesen, gar nichts, es glitzert kalt.

"Ihre Pistole und meine Pistole haben nämlich das gleiche Kaliber", erklärt der Leutnant erbarmungslos. "Sie sind doch ein Riesenroß, Meier, daß Sie die Pistole eingesteckt haben ... Und nun haben Sie auch noch den Lauf frisch beschossen ... Ich treff aber besser als Sie, Herr Meier. Und ich steh jetzt so schön rechts von Ihnen, Nahschuß auf zwanzig Zentimeter in die rechte Schläfe ... Jeder Schießsachverständige sagt Selbstmord, mein lieber Herr Meier. Und daheim die geplünderte Kasse ... der Schuß auf das Mädchen - nein, nein, Herr Meier, machen Sie sich gar keine Gedanken, da gibt's keinen Zweifel: alles spricht für Selbstmord."

Der Leutnant redet und redet, er tut sehr überlegen, aber er ist wohl nicht so ruhig, wie er tut. Etwas anderes ist es, im Kampf oder in der Leidenschaft auf jemanden zu schießen, wieder etwas anderes, kaltblütig ein Opfer auf Grund von verstandesgemäßen Erwägungen abzuschlachten. Er zählt sich säuberlich noch einmal auf, daß er nichts "riskiert", daß er die Sache nicht gefährdet, sondern rettet vor einem Verräter.

Und dabei wünscht er doch im stillen - Schießsachverständige hin, Risiko her -, daß der Meier hastig nach der Pistole in der Gesäßtasche griffe: ein rascher Schuß, mit dem der Leutnant ihm zuvorkommt, ist soviel leichter als der ruhige, kaltblütige Schuß in das graue, schon so klein und spitz gewordene Gesicht hinein.

Aber Meier denkt gar nicht an die Pistole in der eigenen Tasche, er stammelt: "Herr Leutnant, ich schwöre Ihnen, ich sage nie ein Wort von Ihnen und dem Fräulein Weio ... Und auch nicht von dem Putsch ... Ich halt's, Herr Leutnant, ich hätt ja doch immer Angst, daß Sie mich erwischen, Sie oder einer von Ihren Leuten, ich bin ja doch feige ... Bitte, schießen Sie nicht! Ich - schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist ..."

Seine Stimme versagt ihm, er schluckt und starrt angsterfüllt auf den Leutnant ...

"Aber es ist Ihnen ja nichts heilig, Meier", sagt der Leutnant. Er kann sich noch immer nicht entschließen. "Sie sind ja ein völliges Schwein, Meier."

Der kleine Meier, der Negermeier, hat atemlos auf die Lippen des andern gestarrt, nun flüstert er hastig: "Ich kann mich doch noch ändern! Glauben Sie mir, Herr Leutnant, ich kann noch anders werden, ich bin ja noch jung! Sagen Sie, bitte, sagen Sie ja! Ich mache kehrt, ich gehe wieder nach Neulohe, ich gestehe dem Rittmeister, daß ich das Geld geklaut habe. Soll er mich ins Gefängnis schicken, ich geh gerne, ich will mich ja bessern, es soll ruhig schwer sein ... bitte, bitte, Herr Leutnant!"

Der Leutnant schüttelt finster den Kopf. Ach, hätte er doch gar nicht erst mit diesem Kerl zu quatschen angefangen! Hätte er nur gleich losgemacht, ohne ein Wort, aber nun ... es wird immer ekelhafter! Er ist ja nicht völlig verderbt, der Leutnant, er macht sich auch nichts vor, er weiß, er allein hat diesen jungen Bengel hereingerissen. Der muß sterben, weil er, der Leutnant, es nicht lassen konnte, mit der kleinen Prackwitz anzubändeln ... Es ist schlimm, aber es hilft nichts, jetzt weiß der Meier viel zuviel, er ist zu gefährlich, noch viel gefährlicher, seit er die toddrohende Pistole auf sich gerichtet sah.

"Nehmen Sie die Koffer, Meier, wir gehen noch ein Stück!"

Keine Spur von Widerstand, gehorsam wie ein Schaf nimmt Meier die Koffer, sieht den Leutnant fragend an.

"Da rauf, die Schneise lang!" befiehlt der.

Meier mit den Koffern geht voraus. Er hat die Schultern eingezogen, als könne das den gefürchteten Schuß von hinten verhindern. Die Koffer sind nicht mehr schwer, die Schuhe drücken nicht mehr, er geht eilig, als könnte er dem Tod weglaufen, der hinter ihm drein geht.

Wenn es doch erst vorbei wäre! denkt der Leutnant, die Augen aufmerksam auf den Vorausgehenden gerichtet. Aber diese Schneise hier ist wirklich zu begangen. Besser, sie finden ihn erst in drei oder vier Tagen, wenn es keine Spur mehr von mir gibt ...

Diese Gedanken ekeln ihn, sie haben etwas so Unwirkliches, etwas von einem wüsten Traum. Aber hier geht der Mann vor ihm, es ist noch ein lebendiger Mann, es ist also kein Traum, jede Minute kann es Wahrheit werden ...

"Jetzt links rein, den Steig hoch, Meier!"

Gehorsam wie ein Schaf, ekelhaft! Ja, dort droben auf der Höhe wird er es tun, muß er es tun ... ein Verräter bleibt ein Verräter ewig, Verräter ändern sich nicht, sie bessern sich nicht ... es muß sein ...

Was hat der Meier? Was schreit er? Ist er verrückt geworden?

Jetzt fängt er an zu laufen, er schreit immer lauter, er schmeißt die Koffer dem Leutnant vor die Füße ...

Der reißt die Pistole hoch - zu spät, er muß ja aus nächster Nähe schießen, damit Selbstmord glaubhaft ist ...

"Wir kommen ja schon, Herr Förster! Jawohl!" schreit Meier und läuft.

Da steht der Förster Kniebusch, neben ihm liegt ein verschnürter Mann in Blaubeerkraut und Moos.

"Gott sei Dank, daß Sie kommen! Ich konnte ihn wirklich nicht mehr weiterschleppen, meine Herren. Seit Stunden schleppe ich den Kerl ..."

Förster Kniebusch ist ganz redselig, endlich ist er von diesem Alleinsein mit dem gefährlichen Kerl erlöst!

"Es ist der Bäumer aus Altlohe - du weißt doch, Meier, der Schlimmste von der ganzen Bande! Ich habe einen sehr guten Fang getan, Herr Leutnant, dieser Mann ist ein Verbrecher!"

Der Leutnant steht an einen Baum gelehnt, er ist ziemlich weiß im Gesicht. Aber er sagt ruhig: "Ja, Sie haben einen guten Fang getan, Förster. Aber ich -?"

Er starrt haßerfüllt auf den kleinen Meier. Der erwidert den Blick - trotzig, triumphierend ...

"Na, denn guten Morgen und angenehme Verrichtung!" sagt der Leutnant plötzlich, dreht sich um und marschiert wieder den Waldweg zur Schneise hinunter. Als er bei den beiden Koffern ankommt, die dort weggeworfen liegen, kann er es nicht lassen: er tritt erst nachdrücklich auf den einen, dann auf den andern Koffer.

"Nanu!" sagt der Förster verwundert. "Was hat denn der? Warum ist denn der so komisch? Hat der Ärger gehabt mit seiner Versammlung? Ich habe doch alle ordentlich bestellt. Verstehst du das, Meier?"

"O ja!" sagt der kleine Meier. "Das versteh ich schon. Der hat 'ne schöne Wut auf dich!"

"Auf mich!" wundert sich der Förster. "Aber warum denn?!"

"Weil du nicht den Bock geschossen hast, den Bock, weißt du, für das gnädige Fräulein, weißt du!" sagt Meier. "Na, komm man, Kniebusch, jetzt gehen wir zusammen auf den Hof, und ich spann den Jagdwagen an, und wir holen den Kerl und meine Koffer ..."

"Deine Koffer -? Sind denn das deine Koffer? Reist du denn?"

"Ach, i wo ... Das sind doch die Koffer von dem Leutnant. Ich erzähl dir schon alles. Komm jetzt, wir gehen lieber nebeneinander, so hintereinander, da erzählt es sich nicht gut ..."

3

Die Autotaxe hielt in der Tannenstraße. Nur schwer läßt sich der Chauffeur überreden, mit hinaufzukommen und die Sachen anzufassen ...

"Det saren Se so, Jüngling, det jetzt noch keener unterwejens is. Die Diebe hier in Ballin, die sind imma unterwejens. Jetzt zumal. Und wer kooft mir eenen neuen Jummi, der ooch jar nich zu haben is!?! Sie doch bestimmt nich!"

"Na, meinswejen, weil's noch bis zum Schlesischen jeht, für 'ne Molle und een Korn, wie man so sacht, aber een Kaffee is mir lieba! Leise soll ick sein -? Ick bin so leise wie 'ne Rejierung, wenn se Jeld klauen jeht! Die Brüda hören Se ooch nich, aber Ihr Jeld sind Se los, da fressen Se eenen Besen druff!"

"Hübschet Haus - een bißken düster ... Zentralheizung is wohl nich? Aba Jas, Jas ham Se doch? Den Jas im Haus erspart die Preßkohle und den Strick zum Uffbammeln ... ja, ick bin ja schon leise, so leise wie ick sind Sie noch lange nich! - Mit det Schloß nun zum Beispiel, det hätte ick leiser befummelt ... Sie drücken sich woll französisch, Jüngling, kleena Mietrückstand, was -?"

"Na, pusten Se sich bloß nich uff, ick war ooch im Felde; wenn Se mir anpusten, schrei ick so laut, dat de Bilder von de Wand rutschen. Sehen Se - jleich sind Se friedlich ... So - und det is nu Ihre sojenannte Bude, was? Knorke mit 'nem kleenen Korn, so ha'ck dat nich bei Muttern ... Und sojar 'n Schrankkoffer - da wer'n wa wohl zweimal jehn müssen, junger Mann ..."

"Jottedoch! Wer liecht denn da auf die Chaiselongue -?! Ha' ick mir erschreckt! 'ne olle Frau - und pennt janz friedlich. Na, nu sare ick noch keenen Ton mehr, die lassen wa schlafen, die hat sich ihren Schlaf vadient, die hat de janze Nacht jepackt, die olle Frau! - Det is aber keene Schlafbosten, det is Ihre jnädije Frau Mutta, was?! Na ja, ha' ick mir ja jleich jedacht! Na, der würd ick aber doch ›atjeh‹ und ›juten Weech‹ saren, wo se de janze Nacht uff Ihnen gewartet hat ... Scherbeln jewesen, was -? Na ja, Jugend hat keene Tugend, ick bin ooch nich anders jewesen in Ihren Jahren ... Jetzt tut's mir manchmal leid, jetzt, wo

se tot is und uff 'm Matthäikirchhof liecht ... Na ja, jeder Mensch macht wieda dieselben Dußlichkeiten, dafür is jesorcht, dat die nich alle wer'n ...

Na, nun man los, jeben Sie mir den Schrankkoffa man ruhich uff 'en Rücken, ick schaff det Dings alleene, ick bin jleich wieda da ... Nee? Sie wollen jleich mit runta -? Na, meinshalben, jeder, wie er will, jeder so doof, wie er kann, sa' ick!"

"Na ja, det is wenichstens wat! Schreiben Se der ollen Frau een paar Zeilen uff, een bißken was Nettes, verstehn Se! - Wenn's ooch Schwindel is - 'ne Mutta freut sich imma, weiß, det det Kind se beschwindelt, freut sich doch. Will mir doch nich weh tun, denkt se ..."

"Na also, hauen wir ab ... Sachte, junger Mann, vorsichtig bei die Türe ... Wenn wir se jetzt aufwecken, is es freilich Scheibe ... so beim Türmen erwischt werden, det is jemein! Vorsicht doch! Achtung, Sie Dussel! Se wecken se ja! - Jott sei Dank, det wäre jeschafft ... Nu leise de Flurtür zu ... leise, sare ick, Jüngling! Leise is wat anderes wie mit 'nem Aweck! - Jotte doch, bubbert Ihr Herz ooch so? Ick habe eene Angst jehabt, wir wecken die olle Frau noch uff. Darin bin ick komisch. Eenen Mann, so wie Ihnen, kann ick glatt in die Schnauze schlagen, da denk ick mir jar nischt bei, aber so 'ne olle Frau ..."

4

Es stinkt - es stinkt atemraubend auf allen Gängen, Treppen, in allen Schlafsälen, in jeder Zelle, in den Arbeitsräumen und Werkstätten des Zuchthauses Meienburg, Die Abortkübel, die Desinfektionsmittel, das alte Werg, das gezupft werden muß, der Geruch angegangenen Dörrgemüses, Klippfisch und alte Socken, Kokosfasern und Bohnerwachs - eine dicke, heiße, verbrauchte, stinkende Luft. Auch über das Zuchthaus Meienburg ist gestern das Gewitter hingegangen, aber die feuchte, kühle Regenluft hat nicht einzudringen vermocht in den Riesenbau, das weiße Schloß über der Stadt aus Zement, Stahl und Glas.

"Pfui Teufel! Stinkt das einmal wieder!" sagen die Beamten vom Morgendienst, die um drei Viertel sechs kommen.

"Mensch, wie stinkt das bloß bei Ihnen!" sagt auch der Stationswachtmeister, der seinen Kalfaktor Hans Liebschner mit einem kräftigen Rippenstoß weckt. "Hoch, Mann, in zehn Minuten wird gekübelt. O Gott, und es stinkt schon jetzt so, daß mir mein ganzer Morgenkaffee hochkommt!"

"Ich riech nichts, Herr Hauptwachtmeister", beteuert Liebschner und

fährt in die Hosen.

"Zehnmal habe ich dir schon gesagt, daß ich Oberwachtmeister bin, nicht Hauptwachtmeister", brummelt der Alte. "Auf die süße Tour erreichen Sie bei mir doch nichts, Liebschner ..."

"Und ich möchte doch so gerne bei Ihnen was erreichen, Herr Hauptwachtmeister", schmeichelt Liebschner mit grinsendem, übertriebenem Augenverdrehen.

"Und was möchtste denn erreichen, mein Sohn?" Der Beamte lehnt an der Tür, wippt mit den Schultern die schwere Stahlplatte hin und zurück und sieht nicht ohne Wohlwollen auf seinen Kalfaktor. "Du bist ein richtiger Galgenvogel!"

"Ich möchte so gerne auf Außenarbeit, auf Erntekommando", bettelt Liebschner. "Wenn Sie mich dafür eingeben würden, Herr Hauptwachtmeister?"

"Warum denn, Mensch? Du stehst doch hier nichts aus als Kalfaktor!!"

"Aber ich vertrag die Luft nicht!" klagt der Gefangene mit erbärmlicher Stimme. "Mir ist so benommen im Kopf, ich kann überhaupt nichts mehr essen, und dann wird mir immer so übel von dem Gestank ..."

"Und eben noch hast du nichts gerochen! Nee, mein Sohn, ich will dir sagen, was dir ist. Nach Türmen ist dir - stiften möchtest du gehen - zu den kleinen Mädchen, was?! - Daraus wird nichts! Hier bleibst du!" - Ganz dienstlich: "Außerdem ist es unzulässig, daß ein Zuchthausgefangener vor Verbüßung von mindestens der Hälfte seiner Strafe auf Außenarbeit kommt."

Der Gefangene knotet stumm, mit gesenktem Kopf, an seinen Schuhen. Der Oberwachtmeister wippt weiter mit seiner Stahltür und betrachtet dabei den gesenkten, geschorenen Schädel.

"Herr Oberwachtmeister "..., sagt der Gefangene Liebschner und sieht entschlossen auf.

"Nu -?"

"Ich verpfeif keinen gerne, aber was muß, muß. Ich halt's nicht mehr aus in der Zelle, ich werd verrückt ..."

"So leicht wird man nicht verrückt, mein Sohn!"

"Aber ich weiß einen, der 'ne Stahlsäge hat, und Sie schwören mir, daß ich auf Außenarbeit komme, wenn ich Ihnen dem seinen Namen sage ..."

"Hier hat doch keiner 'ne Stahlsäge!"

"Doch - grade auf Ihrer Station!"

"Unsinn - außerdem schick ich nicht auf Außenkommando, das macht

der Arbeitsinspektor."

"Aber wenn Sie 'n gutes Wort für mich einlegen, komm ich raus."

Lange Pause.

"Wer hat die Säge -?"

"Komm ich auf Außenkommando -?"

"Meinethalben - wer hat die Säge?"

"Leise, Herr Oberwachtmeister, bitte, leise! Ich sage es Ihnen ins Ohr. Verpfeifen Sie mich bloß nicht - die schlagen mich glatt tot, wenn ich auf den Arbeitssaal komme."

Leise flüstert der Gefangene am Ohr des Wachtmeisters. Der nickt, fragt flüsternd, horcht, nickt wieder. Unten schlägt die Glocke an, von Station zu Station schallt der Ruf: "Kübeln! Kübeln!"

Der Wachtmeister richtet sich auf. "Also schön, Liebschner, wenn es stimmt, kommen Sie auf Kommando. - So eine verfluchte Schweinerei - da wäre ich schön reingerasselt! - Also los, Mensch, dalli, kübeln! Bißchen fix, daß wir rasch mit dem Gestank durch sind!"

5

Im Zuchthaus Meienburg schlägt die Morgenglocke um sechs Uhr an, im Polizeigefängnis Alexanderplatz zu Berlin wird es halb sieben, ehe der Gefangene aufstehen darf, weiß, daß die Nacht vorbei ist und es geschieht wieder etwas - vielleicht sogar mit ihm.

Petra ist erwacht von dem eiligen Gebimmel, einen Augenblick noch hat sie, beim Öffnen der Augen, vor sich den Schatten von Wolfs Gesicht. Es lächelte - dann zerriß vieles in Schwärze, eine alte Frau(Wolfgangs Mutter?) sagte ihr hart und hoch viele böse Dinge ... Aus der Schwärze tauchte ein Baum, entlaubt, mit sperrigen, drohenden Ästen - ein Vers, den Wolfgang oft gesummt, klang in ihrem Ohr: Er hängt an keinem Baume, er hängt an keinem Strick ...

Nun sind die Augen weit offen. Die Zigeunerinnen schwatzen schon wieder in ihrem Winkel, mit vielen Gebärden, auf ihrer Matratze hockend; die Lange liegt noch in ihrem Bett, die hochgezogenen Schultern zucken, sie weint also schon wieder; die kleine Dicke steht vor dem handtellergroßen Zellenspiegel, feuchtet im Munde den Zeigefinger an und fährt damit glättend über ihre Augenbrauen. Frau Krupaß aber sitzt aufrecht in ihrem Bett und flicht ihre kümmerlichen Zöpfchen - und das Deckenpaket liegt reglos am Boden ...

Vor den Fenstern, über Dächern, von Gitterstäben zerteilt, ist der

Himmel mattblau und sanft durchsonnt - ein neuer Tag, wohlan, zu neuem Werke! Es ist kaum noch Wasser im Krug - wie soll man sich waschen?

Die alte Frau nickt. "Hör, Kindchen, was wir heute nacht abgemacht haben, dabei bleibt es, was? Oder hast du es dir anders überlegt?"

"Nein", sagt Petra.

"Ich hab so 'n Gefühl, du kommst heute noch raus, ganz plötzlich. Wenn wir uns nicht mehr sehen, gehst du zu Killich - Rechtsanwalt Killich an der Warschauer Brücke - behältst du das -?"

"Rechtsanwalt Killich, Warschauer Brücke "..., wiederholt Petra.

"Schön. Also gleich hingehen! - Wie siehst du denn aus? Denkste noch an den Kerl?"

"Nein!"

"Na! Na!"

"Aber ich glaube, ich hab von ihm geträumt!"

"So - na, dagegen wirste vorläufig nichts machen können. Das gibt sich mit der Zeit von selbst, das Träumen. Iß abends bloß keine Bratkartoffeln, sag der Randolfen, sie soll dir immer kalten Aufschnitt geben. Bratkartoffeln abends, und vor allem mit Zwiebeln, das treibt die Träume, so was mußt du nicht essen, Kindchen, verstanden!"

"Nein", sagt Petra. "Ich bin aber gar nicht so empfindlich."

"Was willste dich um so 'nen Kerl abäschern? Kerle gibt's genug, gibt's viel zuviel - geh mir los mit denen! Immer kalten Aufschnitt und ein Glas Helles von Patzenhofer, da schläft es sich besser ein. Na, du wirst's schon schaffen, da ist mir nicht angst drum!"

"Mir auch nicht!"

"Na, und sieh jetzt mal nach deiner Kranken, ich merk doch, du bist ganz jieperig darauf. Was ein Schaf ist, bleibt ein Schaf. Du lernst es auch nie! - Du, Kindchen!"

"Ja?" fragt Petra und wendet sich noch einmal um.

"Ich glaube doch, es ist nichts mit dir. - Wenn er und er steht auf der andern Straßenseite und pfeift und winkt mit dem Finger - da läufst du schon, aus meiner schönen Etage und von dem guten, fetten Essen und der Badewanne und vons Bette - wie du stehst und gehst, läufste zu ihm, was -?"

Mit neu erwachtem Argwohn sieht sie Petra aus ihren alten Augen an.

"Aber, Mutter Krupaß", sagt Petra lächelnd, "jetzt kommt er doch nicht mehr zuerst, jetzt denke ich doch immer zuerst an es!"

Sie sieht noch einen Augenblick Frau Krupaß an, nickt ihr dann zu und macht sich nun daran, die Feindin, die Hühnerweihe, die Kranke auszuwickeln.

6

Der Diener Hubert Räder ist schon auf und an der Arbeit, als Weio mit hochroten Backen in der Villa ankommt.

"Morgen, Hubert!" ruft sie. "Gott, machen Sie wieder so verrückt sauber -?! Mama hat Ihnen das doch schon so oft verboten!"

"Davon verstehen Frauen nichts!" stellt Räder unerschüttert fest und betrachtet sein Werk mit ernstem, aber billigendem Auge.

Da heute der Herr Rittmeister zurückkommt, muß sein Zimmer gründlich gesäubert werden. Der Diener Räder verfährt dabei so, daß er erst einmal die eine Seite des Raumes kehrt, aufwischt, einwachst, bohnert, staubwischt - dann erst beginnt er mit der andern Hälfte. Er bringt damit Frau von Prackwitz völlig zur Verzweiflung, die ihm immer wieder erklärt, die saubere Seite staube ja vom Reinigen der andern Hälfte immer wieder voll ...

"Jawohl, gnädige Frau", sagt der Diener Räder dann gehorsam. "Aber wenn ich abgerufen werde zu einer andern Arbeit, haben der Herr Rittmeister doch wenigstens eine saubere Seite, auf der Herr Rittmeister wohnen können ..."

Und er reinigt, eigensinniger als ein Maulesel, auf seine Art weiter.

Auch jetzt hat er wieder gesagt: "Davon verstehen Frauen nichts", und setzt nachdrücklich hinzu: "Die gnädige Frau haben schon zweimal geniest, gnädiges Fräulein!"

"Jaja, Hubert", sagt Weio eifrig. "Ist ja schon gut. Ich gehe gleich auf mein Zimmer und wasche mich ein bißchen und zieh mich um. Und eine Kute dreh ich auch schnell in mein Bett, als hätt ich drin gelegen. - Ach Gott, nein! Das brauch ich ja gar nicht, ich brauch ja gar nicht im Bett gelegen zu haben, wenn Mama und Papa hören, was heute nacht alles passiert ist -!"

"Machen Sie man schnell", sagt Räder und bewegt den Bohner mit liebevoller Bedachtsamkeit. "Wenn die gnädige Frau geniest hat, steht sie immer gleich auf."

"Ach, Hubert, sei doch nicht so dumm!" ruft Weio vorwurfsvoll. "Du platzt doch auch vor Neugierde! - Denken Sie sich, der kleine Meier ist mit der Kasse durchgebrannt. Jetzt ist er aber wieder da. Und der olle

Kniebusch hat den Bäumer verhaftet, er hat ihn aber noch nicht hier, er liegt gefesselt im Walde, und Kutscher Hartig hat angespannt, und jetzt sind sie raus, Hartig und Kniebusch und Meier, ihn zu holen - er ist aber bewußtlos. - Stehen Sie doch nicht so dumm da, Hubert!" schreit Weio wütend. "Lassen Sie doch den Bohnerbesen los! - Was sagen Sie bloß zu so was, Hubert?!"

"Sie haben zweimal du zu mir gesagt, gnädiges Fräulein", sagt der Diener Räder kühl. "Sie wissen, der Herr Rittmeister will das gar nicht haben, und mir ist es auch nicht ganz recht ..."

"Ach, du alter Schafskopf!" ruft sie. "Das ist mir ja ganz egal, wie ich zu Ihnen sage! Einen ollen Schellfisch rede ich auch nicht mit Sie an. Ja, das sind Sie - ein oller Schellfisch sind Sie! Ein oller Stockfisch! Passen Sie lieber auf das, was ich Ihnen erzähle, Sie sind doch auch dabeigewesen! Daß Sie nicht alles verquatschen; wenn Mama Sie fragt ..."

"Entschuldigen, gnädiges Fräulein, ich bin nicht dabeigewesen! Wenn so was Wildes vorkommt, bin ich nicht dabei. Ich muß auch an meinen Ruf denken. Ich bin herrschaftlicher Diener - ich habe mit Kassendieben und mit Wilddieben nichts zu tun. Das ist genau wie mit Uniformen - da mische ich mich nicht rein!"

"Aber, Hubert!" sagt Weio vorwurfsvoll. "Sie wissen doch, Mama hat gesagt, Sie sollten mitgehen. Sie werden uns doch nicht reinreißen."

"Tut mir leid, gnädiges Fräulein, es geht nicht. - Würden Sie bitte von dem Perser gehen, ich muß die Fransen auskämmen. Warum die Leute wohl überhaupt solche Fransen in die Teppiche machen? Immer sehen sie unordentlich und verfizzelt aus, bloß, damit man mehr Arbeit hat ..."

"Hubert!" sagt Weio sehr bittend und ist plötzlich ganz kleinlaut. "Sie werden doch Mama nicht sagen, daß Sie wegen der wilden Geschichten nicht mitgegangen sind -?"

"Nein, gnädiges Fräulein -!" sagt Hubert und glättet seine Fransen. "Ich habe auf dem Hof schon Nasenbluten bekommen und wollte nachkommen und habe Sie nicht gefunden, weil Sie den Weg an den Remisen gegangen sind, und ich bin die Schneise beim Wildfutterplatz hoch gegangen ..."

"Gott sei Dank!" atmet Weio auf. "Ein anständiger Kerl sind Sie eben doch, Hubert!"

"Und ich würde mir überhaupt einen Augenblick lang überlegen", fährt Hubert unerschüttert fort, "was Sie der gnädigen Frau erzählen wollen. Von dem Herrn Inspektor Meier würde ich nicht so viel sprechen - und wie ist es denn mit dem Wilderer, dem Bäumer -? Wenn den der Förster

gefangen hat, müssen gnädiges Fräulein doch dabeigewesen sein -! Was haben Sie denn mit dem Förster verabredet?"

"Aber gar nichts, Hubert! Er ist doch gleich wieder in den Wald raus - mit dem Inspektor!"

"Sehen Sie! Und haben Sie denn nun den Bock geschossen, oder hat er ihn geschossen? Oder ist er gar nicht geschossen -? Es war mir doch so, als hätte ich einen Schuß gehört, heute gegen Morgen."

"Oh, Hubert, Hubert - das ist doch grade das Tollste, das habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt! Da hat doch wirklich der kleine Meier auf die Geflügelmamsell, die Amanda Backs, geschossen -!"

"Gnädiges Fräulein!" sagt Hubert streng und richtet seine ausdruckslosen Fischaugen auf sie. "Das habe ich nicht gehört, von all so was Wildem weiß ich nichts ..."

"Aber er hat sie doch nicht getroffen! Er war doch dun!"

"Gehen Sie jetzt auf Ihr Zimmer und ziehen Sie sich um", sagt Hubert Räder und ist so erregt, wie er nur sein kann. "Nein, Sie müssen jetzt hier rausgehen, ich muß hier saubermachen, Sie stören mich ..."

"Hubert, werden Sie nicht frech -! Wenn ich hier sein will, bleibe ich hier ..."

"Und ich würde mir genau überlegen, was ich sage - und am besten erzählen Sie gar nichts, sondern sind mit mir umgekehrt, als ich Nasenbluten bekam ... Aber das bringen Sie doch nicht fertig - und so wird heute nachmittag schon das schönste Gerede im Gange sein, und heute abend haben wir die Polizei im Haus ... Aber ich habe für mich vorgesorgt, ich habe zwei blutige Taschentücher, und um halb zwei habe ich bei der Armgard geklopft und habe sie gefragt, was die Uhr ist, weil mein Wecker stehengeblieben war, er war aber nicht stehengeblieben ... Ich weiß also von nichts, und mit Ihnen geredet habe ich hier auch nicht - seit ich Nasenbluten bekam, habe ich Sie nicht gesehen ... Guten Morgen, gnädige Frau, wünsche wohl geruht zu haben. Ja, ich mache hier gründlich rein, bloß, der Staubsauger ist entzwei, aber das ist Armgard gewesen, gnädige Frau, doch es geht auch so ... Und ich bitte um Verzeihung, daß ich das gnädige Fräulein nicht in den Wald begleitet habe ... Bloß, ich bekam solches Nasenbluten, weil ich die Schlaflosigkeit nicht vertrage ... Das habe ich schon als Kind gehabt, wenn ich zuwenig Schlaf ..."

"Bitte, Hubert, hören Sie jetzt gefälligst auf. Ich sage es ja, wenn Sie einmal den Mund auftun -. Und du, Weio, noch im Jagdkleid -. Darf man denn Weidmanns Heil sagen, oder war der Ansitz umsonst -?"

"Ach, Mama, was wir alles erlebt haben! Es war großartig! Ja, der Bock ist geschossen, aber nicht von mir, sondern, denke dir mal - aber das rätst du ja doch nie -, der Bäumer hat ihn geschossen - aber du weißt doch, Mama, der Wilddieb aus Altlohe, über den Großvater immer so schimpft ... Und Kniebusch hat ihn verhaftet, den Bäumer natürlich, aber den Bock haben wir auch ... Und jetzt sind sie in den Wald, ihn holen, er ist aber bewußtlos. Und Inspektor Meier ..."

"Darf ich jetzt hier weiter rein machen?" unterbricht der Diener Räder mit ganz ungewohntem Nachdruck.

Und die gnädige Frau: "Also, Weio, komm rüber zu mir. Das mußt du mir alles ganz genau erzählen ... Und du bist bei so was dabeigewesen, hinterher kriege ich ja doch noch einen Schreck ... Aber Papa wird sich auch freuen, daß der Bäumer erledigt ist. Wieso ist er denn bewußtlos -? Hat Kniebusch denn auf ihn geschossen? Ich sage ja immer zu Vater, Kniebusch ist eben doch besser ..."

Sie sind fort - der Diener Räder steht da und nickt ernst. Vorläufig geht alles gut, vorläufig redet noch die gnädige Frau ...

Aber wenn der Rittmeister kommt und fragt -? Was dann?

7

Der Rittmeister von Prackwitz sprang eilig aus der Autodroschke, zahlte und lief die Stufen zu der Eingangshalle des Schlesischen Bahnhofs hinauf. Zwar war es noch eine gute halbe Stunde bis zur Abfahrt des Zuges, aber er mußte ja auch noch seine Leutekolonne vom Vermittler übernehmen, mit dem Mann abrechnen, Sammelfahrschein ausstellen lassen ...

Trotz der durchwachten Nacht fühlte der Rittmeister sich unternehmend und hoffnungsvoll - daß er nicht allein, nicht mehr ohne Freunde nach Neulohe zurückfuhr, war gut. Und dann wehte hier am Schlesischen Bahnhof etwas von der Luft des Ostens. Am Alexanderplatz dachte man nur noch an Berlin, fühlte man nur die Riesenstadt - hier am Schlesischen Bahnhof dachte man an Felder und Ernte ... Es galt die Neuloher Ernte gut hereinzubringen -!

Wie vom Blitz getroffen blieb der Rittmeister unter dem Türbogen stehen. Er stand, starrte, spähte - ungeduldig wies er mit einem Kopfschütteln einen Gepäckträger von sich ... Nun trat er etwas zurück, voll Angst, entdeckt zu werden ...

Es war schon so, nur ihm konnte das passieren: der Arbeitgeber

versteckte sich vor seinen Arbeitern, bekam bei ihrem Anblick Angst!

Dort an der Treppe standen sie, ein Haufe, eine Horde - der Rittmeister zweifelte keinen Augenblick, daß dies seine Leute sein sollten, obwohl der Vermittler im Augenblick nicht zu entdecken war.

"O Gott!" stöhnte der Rittmeister aus tief verwundetem Herzen, "und so was will bei mir Roggen puppen, dies will Kartoffeln buddeln, diese Horde in Neulohe leben ..."

Junge Bengel, die Schiebermütze keß aufs Ohr gesetzt, den Zigarettenstummel im Mundwinkel, mit unendlich weiten, scharf gebügelten Hosen bis zur Schuhspitze, das Chaplinstöckchen kokett in der Hand ... Andere Lümmel, langsträhnig, entweder ohne Kragen oder mit verschmutztem Schillerkragen, das Hemd über der Brust offen, die Arme blau und rot tätowiert wie die Brust, zerrissene Hose, barfuß oder ausgelatschte Turnschuhe ... Zwei Straßenmädchen mit fast weißem, gebleichtem Haar, in Seidenfähnchen, auf Stöckelschuhen aus Lackleder ... Ein uralter Mann mit Nickelbrille, sein schwarzer Gehrock hing traurig über die dürren Lenden, eine Botanisiertrommel hing am Bindfaden von der schrägen Achsel ... Wieder ein Mädchen, irgendeine grüngestreifte Flanellbluse über den Brüsten wie Mehlsäcken - ein schreiendes Kind auf dem Arme ...

"O mein Gott!" stöhnte der Rittmeister wieder.

Und nicht ein Stück Gepäck, keine Margarinekistchen, nicht einmal ein Persilkarton - nur diese eine verbeulte grüne Botanisiertrommel, Gemeinschaftsgepäck aller.

Nicht einmal sechzig Zahnbürsten hätten in dem Dings Platz, geschweige denn sechzig Hemden!

Und das alles schob sich in bester Laune, lachend, schwatzend, Schlager pfeifend und johlend durcheinander; zwei knutschten sich schon, auf einer Treppenstufe sitzend ... Ungeniert wurden vorbeieilende Reisende angerufen, verspottet, angebettelt ...

"Eine Zigarette, Herr Chef, bitte, schenken Sie mir eine Zigarette!" Und der Bengel nahm dem Verblüfften die brennende Zigarette aus dem Munde. - "Danke, Herr Chef, ich bin nicht so, wir haben alle dieselbe Krankheit ..."

Die Fahrt nach Neulohe, das Einbringen der Ernte: eine Landpartie, ein willkommener Ulk für diese - Bande!

"Bande!" knirschte der Rittmeister. - Und aufgeregt zu dem mit einem Handkoffer anlangenden von Studmann: "Sieh dir diese Bande an! Und so was will auf dem Lande arbeiten! In Lackschuhen - mit

Shimmyhosen!"

"Schlimm!" sagte von Studmann nach kurzer Musterung. "Nimm sie einfach nicht. Du hast doch Landarbeiter verlangt!"

Der Rittmeister sagte ein wenig verlegen: "Aber ich muß Leute haben! Die Ernte verfault mir draußen!"

"So such andere. Auf einen Tag kann es nicht ankommen. Fahren wir morgen!"

"Aber jetzt, mitten in der Erntezeit, gibt es keine vernünftigen Leute. Jeder hält fest, was er hat. Und kein Aas will aufs Land - lieber verhungern sie hier bei ihren Kinos."

"So nimm diese - zu irgend etwas werden sie schon zu gebrauchen sein."

"Und mein Schwiegervater -?! Meine Schwiegermutter -?!! Ich mache mich ja unsterblich lächerlich, die lachen mich ja aus, ich bin ja ein erledigter Mann, wenn ich mit diesen Leuten ankomme! Das sind ja alles Nutten und Zuhälter!"

"Ziemlich verwahrlost sehen sie aus - aber wenn du Arbeiter haben mußt! - Was willst du also tun?"

Der Rittmeister vermied eine direkte Antwort: "Ich sage dir, Studmann", sagte er ärgerlich, "ich hab's mir nicht leicht gemacht. Ich bin kein Landwirt, da hat mein Schwiegervater recht; ich lese, ich überlege, ich renne von früh bis spät, aber ich mache doch viel Bockmist, zugegeben! Einfach, weil ich den Dreh nicht so kenne ... Und nun ist mir wirklich was gewachsen, keine Bombenernte, aber doch ganz erträglich - es steht draußen, es müßte rein - und nun dies: keine Leute! Es ist zum Verzweifeln!"

"Aber warum hast du denn keine Leute, wenn andere sie doch haben. Verzeih, Prackwitz, aber du sagtest vorhin selbst: die halten sie alle fest."

"Weil ich kein Geld habe! Die andern engagieren sich ihre Leute im Frühjahr, ich habe mir so lange hingeholfen. Ich habe das Engagement bis zum letzten Augenblick aufgeschoben, um Löhne zu sparen ... Sieh mal, Studmann, mein Schwiegervater ist ein reicher Mann, ein schwerreicher Mann, aber ich habe nichts. Schulden habe ich! Er hat mir den Hof verpachtet, wie er steht und geht, mit allem Inventar, ich habe kein Geld dazu gebraucht. Bis jetzt habe ich mir noch immer so durchgeholfen, ein bißchen Kartoffeln verkaufen, ein bißchen Vieh - das hat die Löhne gebracht und was wir so zum Leben brauchen. Aber jetzt, jetzt muß Geld rein! Sonst bin ich erledigt, ratzekahl pleite! Und das Geld ist da, es steht auf dem Felde - ich brauche nur einzufahren, zu

dreschen, zu liefern, und ich habe Geld! Und da kriege ich solche Leute! Aufhängen müßte man sich!"

"Ich weiß nicht, wieviel Millionen Arbeitslose wir haben", sagte von Studmann. "Es werden ja alle Tage mehr. Aber für Arbeit gibt's keine Arbeiter."

Von Prackwitz hatte nicht hingehört. "Und ich nehme die Leute nicht!" sagte er mit grimmiger Entschlossenheit. "Vielleicht würden sie sogar ein bißchen was tun, in der ersten Zeit, solange sie kein Rückreisegeld und Hunger haben. Aber ich lasse mich nicht auslachen von der ganzen Gegend und der lieben Verwandtschaft! Ich mache aus meinem Leutehaus kein Bordell - sieh bloß mal, wie die beiden sich da antatschen auf der Treppe, ekelhaft - ich finde das zum Kotzen! - Und ich verderbe mir mein Neulohe nicht; mit den Leuten aus Altlohe ist es schon schwer genug ... Nein, ich nehme sie nicht."

"Und was tust du statt dessen? Da du doch Leute haben mußt -?"

"Ich will dir was sagen, Studmann. Ich rufe das Zuchthaus an, wir haben das Zuchthaus Meienburg bei uns in der Gegend, ich lasse mir ein Zuchthauskommando kommen. Lieber die Bengels, mit ein paar richtigen Wachtmeistern dabei, den Karabiner in der Flosse - als die hier! Das kann mir der Direktor im Zuchthaus nicht verweigern - und eventuell fahren wir beide mal hin zu ihm - jetzt habe ich ja dich zur Hilfe!"

Plötzlich lächelt der Rittmeister. Daß er einen richtigen Freund, mit dem er über alles reden kann, von nun an in seiner Nähe hat, wird ihm plötzlich wieder klar. Darum hat er ja auch in den letzten fünf Minuten mehr geredet als in fünf Monaten vorher.

Studmann nickt, und von Prackwitz sagt: "Sieh mal, Studmann, mein Schwiegervater hat ja wieder recht: ich bin kein Geschäftsmann. Da fahre ich in der eiligsten Zeit nach Berlin, lasse vierundzwanzig Stunden den ganzen großen Betrieb mit der Ernte, auf die alles ankommt, einem Schnösel und Windhund, gebe eine Menge Geld aus, verspiele noch mehr, komme mit einem Haufen Schulden bei dir und dem jungen Pagel zurück und bringe keine Leute, sondern tue das, was mir meine Nachbarn schon vor vier Wochen geraten haben: ich nehme ein Zuchthauskommando ..."

Von Prackwitz lächelt; leise, sehr vorsichtig lächelt auch von Studmann.

"Na schön, also habe ich's wieder mal verkehrt gemacht. Aber was weiter? Wir machen alle unsere Dummheiten, Studmann(mein Schwiegervater nämlich auch), aber die Hauptsache ist, daß wir unsere

Dummheiten einsehen. Ich sehe sie ein! Ich mach sie besser. Aber ich mach weiter, Studmann, und du hilfst mir."

"Natürlich!" stimmt Studmann zu. Aber wird es denn nicht Zeit mit unserm Zug? Du mußt wohl noch mit dem Vermittler reden? Und der junge Pagel ist auch noch nicht da!"

Aber von Prackwitz hört jetzt nicht. Macht es der Freund? Macht es das aufrüttelnde Erlebnis in der Nacht? Prackwitz ist redselig. Prackwitz will Geständnisse machen, Prackwitz möchte beichten.

"Du hast jetzt so lange im Hotel gearbeitet, Studmann, du hast sicher was weg von Buchführung und Geldeinteilung und Leutebehandlung. Ich brülle bloß immer gleich los. - Wir müssen es schaffen! Was -? Daß ich den Hof behalte! Ich weiß, mein Schwiegervater möchte ihn zu gerne wiederhaben.(Entschuldige, daß ich soviel von meinem Schwiegervater rede. Aber der ist mein rotes Tuch. Ich kann ihn nicht ausstehen, und er kann mich nicht ausstehen.) Der alte Herr kann mich nicht wirtschaften sehen. Und wenn ich nun zum ersten Oktober die Pacht nicht zusammenkriege, dann muß ich raus - und was mache ich dann?"

Er sieht von Studmann wütend an. Dann: "Aber sie steht draußen, Studmann, und wir kriegen sie rein, und überhaupt, wo ich dich jetzt habe, machen wir aus Neulohe ein Mustergut. Ach, Studmann, es ist ja doch ein Glück, daß ich dich getroffen habe! Erst, muß ich dir ja gestehen, habe ich wirklich einen Schreck gekriegt, als ich dich da im schwarzen Rock Dienerchen vor jeder aufgedonnerten Schickse machen sah ... Was bist du gesunken, Studmann, dachte ich ..."

"Da kommt Pagel!" rief Studmann, dem bei diesen Geständnissen des sonst so zurückhaltenden Prackwitz heiß und kalt wurde.

Denn das wird der Gute eines Tages bitter bereuen, denkt Studmann. Und dann nimmt er es mir übel, daß er heute so zu mir geredet hat!

Aber von Prackwitz ist wie betrunken, es muß wirklich hier die Luft am Schlesischen Bahnhof machen.

"Gepäck haben Sie ja genug, Pagel", sagt er sehr wohlwollend. "Hoffentlich halten Sie so lange bei mir aus, daß Sie alles, was Sie da drin haben, einmal bei mir anziehen. Auf dem Lande wird nämlich gearbeitet, nicht gespielt! - Na ja, schon gut, ich habe es gar nicht so gemeint! Übrigens habe ich ja selber gespielt! Und nun seien Sie so gut und besorgen am Schalter drei Karten Zweiter, erst mal bis Frankfurt - und dann werden wir uns in der letzten Minute im Sturmlauf durchschlagen ..."

"Aber willst du nicht erst mal mit dem Vermittler reden? Die Leute sind

doch schließlich hierherbestellt ..."

"Also holen Sie die Karten und kommen Sie dann gleich wieder hierher, Pagel. - Was soll ich denn mit dem Manne reden? Er hat mich reinlegen wollen, nun lege ich ihn rein!"

"Aber so macht man doch so was nicht, Prackwitz! Du brauchst doch die Auseinandersetzung nicht zu scheuen. Du kannst doch mit vollem Recht die Leute zurückweisen - es sind keine Landarbeiter. Man rennt doch nicht heimlich die Treppen rauf - wie ein Schuljunge ..."

"Studmann! Ich bin kein Schuljunge!! Ich muß dich bitten ..."

"Wie ein Schuljunge, habe ich gesagt, Prackwitz."

"Also kurz und gut, Studmann, ich möchte es machen, wie ich es für richtig halte."

"Aber ich denke, Prackwitz, du wolltest grade meinen Rat haben ..."

"Natürlich, Studmann, natürlich! Zieh doch bloß kein Gesicht. Immer höre ich deinen Rat gerne, nur diesmal, siehst du ... Die Wahrheit ist nämlich, daß ich dem Manne gesagt habe, die Leute können aussehen, wie sie wollen, wenn sie nur Hände zum Arbeiten haben ..."

"Ach so!"

"Aber daß er da eine solche Bande schickt -! Dafür kann ich doch keine paar hundert Goldmark Provision zahlen! - Also bitte, geh mit Pagel voran, ich komme dann schon nach. Laß mich dieses eine Mal so handeln, wie ich möchte ..."

"Gut, gut, Prackwitz", sagt von Studmann nach kurzem Nachdenken. "Also dieses eine Mal noch. Richtig ist es zwar nicht, und es ist auch kein guter Anfang unserer Zusammenarbeit, aber ..."

"Weg mit euch!" ruft der Rittmeister. "Raucher, Zweiter! Noch acht Minuten. Und dann Schluß mit Berlin - Gott sei Dank!"

Sehr nachdenklich steigt von Studmann neben dem jungen Pagel die Treppe zum Bahnsteig hoch.

Nehmen wir es also nicht als den Anfang der Zusammenarbeit, nehmen wir es als das Ende von Berlin!

Er ist froh, daß er nicht zu sehen braucht, wie der Rittmeister von Prackwitz sich durch einen Sturmlauf um das Zahlen einer Vermittlungsprovision drückt. Der Anblick des Rittmeisters bei andern Sturmläufen war ihm immer wohltuend gewesen. Verdammte Zeiten, die einen Mann so ändern konnten -!

"Also haben Sie sich doch entschlossen", sagt er zum jungen Pagel. "Das ist schön von Ihnen."

8

Allein geblieben, steht der Rittmeister unentschlossen, er nagt an seiner Lippe, er sieht die Fahrkarte in der Hand an. Im Nu ist mit dem Fortgang der beiden seine begeisterte Stimmung, die ihm jedes Geständnis leicht machte, verflogen, jetzt beherrscht ihn ganz die augenblickliche Situation, die einfach ekelhaft ist.

Mit ärgerlich gefalteter Stirn und eingekniffenen, bösen Augen späht er in die Halle. Die Leute dort sind mit dem Naherücken der Abfahrtszeit auch unruhig geworden; wer auf den Treppenstufen saß, ist aufgestanden; es haben sich Gruppen gebildet, die eifrig miteinander diskutieren; auf einem Treppenpodest steht der lange, knochige Vermittler mit dem weißen, haarlosen Schädel, spricht beruhigend zu seinen Bedrängern, sucht die Halle mit den Augen ab, späht nach dem Eingang ...

Der Rittmeister zieht sich weiter hinter seinen Pfeiler zurück - ach, diese Rotte Korah, dieser Haufe Unglück, der ihm beschert sein soll! Er sieht keine Möglichkeit, ungesehen hindurchzukommen - warum hat dieser verdammte Bahnsteig nicht mehr Aufgänge -?!

Und ich nehme die Leute nicht, ich nehme sie unter gar keinen Umständen! Ich mache mich nicht zum Gespött der ganzen Gegend! Ich lasse mich nicht auslachen! In Seidenfähnchen und Stöckelschuhen zum Roggenpuppen! Kein Hemd zum Wechseln, nicht eine Hose! Wenn die Bande einmal naß wird, sitzt alles splitterfadennackt so lange in der Bude, bis das Zeug wieder trocken ist! Paradiesische Zustände! Nein, lieber noch Zuchthäusler!

Der Rittmeister späht um den Pfeiler - aber er prallt zurück.

Der Vermittler hat seinen erhöhten Aussichtspunkt verlassen; auf der einen Seite das Mädchen mit Kind in der Schlampenbluse, auf der andern den alten Knacker mit Botanisiertrommel im Bratenrock, strebt er, aufgeregt redend, dem Bahnhofseingang zu - und der Rittmeister möchte in seinen Pfeiler hineinkriechen, versteinern, sich auflösen, so sehr graut ihm vor diesem Trio!

Und grade in diesem Augenblick, in diesem kritischsten aller kritischen Augenblicke - tönt eine etwas rauhe, aber gar nicht unangenehme Mädchenstimme an sein Ohr: "Oh, der Herr Rittmeister!"

Er fährt herum und starrt.

Ja, wahrhaftig: vor ihm steht, er weiß nicht, woher gekommen, also tatsächlich wie vom Himmel gefallen, die Tochter seines Leutevogts

Kowalewski, ein Mädchen, das er unter den törichten und plumpen Hofgängerinnen des Gutes wegen seiner frischen Art und seiner zierlichen Schönheit immer gerne gesehen und mit manchem väterlich freundlichen Wort ausgezeichnet hat.

"Sophie!" sagt er ganz verblüfft. "Was machst du denn hier, Sophie?"

(Die Hofgängermädchen, die vom vierzehnten Jahre an auf dem Gut arbeiteten, wurden alle mit "du" angeredet. Und dabei blieb es - auch wenn sie, wie die Sophie, in die weite Welt hinauszogen.)

"Ich fahr zu den Eltern in Urlaub!" lacht sie und sieht ihn ganz töchterlich an.

"Ach, Sophie!" sagt er eifrig. "Du kommst mir wirklich wie vom Himmel gesandt! Auf der andern Seite vom Pfeiler der Mann mit der Glatze, ja, der große - guck nicht so hin, Sophie! -, der darf mich unter keinen Umständen sehen, und ich muß zum Zug! Es sind nur noch drei Minuten. Kannst du ihn nicht irgendwie festhalten, nur so lange, daß ich durch die Eingangshalle flutsche, meine Karte habe ich schon -. Danke, danke, Sophie, im Zuge erkläre ich dir alles. Bist immer noch ein großartiges Mädchen! - Los -!"

Er hört eben noch ihre Stimme, hoch, sehr streitsüchtig: "Stehen Sie doch nicht mitten im Wege! Ich muß zu meinem Zug! Fassen Sie lieber meine Koffer an ..."

Großartiges Mädchen! denkt er noch einmal. Aber mächtig verändert. Bißchen aufgetakelt ...

Er rennt, rennt, was er kann, gar nicht wie ein Rittmeister, gar nicht wie ein Brotgeber - die Sperre, da vorne ist schon die Sperre ...

Aber vielleicht hat der Kerl Bahnsteigkarten! - Dolle Schatten unter den Augen. Und das Gesicht, so dick geworden, alles Feinere ist weg. Richtig aufgeschwemmt, ja, wie von Schnaps ...

"Ich weiß, danke, ich weiß Bescheid, der Zug links - fahre hier nicht zum ersten Male! Danke!"

Gottlob, das hätten wir geschafft! Aber sicher bin ich erst, wenn der Zug fährt ... Ja, ich fürchte, die kleine Sophie ist schon früher ein bißchen scharf rangegangen mit den jungen Kerls im Dorfe, habe mal so was gehört - und Berlin ist ein schwieriges Pflaster ... Davon kann ich auch ein Lied singen ...

Gottlob, da winkt Pagel!

"Na also, meine Herren, das hätte ich ja geschafft. - Bitte, Studmann, bitte, Pagel - stellt euch ans Fenster, daß niemand reingucken kann, der Kerl ist imstande und revidiert noch die Abteile! Ich muß mich erst mal

trockenlegen, ich schwimme gradezu - so ein Dauerlauf am frühen Morgen ..."

"Du bist also unbehelligt durchgekommen?" fragt Studmann.

"Schwierig war es! Und wißt ihr, wer mir geholfen hat -? Die Tochter von meinem Leutevogt! - Sie kam grade, fährt zu ihren Eltern in Urlaub, ist hier in Berlin Zofe bei irgendeiner Gräfin ... Ihr könntet eigentlich mal aufpassen, ob sie den Zug noch schafft. Er muß doch jeden Augenblick fahren. Man könnte sie hier reinbitten. Ich wüßte gerne, wie es ihr so geht. Ein prächtiges Mädchen - wie die gleich verstanden hat, ohne ein Wort!"

"Wie sieht sie denn aus? Alt - jung? Dick - dünn? Blond - dunkel?"

"Ach, der ist Berlin nicht gut bekommen! Nee, laßt es lieber! Nachher gibt es nur Gerede, und in Neulohe ist es auch peinlich, wenn man sich dann wiedersieht. Schließlich ist sie nur die Tochter von meinem Leutevogt! Halten Sie immer darauf, Pagel: Abstand von den Leuten, keine Vertraulichkeiten, sich nicht mit ihnen einlassen! Verstanden?!"

"Jawohl, Herr Rittmeister!"

"Gottlob, wir fahren. So, setzt euch gemütlich. Brennen wir uns einen Tobak an - es ist doch herrlich, so aus dieser Dreckstadt in den Sommer hinauszufahren, was, Studmann? Was, Pagel?"

"Herrlich!" sagt Studmann - und fragt vorsichtig: "Eins ist mir noch eingefallen, Prackwitz -: weiß der Mann nicht deinen Namen?"

"Welcher Mann -?"

"Der Vermittler doch!"

"Ja, natürlich - wieso?"

"Dann wird er dir doch wohl schreiben und Ansprüche stellen - oder?"

"O verdammt! O verdammt! Daran habe ich überhaupt nicht gedacht! Das ganze Theater umsonst! Aber ich nehme den Brief nicht an, ich verweigere die Annahme, kein Mensch kann mich zwingen, den Brief anzunehmen!"

Der Rittmeister knirscht vor Wut.

"Es tut mir sehr leid, Prackwitz, aber das wird kaum was helfen ..."

"Ja, jetzt tut es dir leid, Studmann! Aber entweder hättest du mir das unten im Bahnhof sagen müssen - oder gar nicht. Jetzt, wo es zu spät ist! Die ganze Fahrt ist mir verdorben! Und es ist so schönes Wetter!"

Wütend starrt der Rittmeister aus dem Abteil, in das schöne Wetter.

Ehe Studmann noch etwas antworten kann(und es ist fraglich, ob er große Lust hat zu antworten), öffnet sich die Tür vom Seitengang. Aber

statt des Schaffners erscheint ein sehr elegantes junges Mädchen. Lächelnd legt sie die Hand an ihr Hütchen. "Befehl ausgeführt, Herr Rittmeister!"

Der Rittmeister springt auf, strahlend.

"Das ist ja großartig, Sophie, daß du den Zug doch noch geschafft hast! Ich machte mir schon Vorwürfe. - Meine Herren, dies ist Sophie Kowalewski, ich sagte Ihnen schon ... Herr von Studmann, Herr Pagel. Die Herren sind - ähemm! - meine Gäste. - So, und nun setze dich hierher, Sophie, und erzähl uns ein bißchen. Zigarette gefällig? - Nein, natürlich nicht. Sehr vernünftig, junge Mädchen sollten überhaupt nicht rauchen, ich sage das auch stets meiner Tochter. Fräulein von Kuckhoff hat wie immer recht. Weiber weiblich - Männer männlich - und das meinst du doch auch, Sophie?"

"Natürlich, Herr Rittmeister, Rauchen ist ja auch so schädlich!" Und mit einem Blick auf die beiden Zuhörer: "Kommen die Herren nur zum Wochenende oder bleiben sie länger in Neulohe -?"

ZEHNTES KAPITEL. Friede der Felder

1

Es war nicht mehr dasselbe Büro!

Es waren noch die gleichen Regale aus häßlichem, gelbgrauem Kiefernholz, es war noch derselbe, ehemals schwarze Schreibtisch mit dem grünen, tintenfleckigen Filz, es stand da noch immer der viel zu große Geldschrank mit den gelb gewordenen Goldarabesken - aber nein, es war nicht mehr dasselbe Büro!

Die Fensterscheiben blitzten; saubere, helle Vorhänge waren aufgesteckt; den Möbeln hatte Öl einen sanften Glanz gegeben; der abgetretene, splittrige Fußboden war abgehobelt, gewachst und gebohnert worden, und über den Geldschrank war der Gutsstellmacher mit seinem Farbentopf geraten: silbergrau schimmerte sein Stahlpanzer, dunkelgrau waren seine Verzierungen geworden - nein, es war nicht mehr dasselbe Büro -!

Einmal hatte sich der Rittmeister von Prackwitz Gedanken darüber gemacht, ob er denn seinen Freund, den Oberleutnant von Studmann, auf solch ein verliedertes Gutsbüro hinter Lohnlisten und Kornabrechnungen würde setzen können. Hierüber hätte sich der Rittmeister keine Gedanken zu machen brauchen: auf ein liederliches

Büro setzte sich Herr von Studmann nicht, Liederlichkeit trieb er aus, sanft, doch gnadenlos!

An einem Tag unter diesen ersten Tagen hatte Studmann einen Schlüssel vom Büro holen müssen - Frau Hartig aber stand auf einer Fensterbank und putzte die Scheiben.

Herr von Studmann blieb stehen und sah dies an. "Sie machen hier sauber?" fragte er sanft.

"Darauf können Sie sich verlassen!" sagte die Hartig kriegerisch, denn einmal täuschte sie die Sanftheit dieses Herrn, zum andern war sie böse auf ihn, weil der kleine Meier fort war. Hatte sie sich auch feierlich aller Rechte auf den ehemaligen Feldinspektor von Neulohe begeben: daß er nun fort war, verzieh sie dem Herrn dort nicht - mochte er auch wirklich sein, was die Leute erzählten, nämlich ein Detektiv!

Der vermeintliche Detektiv antwortete erst einmal gar nichts, sondern roch unbegreiflicherweise in das Wasser, mit dem sie die Scheiben wusch. Dann nahm er das Fensterleder in die Hand, was freilich kein Leder war, sondern ein bloßer Lappen, denn das gute Fensterleder rückte die Armgard von der Villa nicht für das schlechte Büro heraus. Nun bewegte er den geputzten Fensterflügel im Sonnenschein hin und her - die Hartig flog am ganzen Leibe vor Grimm über solch einen Spion, der jetzt sogar ihrer Arbeit nachschnüffelte!

Herr von Studmann war mit seiner Prüfung fertig, er hob den Blick zu der Frau, er schien gar nicht zu sehen, daß sie zornig war. Er fragte: "Sie heißen -?"

"Ich bin die Kutscherfrau", rief die Hartig zornig und putzte an ihrer Scheibe, daß sie knackte.

"Also die Kutscherfrau", sagte Studmann friedfertig. "Und wie heißt der Kutscher -?"

Nun sagte die Hartig sehr aufgeregt sehr rasch sehr vieles hintereinander, unter anderem, daß sie ihre Arbeit verstehe, daß keiner aus Berlin zu kommen brauche, um ihr arbeiten zu "lernen", daß sie vier Jahre im "Schloß" gearbeitet habe, bei der "alten Gnädigen", ehe sie den Hartig geheiratet habe, und daß die "alte Gnädige" immer mit ihr zufrieden gewesen sei, und der mache es doch wirklich keine recht ...

"Also Frau Hartig heißen Sie", sagte Herr von Studmann geduldig, denn er war ja lange genug im Hotelbetrieb tätig gewesen. "Hören Sie, Frau Hartig, dies Fensterputzen hat keinen Zweck. Man putzt keine Fenster bei Sonnenschein - sehen Sie, die Scheiben sind ja ganz streifig ..."

Er bewegte den Fensterflügel hin und her, aber Frau Hartig sah gar

nicht hin. Das ekelte sie, sie wußte auch so, daß die Fenster streifig waren, bisher war allen ihre Arbeit gut genug gewesen, und das sagte sie ihm auch!

Ungerührt antwortete Studmann: "Und in das Spülwasser nimmt man besser einen Schuß Spiritus, das macht die Scheiben hell. Aber auch dann nützt all Ihre Arbeit nichts, wenn Sie kein ordentliches Fensterleder haben, sehen Sie, dies Tuch fusselt ja, lauter Fusseln kleben an den Scheiben!"

Zuerst war die Hartig sprachlos vor Entrüstung gewesen, dann aber fragte sie Herrn von Studmann recht höhnisch, wo sie wohl Spiritus hernehmen solle, he? Sie könne keinen durch die Rippen schwitzen, und das Fensterleder gebe ihr die Armgard nicht heraus ...

"Sie werden Spiritus bekommen und auch ein Fensterleder", sagte Studmann. "Und solange man kein Leder hat, nimmt man eine alte Zeitung - sehen Sie, so "... Er griff eine alte Zeitung von einem Stoß und putzte. "Sehen Sie, so, ist sie jetzt blank -?"

"Das war das Kreisblatt!" rief die Hartig höhnisch. "Das wird gesammelt und gebunden! Da darf keine Nummer von fehlen!"

"Ach so!" sagte Studmann betroffen - in dieser ersten Zeit unterliefen ihm wie Pagel aus purer Unkenntnis häufig solche Fehler. Er entfaltete den schwärzlich-feuchten Papierkloß: "Die Nummer ist noch lesbar - ich bestelle Ersatz". Er notierte die Nummer.

Aber dieser kleine Mißgriff hatte seine Langmut doch erschöpft, er sagte kürzer: "Und jetzt gehen Sie nach Haus. Diese halbe Reinmacherei hat keinen Sinn. Kommen Sie heute abend um sechs - da werde ich Ihnen zeigen, wie ich Büro und Zimmer gesäubert wünsche."

Damit war er mit seinem Schlüssel in der Hand abgegangen. Der Hartig aber war das Gerede von diesem Berliner Affen, der ja doch in den nächsten Tagen wieder abhauen würde, ganz egal gewesen. Sie hatte auf ihre Art weiter saubergemacht, und es war ihr nicht im Traum eingefallen, zu dem befohlenen Reinmachen um sechs zu erscheinen.

Als sie dann aber doch von ihrer Neugier gegen sieben in das Beamtenhaus getrieben wurde, hatte sie zu ihrer Empörung gesehen, daß dort die schwarze Minna, dieses scheinheilige Mistvieh, herumfuhrwerkte, und als sie sachte hineingegangen war und wie nichts einen Eimer und ein Scheuertuch ergriffen hatte, hatte der Detektiv sich nur umgedreht und auf seine elende, sachte Art gesagt. "Sie sind abgelöst, Frau Hartig. Sie machen hier nicht mehr sauber."

Und ehe sie noch etwas antworten konnte, hatte er sich umgedreht,

der Stellmacher und sein Lehrjunge hatten ihre Hobel angesetzt, und schrapp, schrapp, schnurr! hatten die Hobel losgearbeitet - wie Hagar verstoßen in der Wüste stand die Hartig. Keine Tränen bei der alten Gnädigen, kein Schluchzen bei der jungen Gnädigen, kein Bitten beim Herrn Rittmeister hatten verfangen, es war alles plötzlich anders geworden, eine neue Luft wehte ... "Ja, wenn Herr von Studmann dich nicht haben will, so wirst du deine Arbeit schon nicht ordentlich gemacht haben, Frieda ... Da reden wir nicht rein, und da können wir dir nicht helfen "... Und nicht einmal die Nachricht von dem verdorbenen Kreisblatt, nicht einmal die Botschaft, daß Herr von Studmann nach Mitternacht die Amanda über eine Stunde auf dem Büro gehabt habe - nichts, was sonst so gerne gehört wurde, verfing. "Nein, nun geh nach Haus, Frieda! Du mußt nicht so klatschen - Klatschen ist eine sehr häßliche Eigenschaft. Gewöhne dir das ab, Hartig."

So hatte sie gehen müssen, zu ihrem brummelnden, mit ihr sehr unzufriedenen Manne, und sie hatte nicht einmal mit ihrer Voraussage recht behalten, daß am Sonnabend, nach der Löhnung all der vielen Leute, das Büro wieder wie ein Schweinestall aussehen würde. Das Büro sah auch nach der Löhnung makellos aus, denn dieser Berliner Affe hatte einen Tisch und zwei Stühle vor die Tür ins Grüne gesetzt - und da löhnte er, und die Leute, die ja immer auf alles Neue reinfielen, hatten das sogar großartig gefunden.

"Wie macht er's denn aber, wenn's regnet?! Und wenn's Winter ist?!" hatte die Hartig geschrien.

"Sei man still, Frieda", hatten die Leute gesagt. "Du bist bloß neidisch, der ist zehnmal schlauer als du. Den Negermeier hat er schon ausgetrieben, und wenn du zuviel schreist, wird er dich auch noch austreiben!"

"Die Hühnermamsell hat er um Mitternacht aufs Büro geholt!" rief sie zornig.

"Du möchtest sie wohl wieder ausstechen wie beim kleinen Meier?" hatten die Leute gelacht. "Ach, Hartig, bist du dumm - das ist doch ein wirklich feiner Herr, genau wie der Rittmeister, und der denkt nicht an dich und nicht an die Amanda. Sei du bloß stille!"

2

Und nun war es Sonntag geworden, nach einer ersten arbeitsreichen Woche Sonntagnachmittag, und auf dem so frisch gereinigten, spiegelnden Büro saßen Herr von Studmann und der junge Pagel und

rauchten. Herr von Studmann rauchte eine schöne, sanfte Havanna mit Sumatradeckblatt aus der Fest- und Feiertagskiste des Rittmeisters, denn sie waren beide "drüben" zum Essen geladen gewesen; der junge Pagel aber rauchte schon wieder von seinen eigenen Zigaretten.

Ja, die beiden Herren waren, vielbeachtet von den Neuloher Gutsleuten, in der Villa zum Mittagessen gewesen, nachdem sie vorher schon zweimal dort zu Abend gegessen hatten. Dies war noch nie bei Beamten vorgekommen und gab den Gerüchten über die ungewöhnliche Sendung der beiden Berliner neue Nahrung. Und der ältere von den beiden Herren, der mit dem etwas eiförmigen Kopf und den braunen Augen, hatte ja sogar bis zu dem nächtlichen Verschwinden des kleinen Meier in der Villa gewohnt! Dann freilich war er sofort ins Beamtenhaus gezogen - allerdings gegen den Willen des Rittmeisters, der ihn, wie man von der Köchin Armgard erfuhr, förmlich gebeten hatte, drüben zu bleiben. Aber nein, der Herr hatte gesagt: "Verzeih, Prackwitz, wo meine Arbeit ist, da will ich auch wohnen. Du siehst mich ja, sooft du nur willst!"(Sie nannten sich du!) Und nun wohnte der junge Herr, der Herr Pagel, im Inspektorenzimmer, der ältere Herr aber in dem Giebelzimmer - und was sie hier für eine Arbeit hatten, das würde man auch noch herausbekommen - von der Landwirtschaft verstanden sie nichts, soviel war sicher!

Von Studmann sitzt also rauchend am Schreibtisch und blättert in den Deputatlisten. Er tut es aber nur oberflächlich, denn einmal ist es warm, und dann war das Mittagessen ausgezeichnet. Man ißt hier, wo man so ausgiebig an die frische Luft geht, viel zuviel. Studmann klappt also seine Kornabrechnungen energisch zu und sagt zu Pagel, der am Fenster sitzt und mit halbgeschlossenen Augen in den sonnenflimmernden geheimrätlichen Park blinzelt: "Nun, was machen wir also? Hauen wir uns ein bißchen auf unsere Falle? Gott, bin ich müde!"

Pagel muß ebenso müde sein, denn er macht nicht einmal den Mund auf. Aber er deutet gegen die Decke, von der, umsummt und umsurrt von Fliegen, ein Fliegenfänger hängt.

Studmann folgt mit den Augen dem weisenden Finger, er sieht einen Augenblick nachdenklich dem freudigen Sommertanz dieser Plagegeister zu und sagt dann: "Sie haben recht, die Biester würden uns nicht einen Augenblick schlafen lassen. Aber was dann?"

"Ich bin noch gar nicht richtig im Walde gewesen", sagt Pagel. "Wenn wir uns den einmal ansähen? Es sollen da auch Teiche sein, Krebsteiche, eiskalt. Wir könnten unsere Badeanzüge mitnehmen."

"Großartig!" stimmt Herr von Studmann zu, und fünf Minuten später

treten die beiden mit ihren Badepäckchen aus dem Beamtenhaus.

Der erste, den sie treffen, ist der alte Herr, der Geheimrat Horst-Heinz von Teschow. Er stapft einher in grünem Loden, den Eichenstock in der Hand, der listige Greis, und als sie, die ihm nur kurz vorgestellt sind, mit flüchtigem Gruß vorüber wollen, ruft er sie an: "Aber das ist ja großartig, meine Herren, daß ich Sie mal treffe! Ich überlege, ich denk nach, ich grübele: Sind die Herren schon wieder abgefahren? Haben sie genug vom Lande und der Landwirtschaft? Ich sehe sie doch seit Tagen nicht mehr -!"

Wie es sich gehört, lächeln die beiden zu diesen geheimrätlichen Scherzen, Herr von Studmann recht kühl, aber Pagel ehrlich vergnügt über diesen ländlichen Rauschebart, rot wie ein neu angemalter Nußknacker.

"Und nun wollen die Herren also einen kleinen Sonntagnachmittagsbummel machen, zur Erfrischung? Die Dorfschönheiten gehen dort lang, junger Mann - Herrn von Tutmann wage ich nicht darauf aufmerksam zu machen ..."

"Studmann", verbesserte der ehemalige Oberleutnant.

"Ja, natürlich, entschuldigen Sie bloß, Verehrtester, ich weiß natürlich. Ist mir nur so rausgerutscht, weil die Leute hier alle so von Ihnen sagen. ›Tut du man‹, sagte gestern noch einer von den Kutschern, den Sie wohl wegen seiner Fahrerei angehaucht hatten. ›Hier haben schon viele getutet.‹"

"Gestern", sagte Herr von Studmann.

"Wieso gestern? Oder war es nicht gestern? Natürlich war es gestern - mein Köpfchen ist noch in Ordnung, Herr von Studmann."

"Weil Herr Geheimrat doch schon seit Tagen grübeln, ob wir nicht schon wieder weg sind", sagt Studmann und nimmt mit einem Lächeln seiner Bemerkung etwas von ihrer Schärfe.

Pagel platzt raus.

Der alte Herr steht einen Augenblick verblüfft, dann lacht auch er. Lachend haut er Pagel auf die Schulter, und da er kräftig hauen kann, tut er es auch. Pagel ist in der Versuchung, zurückzuhauen, aber er kennt den fröhlichen Alten noch nicht so gut und läßt es lieber.

"Großartig!" schreit der Geheimrat, "da hat er mich drangekriegt! Schlau, der Herr von Studmann, kein Nachtwächter mit 'ner Tute!" Unvermittelt wird er ernst, und dies plötzliche Ernstwerden überzeugt Studmann, daß dies alles nur ein Theater ist, ihnen beiden aus irgendwelchen vorläufig noch unerklärlichen Gründen vorgespielt. Ich

fange dich noch öfter, denkt Studmann kampflustig.

"Hätten die Herren wohl einen Augenblick Zeit?" fragt der alte Herr. "Ich hab da einen Brief für meinen Schwiegersohn liegen, schon seit ein paar Tagen; bin nicht dazu gekommen, ihn rüberzuschicken; war immer so viel los die letzten Tage ... Wenn Sie ihn im Vorbeigehen in der Villa abgeben wollten -?"

"Ich kann ja "..., fängt Pagel, den Herr von Teschow hauptsächlich angesehen hat, an.

Aber Studmann unterbricht ihn: "Gewiß, Herr Geheimrat. Wir werden dem Diener in der Villa Bescheid sagen, daß er ihn abholt."

"Ausgezeichnet! Prächtig!" ruft der Neuloher Herr, aber sein Ton hat jetzt nichts mehr von Bonhomie. "Übrigens fällt mir ein, mein alter Elias kann sich ruhig einmal die Beine vertreten. Ich schicke ihn ..."

Er nickt den beiden Herren zu und stampft weiter, durch die Büsche dem Schloß zu.

"Donnerwetter, Studmann", sagt Pagel, ein wenig atemlos. "Mit dem haben Sie es aber verschüttet! Warum so kiebig zu dem fröhlichen Greis -?"

"Ich gebe Ihnen einmal den Pachtvertrag zu lesen", sagt Herr von Studmann und fährt mit der Hand über die schwitzende Stirn, "den dieser fröhliche Greis seinen Schwiegersohn hat unterschreiben lassen. Nur ein geschäftlich völlig ahnungsloses Kind wie der Rittmeister hat unter so was seinen Namen setzen können. Das grenzt an den Schandvertrag von Versailles! Auf Leben und Sterben ausgeliefert!"

"Aber er macht doch einen ganz biederen Eindruck, der fröhliche Alte!"

"Trauen Sie ihm nicht! Erzählen Sie ihm nie etwas! Tun Sie nichts von dem, was er Ihnen sagt! Wir sind Beamte des Rittmeisters - der Alte geht uns nichts an."

"Ach, Studmann, Sie sind ja ein Pessimist - ich bin überzeugt, der Alte ist ein ganz fröhlicher Nußknacker."

"Und ich bin überzeugt, daß es sogar mit dem Brief, den wir abgeben sollten, seine eigene Bewandtnis hat. Nun, wir werden ja sehen. Also gehen wir."

Sie gingen.

Unterdes stand der alte Herr in seinem Arbeitszimmer im Schloß und drehte an der Kurbel des Telefons, als drehe er die Kurbel einer Kaffeemühle. Er rief den Nebenanschluß Försterei. Schließlich hörte er die quakige Stimme des Försters, der sich meldete.

"Sitzen Sie auf Ihren Ohren, Kniebusch?! Sie können wohl nur noch schlafen? Na, warten Sie man, ich werde schon dafür sorgen, daß Sie ruhen können, Kniebusch - aber ohne Ruhegeld von mir! - Hören Sie überhaupt, Kniebusch?"

"Jawohl, Herr Geheimrat!"

"Na also, Jott sei's jetrommelt und jepfiffen, Sie hören noch. Dann hören Sie jetzt mal zu! Ich habe hier eben die beiden frisch importierten Berliner Tagediebe von meinem Herrn Schwiegersohn auf dem Hof herumlungern sehen, mit Badeanzug unterm Arm. Die wollen sicher in unsere Forst, in den Krebsteichen baden. Machen Sie sich sofort auf Ihre Sohlen und pirschen sich sachte an, und wenn die Herren im Wasser sind, aber nicht eher, machen Sie ihnen begreiflich, daß das meine Krebsteiche sind und daß sie einen Dreck darin zu baden haben! Meinethalben beschlagnahmen Sie die Kleider, das gibt ein Gelächter; ich vertret das, Kniebusch, ich schütze Sie ..."

"Aber, Herr Geheimrat, ich kann doch nicht ... Der eine Herr ist Oberleutnant und duzt sich mit dem Herrn Rittmeister ..."

"Na, wat denn, Kniebusch, wat denn?! Was hat denn das damit zu tun, daß er in meinen Krebsteichen badet? Ich sage Ihnen, machen Sie das ordentlich, und von sich aus - unterstehen Sie sich nicht zu sagen, daß ich Sie geschickt habe! Sonst erleben Sie was - nee, sonst erleben Sie gar nichts mehr ..."

"Jawohl, Herr Geheimrat ..."

"Und noch was, Kniebusch! He, Mensch, was haben Sie es so eilig? Wenn Ihr Chef mit Ihnen redet, dann warten Sie ab, bis Sie entlassen sind, aber Sie können es wohl gar nicht abwarten mit Ihrer Entlassung. Hören Sie, was ich sage, Kniebusch -?"

"Jawohl, Herr Geheimrat ..."

"Also gestern hat der Untersuchungsrichter aus Frankfurt angerufen - der Bäumer hat über vierzig Fieber und liegt noch immer besinnungslos. Und es wäre eine Folge von Ihrer rohen Behandlung ..."

"Aber ich konnte doch nicht, Herr Geheimrat ..."

"Natürlich konnten Sie, Mensch! Sie hätten laufen müssen, Umschlag machen, Arzt holen, Krankenschwester, meinethalben noch die Hebamme Müllern - so 'n armer Mensch, ist ja bloß ein armer guter Wilderer, wenn der auf Sie schießt, ist es doch nur, weil Sie schlechter Mensch ihm keinen Rehbraten gönnen - nicht wahr? Das kann doch so 'n Untersuchungsrichter ihm nicht übelnehmen, was, ist doch nur ein armer Mitmensch, was?"

"Ach, Herr Geheimrat, was soll ich denn bloß tun -?"

"Gar nichts soll'n Se tun. Aber ich halt Sie, Kniebusch, ich habe dem Genossen Untersuchungsrichter schon meine Meinung gegeigt. Aber nun machen Sie mir diese Sache auch ordentlich! Murr, Kniebusch, ruckzuck, Baden verboten, Pfändung der Kleider üblich ..."

Der Geheimrat hängte ab und grinste. Er holte sich eine Zigarre und schenkte sich einen Kognak ein. Nach getaner Arbeit setzte er sich in seinen Ohrensessel zu einem Nickerchen.

Warum der Schulze Haase bloß so ungünstig über Kniebusch ans Gericht geschrieben hat? schoß es ihm durch den Kopf. Das paßt mir nicht. Dem will ich auch noch zeigen, wo der Hase im Pfeffer liegt. Der hat zu berichten, wie ich will. Aber da stinkt was - und was da stinkt, das bekomme ich auch noch raus, und wenn's einen ganzen Tag dauern soll!

3

"Da gehen sie", sagten die Leute im Dorf und sahen den "beiden Berliner Detektiven" nach. "Wie dumm so was doch unsereinen hält, daß wir ihnen glauben sollen, sie sind Landwirte!" - "Hast du die Hände von dem Jungen gesehen, Vadder? Der hat noch nie 'nen Forkenstiel angepackt!" - "Aber gestern beim Roggen hat er ganz tüchtig mitgegabelt!" - "Ach, das ist nur Verstellung! Den kleinen Meier haben sie schon fortgeschafft, gleich nach Meienburg soll er gekommen sein!" - "Aber warum sind sie denn noch immer hier?" - "Das weißt du nicht, wer der nächste ist?" - "Der nächste ist der Rittmeister!" - "Der Rittmeister? Du spinnst ja! Der nächste ist der Förster Kniebusch!" - "Grade der Rittmeister - jetzt soll doch wieder ein Putsch kommen, und wenn wo Waffen vergraben sind, dann ist das hier bei uns!" - "Aber der mit dem Eierkopf nennt den Rittmeister ja du!" - "Das ist ja grade ihre Schlauheit, das hat der alte Geheimrat sich ausgedacht, wie sie uns mit der Landwirtschaft verblenden, so verblenden sie den Rittmeister mit dem Du!"

"Da gehen sie!" sagte auch Amanda Backs und sah den beiden nach. Aber die hatten sie nicht gesehen. "Was sagst du denn zu ihnen, Minna?"

"Das kann ich noch nicht wissen, Amanda", sagte die schwarze Minna vorsichtig. "Aber vom Reinmachen versteht der Große alles! Wie der ein Bett macht, da möchte man sich gleich drin wälzen ..."

"Und der Junge -?"

"Du siehst natürlich nur den Jungen, Amanda", sagte die schwarze

Minna mit frommem Augenverdrehen. "Denkst du denn gar nicht mehr an deinen Meier -? Wo du doch sogar in der Abendandacht für ihn aufgestanden bist, Amanda, und hast mit dem Finger auf mich gezeigt! Er hat ihn dir doch weggebracht!"

"Ja, Gott sei Dank, das hat er!" sagte Amanda. Aber es klang sehr trübsinnig. "Was machst du heute nachmittag?"

Die schwarze Minna war plötzlich verdrossen. "Was soll ich machen? Ich muß zu meinen Blagen. Die stecken mir sicher noch mal das Dach überm Kopf an, jetzt, wo ich den halben Tag weg bin mit dem Reinmachen auf dem Büro und in den Zimmern!"

"Sei froh, daß du deine Blagen hast", sagte Amanda Backs. "Manchmal denk ich, es wär auch für mich das beste, ich hätte eines von ihm."

Die schwarze Minna war empört: "Pfui, wie du so was sagen kannst, Amanda, du als unverheiratetes Mädchen! Und dabei guckst du schon wieder 'nem andern jungen Mann nach! Ich verstehe ja, daß man sündigt, aber man muß doch seine Sünden bereuen, Amanda -!"

"Ach, halt den Sabbel!" sagte Amanda ärgerlich und ging fort, auch den Weg nach dem Walde entlang, wie die schwarze Minna mit tiefer Befriedigung sah.

"Da gehen sie", sagte auch Jutta von Kuckhoff zu ihrer Freundin Belinde von Teschow. "Herr von Teschow schimpft ja - aber ich finde doch, namentlich der ältere sieht wirklich vornehm aus. Was ist das für ein Adel, die Studmanns - alt oder jung? Weißt du es, Belinde?"

Frau von Teschow spähte eifrig aus dem Fenster nach den sich entfernenden Gestalten. "Sie tragen Päckchen unter dem Arm - es ist wohl Badezeug. Heute vormittag haben sie für den Gottesdienst keine Zeit gehabt, aber zum Baden haben sie Zeit. Und du redest von vornehm, Jutta!"

"Recht hast du, Belinde! Es muß ganz junger Adel sein, unsere Ahnen haben sicher nie gebadet. Ich habe mal bei den Quitzows in Schloß Friesack eine alte Waschschüssel gesehen - so was stellst du heute deinem Kanarienvogel in sein Bauer."

"Horst-Heinz sagt, er kann den Pachtvertrag sofort lösen, jetzt ist kein einziger Landwirt mehr auf dem Hof!"

"Er will wohl den kleinen Meier wiederhaben? Amandas Ringe um die Augen werden immer dunkler."

"Da geht sie, denselben Weg!"

"Wer?"

"Die Amanda! Aber wenn sich jetzt wieder etwas anspinnt - tüchtig hin, tüchtig her -, muß sie weg!"

"Und was ist das mit Fräulein Kowalewski?" fragte Fräulein von Kuckhoff träumerisch. "Wo ein Aas ist, sammeln sich die Fliegen!"

"Im selben Abteil sollen sie gefahren sein", antwortete Frau Belinde eifrig. "Und wenn sie nachher auch beim Kutscher auf dem Bock gesessen hat, sie sollen ganz vertraut miteinander gesprochen haben! Und die Eltern Kowalewski haben am Tage vorher noch nichts von ihrem Besuch gewußt - plötzlich kam ein Telegramm - und, Jutta, als dies Telegramm abgesandt wurde, war mein Schwiegersohn schon in der Stadt."

"Sie soll ja angezogen sein wie eine Kokotte! Büstenhalter aus lauter Spitzen ..."

"Büstenhalter ...! Sage nur dies unanständige Wort nicht, Jutta! Als ich jung war, trugen solche Mädchen Korsetts aus Drillich, abwechselnd eine Stange aus Fischbein und eine Stange aus Stahl - das war wie ein Panzer, Jutta. Panzer, das ist sittlich - aber Spitzen, das ist unsittlich ..."

"Da gehen sie", sagte auch der Rittmeister, der mit Frau und Tochter beim Kaffee auf der Veranda saß. "Gut sehen sie aus. Ganz was anderes als diese Mißgeburt, der Meier!"

"Sie gehen zum Baden", sagte Frau von Prackwitz.

"Sie werden schon rechtzeitig zum Füttern zurück sein", besänftigte der Rittmeister eine Besorgnis, die er allein hegte. "Studmann ist die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit selbst."

"Ach, Mama!" rief Weio und brach ab.

"Nun -?" fragte Frau von Prackwitz recht kühl, "wünschest du etwas, Violet -?!!"

"Ich dachte nur "... Weio war ziemlich kleinlaut. "Ich hätte auch ganz gerne mal wieder gebadet ..."

"Du weißt, Violet, daß du Stubenarrest hast, bis du mir und Papa erzählt hast, wer der fremde Herr war, mit dem du in der Nacht über den Hof gegangen bist."

"Aber Mama!" rief Weio beinahe weinend. "Ich habe dir schon hundertmal gesagt, daß es gar kein fremder Herr war. Es war Kniebusch! Räder hat es dir doch auch gesagt!"

"Du lügst, und Räder lügt auch. Du kommst nicht eher aus dem Haus, bis du mir die Wahrheit gesagt hast, und der brave Hubert kann sich auf eine sehr plötzliche Entlassung gefaßt machen, wenn er mich weiter so

anlügt. Es ist eine Unverschämtheit von euch, mich derart zu belügen -!"

Frau von Prackwitz war sehr erregt, ihre etwas volle Brust atmete hastig, ihre Augen schossen scharfe, zornige Blicke.

"Aber wenn es doch wirklich der Förster war, Mama - wirklich und wahrhaftig! Ich kann dir doch nicht vorlügen, daß es jemand anders war, Mama! Wer soll es denn gewesen sein -?!"

"Es ist eine Unverschämtheit -!" rief Frau von Prackwitz atemlos und zitterte vor Zorn am ganzen Leibe. Doch sie nahm sich rasch zusammen. "Du gehst auf dein Zimmer, Violet, und schreibst unsere gestrige französische Lektüre zehnmal ab und ohne einen Fehler!"

"Und wenn ich sie hundertmal abschreibe, Mama!" sagte Weio unter der Tür, jetzt auch weiß vor Zorn. "Es war doch der Förster!"

Die Tür klappte, Weio war fort.

Der Rittmeister hatte schweigend diesen Streit angehört, nur mit Augenschließen und Gesichtverziehen hatte er zu verstehen gegeben, wie peinlich er ihm war. Ein Streit, den andere hatten, war ihm immer sehr peinlich. Aber er wußte aus mancher Erfahrung, daß seine Frau, wenn sie wirklich einmal zornig war, was selten vorkam, höchst behutsam behandelt werden mußte. "Faßt du die Weio nicht ein wenig hart an?" fragte er darum nur vorsichtig. "Es könnte doch wirklich der Förster gewesen sein? Die Hartig ist bloß ein Klatschweib ..."

"Es war nicht der Förster! Er sagt jetzt, er war es, aber er kann mir nicht erzählen, warum sie statt in den Wald ins Inspektorenhaus gegangen sind."

"Hubert sagt, sie haben nachgesehen, ob dort noch Kugelpatronen für Weio waren ..."

"Ach, Unsinn! - Entschuldige, Achim, aber laß dich doch nicht dumm machen von den beiden! Räder weiß so gut wie Weio, daß die Kugelpatronen in deinem Gewehrschrank stehen ..."

"Sie sagen, sie haben dich nicht stören wollen ..."

"Ach was, stören! Ich habe bis nach zwölf Licht gehabt - und Weio ist noch nie so rücksichtsvoll gewesen. Wenn sie einen Pickel im Nacken hat, weckt sie mich nachts um zwei Uhr und läßt sich einreiben ... Alles dumme Lügen!"

"Aber, wirklich, Eva, wer könnte es denn gewesen sein? Ein Fremder, den die Hartig nicht mal kennt? Und dann nachts mit Weio ins Inspektorenhaus?!"

"Siehst du, Achim, das ist das Schlimmste, darum kann ich nicht schlafen. Wenn es irgendein Junge hier aus der Gegend wäre, irgend jemand, den wir kennen, den Weio kennt, ein Bauernjunge oder so was - der würde Weio nie gefährlich werden. Das wäre eine harmlose Liebelei, die könnte man sofort abstellen ... Aber es ist ein Fremder, ein Mann, von dem wir keine Ahnung haben, ein ganz Unbekannter - und das ist so unheimlich ... Mit dem geht sie nachts ins Inspektorenhaus, mit dem ist sie die Nacht allein zusammen. Denn Räder ist im Bett gewesen, das ist nicht gelogen. Das hat mir Armgard bestätigt, die nie für Hubert lügen würde ..."

"Glaubst du denn wirklich, daß etwas geschehen sein könnte -? Ich würde den Kerl ..."

"Ja, du kennst ihn aber nicht, du weißt nicht, wer es ist! Wer kann es nur sein, daß sie alle Angst haben, von ihm zu reden, daß sie alle verzweifelt für ihn lügen: der Förster, die Backs, Räder - und Weio. Ich kann es nicht erraten!"

"Aber, Eva, ich bin überzeugt, du machst dir umsonst solche Sorgen. Weio ist noch völlig ein Kind!"

"Das habe ich auch gedacht, Achim - aber jetzt sind mir die Augen aufgegangen! Sie ist gar kein Kind mehr, aber sie spielt Kind, ganz frech und wie eine, die sehr genau Bescheid weiß ..."

"Aber, Eva, du übertreibst ..."

"Nein, leider nicht. So klug ist sie ja nun doch nicht, einmal verrät sie sich. Es ist ja ekelhaft, Achim, wenn man seiner eigenen Tochter nachspionieren muß ... Aber dieser rätselhafte Mann, ich bin in einer Todesangst, wenn ihr was passiert ist -?! Ich habe mich nicht bezwingen können, ich bin heimlich auf ihr Zimmer gegangen, ich habe alles abgesucht, ob vielleicht irgendwo ein Brief herumliegt, irgendein Zettel, ein Bild von ihm - Weio ist ja so unordentlich ..."

Sie brach ab, mit trockenen, brennenden Augen sah sie vor sich hin. Der Rittmeister stand mit seinem weißen Haar und dem braunen Gesicht am Fenster; er tat, was alle Ehemänner tun, wenn sie über einen Gefühlsausbruch ihrer Ehefrauen verlegen sind: er trommelte leise mit den Fingern gegen die Scheiben.

"Ich habe gedacht, sie hat nichts gemerkt. Ich schämte mich ja auch, ich habe aufgepaßt, daß alles wieder so lag wie vorher ... Aber gestern kommt sie ganz leise auf ihr Zimmer, wie ich gerade ihr Album in der Hand habe, ich war richtig verlegen ..."

"Und -?" fragte der Rittmeister, nun doch gespannt.

"Und sie sagt ganz krötig zu mir: ›Nein, Mama, ein Tagebuch führe ich auch nicht ...‹"

"Aber ich verstehe nicht "..., sagte der Rittmeister verwirrt.

"Ach, Achim, das zeigt mir doch, daß sie genau verstanden hat, wonach ich gesucht habe, daß sie sich über meine Sucherei lustig gemacht hat. Sie war ja richtig stolz auf ihre Schlauheit und Vorsicht! - Und das ist dasselbe Mädchen, Achim, das sich bei dir noch vor drei Wochen nach dem Storch erkundigt hat! Du hast es mir selber erzählt! Unerfahren? Abgefeimt ist sie! Verdorben ist sie von dieser verfluchten Zeit!"

Der Rittmeister stand jetzt ganz anders da, gespannt. Das Braun seines Gesichtes sah grau aus, alles Blut war zu seinem Herzen gelaufen. Er machte einen zornigen Schritt zur Klingel. "Der Räder soll kommen!" murmelte er. "Ich schlage dem Bengel alle Knochen im Leibe entzwei, wenn er nicht gesteht ..."

Sie trat ihm in den Weg. "Achim!" bat sie. "Nimm dich zusammen! Brülle bitte nicht, schlage nicht - damit verdirbst du alles. Ich werde es schon rausbekommen! Ich sage dir doch, sie haben alle eine Todesangst vor ihm, es ist irgendein Geheimnis, von dem wir noch nichts wissen. Aber ich erfahre es, und dann sollst du handeln ..."

Sie drängte ihn gegen einen Stuhl, er setzte sich. Er sagte klagend: "Und ich habe gedacht, sie wäre noch ein Kind ..."

"Irgendwie", sagte sie grübelnd, auch um ihn abzulenken, "irgendwie hängt alles mit dem kleinen Inspektor Meier zusammen. Er muß etwas wissen. Es war sicher sehr klug von Herrn Studmann, ihn so wortlos abzuschieben, aber besser wäre es jetzt, wir wüßten, wo er ist. Von ihm würde man am ehesten etwas erfahren ... Du weißt nicht, was Meier vorhatte -?"

"Nein - nichts, er hat gemacht, daß er fortkam, er hatte plötzlich Angst "... Der Rittmeister belebte sich, eine Erinnerung kam ihm. "Aber das ist ja wieder dasselbe, was du sagst ... Der Meier hatte ja auch eine Todesangst ... Fortgeschickt, sagst du, durch Studmann? - Nein, er hat nicht bleiben wollen. Er hat gebettelt, daß ihn Studmann fortließ, daß er ein bißchen Reisegeld bekam ... Studmann hat es ihm dann gegeben ..."

"Aber wieso hatte Meier plötzlich solche Angst? Er ist doch mitten in der Nacht fortgelaufen?"

"Mit der Backs! Die Backs hat ihn zur Bahn gebracht! Die Sache ist so gewesen, warte, Studmann hat es mir erzählt, aber es ging in den ersten Tagen alles so durcheinander, ich habe kaum darauf geachtet, und, offen

gestanden, ich war froh, daß Meier fort war, ich habe ihn nie ausstehen können ..."

"Also in der Nacht "..., half Frau Eva von Prackwitz ein.

"Richtig! Also in der Nacht saßen Pagel und Studmann noch auf dem Büro, sahen sich die Bücher an, Studmann ist ja die Gründlichkeit selbst. Nebenan schlief Meier, hatte am Abend noch mir und Studmann die Kasse übergeben, die war in Ordnung, hatte tadellos gestimmt ... Er muß schon geschlafen haben, der Meier ... Plötzlich hören die beiden ihn schreien, schrecklich, jämmerlich, in Todesangst schreiend: ›Hilfe! Hilfe! Er bringt mich um!‹ - Sie springen auf, rennen in Meiers Zimmer - der sitzt im Bett, käsebleich, stammelt nur: ›Helfen Sie mir doch, er will mich wieder totschießen ...‹ - ›Wer denn?‹ fragt Studmann. - ›Da, am Fenster, ich habe ihn deutlich gehört. Er klopfte, und wenn ich komme, schießt er!‹ - Studmann macht das Fenster auf, es war zu, sieht hinaus: nichts. - Aber Meier bleibt dabei, er war da, er will ihn totschießen ..."

"Aber wer?" fragt die Frau voller Spannung.

"Ja", sagt der Rittmeister und reibt sich nachdenklich die Nase. "Wer? - Nun höre. Meier bleibt so fest dabei, daß jemand am Fenster gewesen ist, ihn totzuschießen, daß Studmann schließlich Pagel rausschickt, um nachzusehen. Unterdes beruhigt er Meier ein bißchen. Der fängt an, sich anzuziehen. Pagel kommt wieder mit einem Mädchen, das er in den Büschen gefunden hat, der Backs ..."

"Ach so", sagt die Frau enttäuscht.

"Die Backs gibt ohne weiteres zu, gegen die Scheiben geklopft zu haben, sie müsse ihren Freund unbedingt sprechen. Als Studmann merkte, es war irgendeine einfache Liebesgeschichte, hat er die beiden allein gelassen und ist mit Pagel wieder auf das Büro gegangen ..."

"Hätte er da ernstlich gefragt, vielleicht hätte er alles erfahren."

"Vielleicht. - Nach einer Weile ist Meier mit der Backs auf das Büro gekommen und hat gesagt, er müsse weg, gleich, auf der Stelle. Studmann hat nicht gewollt, Studmann ist ja die Genauigkeit selbst, das ginge nicht ohne Kündigung, er müsse mich erst fragen. Meier ist ganz still und bescheiden geblieben(sonst gar nicht seine Art), er müsse eben weg, aber er hätte gerne sein Restgehalt als Reisegeld ... Schließlich hat die Backs sich auch aufs Bitten verlegt, Meier müsse weg, er wäre ihr Freund nicht mehr, aber er müsse weg, sonst geschehe ein Unglück ... Und Studmann hat nicht weiter fragen mögen, er hat an eine Liebes- und Eifersuchtsgeschichte geglaubt, hat schließlich, weil er wußte, ich war Meier gerne los, eingewilligt, und die beiden sind abmarschiert ..."

"In diesem Falle hat sich Studmann nicht sehr klug benommen. Eifersucht, die durch Fenster schießt, gibt es hier bei uns nicht. Und, wenn ich dich recht verstanden habe, hat Meier gerufen: ›Er will mich wieder totschießen‹ -?"

"Ja, so hat Studmann es mir erzählt ..."

"Wieder totschießen - der Unbekannte hat es schon einmal versucht. Und dies geschah nach der Nacht, in der Weio mit einem unbekannten Mann ins Inspektorenhaus ging ..."

Es war ganz still. Keines von den beiden Eheleuten wagte ein Wort von dem laut werden zu lassen, was es fürchtete. Als könne es durch Sprechen Gestalt annehmen, wahr werden ...

Langsam sah dann der Rittmeister hoch, sah in die schwimmenden Augen der Frau. "Wir haben immer Unglück, Eva. Uns gelingt nichts ..."

"Verlier den Mut nicht, Achim ... Vorläufig sind alles nur Befürchtungen. Laß mich machen, ich erfahre es schon. Kümmre du dich um gar nichts. Ich verspreche dir, ich erzähle dir alles, auch wenn es das Schlimmste ist, ich werde dich doch nicht belügen ..."

"Gut", sagte er. "Ich will ruhig warten". Und nach kurzem Überlegen: "Wenn du Studmann einweihen würdest -? Studmann ist die Diskretion selbst."

"Vielleicht", sagte sie. "Ich muß einmal sehen. Je weniger von der Sache etwas wissen, um so besser. Aber vielleicht brauche ich ihn ..."

Er dehnte sich etwas. "Ach, Eva", sagte er, bereits sehr erleichtert(es war ihm schon so, als hätte er nur böse geträumt), "du weißt gar nicht, wie glücklich ich bin, einen wirklichen Freund hier zu haben!"

"Doch, doch", sagte sie ernst. "Ich weiß schon. Ich dachte ja auch "... Aber sie brach ab. Sie hatte sagen wollen, daß sie auch geglaubt hatte, in der Tochter eine Freundin zu haben, die sie nun verloren hatte - aber sie sagte es nicht. "Entschuldige mich einen Augenblick", meinte sie statt dessen. "Ich will nur mal nach Violet sehen."

"Sei nicht hart mit ihr", bat er. "Das Kind wird schon ganz blaß."

4

Da gehen sie nun also, die beiden. Gehen den Weg zum Walde! Es ist ein richtiger Landweg, der von Städtern nichts weiß(und nichts lieben die Städter mehr, als was von ihnen nichts wissen will) - er führt in den Wald, der Weg, und in dem Wald weit drinnen liegen die Krebsteiche, tiefe, kühle, klare Teiche - oh, herrlich!

"Haben Sie eben den Rittmeister mit Familie auf der Veranda gesehen?" fragt Pagel. "Wie finden Sie eigentlich das gnädige Fräulein?"

"Und Sie -?" fragt Studmann lächelnd dagegen.

"Sehr jung", erklärt Pagel. "Ich weiß nicht, Studmann, ich muß mich doch gewaltig verändert haben. Hier das Fräulein von Prackwitz, und dann die Sophie, die mit uns herfuhr, und die Amanda Backs - was hätte mir das noch vor einem Jahr für Appetit und Laune gemacht! Aber jetzt -? Ich glaube, ich werde schon alt ..."

"Sie haben bei Ihrer Aufzählung die schwarze Minna, die das Büro säubert, vergessen", sagt Studmann ernsthaft.

"Ach, Studmann!" antwortet Pagel halb ärgerlich, halb lachend. "Nein, im Ernst: ich habe da so einen Maßstab in mir, und wenn ich den anwende, kommen mir alle Mädchen zu jung, zu dumm, zu gewöhnlich - ich weiß nicht, aber immer irgend etwas ›zu‹ vor."

"Pagel!" sagt Studmann und bleibt stehen. Er hebt den Arm und zeigt feierlich über die Gehöfte von Neulohe fort. "Pagel! Dort ist der Westen! Dort liegt Berlin! Und dort bleibt es liegen. Ich erkläre Ihnen hiermit, ich will nichts von Berlin sehen oder hören! Ich lebe in Neulohe! Keine Berliner Erinnerungen, keine Geschichten aus Berlin, nichts von den Vorzügen Berliner Mädchen!" Ernster: "Wirklich, Pagel, erzählen Sie nichts. Es ist ja alles noch viel zu früh. Sie würden's später nur bedauern, Sie hätten sich irgendwie mir gegenüber festgelegt. Natürlich haben Sie einen Maßstab, seien Sie froh, daß Sie ihn haben, Sie haben ihn ja sogar heiraten wollen; aber denken Sie jetzt nicht mehr daran! Versuchen Sie, Berlin und alles in Berlin zu vergessen! Leben Sie sich ein in Neulohe! Seien Sie nur Landwirt! Wenn Ihnen das geglückt ist und wenn dann Ihr Maßstab noch etwas gilt, dann können wir darüber reden. Vorher ist alles doch nur fauler, gefühlsduseliger Zauber!"

Er sah Pagels verkniffenes Gesicht: die Nase darin war gewissermaßen spitz geworden, die Lippen eingekniffen. Es sah mürrisch-trotzig aus. Er war ja nicht dumm, der junge Wolfgang, er verstand wohl, was Studmann meinte, aber es war ihm nicht recht. Er gab sogar zu, daß Studmann recht hatte, aber es war ihm doch nicht recht. Er war jung, aus der Betreuung der Mutter war er in die Betreuung der Geliebten übergegangen, jeder Kummer, jede Kleinigkeit, die ihn bedrückte, war teilnahmsvoll angehört, war bedauert worden. Plötzlich sollte es damit zu Ende sein.

"Na ja, Studmann", sagte er schließlich, etwas mürrisch. "Wie Sie wollen, ich habe eigentlich auch gar nichts zu erzählen ..."

"Ausgezeichnet", sagte Studmann, "entschuldigen Sie, Pagel". Er hielt es für ratsam, die Sache abzubrechen, er hatte genug von dem jungen Gesicht abgelesen. Mit erhobener Stimme sagte er: "Und nun, verehrter Mitlandwirt, verraten Sie mir, was dies für Getreide ist!"

"Das ist Roggen", sagte Pagel und ließ eine Ähre sachverständig durch die Finger gleiten. "Das Zeug kenne ich, das habe ich gestern mit aufgestakt."

Und er warf einen heimlichen, raschen Blick in seine entzündete, blasige Hand.

"Ganz meine Ansicht", sagte Studmann. "Aber wenn es Roggen ist, erhebt sich die Frage, ist es ›unser‹ Roggen, will sagen, ist es Gutsroggen?"

"Nach dem Schlagplan hat hier raus überhaupt kein Bauer Feld", sagte Pagel zögernd. "Es müßte unserer sein."

"Wieder meiner Ansicht. Aber wenn es unserer ist, warum ist er noch nicht gemäht? Wo wir doch schon Hafer mähen? Ist er vielleicht vergessen?"

"Unmöglich! So nahe beim Hof! Wir ziehen doch jeden Tag hier mit den Gespannen vorbei. Da hätte ich doch einmal ein Wort von den Leuten gehört."

"Lehren Sie mich die Leute kennen! Auf dem Lande werden Sie auch nicht anders sein als im Hotel! Die grienen in ihre Bärte, wenn der Chef was verschwitzt! Was ich da erlebt habe im Hotel -!"

"Studmann! Herr Studmann! Dort ist Westen, dort liegt Berlin - soll es liegenbleiben, wir heben es nicht auf! Wir leben in Neulohe - ich will keine Berliner Geschichten hören!"

"Ausgezeichnet! Sie nehmen also meinen Vorschlag an? Abgemacht! Nichts mehr von Berlin!" - Und mit neuem Eifer: "Sollte er noch nicht reif sein?"

"Der ist reif!" rief Pagel, stolz auf seine junge Wissenschaft. "Sehen Sie, das Korn soll grade über dem Nagel brechen - und dies ist ja schon knochenhart und trocken ..."

"Rätselhaft. Wir müssen den Rittmeister fragen. Helfen Sie denken. - Passen Sie auf, wie ich ihm heute abend mit unserer Aufmerksamkeit imponieren werde! Er soll merken, daß er jetzt Beamte mit Augen im Kopf und mit Grips im Schädel hat. Den Inbegriff aller Beamten, Beamte erster Klasse! Weinen vor Freude soll er über uns!"

"Sie sind ja direkt übermütig, Studmann", sagte Pagel, "völlig aus dem Häuschen! So kenne ich Sie ja gar nicht."

"Pagel!" rief Studmann. "Wissen Sie es nicht? Der Friede der Felder, der Atem der Natur, gewachsener Boden unter den Füßen - Sie wissen es nicht, was es heißt, täglich dreißig Kilometer mit brennenden Sohlen die stupiden Gänge eines Hotels entlangzupreschen ..."

"Berlin! Verruchtes, vergessenes Berlin!"

"Ich ahne ja schon, auch dieser Friede ist nur Schwindel. In den so malerisch ins Grüne geduckten Häusern des lieblichen Dörfleins dort werden Klatschsucht, Neid, Angeberei zu Hause sein wie in jeder großstädtischen Mietskaserne! Statt der bimmelnden Elektrischen wird ein Pumpenschwengel ewig quietschen; für die keifende Alte im Stockwerk darüber jault hier ein Hofhund tagaus, nachtein! Die Weihe dort bedeutet den Tod einer Maus. - Aber, Mitmensch Pagel, lassen Sie mir mein Glück, entblättern Sie nicht die junge Blüte meines Glaubens! Friede der Felder, Eintracht der Hütten, Ruhe der Natur ..."

"Kommen Sie baden, Studmann, baden kühlt - die Krebsteiche sollen sehr kalt sein ..."

"Ja, gehen wir baden", stimmte Studmann begeistert zu. "Versenken wir diesen heißen Leib in die kühlen Fluten - waschen wir von der zergrübelten Stirn den ätzenden Schweiß des Zweifels - ach, Pagel, Mensch, ich muß es Ihnen gestehen: ich fühle mich sauwohl ..."

5

Der Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow hatte seinem alten Diener Elias einmal einen Stock geschenkt, ein gelblich-bräunliches Malakkarohr mit einem goldenen, kugligen Knauf obendrauf. Im allgemeinen war der alte Herr nicht fürs Schenken, im allgemeinen erledigte er dieses Problem mit der Frage: Wer schenkt mir was -?! Aber manchmal war er eben auch anders und schenkte jemandem was(und erinnerte ihn dann seine Lebtage daran).

Der Malakkastock war auch erst dann in den Besitz des Elias übergegangen, als durch das schimmernde Gold der Kugel das graue Blei ihrer Füllung schien. Das hinderte den alten Herrn nicht, Elias oft an den "echt goldnen Stock" zu erinnern: "Putzt du ihn auch ordentlich, Elias? Das Rohr mußt du alle vier Wochen fetten. Das ist ein Erbstück, solch goldner Stock, den kannst du noch deinen Kindern vermachen. - Na ja, Kinder hast du nicht(wenigstens, soviel mir bekannt ist), aber ich bin überzeugt, sogar meine Enkelin Violet würde sich über den goldnen Stock freuen, wenn du ihn ihr in deinem Testament vermachen würdest ..."

Was Elias über den Goldgehalt der Kugel dachte, blieb unbekannt, er war zu würdig, von solchen Dingen zu sprechen. Aber er hielt das Malakkarohr lieb und wert und hatte es bei sonntäglichen Gängen stets in der Hand. So auch heute. In der einen Hand den Stock, in der andern einen Panama, trug er seinen großen, gelblichen Schädel durch die Nachmittagssonne zwischen den Häusern des Dorfes hindurch auf die rittmeisterliche Villa zu. In den Brusttaschen seines feierlichen braunen Bratenrockes mit besponnenen Knöpfen trug er links die Tasche mit den Tausendmarkscheinen, rechts den Brief des Geheimrats an seinen Schwiegersohn, der nun endlich bestellt werden sollte.

Wo er ein Gesicht sah, da blieb der alte Elias stehen und sprach es an. War es ein Kind, so fragte er nach dem ersten oder fünften Gebot; war es eine Frau, erkundigte er sich nach den Gichtschmerzen oder ob auch noch Milch genug da sei für das Nähren des Säuglings. Bei den Männern aber fragte er nach dem Fortschritt der Ernte, sagte "Ah!" oder "Oh!" und "Ach was!", brach aber immer nach drei oder vier Sätzen die Unterhaltung ab, schwenkte leicht den Panama, stieß das Malakkarohr auf die Erde und schritt weiter. Kein Serenissimus hätte leutseliger und doch würdiger zwischen seinen Untertanen wandeln können als der alte Elias unter den Bewohnern des Dorfes, die ihn doch nichts angingen und die er nichts anging. Sie akzeptierten ihn aber alle willig, so wie er war, und war einmal ein Neuer darunter, der sich nach dem ersten Interview beschwerte, was denn eigentlich der alte Affe von ihm wolle und was in aller Welt er sich denn einbilde - beim zweiten oder spätestens dritten Male war er doch schon dem Zauber wunschloser Abgeklärtheit erlegen und antwortete genauso willig wie die alte Garde.

Der alte Elias war, obwohl ebenso alt wie der Förster Kniebusch, ganz anders, und wo der sich ewig ängstete, schmeichelte, nach den Augen sah, zum Munde redete, in die Ohren blies, immer in Sorge um Alter und Auskommen - da wanderte der alte Elias in friedlicher Heiterkeit dahin, und die Dinge dieser Welt bedeuteten ihm nichts, und er wurde mit seinem verschlagenen, bösen Herrn so selbstverständlich fertig wie ein Kind mit seiner Puppe. So ist es aber einmal auf dieser seltsamen Erde eingerichtet: die Sorgen, die dem einen das Herz abdrücken, die spürt der andere gar nicht.

Als der Diener Elias bei der Villa angekommen war, ging er mit seinem Brief nicht vorne die Treppe hinauf zu der am gestrigen Sonnabend feiertäglich vom Diener Räder geputzten Messingklingel, sondern er ging um die Villa herum und die Zementstufen in das Souterrain hinab, und gegen die Tür dort klopfte er nicht zu laut und nicht zu leise, wie es sich eben gehört. Es rief keiner "herein", und so öffnete Elias die Tür und

stand in der Küche, in der eine ganz sonntägliche Stille und Sauberkeit herrschte. Nur der Kessel mit dem Teewasser zum Abend summte sacht über der sinkenden Flamme. Der alte Elias sah sich um, aber es war niemand in der Küche. So nahm er denn den Kessel, schüttete ihn über dem Ausguß aus und stellte ihn leer beiseite, denn er wußte, daß die junge gnädige Frau ihren Tee von frisch kochendem Wasser aufgebrüht haben wollte, nicht von abgestandenem.

Dies verrichtet, ging Elias durch eine Tür im Hintergrund der Küche auf den dunklen Gang, der das Kellergeschoß der Villa in zwei Teile zerschnitt. Auf dem Gang machte sein Stock deutlich "tapp, tapp", außerdem hüstelte der alte Elias, und zum Überfluß klopfte er noch an die Tür. Aber vielleicht wären alle diese Anmeldungen nicht nötig gewesen, denn der Diener Räder saß ganz still und steif in seinem kahlen Zimmer auf dem bretternen Stuhl, hatte die Hände in den Schoß gelegt und sah starr mit seinen fischigen Augen auf die rohe Tür, als hätte er schon seit Stunden so gesessen.

Als der Diener Elias aber eintrat, stand der Diener Räder von seinem Stuhl auf, nicht zu langsam und nicht zu schnell, wie es sich eben gehörte, und sagte: "Guten Tag, Herr Elias, wollen Sie bitte Platz nehmen ..."

"Guten Tag, Herr Räder", antwortete der alte Elias. "Ich beraube Sie ja ..."

"Ich stehe gerne", erklärte Räder. "Das Alter soll man ehren."

Und er nahm dem andern Hut und Stock aus den Händen. Den Hut hängte er auf einen Haken, und den Stock lehnte er in eine Ecke. Darauf stellte er sich mit dem Rücken an die Tür, dem Diener Elias gegenüber, aber durch die ganze Länge der Kammer von ihm getrennt.

Mit einem großen, gelblichen Tuch trocknete sich Elias seine Brauen und Stirn und sagte dabei freundlich: "Ach ja, ach ja - es ist heiß heute. Herrliches Erntewetter ..."

"Davon weiß ich nichts", sagte Räder abweisend. "Ich sitze hier in meinem Keller. Und mit der Ernte habe ich nichts zu tun."

Elias faltete das Tuch umständlich zusammen, steckte es in die Rocktasche und brachte dafür den Brief zum Vorschein: "Ich habe da einen Brief für Herrn Rittmeister."

"Von unserm Schwiegervater -?" fragte Räder. "Herr Rittmeister ist oben. Ich werde Sie gleich anmelden."

"Ach ja, ach ja!" seufzte der alte Elias und sah den Brief an, als läse er die Adresse. "Da schreiben sich die Verwandten nun Briefe. Was man

nicht von Mund zu Mund sagen kann, Herr Räder, das sollte man auch nicht in Briefe schreiben ..."

Er sah die Adresse noch einmal mißbilligend an und legte den Brief gedankenverloren auf das Rädersche Bett.

"Ich bitte doch sehr, Herr Elias!" sagte Räder streng, "nehmen Sie den Brief von meinem Bett!"

Der alte Mann griff seufzend nach dem Brief.

Ruhiger sprach Räder: "Die Briefe von unserm Schwiegervater haben uns noch nie Gutes gebracht - Sie dürfen ihn ruhig selbst abgeben. Ich melde Sie an, Herr Elias."

"Lassen Sie einen alten Mann sich doch verpusten", klagte der Alte. "So eilig ist es ja wohl auch nicht, am Sonntagnachmittag."

"Natürlich, daß der Herr Rittmeister unterdes spazierengeht, und ich kriege den ersten Zorn ab", grollte Räder.

"Wir sind drüben in Sorge um unser Enkelkind", sagte der alte Elias. "Wir haben Fräulein Violet seit fünf Tagen nicht im Schloß gesehen."

"Schloß! Das ist eine Lehmscheune, Herr Elias!"

"Ist unser Weiochen krank?" schmeichelte der alte Mann.

"Den Doktor haben wir nicht hiergehabt", sagte Herr Räder.

"Aber was macht sie bloß?! Ein junges Mädchen - und sitzt bei dem schönen Wetter im Haus!"

"Ihr ›Schloß‹ ist doch auch ein Haus - ob sie da sitzt oder hier, das ist doch einerlei!"

"Also sie kommt wirklich gar nicht raus - nicht mal hier in den Garten?" sagte der alte Mann und stand auf.

"Wenn Sie das einen Garten nennen, Herr Elias! - Der Brief betrifft also das gnädige Fräulein?"

"Das kann ich nicht sagen - aber möglich ist es."

"Geben Sie ihn her, Herr Elias, ich werde ihn besorgen."

"Sie geben ihn Herrn Rittmeister -?"

"Ich besorge ihn schon richtig - ich gehe sofort hinauf."

"Ich sage also Herrn Geheimrat, daß Sie ihn abgegeben haben."

"Jawohl, Herr Elias."

Tapp, tapp, tapp - ging das Malakkarohr mit dem alten Elias in die Sonne hinaus, und tapp, tapp, tapp stieg der Diener Räder die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Als er aber an die Zimmertür klopfen wollte, hörte er einen Schritt aus dem ersten Stock die Treppe herabkommen, und als er hochsah, waren's die Füße der gnädigen Frau, die da über die Stufen gingen. Also nahm es der Diener Räder für einen Wink, klopfte nicht, sondern hielt den Brief etwas auf dem Rücken und sagte: "Gnädige Frau -!"

Die Frau von Prackwitz hatte zwei rote Flecken auf den Backenknochen unter den Augen, so, als hätte sie eben geweint. Sie sagte aber ganz munter: "Nun, Meister Hubert, was gibt es?"

"Es ist ein Brief gekommen von drüben für den Herrn Rittmeister", antwortete Räder und zeigte eine Ecke von dem Brief.

"Ja?" fragte die gnädige Frau. "Warum gehen Sie nicht hinein und geben den Brief ab, Hubert?"

"Ich tue es schon", wisperte Hubert, zeigte den Brief aber nicht sehr. "Ich bin mutiger als der Herr Elias, der sich nicht getraut hat, ihn abzugeben. Sogar in mein Zimmer ist er darum gekommen, was er noch nie getan hat ..."

Frau von Prackwitz bekam vor lauter Nachdenken eine kleine senkrechte Falte zwischen den Brauen auf der Stirn. Der Diener Hubert zeigte den Brief wenig, eben nur eine Ecke - aus dem Zimmer fuhr mit Gepolter der Rittmeister: "Was ist das für ein verdammtes Gewisper und Getuschel vor meiner Tür -?! Sie wissen, daß ich das auf den Tod nicht ausstehen kann! - Ach, verzeih, Eva -!"

"Es ist schon gut, Achim, ich habe hier mit Hubert etwas zu besprechen."

Der Rittmeister zog sich zurück, die gnädige Frau trat mit Hubert an eines der Dielenfenster und sagte: "Also geben Sie den Brief einmal her, Hubert."

"Die machen sich auf dem Schloß wohl viele Gedanken um unser Fräulein Violet", erzählte Hubert nölig. "Der Herr Elias hätte gar zu gerne erfahren, warum das gnädige Fräulein seit fünf Tagen nicht auf dem Schloß gewesen ist."

"Und was haben Sie gesagt, Hubert -?"

"Ich, gnädige Frau? Ich habe gar nichts gesagt!"

"Ja, das können Sie großartig, Hubert!" bestätigte Frau von Prackwitz sehr bitter. "Sie sehen, was ich mir für Sorgen und Kummer wegen der Violet mache - wollen Sie mir denn wirklich nicht sagen, wer der unbekannte Herr gewesen ist, Hubert? - Ich bitte Sie sehr herzlich!"

Sie bat ihn wirklich, aber einen Stockfisch soll man um nichts bitten.

"Ich weiß von keinem unbekannten Herrn, gnädige Frau."

"Nein, natürlich nicht, weil er Ihnen bekannt ist! - Oh, was sind Sie für ein Schlaukopf, Hubert!" Frau von Prackwitz war sehr zornig. "Aber wenn Sie es weiter so treiben, Hubert, mit dieser Heimlichtuerei und Unwahrhaftigkeit - dann sind wir Freunde gewesen!"

"Ach, gnädige Frau "... sagte Hubert mürrisch.

"Was heißt: ›Ach, gnädige Frau‹ -?!"

"Bitte schön, hier ist der Brief!"

"Nein, ich will wissen, was Sie eben gemeint haben, Hubert!"

"Es ist gewissermaßen nur eine Redensart ..."

"Was ist eine Redensart? Hubert, ich bitte -!"

"Daß wir dann Freunde gewesen sind, gnädige Frau", sagte Hubert ganz fischig. "Ich bin doch bloß der Diener, und gnädige Frau sind die Frau von Prackwitz - da kann von Freundschaft doch nicht die Rede sein ..."

Die gnädige Frau wurde bei dieser Unverschämtheit brennend rot. In ihrer Verwirrung griff sie nach dem Brief, den der Diener ihr immer noch hinhielt. Sie riß ihn auf und las darin. Mitten über dem Lesen aber hob sie den Kopf und sagte scharf: "Herr Räder! Entweder sind Sie zu dumm oder zu klug für eine Dienerstellung - in beiden Fällen, fürchte ich, werden wir uns in Kürze trennen ..."

"Gnädige Frau!" sagte Räder, jetzt auch ein wenig erregt. "Ich habe in meinen Zeugnissen Empfehlungen von hohen adligen Herrschaften. Und auf der Dienerschule habe ich das goldene Diplom bekommen ..."

"Ich weiß, Hubert, ich weiß, Sie sind eine Perle!"

"Und wenn der Herr Rittmeister sich von mir trennen will, so bitte ich, es mir rechtzeitig zu sagen, damit ich kündigen kann. Denn es ist immer hinderlich für meinen Lebensweg, wenn ich gekündigt worden bin ..."

"Schön, schön", sagte Frau von Prackwitz, die den kurzen Brief überflog und verständnislos die Bogen mit den Zahlen angesehen hatte. "Es soll nach Ihren Wünschen geschehen, Hubert. - Dies", sagte sie erklärend, "ist nur ein belangloser Geschäftsbrief, nichts wegen Fräulein Violet. Elias ist wohl für eigene Rechnung ein bißchen neugierig gewesen."

Hubert sah aber, daß die gnädige Frau den Brief nicht in der Hand behielt. Sie knickte ihn viele Male und schob ihn in ein Seidentäschchen an ihrem Kleid.

"Wenn Sie Herrn von Studmann sehen, Hubert, so sagen Sie ihm doch,

er möchte gegen sieben, nein, sagen wir, um drei Viertel sieben hier vorbeikommen ..."

Und damit nickte die gnädige Frau Hubert noch einmal kurz zu und ging dann in das Zimmer zum Rittmeister.

Hubert blieb noch einen Augenblick auf der Diele stehen, bis er die beiden drinnen reden hörte. Dann schlich er Stufe um Stufe, immer den ganzen Fuß sachte aufsetzend und abhebend, die Treppe hinauf, so daß keine Diele knackte.

Oben ging er rasch über den Flur, klopfte nur einmal leise gegen die Tür und trat schnell ein.

In dem Zimmer saß Violet an einem Tischchen, ein zerknülltes, feuchtes Taschentuch und rote Flecke auf dem Gesicht bewiesen, daß auch sie geweint hatte.

"Na -?" sagte sie nichtsdestoweniger gespannt. "Hat Mama Sie auch in der Mache gehabt, Hubert?"

"Gnädiges Fräulein sollten nicht so leichtsinnig sein beim Lauschen", tadelte Hubert. "Ich habe die ganze Zeit Ihren Fuß auf dem obersten Treppenabsatz gesehen. Und die gnädige Frau hätte ihn auch sehen können ..."

"Ach, Hubert, die arme Mama! Eben hat sie hier geweint. Manchmal tut sie mir schrecklich leid, und mir ist, als müßte ich mich schämen ..."

"Das Schämen hat keinen Zweck, gnädiges Fräulein", sagte Hubert streng. "Entweder leben Sie, wie die alten Herrschaften es wollen, dann brauchen Sie sich nicht zu schämen. Oder Sie leben, wie wir Jungen es für richtig halten, und dann haben Sie es erst recht nicht nötig."

Weio sah ihn prüfend an. "Manchmal denke ich doch, Sie sind ein sehr schlechter Mensch, Hubert, und Sie haben ganz schlechte Pläne", sagte sie, aber ziemlich vorsichtig, fast ängstlich.

"Was ich bin, das muß Sie nichts angehen, gnädiges Fräulein", sagte er so rasch, als hätte er das alles längst überlegt. "Und meine Pläne sind eben meine Pläne. Was Sie wollen, darauf muß es Ihnen ankommen!"

"Und was hat Mama gewollt?"

"Nur die üblichen Fragen nach dem unbekannten Mann. Die Großeltern machen sich auch Gedanken um Sie, gnädiges Fräulein."

"Ach Gott, wenn sie mich doch endlich hier rausholten! Ich halte es nicht mehr aus hier drin! Ich heule mich noch tot! War denn wirklich wieder nichts im Baum, Hubert?"

"Kein Brief, kein Zettel!"

"Wann hast du denn nachgesehen, Hubert?"

"Grade vor dem Kaffeetrinken."

"Sieh jetzt noch einmal nach, Hubert. Geh gleich hin und sage mir sofort Bescheid."

"Das hat doch keinen Zweck, gnädiges Fräulein. Er kommt doch nicht bei Tage ins Dorf."

"Und paßt du bei Nacht auch gut auf, Hubert! Es ist doch unmöglich, daß er gar nicht kommt! Er hatte es mir fest versprochen! Schon die übernächste, nein, die nächste Nacht hat er hiersein wollen ..."

"Er ist bestimmt nicht hiergewesen. Ich hätte ihn getroffen, und ich hätte es auch gehört, wenn er hiergewesen wäre."

"Hubert, ich halte es einfach nicht mehr aus ... Ich seh ihn, bei Tag und bei Nacht, und dann fühle ich ihn, als wäre er wirklich hier, aber wenn ich dann zufasse, dann ist es nichts, und ich falle wie über hundert Stufen ... Mir ist ganz anders, es ist, als wäre ich vergiftet, ich habe keine Ruhe mehr ... Und dann sehe ich seine Hände, Hubert. Er hat so schöne Hände, Hubert, sie fassen so fest zu, und dann rieselt ein Schauer über einen ... Ach, was ist bloß mit mir los -?"

Sie starrte den Diener Hubert Räder mit weit aufgerissenen Augen an. Aber es war nicht sicher, daß sie ihn überhaupt sah.

Der Diener Räder stand wie ein Stock unter der Tür. Sein grauer Teint rötete sich nicht, sein Auge blieb grau und ohne Glanz, wenn er auch unverwandt auf das weiche, ganz sich öffnende Mädchen sah.

"Dabei müssen Sie sich nichts denken", sagte er in seinem gewöhnlichen lehrhaften Ton. "Das ist so!"

Weio sah ihren Vertrauten, ihren einzigen Vertrauten an, als sei er ein heilbringender Prophet.

Räder nickte voller Bedeutung. "Das sind körperliche Vorgänge", erklärte er, "das ist das körperliche Verlangen. Ich kann Ihnen ein Buch darüber geben, es ist von einem Arzt verfaßt, einem Sanitätsrat. Darin ist das alles genau beschrieben, wieso es kommt und wo es seinen Sitz hat und wie man es heilt. Es heißt Ausfallserscheinungen oder Abstinenzerscheinungen."

"Ist das wirklich so, Hubert? Steht das in dem Buch? Du mußt mir das Buch bringen, Hubert!"

"Das ist so! Das hat mit dem - Herrn gar nichts zu tun!" Hubert kniff die Augen ein und beobachtete die Wirkung seiner Worte. "Das ist bloß der Körper - der Körper hat Hunger, gnädiges Fräulein!"

Weio war fünfzehn Jahre, und sie mochte so leichtsinnig und so genußsüchtig sein wie nur ein Mädchen dieser Tage, über die Liebe hatte sie noch ihre Illusionen, und mit dem einen zerrissenen Schleier war nicht jeder holde Wahn gewichen. Langsam nur begriff sie die volle Tragweite der Enthüllungen Räders, sie zuckte zusammen wie von einem Stich, sie ächzte.

Dann aber bäumte sie sich auf, sie fuhr auf den Diener los: "Pfui! Pfui!" schrie sie. "Sie sind ein Schwein, Räder, Sie beschmutzen alles! Gehen Sie weg, rühren Sie mich nicht an, fort aus meinem Zimmer, auf der Stelle ...!"

"Aber bitte sehr! Gnädiges Fräulein! Ich bitte sehr um Ruhe, die gnädige Frau kommt! Lügen Sie etwas; wenn Herr Rittmeister es erfährt, ist der Leutnant verloren ..."

Und er glitt aus dem Zimmer, huschte in die nebenan liegende Schlafstube der gnädigen Frau, stand hinter der Tür ... Er hörte den eiligen Schritt, nun klappte die Tür zu Violets Zimmer ...

Weiter lauschte er, die Stimme der gnädigen Frau wurde vernehmbar, Violet schluchzte laut ...

Das ist das Schlauste, was sie tun kann, dachte er zufrieden. Heulen. - Es war wohl ein bißchen zu früh und zu kräftig. Na, wenn sie eine Woche ohne Nachricht vom Leutnant bleibt ...

Er hörte den Schritt des Rittmeisters auf der Treppe, tief drückte er sich zwischen Bademantel und Morgenrock der gnädigen Frau ... So verächtlich der Rittmeister in seiner Dummheit und Hitze war, er blieb fast der einzige, vor dem man Angst haben mußte. Er war imstande, einen Menschen durch die Scheiben aus dem Fenster zu werfen. Er war ein Vulkan, eine Naturkatastrophe. Keine Klugheit half gegen ihn ...

"Ich sage dir, du übertreibst es", hörte er den Rittmeister mit zorniger Stimme sagen. "Das Kind ist einfach nervös. Es muß an die frische Luft. Komm, Weio, gehen wir ein bißchen spazieren ..."

Räder nickte. Durch Badezimmer und Schlafzimmer des Rittmeisters schlüpfte er auf die Treppe und huschte hinab in sein kahles Kellerzimmer. Er schloß den Schrank auf. Mit einem zweiten Schlüssel öffnete er den Handkoffer, aus dem er das zerlesene Buch nahm: "Was ein junger Mann vor und von der Ehe wissen muß".

Er wickelte es in ein Stück Zeitungspapier, er würde es abends unter Violets Kopfkissen legen. Vielleicht nicht grade heute oder morgen. Aber etwa übermorgen. Er war überzeugt, Weio würde es lesen, trotz des Ausbruchs eben.

6

Sophie Kowalewski, die Exzofe der Gräfin Mutzbauer, hatte an diesem Sonntagmorgen zu ihren Eltern gesagt: "Ich fahre ein bißchen zur Emmi nach Birnbaum. Wartet nicht mit dem Essen auf mich, vielleicht komme ich erst am Abend wieder."

Der alte, weiche Vater hatte mit dem Kopf genickt und nur gebeten: "Fahr die Chaussee, Fieken, nicht den Waldweg. Es treiben sich jetzt soviel Kerle in der Gegend herum."

Und die ungeheuerlich fette, nur noch fressende, nur noch verdauende Mutter hatte gesagt: "Die Emmi hat 'ne großartige Partie gemacht. Sie haben schon eine Kuh und zwei Zicken. Drei Schweine schlachten sie ein. Die brauchen keinen Kohldampf zu schieben. Da gibt's immer was, wovon man abbeißen kann. Hühner und Gänse haben sie auch. Wenn du mal solch Schwein hättest -"

Sophie war längst draußen. Von der Freundin, die ihr das Rad lieh, ließ sie gebührend das blaue Kostüm bewundern, schwang sich auf den Sattel, fuhr klingelnd langsam durchs Dorf, damit auch alle sie sähen, und bog in den moosigen, stillen Waldweg ein, auf dem das Rad lautlos fuhr wie auf Samt. Der Weg neben den von Holzfuhren zerfahrenen Gleisen war fest und sehr schmal. Heidekraut und Ginster streiften oft die Pedale und warfen Tropfen Morgentaus auf die Spitzen ihrer Schuhe. Die schönen, säulenförmigen Stämme der alten Kiefern wanderten neben ihr her, rötlich von der Morgensonne angeschienen - und manchmal ging der schmale Pfad so eng zwischen zwei Stämmen durch, daß sie die Lenkstange festhalten mußte, um nicht auf einer Seite anzustoßen. Das Blaubeerkraut stand dicht, und die Beeren wurden schon blau. Das Waldgras war noch grün, die Wacholder standen schweigend und dunkel im helleren Unterholz, und es war ein ewiges Flattern und Zwitschern des kleinen Waldgevögels.

Hier hatte Sophie ihre Kindheit verbracht, jedes Geräusch war ihr vertraut; das ferne, unbestimmte Sausen des Waldes, das näher, doch nie ganz nahe kommen konnte, das hatte sie schon als Kind gehört. Sonne über ihrem Haar wie damals Sonne über dem Haar des Kindes. Der rasche Blick im Vorübergleiten auf eine sich öffnende und schon wieder geschlossene Schneise, die ins Herz der Wälder zu führen schien. -

Kein Mensch ist ganz schlecht, auch Sophie ist es nicht - eine Fröhlichkeit, die nichts mit der lärmenden Lustigkeit einer alkoholisierten Barnacht gemein hat, erfüllt sie. Es ist, als habe der Körper neues Blut

empfangen, neue, fröhliche, heitere Gedanken strömen mit jedem frischen Atemzug durch sie; statt eines öden Schlagers summt sie das Lied vom Mai, der gekommen ist ... Die Wolken - sie wandern - am himmlischen Zelt ... Oh, fröhlich -!

Plötzlich muß Sophie lachen. Es ist ihr eingefallen, wie ihre Mutter sie einmal zum Beerensammeln hierher in den Wald mitnahm. Damals war sie acht oder neun Jahre alt. Das mühselige Pflücken wurde ihr bald langweilig. Spielend, vor sich hin summend, verlor sie sich von der Seite der emsigen Mutter, zehnmal ließ sie sich rufen, der elfte Ruf erreichte sie nicht mehr. Leise singend, vor Glück lachend, verlor sie sich tief und tiefer in den Wald, ohne Ziel, nur aus Freude an der Bewegung ging sie weiter und weiter, in die kleinen Täler hinein, in die von flachen Hügeln die Bäume wie stille Pilger hinabstiegen. Lange lauschte sie auf das Gluckgluck eines eiligen Baches. Noch länger sah sie einem Schmetterling zu, der auf einer vor Wärme summenden Waldlichtung von Blüte zu Blüte flog - und sie kam nicht in die Versuchung, nach dem gelben Buttervogel zu greifen.

Schließlich gelangte sie in einen Buchenwald. Silbergrau und hoch ragten die Stämme. Das Grün oben war so fröhlich. Weit voneinander standen die Bäume, überall drangen Sonnenstrahlen hinein in den goldenen, warmen Schatten. Ihre bloßen Füße sanken ganz tief in das weiche, bräunlichgrüne Moos. Leiser singend, fast ohne zu wissen, was sie tat, streifte Sophie ihre Kleider ab. Dort lag das Kleidchen, dort über einem Baumstumpf der helle Fleck des Höschens, nun sank das Hemd in das Moos - und heller jubelnd tanzte das Kind nackt durch Sonne und Schatten. Es lachte - -

Es war die Lust, dazusein, eine Freude, zu leben auf dieser Erde, zu wandeln im Licht - es war die Lebensfreude! Das kleine Herz in der mageren Brust zuckte und bebte. Wonne - Sonne - der uralte Reim, das ewige Gefühl war über das Kind gekommen. Tanzend hinein in immer neues Grün, immer andere Welt, immer tieferes Geheimnis. Sonne - Wonne -: Laute, wie die Vögel sie singen, abgebrochen, um einen Käfer in der verlorenen Radspur zu betrachten, wieder aufgenommen, ohne zu denken, wie du atmest ...

Es war die Lebensfreude, das Glück, dazusein - jenes Gefühl, nach dem die Erwachsenen ewig Heimweh haben, ob sie es nun wissen oder nicht. Glück - das sie später immer wieder suchen, wer weiß wo, keiner mag sagen wie, und das sie nie wieder finden werden, das mit der Kindheit entschwindet - nur in einem schwachen Abglanz später aufzufangen in der beglückenden Umarmung eines Geliebten, in der Freude über ein

Werk. Einst besessen, schuldlos-schuldig verloren - vorbei! Vorbei!

Leise singt das Rad über die Wege, die Kette knirscht. Wenn es über eine Wurzel geht, klappert das Schutzblech am Hinterrad, und die Sattelfedern seufzen. Sonne - Wonne - versucht Sophie jetzt zu singen, aber es gelingt ihr nicht. Sie muß daran denken, wie die warme Sonne plötzlich kalt geworden war und der heimliche Wald unheimlich. Sie hatte weinen müssen. Sie war umhergeirrt. Alles war feindlich: stechendes Geäst, spitze Steine auf dem Wege, ein von einer Viehkoppel herüberwehender Bremsenschwarm. Schließlich hatte sie ein Waldarbeiter, der alte Hofert, gefunden ...

"Schämst du dich denn gar nicht, Fieken, so nackig herumzulaufen?" hatte er gescholten. "Du bist doch ein Mensch, kein Ferkel ..."

Er hatte sie zur Mutter zurückgebracht. Ach, das Geschimpfe der Mutter! Das stundenlange Suchen nach den Kleidern, die dann doch nicht gefunden wurden, Schelte und Schläge. Die Heimkehr ins Dorf, mit dem Kopftuch der Mutter um die Hüften. Das Gespött der andern Kinder, die weisen Bemerkungen der Alten: "Paß auf, Kowalewski. Das Mädchen macht dir noch einmal Kummer."

Hastiger tritt Sophie die Pedale, sie läßt die Klingel schnarren und schmettern in die Waldstille hinein. Sie schüttelt den Kopf, trotzdem kein Bremsenschwarm von der nächsten Koppel sie umschwirrt. Sie will die Gedanken aus dem Kopf schütteln. Kein Mensch kann sagen, wie er wurde, was er wurde. Aber manchmal bekommen wir einen Zipfel vom Wissen zu erfassen, ein Stück Weg, ach, ein Stücklein nur liegt klar hinter uns ... Dann werden wir böse mit uns, es ist uns nicht recht, wir schütteln die quälenden Gedanken aus dem Kopf. Wir sind recht so, wie wir sind; und daß wir nicht anders geworden sind, daran haben wir keine Schuld. Darüber brauchen wir nicht nachzudenken! -

Schneller und schneller fährt das Rad, Gestell um Gestell, Schneise um Schneise gleiten vorbei. Sophie fährt nicht nach Birnbaum zu Emmi. Sie fährt ins Zuchthaus, den Hans Liebschner, einen rechtskräftig verurteilten, bereits vorbestraften Hochstapler, zu besuchen. Das Leben ist kein Sonnentag, es ist eine höchst listenreiche, hinterhältige Angelegenheit, und wer die andern nicht hereinlegt, den legen die herein! Sophie hat keine Zeit, sich Träumereien hinzugeben; sie muß sich überlegen, wie sie als Hansens Schwester Besuchserlaubnis bekommt - ohne Ausweispapiere!

Jetzt hat Sophie die Lippen fest geschlossen, ihre Augen haben einen harten, trockenen Glanz. Sie hat keine Zeit mehr, den Wald zu sehen. Sie überlegt! Wohl hat sie sich auf einem Bogen vom Christlichen Hospiz

bescheinigt, daß sie die Köchin Sophie Liebschner in Diensten der Hospizverwaltung ist. Aber sie ist sich klar darüber, daß diese schlecht und vielleicht nicht einmal orthographisch geschriebene "Urkunde" vor keinem Beamtenauge Bestand hat. Nach dem, was Vater erzählt hat, wäre der weggelaufene kleine Inspektor Meier gerade der Richtige gewesen, ihr irgendeinen Schein mit dem Gutsvorsteherstempel zu geben. Aber darin hatte sie nun einmal Pech, der Kerl war ihr nicht zu Gesichte gekommen. Und die beiden andern, die im Abteil mit ihr hierhergefahren waren, die taten einem Mädchen solchen kleinen Gefallen nicht, das sah man sofort. Die waren viel zu höflich zu ihr gewesen, genau wie die Kavaliere an der Bar, die so höflich-abweisend sind, bloß damit sie einer Dame keinen Whisky zu bezahlen brauchen!

Sophies Gedanken gehen hin und her, aber sie sind darum nicht etwa trübe. Bisher hat sie noch immer Glück gehabt im Leben, und sie weiß sehr genau, welche Wirkung ein richtiger Blick zur rechten Zeit haben kann. Hübsche Mädchen haben eben immer Glück.

Sophie hat es also auch. Es ist großer Besuchstag im Zuchthaus, über hundert Anverwandte stehen vor dem eisernen Tor, Sophie drängt sich dazwischen, mit dem großen Schwung wird sie eingelassen, Wachtmeister laufen hin und her, Papiere werden nachgesehen, Fragen werden gestellt, und sachte, sachte, Schrittchen um Schrittchen mogelt sich Sophie aus der Gruppe der Ungeprüften unter die Geprüften.

Schon ist sie mit im Besuchszimmer, auf der einen Seite des Gitters stehen die Anverwandten, auf der andern die Gefangenen. Das spricht und redet durcheinander, ohrenbetäubend! Die beiden armen Wachtmeister, die dastehen und jedes Wort beaufsichtigen sollen, können nur schlecht ihre Aufgabe erfüllen. Wie herrlich könnte Sophie jetzt mit ihrem Hans schwatzen, alles, was sie auf dem Herzen hat. Aber ein Hans Liebschner ist natürlich nicht im Besuchszimmer, und sie kann ihn auch nicht reklamieren, denn er steht natürlich nicht auf der Liste der besuchten Gefangenen!

Aber hier zeigt es sich wieder einmal, wie gut es ist, daß Liebschner ein Hochstapler ist, also kein gewalttätiger oder rechthaberischer Mensch, sondern ein mit allen Salben gesalbter Schlaukopf, also ein fügsamer, artiger Gefangener, das Muster jeder Hausordnung. Darum ist der Hans ja schon Kalfaktor geworden, und als Kalfaktor hat er auf den Gängen zu tun, und von den Gängen aus kann er die Besucher kommen sehen. Ein Rabenauge ist scharf: Sophie bleibt Sophie. Ja, wenn der Hans keinen Stein im Brett bei seinem Stationswachtmeister hätte! Aber die Stahlsäge ist richtig gefunden worden, und drei Gitterstäbe waren

bereits durchgesägt. So etwas rechtzeitig zu entdecken ist ein Ruhmesblatt für jeden Stationswachtmeister. Der ist belobt worden und ist darum seinem Kalfaktor wohlgesinnt - zumal er das Versprechen mit dem Arbeitskommando noch nicht hat einlösen können, weil noch kein Kommando ausgesandt ist seitdem.

So wird Sophie plötzlich von einem bärtigen, älteren Wachtmeister herangewinkt. "Kommen Se man, Frollein!" In eine enge Zelle ganz voll schmierigen Tauwerks wird sie hineingeschoben und sogar eingeriegelt, und wie sie sich gerade tausend Gedanken macht, ob denn ihr Einschmuggeln entdeckt ist und sie "so" gestraft werden soll, und wie sie gerade klopfen will, da klirrt der Riegel wieder, und herein schiebt sich in einer ekelhaften Montur ihr Hans, sehr grau geworden, Schatten unter den Augen, die Nase spitz - aber das spitzbübische Lächeln, das ist ganz der alte Hans!

Der Wachtmeister hebt drohend den Finger. "Nun macht aber keine Dummheiten, Kinderchen!" Aber er sieht dabei Sophie so wohlwollend schmunzelnd an, als habe er selbst nichts dagegen, mit ihr Dummheiten zu machen.

Dann klirrt wieder der Riegel, und schon ist sie in den Armen von Hans. Es ist wie ein Sturm, ein Orkan. Es vergeht ihr Hören und Sehen, in den Ohren saust es, und vor den Augen verschwimmt es. - Oh, das nahe, gute, liebe Gesicht -! Der vertraute Geruch! Der Geschmack auf den Lippen! Seufzer und leiser Schrei, ein aufflatterndes Lachen, das schon erstickt, ein paar Worte ... ach, nur dies: "Oh, du -! Ach, du -! Oh, selig -!" Kaum haben sie Zeit, ein paar Worte miteinander zu reden:

"Was ich mich gesehnt habe!"

"Ich komme raus, auf Erntekommando! Da haue ich ab!"

"Ach, du - wenn du zu uns kämst!"

"Wohin?"

"Nach Neulohe! Ich bin bei den Eltern. Vater sagt, wir brauchen ein Erntekommando."

"Mit dem nächsten komme ich bestimmt raus. Kannst du nicht ein bißchen Druck bei euch dahinter machen?"

"Vielleicht. Will mal sehen. Gott, Hans ..."

"Das hat gutgetan! Ein halbes Jahr ..."

Langsam, zufrieden, glücklich geht Sophie über das bucklige Pflaster des Städtchens Meienburg. Ihr Rad läßt sie ruhig erst mal in der kleinen Kneipe stehen. Sie geht in das beste Hotel von Meienburg, Mittag zu essen, in den "Prinzen von Preußen". Dort essen die Herren Großagrarier;

als Kind hat sie oft davorgestanden und das schwarze Wappenschild mit den vergoldeten Zieraten bestaunt. Nun geht sie erwachsen durch das Lokal, sie setzt sich draußen auf die Terrasse. Das Hotel ist fast leer, am Sonntag essen die Landwirte zu Haus, am Sonntag gibt ihnen kein landwirtschaftlicher Verein, kein Viehhandel den Vorwand, ihren Familien auszureißen.

Langsam, genußsüchtig ißt Sophie. Sie ißt alles auf, was sie bekommt. Sie trinkt dazu eine halbe Flasche Rheinwein. Jetzt hat es wieder einen Sinn, sich gut zu nähren - vielleicht kommt Hans nach Neulohe. Es muß klappen! Zu dem Kaffee läßt sie sich eine große Schale Kognak bringen, langsam raucht sie Zigarette um Zigarette. Von dem Flüßchen, das unten an der Terrasse vorüberfließt, klingt das trocken hölzerne Geräusch der Ruder in ihren Dollen herüber. Man sieht die Rudernden nicht, aber in der Mittagshitze hört man deutlich ihre Stimmen.

"Mach ein bißchen rascher, Erna! Wir wollen doch noch baden "..., klingt es jetzt herüber.

Plötzlich weiß Sophie, daß auch sie baden möchte, baden und in der Sonne liegen, sich braten lassen. Sie möchte heute ihrem Körper nur Gutes tun. Aber nicht hier, hier wimmelt es sicher von Kerlen, das ist kein Baden! Der Affe vom Nachbartisch glotzt sich schon seit einer halben Stunde die Augen aus dem Kopf: daß so ein Mann nie kapiert, daß man nicht gerade auf ihn gewartet hat.

Sophie denkt daran, daß sie keinen Badeanzug mithat. Nicht einmal daheim einen im Koffer besitzt - aber in Meienburg kann ein Badeanzug auch am Sonntag kein Problem sein. Sie zahlt, steht auf und stößt im Hinausgehen dem glotzenden Herrn versehentlich die Kreissäge vom Kopf, in die Käseschüssel hinein. "Entschuldigen Sie tausendmal!" flötet sie hold den langsam rot anlaufenden Herrn an und enteilt.

Natürlich liegt das kleine Handarbeitsgeschäft noch da, wo es vor fünf Jahren lag, wo es vor zehn Jahren lag, wo es vermutlich seit der Erbauung von Meienburg liegt, wo das Handarbeitsgeschäft von Fräulein Otti Kujahn ewig liegen wird: in der kleinen Bergstraße, schräg gegenüber der Konditorei Köller(Café Knutsch). Die Ladentür probiert Sophie gar nicht erst: in so etwas sind die Kleinstädter korrekt, an einem Sonntagnachmittag ist die Ladentür verschlossen.

Aber hintenherum macht es dann auch nicht die geringsten Schwierigkeiten. Das kleine bucklige Fräulein Kujahn, mit demselben eisgrauen Haar, demselben schmachtenden Taubenblick wie vor zehn Jahren, ist sehr erfreut, sie führt Badeanzüge, sie ist auch bereit, sie an einem Sonntagnachmittag zu verkaufen.

Es sind keine modernen Badeanzüge, es sind nicht diese Wassergewänder, die bei jeder Bewegung eine andere Hautpartie aufleuchten lassen, die nur aus Ausschnitten zu bestehen scheinen, Sophie stellt es mit leisem Bedauern fest. Es sind Anzüge, die den Körper anziehen, bekleiden, nicht entkleiden. Aber vielleicht ist es gerade recht so, Sophie hat nicht die Absicht, den heranwachsenden Lümmeln Neulohes ein Schauspiel zu bieten. Sie kennt die Gewohnheiten dieser Herrchen, an freien Nachmittagen alle Bademöglichkeiten zu belauern, um einen Blick auf die Mädchen des Dorfes zu gewinnen. Sophie wählt also einen vollkommen dezenten schwarzen Anzug mit weißen Biesen und einem Minimum an Ausschnitt. Eine Badekappe kauft sie auch.

Der Preis, den Otti Kujahn für diese beiden Dinge fordert, nach langem Zögern fordert(Ja, was soll ich nun für die Sachen nehmen? Mich haben sie noch nicht drei Mark gekostet), entspricht etwa dem Porto für einen Stadtbrief. Sophie ist nun doch der Ansicht, daß das Handarbeitsgeschäft Kujahn nicht ewig bestehen wird. Bei diesen Preisen wird Fräulein Kujahn die Inflation nicht aushalten, sondern bald ausverkauft und verhungert sein.

Das Rad singt leise, sachte knirscht die Kette, in der Nachmittagsstille stehen die Wälder wie schlafend, die Vögel sind still, von den Schuhspitzen fegt das streifende Heidekraut den Staub. In Sophie ist es still, wie es im Walde still ist, etwas wie Glück erfüllt sie, eine lange nicht mehr gefühlte Ruhe. Die Sonne rückt nicht, der Tag schreitet nicht weiter - das Glück bleibt.

Tief drinnen im Walde liegen die Krebsteiche, eine Kette von kleinen Tümpeln, verschilft, morastig, nur in einem größeren, seeartigen ist zu baden. Einen Augenblick liegt Sophie still in der Sonne. Aber es leidet sie dann nicht, sie muß hinein ins Wasser, seine Kühle fühlen, seine Frische erfahren.

Langsam steigt sie hinein. Sachte fällt der feinsandige Grund ab, kühl und frisch, wie nichts auf dieser Erde kühl und frisch ist, steigt das Wasser an ihren Gliedern hoch. Einmal schaudert sie, als die Kühle ihren Bauch erreicht, aber auch dieser Schauder ist schön. Und er ist gleich vorbei, sie kommt tiefer, sie legt sich vornüber, sie kriecht in sich zusammen - und in einem langen Schwimmstoß sich streckend, gleitet sie ganz hinein in die Kühle, wird eins mit ihr, kühl wie sie!

Nun treibt sie, still auf dem Rücken liegend, leise nur fächeln die Hände, das Gleichgewicht zu erhalten. Eingebettet in das eine Element, Teil von ihm geworden, fühlt sie bei geschlossenen Augen auf der kleinen Fläche Gesicht das andere Element, das Feuer, einen himmlischen Gruß.

Die sanfte Wärme der Sonne durchdringt sie, diese Wärme, die nichts Ausdörrendes hat wie die künstlichen Feuer der Menschen, liegt auf ihrem Gesicht. Ein Windstoß scheint sie abzuheben, fortzuwehen. Aber schon ist sie wieder da, dringt in sie ein, wie etwas Nahrhaftes, ein göttlicher Trank. Ja, diese sanfte Wärme hat etwas vom Leben, vom wachsenden Leben, vom ewigen Leben - sie spendet Glück!

Aber das Glück, das Sophie Kowalewski jetzt empfindet, hat nichts gemein mit der Kinderfreude, mit dem Lebensglück, an das sie sich heute früh erinnert hatte. Selig lachend, unwissend singend war das Kind durch die Wälder getanzt, die Wonne des Daseins, des Geborenseins hatte es erfaßt, wie sie einen Vogel erfaßt oder ein Kalb auf der Weide, das immer höher springen möchte. Das Glück, das Sophie jetzt empfand, hatte viel Erfahrungen zur Voraussetzung, es war ganz und gar kein Kinderglück. Nach Monaten des Sehnens, des Quälens, des Vergiftens war ihr Leib zum erstenmal wieder in Einklang mit sich selbst. Sie spürte ihn nicht mehr, er hatte keine Forderung an sie, er quälte die Seele nicht mehr. Wie er still treibend im Wasser ruhte, so ruhte er auch still in dem ewigen See der Wünsche, des Sehnens, des Begehrens.

Das selige unbewußte Kinderglück ist nie wieder zu erreichen. Die Pforte fiel zu, mit der Unschuld ist es vorbei - aber viele Glücksmöglichkeiten hat das Leben! Sie hatte gemeint, es sei in der Zelle gewesen, bei ihm, in seinem Arm, sein Gesicht ferne und doch nah über ihr ... Aber nun war es hier im Wasser, Welle auf Welle von Wärme, Welle auf Welle von Glück ...

Träumend steigt sie aus dem Wasser, träumend legt sie sich auf den Sand, einen Arm aufgestützt, das Kinn in der Hand, sieht sie nahe in das Gewirr der Gräser. Sie legen sich ineinander, kleine Höhlen gehen hinein - aber sie sieht nichts. Das wirkliche Glück hat keinen Namen, kein Wort, kein Bild. Es ist ein sanftes Schweben im Irgendwo, keine Melodie auf das Lied: Ich bin da! - sondern etwas wie eine halb schwermütige Klage zu den Worten: Ich bin ich. Denn wir wissen dunkel, daß wir alt werden müssen und häßlich und zu sterben haben.

Als sie Schritte hört, sieht Sophie kaum auf. Sie zieht nur träge den Badeanzug hoch über die nackte Brust, sie sagt halblaut, ganz abwesend: "Guten Tag". Zu einer andern Stunde hätte sie den Zufall begrüßt, der sie hier mit den beiden neuen Herren vom Gut zusammenführte. Aber jetzt sind sie ihr gleichgültig. Mit ein paar halben Worten gibt sie Auskunft: Ja, dies ist die einzige Badestelle, sonst ist alles verschilft. Nein, die Herren stören sie nicht. Nein, das Wasser ist ungefährlich, keine Wasserpflanzen ... Schon versinkt sie wieder in ihr

Schweigen, weiß kaum noch, daß die beiden da sind. Sie sieht wieder in die Grashöhle hinein, die doch gleich magisch zergeht, so daß sie nichts mehr sieht. Die Sonne wärmt herrlich. Sie schiebt den Badeanzug wieder von der Brust fort, die Stimmen der beiden klingen verloren her aus dem Wasser - oh, selig!

Sophie Kowalewski hätte mit aller List nicht klüger handeln können als jetzt, da sie ganz gedankenlos die beiden Herren Studmann und Pagel links liegenließ. Es ist nicht zu leugnen, diese beiden Herren hatten während der Bahnfahrt keinen allzu günstigen Eindruck von der Sophie bekommen, der leicht zu begeisternde Rittmeister mochte dies hilfreiche Prachtmädel über den grünen Klee loben. Pagel wie Studmann kannten bis zum Überdruß diese gezierte Sprechweise der kleineren Lebemädchen, die die große Dame spielen wollen. Sie ekelten sich vor dieser zugleich eingetrockneten und aufgedunsenen Gesichtshaut, die immer nach Puder roch; sie fuhren nicht aus dem mondänen Berlin in den Frieden Neulohescher Felder, um sich ein solches Mitbringsel aufzuladen. Sie waren sehr höflich gewesen und sehr reserviert. Sie dachten etwas anders als der Rittmeister über den Abstand, den man von seinen Leuten wahren muß. Wenn sie Sophie ansahen, schoß ihnen nicht der Gedanke durch den Kopf: Schließlich ist sie bloß die Tochter vom Leutevogt - aber sie wollten nicht. Sie hatten nichts gegen das Mädchen, aber sie hatten sehr viel gegen einen nach Neulohe verpflanzten Berliner Nuttenbetrieb!

Als darum Sophie diese Badegelegenheit so gar nicht ausnützte, die doch jeder Erfahrenen soviel Anreiz und Möglichkeiten geboten hätte, als sie so gar nicht auf die doch unter besonderen Umständen geschlossene Bekanntschaft pochte und nicht gesonnen schien, irgendwelche Folgerungen daraus zu ziehen, da sagte Studmann ganz vergnügt zu Pagel, als sie in das Wasser gingen: "Eigentlich sieht das Mädel ganz nett aus."

"Ja, komisch", antwortete Pagel nachdenklich. "Mir ist sie neulich auch ganz anders vorgekommen: mehr à la Tauentzien."

"Haben Sie gesehen, Pagel?" fragte Studmann dann nach einer Weile. "Vollkommen dezenter Badeanzug."

"Ja", stimmte Pagel zu. "Und nicht ein süßer Blick. Ich glaube, ich werde Frauen nie verstehen."

Mit dieser leichten Anspielung auf seinen jüngst erlittenen Schiffbruch hatte Pagel sich in die Fluten gestürzt, und nun waren ihnen fünf oder zehn Minuten oder gar eine Viertelstunde mit Schwimmen und Tauchen, mit stillem Treibenlassen und gesprächigem Seite-an-Seite-Stehen

vergangen, Minuten, in denen sie sich beide stärker, frischer, bewußter fühlten als in den vergangenen Monaten und Jahren.

Bis sie ein Lärm vom Ufer her aufhorchen ließ: die hell scheltende Stimme einer Frau, das unterdrückte Murmeln eines Mannes.

"Das ist doch die Sophie!" meinte Studmann aufhorchend.

"Ach, lassen Sie sie!" rief Pagel ärgerlich. "Hier im Wasser ist es so schön. Irgendeine Auseinandersetzung mit einem ländlichen Liebhaber vermutlich. Muß Liebe schön sein ...!"

Und er grinste verächtlich.

"Nein, nein!" sagte das Kindermädchen Studmann, das immer hilfreich eingreifen mußte, wo etwas schiefzugehen drohte. "Sie hat mir doch eben einen sehr netten Eindruck gemacht ..."

Und er schwamm rasch auf das Ufer zu. Widerwillig folgte Pagel.

Doch da rief Sophie schon: "Meine Herren! Hierher - er will Ihre Kleider wegnehmen!"

"Sei bloß still, Fieken!" flüsterte der Förster und versuchte, mit seiner Beute zu entkommen. "Dir passiert doch gar nichts. Ich will doch nur die Kleider von den Herren -."

"Herr von Studmann! Herr Pagel! Machen Sie rasch -!" rief Sophie um so lauter.

"Was ist denn hier los?!" fragte von Studmann höchst erstaunt, und auch Pagel sah verblüffter aus, als einem intelligenten Gesichtsausdruck bekömmlich ist.

In schilfleinener, grüner Montur stand der ihnen flüchtig bekannte Förster Kniebusch auf der Wiese, ein ehrwürdiger Tapergreis, die Flinte über der Schulter, unter dem Arm aber ein Bündel aus den Sachen der beiden Herren. Ihm gegenüber Sophie Kowalewski, reizend anzusehen in ihrem streitbaren Zorn, einer Artemis vergleichbar. Mit der einen Hand hielt sie den Badeanzug vor die Brust, mit der andern ein Hosenbein aus des Försters Sachenpaket - und von Studmann erkannte, daß es seine Hosen waren.

"Was soll denn das vorstellen?" fragte er nochmals, höchst erstaunt.

Der Förster war rot wie eine Tomate, und er wurde immer noch röter. Vielleicht wollte er wirklich etwas sagen, es blubberte aber bloß in den Tiefen seines Bartes. Doch die Kleider hielt er weiter fest, und weiter zerrte Sophie Kowalewski an den Hosenbeinen.

Und sie redete, und was sie redete, hatte jetzt bestimmt nichts geziert Damenhaftes.

"Ich lieg doch da und denke an gar nichts, und ich hör was rascheln, und ich denk, es ist ein Igel oder ein Fuchs, und denk mir nichts, und dann sehe ich hin, und ich denk doch, mich laust der Affe -! Da kriecht doch der Kniebusch hinterm Schilf nach den Kleidern von den Herren und steckt sie sich unter den Arm. Na, ich hoch und sag: ›Kniebusch, was machen Sie, das sind doch die Kleider von den Herren!‹ Aber er kein Wort, Finger auf den Mund, und will sachte unter die Bäume ... Na, und ich fasse zu, kriege gerade noch das Hosenbein zu fassen. - Wollen Sie jetzt endlich die Hosen loslassen! Das sind nicht Ihre Hosen!" schreit sie zornig den Förster an.

"Sie scheinen zu unserer Retterin bestimmt, Fräulein Sophie", sagt Studmann lächelnd. "Schon wieder helfen Sie uns aus einer Verlegenheit. Wir danken auch schön. - Aber ich glaube, jetzt können Sie die Hosen loslassen. Herr Kniebusch wird doch nicht vor unsern Augen damit fortlaufen". Schärfer: "Darf ich Sie fragen, Herr Kniebusch, was dies zu bedeuten hat -? Falls Sie es vergessen haben sollten, mein Name ist Studmann, von Studmann, und dieser Herr heißt Pagel - wir sind bei Herrn Rittmeister von Prackwitz tätig."

"Das geht mich alles nichts an", murrt Kniebusch und sieht auf die Kleider, die Pagel ihm ohne weiteres unter dem Arm vorgezogen hat. "Hier ist das Baden verboten, und wenn hier jemand badet, so werden ihm die Kleider fortgenommen!"

"Seit wann denn?!" ruft Sophie Kowalewski zornig. "Das ist ja das Neueste!"

"Halt den Mund, Fieken!" sagt der Förster grob. "Das ist eine Anordnung von Herrn Geheimrat, die besteht schon lange."

"Wenn ich den Mund halten soll, rede ich grade!" ruft die kampflustige Sophie. "Und außerdem lügen Sie. Sie haben mir extra gesagt, mir passiert nichts, Sie wollten nur die Kleider von den Herren!"

"Das ist nicht wahr!" widerspricht der Förster hastig. "So hatte ich es nicht gemeint."

"Doch haben Sie es so gemeint! ›Ich will bloß die Kleider von den Herren‹, haben Sie gesagt!"

"Nein!"

"Doch!"

"Nein!"

"Doch!"

"Nehmen wir Platz!" schlägt von Studmann vor. "Ja, bitte auch Sie, Herr Kniebusch. Pagel, reichen Sie mir mal die Zigaretten aus meinem

Jackett. - Sie sollen sich setzen, Herr Kniebusch! - So. - Zigarette gefällig, Fräulein Sophie? Na, natürlich, weiß ich doch, daß Sie rauchen. So streng wie der Herr Rittmeister im Abteil sind wir nicht, wir sind die junge Generation. - Also, Sie hatten den Auftrag, speziell unsere Sachen zu beschlagnahmen, Herr Kniebusch?"

"Hatte ich nicht! Ich beschlagnahme immer die Sachen von denen, die hier baden!" sagte der Förster trotzig.

"Nicht zum Beispiel die von Fräulein Sophie. - Nun, lassen wir das. Wie oft haben Sie denn hier schon Kleider beschlagnahmt, Herr Förster Kniebusch?"

"Das brauche ich Ihnen gar nicht zu sagen. Ich bin bei Herrn Geheimrat angestellt, nicht beim Rittmeister", sagte der Förster trotzig. Er schielte nach den Sachen, nach dem Waldrand - und fühlte sich überhaupt so, als säße er leise bratend in der Hölle. Die Unterhitze gab der Herr von Studmann, die Oberhitze schlug vom Geheimrat herüber.

"Ich frage nur darum", sagte Herr von Studmann, "weil Sie doch schon viel Unannehmlichkeiten mit diesen Beschlagnahmen gehabt haben müssen?"

Trotzig schwieg der Förster.

"Oder sind Sie Hilfspolizeibeamter?"

Der Förster schwieg.

"Aber vielleicht sind Sie vorbestraft? Dann würde es Ihnen nicht soviel ausmachen, ohne jeden Rechtsgrund Kleider zu beschlagnahmen."

Sophie lachte hell, Pagel räusperte sich dröhnend, dem Förster aber stieg die Röte bis in die Augen, die klein und trübe wurden. Doch er schwieg.

"Wir sind Ihnen namentlich bekannt. Sie konnten uns wegen verbotenen Badens anzeigen. Zweifel, daß wir eine etwa verhängte Strafe bezahlt hätten, bestanden nicht - warum also Beschlagnahme?"

Die drei sahen stumm auf den einen. Der Förster rutschte hin und her, er wollte etwas sagen. Dann sah er wieder nach dem nahen Waldrand. Er stand halb auf, aber zwischen ihm und der rettenden Deckung war das Bein des jungen Pagel - der Förster setzte sich wieder.

"Herr Förster Kniebusch", sagte Herr von Studmann, immer in dem gleichen freundlichen, geduldigen Ton, als erkläre er einem trotzigen Kinde etwas, "wollen Sie nicht offen mit uns reden? Sehen Sie, wenn Sie uns hier nicht Bescheid sagen, werden wir alle zu Herrn Geheimrat von Teschow gehen. Ich werde ihm die Situation auseinandersetzen, in der wir Sie hier abgefaßt haben, und wir werden dann ja doch hören, um was

es hier ging."

Von Studmann schwieg, der Förster hatte den Kopf gesenkt, man sah sein Gesicht nicht.

"Wenn Sie uns hier aber die Wahrheit sagen, so verspreche ich Ihnen ehrenwörtlich, daß die Sache ganz unter uns bleibt. Ich glaube, ich kann auch für das Schweigen von Fräulein Sophie einstehen, nicht wahr -?" Sophie nickte. "Ja, wir wollen Ihnen gerne helfen, irgendwie mit Anstand aus dieser Situation herauszukommen ..."

Der Förster hob den Kopf, er stand auf. In seinen Augen waren Tränen, und während er nun sprach, lösten sich diese Tränen und rannen in den Bart hinunter. Andere folgten, und sie liefen klar und blank aus den Augen des alten Mannes, der dabei immer weiter sprach, ohne Schluchzen: Alterstränen, Greisentränen, die von selbst liefen.

"Ja, meine Herren", sagte der Förster Kniebusch, "aber mir kann keiner helfen. Ich verstehe ja, Sie sind ganz freundlich zu mir, und ich nehme es auch mit Dank an, das mit dem Ehrenwort und dem Schweigen. Aber ich bin doch ein verlorener Mann. Ich bin eben zu alt - und wenn man zu alt ist, glückt einem nichts mehr. Nichts hat man mehr - alles, was einen mal gefreut hat, ist weg ... Ich hab da nun den schlimmsten Wilddieb, den Bäumer, gefangen, und ich will jetzt die Wahrheit sagen: ich habe nichts dazu getan, er ist einfach vom Rad auf einen Stein geflogen und gleich bewußtlos gewesen. Alles, was ich vom Kampf erzählt habe, ist nur gewesen, um mich rauszustreichen ... Ich wollte recht schlau sein, aber ein alter Mann soll nicht schlau sein wollen, er ist nur noch alt ..."

Sie saßen ganz still, und was die jungen Leute, die Sophie und den Wolfgang, anging, so sahen sie vor sich hin. Denn sie schämten sich vor dem weinenden alten Mann, der so schamlos sein Inneres nach außen kehrte. Herr von Studmann aber hatte seine braunen Augen aufmerksam auf den Förster Kniebusch gerichtet, und ab und zu nickte er mit dem Kopfe.

"Ja, meine Herren", fuhr der Förster Kniebusch fort, "und nun wollen sie mir ja auf dem Gericht einen Strick daraus drehen, weil der Bäumer hohes Fieber hat, und der einzige, der mich verteidigen kann, ist der Herr Geheimrat. Und wenn ich nicht tu, was er will, so verteidigt er mich nicht, sondern nimmt mir noch mein Brot, und was soll dann aus mir und meiner kranken Frau werden?"

Der Förster stand, als habe er seine Rede ganz vergessen, aber unter dem Blick von Herrn von Studmann besann er sich und fuhr fort: "Ja, und heute nach dem Essen ruft er mich an und sagt mir, daß die Herren zum Baden gegangen sind und ich soll ihnen unter allen Umständen die

Kleider fortnehmen, sonst hilft er mir nicht. Aber nun hat das Fieken dagesessen, und es ist nichts daraus geworden. - Warum er aber solchen Zorn auf die Herren hat, das weiß ich nicht, davon hat er keinen Ton gesagt."

Er schwieg wieder und sah trostlos vor sich hin.

Herr von Studmann aber fragte: "Nun, Herr Kniebusch, gibt es denn hier nicht noch andere Teiche? Wir müssen ja nicht hierhergegangen sein."

Der Förster dachte nach. Er belebte sich, ein Hoffnungsschimmer glimmte auf. "Nach dieser Seite ist es schwer", sagte er nachdenkend. "Hier ist sonst alles Wald und Sand."

"Birnbaum", sagte Sophie.

"Ja, nach den Birnbaumschen Teichen könnten die Herren gegangen sein. Aber dann dürften die Herren nicht vor sieben nach Haus kommen, weil es doch so weit ist. Ob Sie so lange im Walde sitzen mögen -?"

"O doch, das tun wir schon einmal", sagte Studmann freundlich. "Die Knechte werden ja auch einmal ohne uns füttern."

"Dann danke ich den Herren auch schön", sagte der Förster, und seine Tränen waren versiegt. "Es ist sehr freundlich von Ihnen zu einem alten Mann. Viel wird es aber doch nicht helfen. Ich müßte einmal einen rechten Erfolg nach Haus bringen, aber für einen alten Mann ist das wohl zuviel verlangt. Kein junger Mensch kann wissen, wie einem alten zumute ist."

Er stand noch einen Augenblick in Gedanken, besann sich und sagte noch einmal: "Aber so ist es durch die Güte der Herren doch kein Mißerfolg geworden."

Er lüftete den Hut und ging.

Studmann sah ihm einen Augenblick nach, dann rief er: "Warten Sie, Herr Kniebusch, ich begleite Sie noch ein Stückchen!"

Und er lief ihm nach, barfuß, im Badeanzug, ohne jede Schonung für seine recht weichen Füße. Aber was ein rechtes Kindermädchen ist, das denkt nicht an die Schmerzen in den eigenen Füßen, wenn es den Schmerz in anderer Leute Herz sieht, der des Trostes bedarf.

So blieben Sophie und der junge Pagel allein zurück, und sie unterhielten sich recht angenehm miteinander, zuerst über den Förster Kniebusch und dann von der Ernte. Und weil die Sophie an diesem Nachmittag ausgeruht und zufrieden und glücklich war, so kam sie gar nicht auf den Gedanken, dem jungen Pagel damenhaft zu imponieren oder ihm gar süße Augen zu machen. Wolfgang aber mußte sich immer

wieder wundern, wie falsch er dieses nette, vernünftige Mädel in der Bahn beurteilt hatte, und er war jetzt geneigt, seinen Berliner Augen an dieser falschen Einschätzung schuld zu geben.

Was aber die Ernte anging, so hatte der Vater Kowalewski gesagt, sie seien in Neulohe mindestens drei Wochen zurück, und sie würden es nie schaffen, wenn nicht ein ordentlicher Schwung kräftiger Leute käme. Und kein Mensch im Dorf verstünde, warum sich der Rittmeister nicht ein Kommando aus Meienburg kommen ließe. Das seien die fleißigsten und die fügsamsten Leute, wenn sie nur ordentlich zu essen und zu rauchen bekämen. Aber der Rittmeister müsse sich daranhalten, alle Güter hier in der Gegend hätten schon ihre Kommandos, und das Zuchthaus sei halb leer. Sagte der Vater, denn sie wisse ja nichts davon, sie sei ja auch grade erst hier in die Gegend gekommen. Aber es tue ihr leid um die Ernte ...

Pagel fand das alles vernünftig gesprochen und fand es tüchtig von dem Mädchen, daß es sich Gedanken um die Neuloher Ernte machte, die eine Berliner Zofe eigentlich doch gar nichts anging. Er nahm sich vor, heute abend mit Studmann die Sache zu bereden. Weil aber Studmann noch immer nicht zurückkam, beschlossen sie, erst einmal wieder ins Wasser zu gehen.

Da sah Pagel, daß die Sophie ausgezeichnet schwamm und daß er sich Mühe geben mußte, es ihr gleichzutun. Er aber konnte ihr etwas Neues zeigen, einen neuen Schwimmstil, der damals grade in Berlin sich auszubreiten anfing und den man "Crawl" nannte. Einem jungen Mann tut es immer gut, wenn er etwas ein bißchen besser kann als ein junges Mädchen; und wenn er diesem jungen Mädchen etwas beibringen kann, so findet er, daß dieses Mädchen ein nettes, äußerst sympathisches Mädchen ist.

Und Sophie war mit ihrem uninteressierten Sportlehrer, den sie sonst einfach beleidigend gefunden hätte, auch sehr zufrieden, und so waren sie beide bereits die allerbesten Freunde, als endlich ein hinkender, nachdenklicher Studmann aus dem Walde auftauchte.

"Nun", sagte er mit einem Blick auf die beiden, setzte sich ins Gras und brannte sich eine Zigarette an, "nun, es ist eine seltsame Welt, Pagel. Die Erde schwitzt statt Korn Angst, und ihre Angst steckt alles an. Ein Geschlecht voller Angst, Pagel. Wie ich schon heute nachmittag annahm, Pagel, der Friede der Felder ist eine Illusion, und irgend jemand ruht nicht, uns das möglichst schnell begreiflich zu machen ..."

"Der alte Knacker", sagte Sophie sehr verächtlich, "hat wohl wieder geschwatzt und geklatscht -? Bei Ihnen wirkt es vielleicht noch - wir

hören schon lange nicht mehr nach seinem Gebarme hin."

"Nein, Fräulein Sophie", entgegnete von Studmann. "Der alte Herr hat leider nicht geschwatzt. Ich wollte, er wäre beredter gewesen, denn es scheinen hier seltsame Dinge zu geschehen. Nun, ich denke, ich werde mit der Zeit schon dahinterkommen. Aber, Pagel, um eines bitte ich Sie: Wenn Sie den Alten sehen, seien Sie immer ein bißchen freundlich zu ihm. Und wenn Sie ihm in was helfen können, dann tun Sie es. Er ist ja nur eine alte, weichliche Bangbüx, darin hat Fräulein Sophie recht, aber wenn ein Schiff SOS funkt, dann hilft man eben und fragt nicht erst lange nach der Ladung."

"Gottedoch!" spottete Sophie. "Das hätte ich nie geglaubt, daß der Herr Förster Kniebusch noch einmal zwei solche Helfer kriegen würde". - Denn Pagel hatte ganz einverstanden zu Studmanns Worten genickt. - "Verdient hat der es bestimmt nicht, solch heimlicher Zwischenträger und Ohrenbläser, wie er ist."

"Ja", sagte Studmann, "wer hat denn eigentlich was verdient hier -? Ich sicher nicht, und Pagel wahrscheinlich auch nicht, und Sie, Fräulein Sophie, ein so tüchtiges und anständiges Mädchen, wie Sie sind, eine Extrabelohnung haben Sie doch wahrscheinlich auch nicht verdient."

Hier wurde Sophie rot und fühlte eine Spitze an der Angel, wo keine war.

"Nun, lassen wir das. Ich hab Sie eigentlich bitten wollen, Fräulein Sophie, ob sie uns nicht einmal einen Wink geben möchten wegen der Holzdiebe. - Er macht sich nämlich soviel Sorgen wegen der Holzdiebe, er sagt, sie gehen kolonnenweise, und er als einzelner ist machtlos gegen sie."

"Was gehen denn mich die Holzdiebe an?!" rief Sophie empört. "Ich bin doch kein Spion!"

"Ich hab gedacht, Fräulein Sophie", sagte Studmann, als hätte er nichts gehört, "Sie merken im Dorf eher einmal, wenn so eine Kolonne losgeht, als wir, die wir auf dem Hof wohnen."

"Ich bin kein Spion", rief Sophie noch einmal hitzig. "Ich schnüffle die armen Leute nicht aus."

"Ein Diebstahl ist ein Diebstahl", sagte Studmann hartnäckig. "Spion klingt häßlich, aber wer einen Diebstahl anzeigt, ist kein Verräter und kein Spion. Ich denke", fuhr er überredend fort, "Sie interessieren sich für den Hof und sein Gedeihen, Sie nehmen Anteil daran. Ihr Vater ist doch auch in solcher Zwischenstellung zwischen den Leuten. Er muß auch manchmal melden, wer schlecht gearbeitet hat, ohne darum Angeber zu

heißen. Schließlich haben Sie ganz bequem neben dem Rittmeister im Zug gesessen und sitzen jetzt hier gut neben uns - man muß doch wissen, zu wem man gehört ..."

Sophie hatte den Kopf in die Hand gestützt und sah einmal den Herrn von Studmann und einmal den Herrn Pagel nachdenklich an. Aber es war dabei gar nicht sicher, daß sie auf die listig von Studmann gesprochenen Worte gehört hatte, sie schien über etwas nachzusinnen. Schließlich sagte sie: "Nun gut, ich will mal sehen. Aber es ist nicht sicher, daß ich auch wirklich etwas erfahre, ich rechne für die Leute auch nicht mehr mit."

"Schön, schön", sagte Studmann und stand auf, "wenn Sie nur an uns denken wollen, das ist schon was. Das andere findet sich dann schon. - Und wenn Sie nun nichts dagegen haben, gehen wir alle drei noch einmal ins Wasser. Meine Füße sind ziemlich kaputt, ich möchte sie vor dem Heimweg noch ein bißchen kühlen. - Dann dürfte unsere Zeit herum sein, und wir können ohne Tadel nach Haus gehen. Dabei müssen Sie uns noch von den Birnbaumer Teichen erzählen, Fräulein Sophie. Ich trau dem alten Herrn zu, daß er seinem Förster nicht so ohne weiteres glaubt, sondern uns ein bißchen auf den Zahn fühlt. - Wenn er nicht gar hier noch auftaucht ..."

Und Studmann warf einen argwöhnischen Blick auf den Waldrand.

7

Mit seiner Befürchtung, der alte Herr Geheimrat könne noch in Person an den Krebsteichen auftauchen, hatte Herr von Studmann nicht recht. Er schätzte den Herrn von Teschow noch falsch ein. Leise stänkern, das tat er gerne, das laute Stunkmachen übertrug er lieber seinen Leuten. Zu den Krebsteichen, an denen diesen Nachmittag Krach zu erwarten war, hätten ihn keine zehn Pferde gebracht. Dafür wanderte er geruhig und leutselig durch das Dorf Neulohe, blieb stehen, wo jemand stand, wechselte Rede und Gegenrede und war überhaupt ganz wie ein Fürst, der sich zwischen seine Untertanen mischt. Sein alter Elias hatte es drei Stunden früher auf dem Gutshof nicht besser gemacht.

Während sich der Geheimrat so recht sonntäglich vergnügt durch das Dorf schwatzte, dachte er immer daran, was er sich wohl für ein Gewerbe beim Schulzen Haase machen könnte, denn er liebte es gar nicht, mit der Tür ins Haus zu fallen. Und rausbekommen mußte er, was der Schulze gegen den Förster Kniebusch hatte, warum er einen so ungünstigen Bericht über ihn erstattet hatte. Wenn man nicht alles weiß,

dann weiß man nichts, hatte er sein Lebtage gesagt, und von der Kuckhoff hatte er oft gehört, daß kein Dreck so dreckig ist, daß nicht einer herkommt und zieht die schönsten Gurken darauf.

Es wollte sich aber nicht der geringste Vorwand finden lassen, und der Geheimrat wurde schon ganz mißmutig, als er kurz vor dem Dorfplatz, grade dort, wo der Weg zum Friedhof abgeht, die alte Leege sah. Die alte Leege war ein uraltes Weib; früher, als sie noch arbeiten konnte, hatte sie auf dem Hof gearbeitet, während ihr jetzt schon lange toter Mann mal in der Gemeinde als Totengräber, mal in dem Forst als Holzarbeiter sich sein Brot verdient hatte. Das war nun alles schon lange her, und die alte Leege hauste bereits an die zehn Jahre, seit ihr letzter Enkel nach Amerika gegangen war, in einem alten Katen unter der Friedhofsmauer. Ein bißchen wunderlich war sie, aber von allen gefürchtet, denn sie stand in dem Ruf, das Vieh verhexen zu können. Soviel war sicher, Warzen und Rose gingen von ihrem Besprechen weg.

Der alte Geheimrat hatte mit alten Weibern nicht viel im Sinn. Das war schon ein Jägeraberglaube; und so machte er, daß er weiterkam, als er die alte Leege sah. Aber die hatte ihn schon mit ihren mäuseschwarzen und mäuseflinken Augen erspäht, sie schoß über den Dorfplatz auf ihn zu, daß sie ihm den Weg verstellte, und fing an, gaumig heulend, was von ihrem Hüttendach zu klagen, durch das der ganze letzte Regen hindurchgegangen sei wie durch ein Sieb.

"Das geht mich nichts an, Leegen", schrie der Geheimrat in ihre tauben Ohren. "Da mußt du zum Schulzen gehen. Das ist Gemeindesache, keine Gutssache."

Aber die alte Leege ließ sich so leicht nicht abspeisen, denn sie war fest davon überzeugt, daß der Herr von Teschow ihr Herr und für ihr Wohlergehen verantwortlich sei, genau wie vor dreißig, vierzig Jahren - und aus dem Wege drängeln ließ sie sich auch nicht. Sie erfüllte den ganzen Dorfplatz aber so mit ihrem gaumigen, heulenden Geschrei, daß dem Geheimrat die Sache recht leid ward. Und da er bedachte, daß ein schlechter Vorwand immer noch besser ist als gar keiner - und warum sollte man nicht schließlich mit dem Schulzen Haase von dem durchlässigen Dach einer armen ehemaligen Gutsarbeiterin sprechen? -, so ließ er sich erweichen und ging mit ihr in die Schindertannen, denn so heißt es, wo die Leege wohnt.

"Na, schreibt denn gar keiner von den Enkeln mal?" fragte er, um von dem Dach loszukommen, von dem er alles schon wußte: vorne, hinten und auf dem Giebel. Die alte Leege heulte freundlich, die Enkel schrieben, und Bilderchen schickten sie ihr auch mal.

Na, was sie denn so schrieben, und wie es denn so ginge drüben?

Ja, was sie schrieben, das könne sie so genau nicht sagen, denn der alte Kater habe ihre Brille zerbrochen, jetzt das andere Jahr; aber wenn in diesem Jahr die Beerenlese gut werde, so werde es vielleicht reichen zu neuen Gläsern!

Warum sie sich denn die Briefe nicht vorlesen lasse?

Nein, das tue sie nicht, denn wenn einmal drin stünde, es ginge den Enkeln schlecht, so würde es gleich durch das ganze Dorf getragen, und sie wolle nicht, daß man über ihre Enkel rede. Sie könne es abwarten mit dem Lesen, bis sie neue Brillengläser habe.

Ob sie denn nicht einmal etwas schickten für ihre alte Großmutter, ein bißchen Geld oder ein kleines Freßpaket?

O doch, schöne bunte Bilderchen schickten sie; mit dem Essen sei es wohl nicht so weit her in dem Indianerlande -!

Damit waren sie bei dem alten Katen angelangt, der wirklich recht unheimlich wie ein wahres Hexenhaus aus dem Märchen unter den Schindertannen lag. Der Geheimrat nahm das altersschwache, zerfetzte, bemooste Strohdach von vorn und von hinten und von der Giebelseite in Augenschein, immer geleitet von dem klagenden Geheul der Alten. Aber der Geheimrat war plötzlich ein gründlicher Mann geworden und hatte es nicht mehr so eilig, von der Leegen fortzukommen. Denn was ein richtiger Fuchs ist, der riecht eine Gans in einem Fuder Stroh. So stieß er denn die Tür auf und ging hinein in die alte Kabache, weil er was in der Nase hatte. Das Haus unter den Schindertannen sah von innen genau so aus, wie man von außen erwarten durfte, nämlich, wie ein Saustall nicht aussehen darf, wenn die Säue gedeihen sollen, sondern völlig ländlich-schändlich.

Aber den Geheimrat störten jetzt weder Dreck noch Gestank, noch die Fetzen und das Gerümpel äußersten Elends - mit seinen alten listigen Augen sah er sich scharf um, und da erblickte er schon, was er wollte, nämlich ein altes Foto an der Wand, und hinter das Foto hatte die Leegen was gesteckt.

"Ja, das ist der Ernstel", heulte die Alte los. "Das ist der letzte, der rüberging, gerade Anfang 13, gerade ehe der große Krieg losging ..."

"Und das ist eins von den Bilderchen, die dir der Ernst schickt, Leegen, was? Hast du mehr davon?"

Ja, sie hatte mehr davon, in den Briefen steckten noch welche, und in den Küchenschrank hatte sie sich auch eine Borte von den Bilderchen gesteckt.

"Hör zu, Leegen", sagte der Geheimrat. "Ein neues Dach kriegst du, das verspreche ich dir. Und wenn du eine Ziege haben willst, sollst du sie auch kriegen. Und satt zu essen auch. Und eine Brille auch. Und Feuerung auch ..."

Die alte Frau hob ihre Hände gegen den Geheimrat, als wolle sie die Fülle all dieser Gaben von ihrer Brust wegschieben, und sie setzte an, zu lobpreisen ihren guten alten Herrn ...

Aber der Geheimrat hatte es eilig. "Hier bleibst du sitzen, Leegen, und in spätestens einer halben Stunde bin ich mit dem Schulzen hier, vielleicht bringe ich auch den Pastor mit, und du rührst dich nicht von der Stelle, und von den Bilderchen gibst du auch keins weg ..."

Die alte Leegen versprach es hoch und heilig.

Und es geschah alles richtig und ordnungsgemäß; mit dem Geheimrat kamen der Pastor und der Schulze, und es wurde Nachsuche gehalten, und die alte Leegen konnte nicht genug wunderwerken über die drei Herren, die nicht abließen, ihre Sachen umzudrehen und auszuschütteln. Sogar ihre paar Winterstrümpfe krempelten sie auf und um, das Bettstroh zog der Schulze aus der Lade - alles auf der Suche nach diesen regenbogenfarbenen Bilderchen!

Was die alte Leegen war, so verstand sie gar nichts von dieser Sache, und wenn sie ihr auch zehnmal in die Ohren tuteten, daß dies "richtiges" Geld sei, Goldgeld, Devisen, während das andere Dreckgeld sei, Schwundgeld, Mist - ihr kam es doch vor, als seien die würdigen drei: Nährstand, Geistlichkeit und Behörde, zu kleinen Kindern geworden, die in ihrer Kate Ostereier suchten.

Der Geheimrat von Teschow aber saß wieder einmal so richtig in seinem Fett, und ab und zu ließ er es brutzeln und machte eine Bemerkung dahin, daß natürlich erst ein Greis wie er kommen und sich um seine alte Arbeiterin kümmern müsse, die ihn von Rechts wegen gar nichts anginge, während der Herr Schulze, der von Amts wegen nach den Ortsarmen, und der Herr Pastor, der von Gottes wegen nach seinen Pfarrkindern zu sehen habe, wieder einmal nichts von Tuten und Blasen wüßten und die Alte in all ihrem Reichtum vor Regen ersaufen und vor Hunger hätten umkommen lassen.

Schulze wie Pfarrer sagten das Allerbeste zu diesen immer wiederholten spitzigen Bemerkungen - nämlich gar nichts, und kaum war das Vermögen der Alten mit zweihundertfünfundachtzig Dollar festgestellt und protokollarisch niedergelegt, so drückte sich der Pfarrer eilig, da ja die Angelegenheit in den besten Händen sei. Der Schulze hatte die Scheine an sich genommen und für die Bilderchen der Alten

auf den andern Tag den Dachdecker versprochen. "Auch einen Korb mit Lebensmitteln. Auch 'ne Zicke, jawohl, Leegen. Auch 'ne neue Brille, ist ja gut, Leegen ..."

Und die beiden Herren gingen nun langsam wieder aus den Schindertannen am Friedhof vorbei auf das Dorf zu, während hinter ihnen das Dankgeheul der Leegen langsam verscholl.

"Und was machen Sie nun mit dem Geld, Haase?" fragte der Geheimrat.

"Tja, Herr Geheimrat, das ist so eine Sache", sagte der Schulze. "Darüber muß ich wohl erst mal schlafen."

"Ich glaube, ich habe so was gelesen", bohrte der Geheimrat, "daß man Devisen abliefern muß. An die Bank. Aber es braucht nicht zu stimmen."

"Tja, Herr Geheimrat, wenn ich es auf der Bank abliefere, kriege ich einen Klumpatsch Geld dafür, und wenn die alte Leegen die andere Woche ein Päckchen Kaffee haben will, muß ich ihr sagen: Ist schon wieder alle, Leegen."

"Das ist schlecht für die alte Frau, Haase."

"Tjaa, Herr Geheimrat, die tut mir auch wahrlich leid."

"Aber es wird wohl nicht anders gehen, wenn die Bestimmung so ist."

"Sie muß ja nicht so sein - Herr Geheimrat kann sich ja verlesen haben."

"Das kann ich natürlich. Es steht so viel in den Zeitungen."

"Das tut es - man wird ganz wirr, wenn man bloß reinschaut."

Die beiden gehen bedachtsam weiter, der lange dürre Schulze mit seinem tausendfältig zerknitterten Gesicht und der untersetzte dicke Geheimrat mit dem grellroten Gesicht - aber seine Falten hat es auch.

"Es ist auch", fängt der Schulze wieder an, "daß eilige Erntezeit ist, wer kann da nach Frankfurt auf die Bank und Geld einwechseln? Und ich muß dem Dachdecker was geben und das Deckstroh bezahlen und die Zicke - das kann ich doch nicht mit Dollars. Einmal gibt's Gerede, und dann darf ich's ja auch gar nicht."

"Da muß eben ein anderer solange das Geld umwechseln, bis Zeit zum Abliefern ist", meint der Geheimrat.

"Tjaa" - antwortet der Schulze nachdenklich. "Das denk ich schon die ganze Zeit. Nur, wer hat denn in der Ernte soviel Geld liegen?"

"Ich glaub, ich hab noch was im Geldschrank. Ich will mal nachsehen, Haase, ich gebe Ihnen heute abend Bescheid."

"Ich habe ja gestern gedroschen", sagt der Schulze und bohrt seinerseits, "und ich denke, ich fahre es morgen fort. Nur, es ist, Herr Geheimrat, weil ich das Geld übermorgen Ihrem Förster geben muß ..."

Der Geheimrat schweigt mucksstill.

"Wenn der Förster vielleicht ein paar Tage warten würde? Vielleicht kommt ein Regentag, daß man noch mal dreschen kann."

"Das versteh ich nicht", sagt der Geheimrat, "entschuldigen Sie, Haase, ich bin ja wohl doof auf beiden Ohren, aber das verstehe ich nicht. Das ist doch wohl wegen der Hypothek von Kniebusch über zehntausend Friedensmark?"

Der Schulze biß sich auf die Lippen. Dann sagte er mürrisch: "Das verstehe ich auch nicht, Herr Geheimrat, aber Ihr Kniebusch ist ein alter Hund, der hat mich reingelegt, und ich kann ihm die Hypothek jetzt nicht kündigen, und vierzig Zentner Roggen im Jahr muß ich ihm Zinsen geben, und dafür geht das Korn morgen weg ..."

"Kinder, Kinder!" grinste der alte Herr, hocherfreut, daß wieder mal einer hereingefallen war(denn vor nichts im Leben hatte er eine so unbegrenzte Hochachtung wie vor dem Reinlegen und Anschmieren und tüchtig Übers-Ohr-Hauen!). "Kinder, Kinder, ihr macht Sachen ... Nun verstehe ich auch, warum der Herr Richter in Frankfurt so schlecht auf den Kniebusch zu sprechen ist ..."

"Ich habe", rief der Schulze hitzig, "nur geschrieben, was recht ist ..."

"Natürlich, Schulze, wie denn sonst -?" sagte der alte Geheimrat sehr vergnügt. "Immer nach Recht und Ordnung und Gesetz! Aber darüber reden wir beide heute abend noch. Denn ich besuche Sie - ich bring Ihnen das Geld, daß Sie die Dollars umwechseln können, denn Ihr Roggengeld wird nicht reichen für alles. Ich helfe Ihnen gerne, Schulze. Und wenn ich mal nach Frankfurt komme, dann liefere ich meine Dollars ab, und wenn Sie hinkommen, liefern Sie Ihre ab - die Herren in Berlin werden ja Warten gelernt haben. Und der Förster Kniebusch hat auch Warten gelernt, dafür sorge ich, da stehe ich Ihnen für ein. Ist doch ein schlauer Hund, der alte Kniebusch; einen Bauern einzuseifen, hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Na, Sie werden's mir heute abend erzählen, Schulze ..."

"Der Dollar steht jetzt auf einer Million und hunderttausend Mark - so wechseln wir doch ein?" fragte der Schulze nachdenklich.

"Na, natürlich", sagte der Geheimrat. "Wie denn sonst?"

"Und wenn er nun morgen höher kommt? Dann sitze ich mit dem ganzen Haufen Geld da und kann ihr nichts mehr kaufen!"

"Na, etwas werden Sie ja 'ne Weile doch kaufen können, und überhaupt, kaufen Sie ein bißchen Vorrat. Wenn's dann alle ist, ist es alle. Wenn ein anderer gekommen wäre und hätte die Bilderchen an der Wand gesehen, hätte sie gar nichts gekriegt. Und überhaupt, in den Briefen haben wir doch gelesen, der Enkel schickt ihr alle Monat zehn Dollar, und zu Geburtstag und zu Weihnachten zwanzig Dollar extra - da kommt doch immer wieder was rein. Da hat die alte Leegen mehr, als sie ihr ganzes Leben gehabt hat! -"

"Man müßte nur sicher sein, daß keiner was redet", sagte der Schulze. "Sonst gibt's Stunk."

"Wer soll denn reden; Haase? Der Pastor Lehnich hält's Maul, der hat sich blamiert. Und wir beide reden auch nicht. Und die alte Leegen, die hat nichts kapiert, die denkt, im Himmel ist Jahrmarkt, und wenn sie redet, versteht's keiner. Und wenn's einer versteht, der soll erst mal kommen und sagen, der Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow macht faule Sachen. Wir wollen ja die Dollars abliefern - das ist ausgemacht, Haase, was?"

"Sobald ich nach Frankfurt komme, bestimmt, Herr Geheimrat", erklärte der Schulze.

Und so trennten sich die beiden, der Schulze nicht ganz zufrieden, denn er hätte das Dollargeschäft lieber allein gemacht, aber er wußte ja auch, daß die schwersten Schweine am lautesten nach Futter schreien.

Der Geheimrat aber war völlig zufrieden, denn er hatte nicht nur erfahren, was er wissen wollte, sondern auch ein kleines Geschäft gemacht. Ein Mann kann noch so reich sein, reich genug kommt er sich nie vor. Der Förster Kniebusch aber war sehr erstaunt, wie gleichgültig sein knurriger Herr den Bericht von der erfolglosen Suche an den Krebsteichen aufnahm. Aber noch erstaunter war er, daß Herr von Teschow nun schon wieder über die Neuregelung der Hypothekensache Bescheid wußte und gar als Fürbitter für den Schulzen Haase auftrat, vierzehn Tage später zahlen zu dürfen. Da sagte er leicht ja; um so hartnäckiger aber schwieg er, als der Geheimrat durchaus erfahren wollte, wie denn Kniebusch den Haase zu solch unerhörtem Zugeständnis bewegt habe.

Der Förster blieb dabei und schwor Stein und Bein, und seine blaßblauen Augen wurden immer blauer und ehrlicher bei der Versicherung, daß der Schulze Haase ein grundanständiger Mann sei und aus lauter Anstand und Ehrlichkeit getan habe, was recht war -: "Und eigentlich hätten es ja sechzig Zentner Roggen sein müssen, Herr Geheimrat, aber ich bin auch nicht so, genau wie der Schulze ..."

"Kniebusch!" rief der alte Herr empört, "Sie können doch keinen buckligen Mann durch einen Lattenzaun ziehen! Wo 's Geld anfängt, hört der Anstand auf - und nun wollt ihr beiden alten Schweinehunde ..."

Aber nein, der Förster blieb dabei! Seine Stirn war schweißnaß, und sein Ton wurde so treuherzig und bieder, daß er zehn Meilen gegen den Wind nach Lüge und Betrug stank, aber er blieb dabei. Und es muß gesagt werden, daß der Förster Kniebusch, der seinem Herrn immer untertänig gewesen war und stets nach seinen Wünschen gehandelt hatte, dem Herrn von Teschow nie so imponiert hatte wie der Kniebusch, der ihm sichtlich die Hucke voll log.

"Kieke da!" sagte der alte Herr, als er wieder allein war. "Mein Kniebusch macht sich. Aber warte nur, was der eine nicht erzählt, quatscht der andere aus - und ich will einen Besen fressen, wenn ich heute abend nicht alles vom Schulzen rauskriege."

Aber darin täuschte sich der Geheimrat: der Schulze hielt genauso dicht wie der Förster, und das erstaunte den alten Herrn sehr und machte ihn recht nachdenklich. Denn so was war eigentlich noch nie dagewesen.

Einen Besen fraß er allerdings deswegen doch noch nicht - er gab die Hoffnung so leicht nicht auf.

8

Vor der Tür des kleinen Vogthauses, in dessen Giebelstube Fräulein Sophie Kowalewski wohnte, hatten sich die Herren Studmann und Pagel von ihrer Begleiterin verabschiedet - und die Dorfleute hatten mit Staunen gesehen, daß diese verdächtigen Berliner Herren nicht einfach weitergegangen waren, nach einem bloßen Zuruf, wie man es mit einem Hofgängermädchen machte. Sondern die Herren hatten ihr richtig die Hand gegeben, wie man es bei einer wirklichen Dame tut, und der ältere, der mit dem Eierkopf, der Tutmann, hatte die Mütze gezogen. Der jüngere aber hatte das nicht getan, weil er nämlich keine Mütze aufhatte, sondern nur die bloßen Haare auf dem Kopf.

Die Bewunderung für den so schillernd und bunt aus seiner unscheinbaren Puppe gekrochenen Schmetterling Sophie war ins ungemessene gestiegen. Was Koffer und Kleider angefangen hatten(und die Heimfahrt gemeinsam mit dem Herrn Rittmeister), das vollendete dieser formvolle Abschied. Die Mütter hatten es gar nicht mehr nötig, ihren Bengeln zu befehlen: "Gegen die Sophie benehmt ihr euch anständig. Die ist jetzt eine richtige Dame!" - Sie wußten auch so

Bescheid, und die Sophie Kowalewski war ihren Nachstellungen entrückt wie etwa das gnädige Fräulein in der Villa. Mit Berliner Herren, die vielleicht sogar Detektive waren, wollte es keiner von ihnen zu tun bekommen.

Die Herren aber waren gemütlich plaudernd weitergegangen, ohne Ahnung davon, daß sie für die Isolierung ihrer gefährlichen Feindin in der Dorfgemeinschaft gesorgt hatten. Sie hatten erst einmal in die Ställe geschaut und waren dann auf das Büro gegangen. Auf dem Schreibtisch des Büros stand ihr Abendessen, und auf dem Fußboden des Büros stand grau und reserviert der Diener Räder. Er tat jetzt aber den Mund auf und meldete, daß die gnädige Frau den Herrn von Studmann um drei Viertel sieben zu sprechen wünsche.

Herr von Studmann sah auf seine Uhr und stellte fest, daß es ein Viertel nach sieben war, und sah den Diener Räder fragend an. Aber der verzog das Gesicht nicht und sagte keinen Ton.

"Also, ich gehe jetzt gleich, Pagel", sagte von Studmann. "Warten Sie nicht auf mich mit dem Abendessen, fangen Sie immer schon an."

Damit ging er eilig, langsamer folgte ihm der Diener Räder, und allein auf dem Büro blieb Wolfgang Pagel. Er fing aber noch nicht mit dem Abendessen an, er ging in dem sauberen, blitzenden Büro auf und ab, rauchte zufrieden seine Zigarette und sah dann und wann aus den weit offenen Bürofenstern in den sommerlichen, fröhlichen, grünen, von Vögeln durchlärmten Park.

Nach der Art junger Menschen dachte er nicht über seinen Zustand nach. Er ging so hin und her, rauchend, wechselnd zwischen Licht und Schatten. Ihn bedrückte nichts, er wünschte nichts - hätte er über seinen Zustand nachgedacht und hätte ihn auf den kürzesten Nenner gebracht, er hätte gesagt: Ich bin - fast - glücklich.

Vielleicht hätte er bei genauerer Prüfung ein leises Gefühl der Leere entdeckt, wie es die Genesenden empfinden, die eine lebensgefährliche Krankheit überstanden haben und noch nicht ganz wieder unter die Lebenden eingereiht sind. Er kam aus schwerer Gefahr, er hatte noch keine Aufgabe wieder im Leben, er gehörte nicht ganz dazu. Eine geheimnisvolle Macht, die seine Gesundung wollte, leitete seine Taten, mehr noch seine Gedanken. Sehr ungleich dem Herrn von Studmann, interessierte ihn nicht, was hinter den Dingen vorging, ihn interessierte jetzt nur ihre Außenseite. Instinktiv wehrte er sich dagegen, sich Sorgen machen zu müssen. Er studierte keine Pachtverträge, er berechnete nicht kummervoll die Höhe der Pacht; er fand, daß der alte Herr von Teschow ein fröhlicher, rauschebärtiger Greis sei, und wollte von

Hinterlist und dunklen Absichten nichts wissen. Ihn befriedigten voll die einfachen, greifbaren Aufgaben des Lebens: das Hinausfahren auf das Feld, das Aufstaken des Roggens, der tiefe, traumlose Schlaf des Nachts aus äußerster körperlicher Ermüdung. Er war sorglos wie ein Genesender, oberflächlich wie ein Genesender - und fühlte wie ein Genesender, ohne es klar zu wissen, noch immer den schaurigen Anhauch aus jenem Rachen, dem er sehr knapp nur entronnen.

(Sehr viel später erst würde er seiner Mutter und vielleicht auch Petra schreiben. Jetzt nur Ruhe.)

Zufrieden und gedankenlos geht er auf und ab, wenn er mit der Zigarette fertig ist, wird er ein bißchen pfeifen. Morgen früh fängt die Einfahrerei wieder an - ausgezeichnet! Man hätte natürlich auch heute einfahren können, wie es alle Güter hier in der Nähe tun, aber die alte Gnädige auf dem Schloß(die er noch nicht zu sehen bekommen hat) soll gegen Sonntagsarbeit sein. Schön. Heute abend hat Studmann noch irgend etwas vor; was, weiß er nicht, aber es wird schon nett sein. Alles hier ist nett. Hoffentlich kommt der Oberleutnant bald zurück von der jungen Gnädigen, Wolfgang mag nicht gerne allein sein. Am wohlsten fühlt er sich mitten unter den Leuten.

Gedankenvoll bleibt er vor dem fichtenen Regal halten, auf dem in langen Reihen die schwarzen Jahresbände der Gesetze und Verordnungen stehen. Oben das Kreisblatt, unten das Reichsgesetzblatt. Reihe um Reihe, Band um Band, Jahr um Jahr verordnen sie, bestimmen, drohen, regeln, bestrafen von Urbeginn an bis in das Weltenende hinaus, und jeder einzelne rennt sich doch immer neu den Schädel in dieser geordneten Welt blutig.

Pagel hebt einen der ältesten Bände aus dem Fach. Von dem braunen, fleckigen Papier spricht zu ihm eine Anordnung, die verbietet, einem Dienstboten oder Instmann mehr als zwei Schock Krebse in der Woche zum Essen zu geben. Er lacht. Heute jagt man die Badenden aus den Teichen und schützt so den Krebs vor den Menschen; damals schützte man die Menschen vor den Krebsen!

Er stellt den Band auf seinen Platz zurück und hat etwas unter Augenhöhe die Schnittfläche einer andern Bandreihe des "Amtlichen Kreisblattes". Aus dem einen Schnitt sieht die Ecke eines Blattes heraus. Er faßt sie mit zwei Fingern, und nun hat er ein Blatt Schreibmaschinenpapier in den Händen, nur zu einem Viertel vollgetippt. Mit gekrauster Stirne fängt er an zu lesen:

"Liebster! Allerliebster! Einziger!!!"

Er wirft einen Blick auf den Band, aus dem er das Blatt nahm. Es ist

das Kreisblatt aus dem Jahre 1900. Pagel nickt beruhigt. Lächelnd liest er den Brief weiter. Er bekommt etwas von der Patina, die den Liebesbriefen von vor hundert Jahren anhaftet, den Briefen von Liebenden, deren Stimmen verklungen, deren Liebe erloschen ist, die kalt in ihren Gräbern liegen. Er liest bis zu dem Namen "Violet".

Dies ist kein häufiger Name, er las ihn bisher nur in Büchern. Erst in den letzten Tagen hörte er ihn öfters, meist in der Form "Weio". Immerhin, in manchen Familien vererben sich Namen ... Er fährt mit dem Finger vorsichtig über die Schrift, er sieht die Fingerkuppe an, ein leichter violetter Schimmer überzieht sie -: die Schrift muß frisch sein.

Rasch nimmt er den Deckel von der Maschine, er tippt mit Widerstreben die Worte: "Liebster! Allerliebster! Einziger!!!" -(auch er hörte einmal solche Worte oder ähnliche, er mag nicht daran denken). - Es ist kein Zweifel, der Brief ist auf dieser Maschine geschrieben. Ganz kürzlich geschrieben: das große E hält nicht völlig mehr Reihe ...

Sein erster Impuls ist, den Brief zu zerreißen, dann, ihn wieder in den Band zurückzustecken -: Ich weiß von nichts. Ich mag von diesen Dingen nichts hören und nichts sehen.

Aber: Ruhe, alter Junge, nur Ruhe! Diese Weio ist ein blutjunges Ding, sechzehn, vielleicht erst fünfzehn. Es kann ihr nicht egal sein, daß ihre Briefe auf öffentlichen Büros rumreisen. Ich bin verpflichtet ...

Pagel tut erst einmal wieder den Deckel über die Schreibmaschine, faltet den Brief sorgfältig zusammen und steckt ihn in seine Innentasche. Das ist kein Mißtrauen gegen Studmann. Aber er ist entschlossen, erst von diesem Brief zu reden, wenn er sich alles genau überlegt hat. Vielleicht wird er überhaupt nicht von ihm reden, jedenfalls muß er sich erst über alles klar sein. Es ist nicht angenehm, er wäre gerne weiter gedankenlos auf dem Büro hin und her gegangen. Aber das Leben ist so, es fragt nicht, ob es uns paßt. Schon sitzen wir in einer Aufgabe drin.

So geht denn Pagel im Büro gedankenvoll hin und her und raucht.(Wenn nur wenigstens Studmann nicht gleich kommt!)

Erste Frage: Ist der Brief überhaupt ein Brief? Nein, es ist der Durchschlag eines Briefes. Zweite Frage: Kann sich der Absender diesen Durchschlag angefertigt haben? Die Absenderin? Sehr unwahrscheinlich! Einmal ist dies kein Brief, den man so leicht auf der Schreibmaschine schreibt - auf der Schreibmaschine sieht so was ganz verflucht aus, während es mit der Hand geschrieben vielleicht grade noch geht. Zweitens ist es ganz unwahrscheinlich, daß Fräulein Violet ihre Liebesbriefe ausgerechnet auf dem Gutsbüro schreibt. Drittens würde sie den Durchschlag nie auf dem Büro verwahren. Wozu überhaupt von so

was ein Durchschlag?! Folgerung: Dieser Durchschlag ist also aller Wahrscheinlichkeit nach der Durchschlag einer Abschrift von einem Brief des Fräulein Weio.

Uff -!

Für späteres Nachdenken: Wo ist die Abschrift selbst? Dritte Frage: Kann der Empfänger sich Abschrift und Durchschlag gemacht haben? Auch hier ist der Zweck solcher Abschrift nicht einzusehen. Der Empfänger hatte ja das Original! Nein, es ist ganz klar, ein Dritter, ein Unberechtigter muß sich diese Abschrift gemacht haben. Wenn man das erst weiß, so ist es nicht schwer zu raten, wer es gewesen ist. Er muß hier auf dem Büro regelmäßig Zugang gehabt haben, sonst hätte er hier nicht tippen können, sonst hätte er hier nichts aufbewahrt. Nein, sagt sich Pagel, es kann kein Zweifel sein, nur dieser häßliche kleine Meier, den die Leute hier Negermeier nennen, kann es gewesen sein.

Ohne weiteres fällt Wolfgang die nächtliche Abreise des kleinen Meier ein, als er erschreckt mit dem Ruf "Er schießt mich tot" aus dem Schlaf aufwachte. Studmann und er haben an eine Eifersuchtsgeschichte mit diesem roten Pausbackenengel von Geflügelmamsell gedacht, und der Rittmeister hat das akzeptiert. Also ist auch der Rittmeister ahnungslos. Es steckt irgend etwas anderes dahinter, etwas Heimliches, etwas Gefährliches - trotzdem der Meier natürlich ein Feigling ist, der sich Totschießen nur einbildet. Um einen unterschlagenen Liebesbrief schießt man so leicht keine Leute tot!

Bleibt also noch die Frage zu klären, ob man diesen Durchschlag stumm zurücklegen oder besser vernichten soll oder ob man von ihm reden muß - etwa mit Studmann? Oder gar mit diesem kleinen feurigen Fräulein Weio? Zu bedenken bleibt, daß der abgereiste Herr Meier ein anderes Exemplar dieser Abschrift mit sich führt. Aber was beweist schließlich solche Abschrift? Jeder kann sich so ein Dings auf der Schreibmaschine komponieren! Kein Name ist darin genannt, der auf irgend jemand hinweist!

Immerhin kann eine solche Abschrift ein kleines unerfahrenes Fräulein umschmeißen! Aber weiß diese Violet nicht vielleicht doch schon von dem unterschlagenen, abgeschriebenen Brief -? Der Empfänger des Briefes muß davon wissen - wie sonst hätte Meier in jener Nacht von einem Rascheln am Fenster so erschreckt werden können -?! Ja, denkt Pagel weiter, wenn man es nur noch genau wüßte, was Meier damals gerufen hat: Er will mich totschießen, oder: Er will mich wieder totschießen -? Wieder totschießen, das würde heißen, daß der Herr Meier schon so etwas wie einen Erpressungsversuch gemacht hat(man

schreibt sich einen solchen Brief nicht aus rein literarischem Interesse ab!) und daß ihm darauf etwas heftig, etwa mit der Waffe in der Hand, geantwortet worden ist ...

Pagel grübelt hin und Pagel grübelt her. Aber er weiß nicht mehr, was der Meier, aus dem Schlaf hochschreckend, gerufen hat.

Herr von Studmann tritt ein, er ist zurückgekommen von seiner Unterredung mit Frau von Prackwitz. Pagel wirft einen Blick auf Studmanns Gesicht: auch Herr von Studmann sieht ziemlich gedankenverloren aus. Er könnte ja nun fragen, was Meier damals gerufen hat, aber besser fragt er nicht. Eine solche Erkundigung würde Gegenfragen zur Folge haben, vielleicht würde er von dieser Briefabschrift erzählen müssen - und das mochte er nicht. Der Empfänger, wer es auch immer sein mochte, war gewarnt, und das gnädige Fräulein war vermutlich auch gewarnt. Also hat Pagel beschlossen, erst einmal gar nichts zu sagen. Er hat keine Lust, sich Sorgen zu machen, sich in Liebesintrigen hineinziehen zu lassen. Es wird nichts versäumt, wenn dieser Brief erst einmal steckenbleibt, wo er steckt, nämlich in seiner Tasche!

9

Studmann ist so sehr in Gedanken, daß er gar nicht merkt, Pagel hat trotz seiner Bitte noch nicht gegessen. Als sich Pagel nun ihm gegenüber hinsetzt, eine Tasse Tee einschenkt, Brot nimmt, sieht Studmann hoch und sagt verloren: "Ach, Sie essen noch mal, Pagel?"

"Ich hatte noch nicht gegessen, Meister", antwortet Pagel.

"Ach nein, natürlich nicht, entschuldigen Sie! Ich dachte grade über etwas nach."

Und kauend gibt sich Studmann wieder seinem Nachdenken hin.

Nach einer Weile fragt Pagel vorsichtig: "Und über was denken Sie nach?"

Überraschend heftig antwortet Herr von Studmann: "Daß der Friede der Felder noch mehr Scheibe ist, als wir annahmen, Pagel". Sachter: "Sorgen haben die Leute -!" Und abbrechend: "Aber ich glaube, es ist Ihnen nur lieb, wenn ich Sie mit diesem Kram verschone."

"Natürlich", sagt Pagel, und beide versinken über Butterbrot und Aufschnitt neu in Nachdenken.

Was Herrn von Studmann angeht, so hat auch er jetzt einen Brief in der Tasche, einen Brief, der von der gnädigen Frau für einen ziemlich

harmlosen Geschäftsbrief angesehen wurde. Herrn von Studmann aber erschien er recht heimtückisch und gemein. Lieber trüge er eine Handgranate in der Tasche. Aber viel mehr beschäftigt ihn diese andere Geschichte - Frau von Prackwitz ist immer noch eine recht gut aussehende Frau, vor allem hat sie schöne Augen. In diesen schönen Augen hatten Tränen gestanden, als sie Herrn von Studmann abgebrochen berichtete ... Die Augen waren von den Tränen nicht häßlicher geworden ... Ein bißchen muß sich eine Frau, die sich vor einem rappelköpfischen Mann, einer auf Abwegen befindlichen Tochter immer zusammenzunehmen hat, die sich vor Hof und Familie nie etwas merken lassen darf, bei ihrem auserwählten Vertrauten gehenlassen können. Dieses Sichgehenlassen hatte Frau Eva von Prackwitz nur reizvoller gemacht. Eine laue Süße, eine Hilflosigkeit, die bei einer so reifen Frau nur um so verführerischer wirkte, hatten Herrn von Studmann gefangen ...

Ich muß diesem armen Wesen helfen! dachte Herr von Studmann energisch. Was bildet sich diese Krabbe eigentlich ein, daß sie solche Geschichten macht! Sie kann doch kaum fünfzehn sein!

Hier sah der ebenfalls scharf nachdenkende Pagel von seinem Käse hoch und fragte tiefsinnig: "Wie alt taxieren Sie eigentlich Fräulein Violet -?"

"Wie?!" schrie Herr von Studmann und klapperte heftig mit Messer und Gabel gegen den Teller. "Wie kommen Sie denn darauf, Pagel? Was geht das Sie an!"

"Gottedoch!" sagte Pagel verblüfft. "Ich kann ja mal fragen. Aber dann eben nicht!"

"Ich dachte gerade an etwas anderes, Pagel "..., erklärte Studmann, ein wenig verlegen.

"Es sah verdammt aus, als wenn Sie auch grade daran gedacht hätten!" grinste Pagel.

"Keine Spur! So junge Mädchen sind einfach Gemüse für mich - ich bin nicht wie Sie zweiundzwanzig, Pagel."

"Dreiundzwanzig ..."

"Na schön. Also ich denke, Pagel, es ist jetzt kurz nach acht, wir machen uns auf die Beine und genehmigen in einer der beiden hiesigen Gastwirtschaften einen Schnabus."

"Recht so. - Und wie alt schätzen Sie Fräulein Violet?"

"Sechzehn. Siebzehn. Seien Sie bloß nicht albern, Pagel. Es ist mir natürlich nicht um den Schnaps zu tun ..."

"Viel zu hoch! Sie hat so mollige Formen, das täuscht. Höchstens fünfzehn ..."

"Jedenfalls lassen Sie die Finger davon, Herr Pagel!" rief Studmann mit kriegerisch blitzenden Augen.

"Aber natürlich!" sagte Pagel verblüfft. "Gott, Studmann, Sie werden noch die reine Sphinx! Wenn es Ihnen also nicht um den Schnaps zu tun ist, worum ist es Ihnen dann zu tun?"

Ruhiger entwickelte Studmann seinen Plan, sich mit den Gastwirten bekannt zu machen, regelmäßiger Kunde zu werden und so zu versuchen, möglichst viel von dem Geschwätz des Dorfes zu erfahren.

"Neulohe ist viel zu groß. Wenn wir da auch Nacht für Nacht nach Felddieben herumlaufen, kann es uns doch passieren, daß wir nie einen treffen. Und unser Rittmeister will Erfolge sehen. Da ist ein Wink von einem Gastwirt Gold wert ..."

"Richtig!" stimmte Pagel zu. "Nehmen wir eine Kanone mit?"

"Heute hat das wohl keinen Zweck, heute wollen wir uns erst einmal anbiedern. Aber, meinethalben, wenn Sie so ein Ding einstecken wollen - Sie sind noch für volle Kriegsbemalung. Ich habe mich mit dem Zeug über fünf Jahre geschleppt ..."

Es war halb neun, als die beiden endlich losgingen. Die Sonne war schon untergegangen, aber es war noch fast hell. Kaum, daß es im Schatten der Bäume zu dämmern anfing. Die Straße vom Gut zum Dorf war voller Menschen: Kinder jagten herum, auf den Bänkchen vor den Türen saßen die alten Leute, jüngere standen in Gruppen beisammen; in der Ferne hörte man es singen; ein Mädchen zog eine widerspenstige Ziege am Strick in ihren Stall.

Wenn die beiden Herren vorübergingen, wurden die Leute stumm, die Kinder jagten nicht mehr, das Singen hörte auf. Alles sah ihnen nach.

"Kommen Sie, Studmann", schlug Pagel vor, "gehen wir außen ums Dorf herum. Wir werden uns schon irgendwie durchschlagen. Dies Anglotzen ist lästig. Und schließlich brauchen nicht alle zu wissen, daß die Herren Beamten saufen gehen."

"Recht so", sagte Studmann, und sie bogen in einen schmalen Pfad, der zwischen den fensterlosen Giebelwänden zweier Leutehäuser hindurchführte. Später fanden sie eine Art Rain, zur Linken lagen schweigende Obstgärten, zur Rechten erstreckte sich ein blühendes Kartoffelfeld. Nun kamen sie auf einen zerfahrenen Weg, rechts führte er gerade in die Felder hinein, links ging es auf die letzten Häuser des Dorfes zu. Die Luft wurde grauer, man fühlte es dunkel werden, die Vögel

waren still geworden. Vom Dorf klang ein Lachen herüber und verging.

Als Pagel und Studmann so schweigend, langsam nebeneinanderher gingen, jeder in einer Fahrrinne des Weges, begegnete ihnen ein Trupp Leute, sechs oder sieben, Männer und Frauen. Ruhig gingen die Leute im Gänsemarsch, Kiepen auf dem Rücken, über den Grasstreifen zwischen den Radgleisen an ihnen vorüber.

"Guten Abend!" sagte Pagel laut.

Irgendein verwischter Laut klang als Antwort, dann war der stumme Gespensterzug schon vorüber.

Ein paar Schritte gingen die beiden noch weiter, zögernder. Dann blieben sie wie auf Verabredung stehen. Sie drehten sich um und sahen den stillen Wanderern nach. Ja, es war richtig, sie waren nicht zum Dorf gegangen, sie waren in den Weg zwischen den Feldern eingebogen.

"Nanu!" sagte Pagel.

"Das war doch komisch!" antwortete Studmann.

"Wo gehen die denn jetzt noch hin?"

"Mit Kiepen?"

"Klauen!"

"Sie können auch dahinten in den Wald gehen zum Holzsammeln."

"Jetzt in der Nacht - Holz sammeln!"

"Tjaaa - - -"

"Also verzichten wir auf Schnaps und Botschaft und gehen ihnen einfach nach."

"Ja, warten Sie noch einen Augenblick. Lassen Sie die erst über die Kuppe dort weg."

"Gekannt habe ich keinen", meinte Pagel nachdenklich.

"Es ist schon dämmerig, die Gesichter waren kaum zu unterscheiden!"

"Das wäre großartig, wenn wir gleich beim erstenmal sechs Mann schnappten -!"

"Sieben", sagte Studmann. "Drei Mann und vier Frauen. - Also gehen wir!"

Aber nach den ersten Schritten schon blieb von Studmann wieder stehen. "Wir sind unüberlegt, Pagel. Wenn wir die Leute abfassen, wir kennen sie doch nicht. Wie sollen wir die Namen feststellen? Die können uns ja erzählen, was sie wollen."

Pagel drängte ungeduldig: "Und während Sie hier Großen Generalstab spielen, Studmann, gehen uns die Leute durch die Binsen."

"Und wenn wir sie fassen und erfahren, daß sie Meier, Schulze, Schmidt heißen, sind wir erst recht blamiert. Gut erkundet ist halber Sieg, Pagel."

"Aber was dann?"

"Sie gehen jetzt ins Dorf und holen jemand Alteingesessenen, der alle Leute kennt ..."

"Den Kowalewski -? Den Leutevogt -?"

"Richtig, Pagel. Der ist ein bißchen schlapp; dem ist es ganz gut, wenn er zu seinen Arbeitern mehr in Gegensatz kommt, das wird ihn schärfer machen. Die werden eine schöne Wut auf ihn kriegen, wenn er ihre Namen sagen muß ..."

Aber Pagel hörte schon lange nicht mehr auf die Lehrmeinungen des ehemaligen Empfangschefs in einer Großstadtkarawanserei der Inflationszeit. Pagel lief in einem schlanken Trabe auf das Dorf zu. Es tat ihm gut, zu traben. Es war eine Ewigkeit her, daß er nicht mehr getrabt war, keinen Sport getrieben hatte, seit dem Baltikum nicht mehr. Immer hatte er sich seitdem möglichst langsam bewegt, ein bis auf den Spielbeginn durchwarteter Tag war lang gewesen.

Nun war er froh, wie gut und verläßlich sein Körper arbeitete. Voll drang die milde, ein wenig feuchte, ein wenig kühle Abendluft in seine Lungen. Er freute sich, daß er eine so breite Brust hatte, er atmete nicht hastig, er atmete trotz des Laufens voll und langsam, das Atmen war eine Lust. Im Hofzimmer bei der Pottmadamm hatte er manchmal Stiche gefühlt, in der Lunge oder im Herzen. Nach der Art der jungen Leute, die nie richtig krank gewesen sind, hatte er sich dann ein schweres Leiden eingebildet - nun, damit war es gottlob nichts. Er lief wie Nurmi! Ich bin gut im Stande, dachte er vergnügt. Mein Körper ist noch in Form!

Als er beim Dorf angelangt war, ging er, um nicht aufzufallen, im Schritt. Trotzdem ward sein Verschwinden im Haus Kowalewskis viel beachtet. "Kieke da!" sagten sie. "Vor anderthalb Stunden hat er der Sophie adjüs gesagt, und jetzt besucht er sie schon wieder! Den alten Eierkopf, mit dem er eben vorbeikam, hat er natürlich versetzt. Na ja, so ein Berliner - und ein kräftiger Kerl ist er auch. Die Sophie ist ja auch eine halbe Berlinerin geworden - wer Sahne gewohnt ist, der will Sahne!"

Aber leider kam der junge Mann gleich wieder bei Kowalewskis raus, und auch nur mit dem Alten. Die Sophie hatte er wohl nicht gesehen, die sang oben weiter in ihrer Giebelstube. Eilig gingen die beiden aus dem Dorf, über den Feldrain, auf den Feldweg, Kowalewski immer seitlich einen halben Schritt hinter dem jungen Herrn wie ein gutgezogener

Jagdhund. Als der junge Mann in Stube und Feierabend geplatzt war und nur gesagt hatte: "Kommen Sie mal mit, Kowalewski", da war der alte Vogt eben mitgegangen, ohne Fragen. Ein armer Mensch soll nicht fragen, sondern tun, was ihm gesagt wird.

Studmann wartete dort, wo der Weg in die Felder abbog.

"Guten Abend, Kowalewski. Recht, daß Sie gekommen sind. Pagel hat Ihnen Bescheid gesagt? Nein? Schön - wohin führt dieser Weg?"

"Auf unsere Außenschläge, Herr, und dann in die Forst vom alten gnädigen Herrn."

"Es liegen keine Bauernfelder daran?"

"Nein, nur unser Land. Außenschlag 5 und 7. Und auf der andern Seite Außenschlag 4 und 6."

"Schön - wenn Sie hier vor einer Viertelstunde sechs, sieben Mann getroffen hätten, stumm, mit Kiepen, die leer aussahen, auf dem Rücken - was hätten Sie dann gedacht, Kowalewski?"

Kowalewski zeigte: "Dahin gehend?"

"Jawohl, dahin gehend, diesen Außenschlagweg."

Kowalewski zeigte: "Daher kommend?"

"Ja, Kowalewski, von da werden sie wohl ungefähr gekommen sein, nicht hier aus dem Dorf."

"Dann sind es Altloher gewesen, Herr."

"Und was wollen die Altloher auf unserm Feld, jetzt, wo es Nacht wird?"

"Tja, Herr, an den Kartoffeln sitzt ja noch nichts dran. Aber da sind die Zuckerrüben, vielleicht wollen sie die ein bißchen blatten. Und dann steht weiter hinten der Weizen, den wir Freitag, Sonnabend gemäht haben - vielleicht wollen sie dem ein bißchen die Ähren abschneiden."

"Also klauen, Kowalewski, nicht wahr?"

"Die Zuckerrübenblätter brauchen sie als Zickenfutter, sie haben ja fast alle 'ne Zicke. Und den Weizen kann man sich, wenn er schön trocken ist, in der Kaffeemühle mahlen, das haben sie alles im Kriege gelernt."

"Na schön. Also gehen wir ihnen nach. Kommen Sie mit, Kowalewski - aber Sie tun es wohl nicht gerne?"

"Darauf darf es nicht ankommen, Herr ..."

"Sie sollen gar nichts weiter damit zu tun haben, Kowalewski. Sie sollen mir nur einen Rippenstoß geben, wenn mir einer von den Leuten einen falschen Namen sagt."

"Ja, Herr."

"Aber die werden wohl wütend auf Sie, Kowalewski -?"

"Wenn es auch Altloher sind, die wissen, daß ich tun muß, was die Herren mir befehlen. Soviel verstehen sie schon."

"Aber daß die stehlen, das geben Sie nicht gerne zu, Kowalewski?"

"Wenn es auch bloß 'ne Zicke ist, es ist schlimm, wenn man kein Futter für sie hat. Und noch schlimmer ist es, wenn man kein Mehl für die Kinder hat zur Suppe."

"Aber, Kowalewski -!" Studmann blieb mit einem Ruck stehen. Dann ging er schnell weiter in den immer dunkler werdenden Abend hinaus. "Aber wo soll da eine Ordnung herkommen, wenn die Leute sich einfach holen, was sie brauchen?! Dabei muß das Gut doch kaputtgehen -!"

Kowalewski schwieg hartnäckig, aber Studmann gab nicht nach: "Nun, Kowalewski -?"

"Es ist auch keine Ordnung, Herr, verzeihen Sie, wenn man arbeitet und kann seinen Kindern doch nichts zu essen geben."

"Aber warum kaufen sie nichts? Wenn sie arbeiten, müssen sie doch auch Geld haben zu kaufen!"

"Sie haben doch bloß Papier, Herr. Jeder hält doch seine Sache fest und will das Papier nicht."

"Ach so!" sagte Studmann und blieb wieder stehen, aber nicht so ruckweise. Weitergehend meinte er: "Trotzdem müssen Sie einsehen, Kowalewski, daß das Gut nicht zurechtkommen kann, wenn jeder sich holt, was er braucht. Sie wollen doch auch Ihren Lohn zur Zeit haben, wo aber soll der Lohn herkommen, wenn die Erträge fehlen? Glauben Sie mir, der Herr Rittmeister hat es nicht leicht."

"Der alte Herr ist immer gut zurechtgekommen, er hat viel Geld verdient."

"Aber vielleicht hat es der Rittmeister schwerer - er muß ja auch dem alten Herrn Pacht zahlen!"

"Davon merken die Altloher doch nichts -!"

"Sie meinen, es geht sie nichts an -?"

"Nein, es geht sie nichts an."

"Und Sie finden es also richtig, daß sie mausen, Kowalewski?"

"Wenn einer seiner Zicke kein Futter geben kann "..., fing der beharrliche alte Mann wieder an.

"Ach, Dreck! Ob Sie es richtig finden, Kowalewski?"

"Ich würde es nicht tun, Herr. Aber ich habe freilich mein Korn vom Gut und die Kartoffeln und freie Weide für eine Kuh ..."

"Ob Sie es richtig finden, Kowalewski?!"

Herr von Studmann schrie fast. Pagel fing an zu lachen. "Was lachen Sie denn, Pagel -? Seien Sie nicht albern! Das Recht auf Diebstahl am eigenen Brotherrn, von einem alten Mann verkündet, der sicher selber nie geklaut hat. - Haben Sie selbst mal geklaut, Kowalewski?"

Es war komisch, Herr von Studmann schrie den alten Mann fast so an, wie es der Feldinspektor Meier getan hatte. Aber dieses Anschreien verschüchterte den Leutevogt nicht weiter, er blieb ganz wohlgemut.

"Was Sie klauen nennen, Herr, oder was wir klauen nennen?"

"Ist da auch ein Unterschied?" grollte Herr von Studmann. Aber das wußte er ja doch.

Jetzt fragte Pagel: "Darf ich auch einmal was fragen, Herr von Studmann?"

"Meinethalben", sagte Studmann. "Dieser Tiefstand scheint Sie ja sehr zu amüsieren, mein Herr Pagel!"

"Es ist nun recht dunkel geworden", sagte Pagel vergnügt, "und daß wir beide die Feldmark nicht kennen, das weiß der Herr Kowalewski auch. Sagen Sie mal, Kowalewski, wo liegt denn der Zuckerrübenschlag?"

"Noch fünf Minuten weiter und dann rechts ab über die Roggenstoppel, das sieht man auch beim Sternenlicht."

"Und der Weizenschlag?"

"Noch drei, vier Minuten weiter den Weg lang. Dann kommen wir grade drauf zu."

"Ja, Kowalewski", sagte Pagel ganz spitzbübisch, "wenn Sie nun meinen, daß die Leute das Recht haben, sich das Futter zu holen, warum führen Sie uns dann nicht im Dunkeln ein bißchen die Kreuz und die Quer - wir wissen doch viel, wo wir zu suchen haben!"

"Pagel -!" rief Studmann.

"Das kann ich doch nicht, Herr. Das ist doch keine Ordnung. Wenn Sie mir etwas sagen, dann kann ich Sie doch nicht an der Nase herumführen."

"Na also!" sagte Pagel sehr zufrieden. "Da haben wir also die Sache klar. Sie sind für Ordnung, Kowalewski, und was Herr von Studmann tut, das ist ordentlich. Aber was die Altloher tun, das ist nicht ordentlich! Sie verstehen wohl, was die tun, Kowalewski, aber ordentlich finden Sie es

nicht, richtig finden Sie es nicht ..."

"Na ja, Herr, das mag ja so sein. Aber wenn die Zicke kein Futter hat -?"

"Hören Sie auf!" rief Studmann. "Ihr Erfolg hat nicht lange vorgehalten, Pagel!"

Eine Weile gingen sie schweigend durch die Nacht. Die Sterne glitzerten auf einem fast schwarzen Himmelsgewölbe, und was sie um sich sahen, das waren nur Abstufungen von Schwarz zu Grau.

Nach einer Weile fing Pagel wieder an zu reden. Es war ihm etwas eingefallen, und was ihm eingefallen war, das paßte grade. Denn er fühlte, daß der ein wenig schulmeisterliche, pedantische Studmann einen Zorn auf den weichen Leutevogt hatte, der nur verschwommen dachte und fühlte, und er hatte den Trieb, Herrn von Studmann ein wenig mit dem Vater der netten Sophie auszusöhnen.

"Im übrigen", sagte darum Pagel, "macht sich der Herr Kowalewski ziemlich viel Gedanken um unsere Ernte, Studmann. Wir sind drei Wochen zurück, meint er."

"Das stimmt!" sagte der Leutevogt.

"Wenig erfreulich", knurrte Studmann.

"Es müssen möglichst bald Leute her, meint Kowalewski. Und da Herr Rittmeister ja in Berlin Schiffbruch erlitten hat(noch ein Mann mit 'nem Schiffbruch in Berlin, Studmann!), meint Kowalewski, wir müßten unbedingt ein Zuchthauskommando haben."

"Ich, Herr?" fragte Kowalewski erstaunt.

"Ja, Ihre Tochter hat es mir heute erzählt. Und weil das Zuchthaus schon halb leer ist wegen der vielen Kommandos, müßten wir uns dranhalten, sonst gehen wir leer aus, meint Kowalewski."

"Ich, Herr -?" fragte der alte Mann immer erstaunter.

"Ja", sagte Herr von Studmann, "ich habe schon mit Herrn Rittmeister darüber gesprochen. Aber er meint, es macht viel Kosten. Und die Zuchthäusler verstünden nichts von Landarbeit. Und Sie sind also dafür, Kowalewski?"

"Ich -? Nein, Herr. Das sind ja alles bloß Verbrecher."

"Richtig; Leute, die geklaut haben. Aber Herr Pagel erzählt doch eben, daß Sie ihm erzählt haben ..."

"Seine Tochter, die Sophie, Studmann ..."

"Also Ihre Tochter. Ihre Tochter wird's ja wohl von Ihnen gehört haben ..."

"Von mir, Herr?"

"Also bitte, stellen Sie sich weiter dumm. Von mir aus, Kowalewski! Ich werde Sie nicht wieder stören". Er ging ein paar Schritte, blieb stehen, fragte sehr ärgerlich: "Wie weit haben wir eigentlich noch zu gehen?"

"Ja, Herr, das hier rechter Hand ist die Roggenstoppel, wenn wir über die weggehen, kommen wir auf den Zuckerrübenschlag."

"Ja, meinen Sie denn, daß die Leute da wirklich sind?" Herr von Studmann war plötzlich sehr unlustig.

"Mit unsern Zuckerrüben ist es dieses Jahr nicht viel, die sind ein bißchen zu spät verzogen. Ich denke immer, wenn welche da sind, sind sie auf dem Weizen."

"Und zum Weizen geht's hier gradeaus?"

"Drei, vier Minuten noch."

"Wissen Sie was, Pagel - was sollen wir alle drei den Umweg machen? Laufen Sie schnell über die Roggenstoppel, revidieren Sie die Zuckerrüben und kommen uns dann so schnell wie möglich nach."

"Jawohl, Herr von Studmann."

Leiser: "Und da Sie wahrscheinlich doch keine Leute treffen werden, reichen Sie mir mal die Knarre rüber. - So, danke schön. - Na also denn! Weidmanns Heil, Pagel!"

"Weidmanns Dank, Herr von Studmann!"

Die Hände in den Taschen, schlenderte Pagel gemächlich über die Stoppel, den Blick mehr auf den Sternenhimmel als auf seinen Weg gerichtet. Die Schritte der andern waren schon verhallt. Durch die Schuhe fühlte er die feuchte Kühle des Taus, den er von der Stoppel streifte. Zum erstenmal war er froh, nicht mit Herrn von Studmann zusammen sein zu müssen. Schulmeister, Kindermädchen! ging es ihm durch den Kopf und tat ihm doch gleich wieder leid. Er war ein fabelhaft anständiger Kerl, der Herr von Studmann, und sein Pedantentum war nur der Schatten, den seine vollkommene Zuverlässigkeit warf, eine heute fast ausgestorbene Eigenschaft.

Er allein wird sich's schwer dadurch machen, dachte Pagel, und er allein wird darunter leiden. Darin bin ich genau sein Gegenteil, ich bin zu lax, ich lasse die Dinge am liebsten laufen. Wenn mir was schiefgeht, so dadurch. Dies ist kein Hotelbetrieb mit in sieben Wassern gewaschenen Oberkellnern, mit durchtriebenen Liftboys - der gute Studmann wird gewaltig umlernen müssen. Ich dagegen - na, jetzt grade wieder ...

Er sah um sich. Grauweißlich schimmernd dehnte sich die

Roggenstoppel vor ihm. Der Boden unter seinen Füßen schien sich etwas zu senken, aber das dunkle Sternenlose, was er dort gegen den Himmel sah, war vielleicht der Zuckerrübenschlag.

Jetzt grade wieder, dachte er weiter. Ich müßte das rauskriegen. Ich, Herr -? Nein, Kowalewski hat sich nicht dumm gestellt. Er hat wirklich nichts davon gewußt. Aber warum soll mich die Sophie beschwindelt haben? Was kann sie für ein Interesse an einem Zuchthauskommando haben, daß sie mich deswegen beschwindelt?! - Nein, dachte er energisch, das ist alles Unsinn. Das wird sicher ganz einfach zusammenhängen. Ich habe wahrhaftig genug an dem dämlichen Liebesbrief in meiner Tasche, ich will mir nicht noch mehr Gedanken machen. Ich will einfach meine Arbeit tun und von nichts wissen. Jetzt die Zuckerrüben ...

Er senkte den Blick, und mit einem Schlage war er anders geworden. Der Rand der hellen Roggenstoppel war nahe gerückt, nur noch fünfzig oder siebzig Schritte trennten ihn von dem Rübenschlag, der dunkel gegen den Sternenhimmel hügelan stieg. Aber so dunkel das Feld auch war, dunklere Punkte sah er sich darauf bewegen, manchmal klang es hell zu ihm herüber, wenn silbern ein Messer gegen einen Stein schlug. Dunklere Punkte - Pagel versuchte sie zu zählen. Sechs oder sieben -? Sechzehn -? Sechsundzwanzig - ach, es konnten über dreißig sein! Ein Heuschreckenschwarm, eine fliegende Plage, nächtlich eingefallen in die Gutsfelder ...

Wenn die Zicke Hunger hat - klang es in ihm. Aber nein, dies war keine hungrige Ziege, kein Idyll, dies war Bandenraub - sie mußten gefaßt werden!

Pagel greift nach der Gesäßtasche, aber schon im Griff erinnert er sich, daß die Tasche leer ist, er ist ohne Waffe. Immer langsamer gehend, überlegt Pagel, ob er zurücklaufen, die andern rufen soll? Aber er, der die Diebe gegen den dunklen Blattrand erkennen kann, muß längst, sich scharf von der helleren Roggenstoppel abhebend, bemerkt worden sein. Holt er erst Hilfe, sind sie fort! Daß sie ihn so ruhig herankommen lassen, beweist, daß sie ihn für einen von den Ihren halten.

Oder sie denken, mit einem brauchen wir keine Umstände zu machen, überlegt Pagel. Und so wird es denn wohl auch schiefgehen.

Aber bei all diesen raschen Erwägungen hat er doch nicht einmal innegehalten. Schritt für Schritt ist er der "Räuberbande" näher gekommen, vielleicht ein wenig langsam, aber nicht die Furcht hat seinen Schritt langsamer gemacht. Nun ist er schon ganz nahe. Sein Fuß verläßt die trocken knirschende Roggenstoppel, feuchtlappig hängt das

Rübenblatt über seine Schuhe. Gleich muß er sie anrufen -

Wenn ich nur ein paar fasse, sechs oder acht, denkt er tröstend - und eine neue Idee kommt ihm. Er reißt die Jacke auf, greift aus der Westentasche das silberne Zigarettenetui, hebt es hoch in der Hand -: "Hände hoch, oder ich schieße!" brüllt er.

Das Etui schimmert blank im Sternenlicht.

Wenn sie es nur sehen, denkt er fieberhaft. Wenn sie es nur gleich sehen! Auf den ersten Augenblick kommt alles an. Wenn die nächsten die Hände hochnehmen, machen es ihnen die andern nach.

"Hände hoch!" schreit er noch einmal, so laut er kann. "Wer die Hände nicht hochnimmt, hat sofort einen Schuß in den Knochen!"

Eine Frau kreischt weich und leise auf. Eine Männerstimme sagt ganz tief: "Nee, was für Geschichten!" - Aber sie haben die Arme hochgenommen, über das nächtliche Feld verstreut, steht die Schattenschar, ihre Hände reichen in den Sternenhimmel.

Ich muß brüllen, so laut ich kann, denkt Pagel, fieberhaft erregt, damit die auf ihrem Weizenschlag hören, ich brauche Hilfe! Wenn sie nur schnell genug kommen -!

Und er brüllt einen Mann hinten an, den es gar nicht gibt, wenn er noch einmal die Hand runternähme, hätte er seinen Schuß weg. Dabei hält er das silberne Etui so fest in der Hand, daß die scharfe Kante schmerzhaft in sein Fleisch schneidet. Die Leute, diese große Zahl Leute um den einen herum, stehen puppenhaft starr. Ihre unbewegte Haltung braucht nicht Ergebung in das Schicksal zu bedeuten, sie kann auch Drohung sein. Manchmal überkommt ihn die völlige Hilflosigkeit seiner Lage: er hier vor dreißig Leuten mit einem lächerlichen Etui in der Hand. Es braucht nur einer aufzumucken, und schon sind sie alle über ihn her. Nicht vor dem Totgeschlagenwerden hat er Angst: Aber sie werden mich verprügeln, die Weiber werden mir die Haare ausreißen, ich bin lächerlich geworden, ich kann mich nicht wieder im Dorf sehen lassen ...

Wieviel Zeit vergeht? Sind es Sekunden, die langsam ablaufen, Minuten? Wie lange steht er hier schon, mit erprahlter Macht inmitten von Machtlosen, die sich nur auf ihre Macht zu besinnen brauchen, um ihn zu demütigen -? Er weiß es nicht, die Zeit wird so lang, er schreit nicht mehr, er horcht: Kommen sie noch immer nicht?

Jemand räuspert sich, einer bewegt sich. Der mit dem Baß, ganz in Pagels Nähe, sagt: "Na, Herr, wie lange sollen wir so noch stehen? Meine Arme tun schon weh. Was soll denn daraus werden -?"

"Wollen Sie wohl stille sein!" schreit Pagel. "Sie haben ganz stille zu

stehen, sonst kriegen Sie eine Kugel!"

Er muß immer davon reden. Da er nicht einmal einen Schreckschuß abgeben kann, muß er sie doch mit Worten von seiner Gefährlichkeit überzeugen!

Aber nun kommt die Erlösung! Über die Roggenstoppel läuft Studmann, in weiterem Abstand folgt Kowalewski.

Atemlos, als sei er es, der so hastig gelaufen ist, ruft Pagel: "Schießen Sie! Um Gottes willen, Studmann, schießen Sie einmal in die Luft, damit die Bande sieht, daß wir auch schießen können! Ich stehe hier seit zehn Minuten mit meiner Zigarettenschachtel in der Hand ..."

"Sehr gut, Pagel", sagt Studmann - und ein Schuß, seltsam klein und trocken unter der Himmelsweite klingend, peitscht über die Köpfe der Leute weg.

Ein paar lachen. Der Baß sagt: "Paßt auf, die schmeißen mit Knallerbsen!"

Es lachen noch mehr.

"In Zweierreihen zusammenschließen!" ruft Studmann. "Die Kiepen auf den Rücken! Es wird auf den Hof gerückt, wo die Namen festgestellt werden. Dann kann jeder nach Haus gehen. - Pagel, Sie nehmen die Spitze, ich den Schluß. Den alten Kowalewski lassen wir am besten ganz draußen, er kann hinterherzotteln. - Hoffentlich parieren sie. Wir können doch nicht wegen ein paar Rübenblättern schießen!"

"Warum nicht?" fragt Pagel.

Die Rollen sind vertauscht. In Pagel zittert noch die Erregung des Abenteuers, die gefürchtete Niederlage - da er sich bedroht gefühlt hatte, sah er in den vermeintlichen Bedrohern schlimme Kerls, fast Verbrecher. Jede Maßnahme gegen sie schien ihm recht. Studmann, der gesehen hatte, wie sich dreißig Mann harmlos wie die Schafe von einem Zigarettenetui in Schach halten ließen, schloß daraus auf die Harmlosigkeit ihres Tuns. Alles war nur eine Lappalie.

Keiner von beiden, weder Studmann noch Pagel, hatte recht. Sicher waren die Altloher keine Verbrecher. Ebenso sicher waren sie fest entschlossen, nicht zu hungern, sich ihre Nahrung zu holen, wo sie zu finden war, da sie nichts zu kaufen bekamen. Eine erste Überrumpelung nahmen sie fast mit Humor hin, bei einer zweiten konnten sie böse, bösartig werden.

Sie spüren ihren Hunger - und sahen das Riesengut, auf dem so unendlich viel wuchs. Der kleinste Bruchteil der Ernte, ein Eckchen vom Feld konnte ihren Hunger stillen, die ständig nagende Sorge zum

Schweigen bringen. "Der Rittmeister merkt ja gar nicht, was so eine Ziege frißt", sagten sie. - "Was kann ihm ein Sack Kartoffeln ausmachen? In diesem Frühjahr hat er Tausende von Zentnern erfrorene Kartoffeln in die Stärkefabrik gefahren!" - "Im vorigen Jahr haben sie den Roggen so naß eingebracht, daß sie ihn nicht dreschen konnten. Alles war verfault - sie haben's nachher auf den Mist geschmissen!"

Solange sie sich für ihren Lohn ihre Bedürfnisse hatten kaufen können, hatten sie gekauft, nicht gestohlen. Ein paar faule Köppe hatten immer ein bißchen gemaust, aber das waren eben die faulen Köppe gewesen, und sie wurden danach eingeschätzt. Aber nun konnten die Leute nichts mehr kaufen - und dann war der Krieg über sie hingegangen mit Tausenden von Verordnungen, die kein Mensch behalten und halten konnte, mit Zuteilung aller Lebensbedürfnisse auf Karten, mit denen man nur hungern und verhungern konnte. Viele Männer waren im Felde gewesen; dort hat es nicht für eine Schande gegolten, sich zu "besorgen", was man brauchte. Allmählich hatte sich die Moral gelockert, es war keine Schmach mehr, Gesetze zu übertreten. Es war nur eine Schmach, sich dabei erwischen zu lassen. "Laß dich bloß nicht erwischen!" - diese immer volkstümlicher werdende Redensart kennzeichnete den Verfall aller Sitten. Alles war verwirrt. Keiner fand sich mehr zurecht. Es war immer noch Krieg. Trotz Friedensschluß war der Franzose immer noch Feind. Jetzt war er an der Ruhr eingerückt, es sollten dort schreckliche Dinge geschehen.

Wie konnten die Leute anders denken, als sie dachten - anders handeln, als sie handelten? Wenn sie an der Villa vorbeigingen und hörten die Teller klappern, so sagten sie: "Ja, der hungert nicht! Arbeiten wir weniger als er? Nein, wir arbeiten mehr! Warum sollen wir hungern und er nicht?"

Haß entsprang dieser Erwägung. Hätten sie vor zehn Jahren solch Tellerklappern gehört, so hätten sie gesprochen: "Ja, der kann Kalbsbraten essen, und unser Pökelfleisch ist schon ganz strohig". - Das war Neid - Neid ist kein Gefühl, das einen Auftrieb gibt, einen Menschen kampflustig macht - starke Hasser aber werden starke Kämpfer!

Dieses Mal hatten sie sich erwischen lassen, ein erstes Mal erwischen lassen, so gingen sie gutwillig mit. Nach fünf Minuten schon schwatzten sie und lachten. Es war einmal etwas anderes, ein nächtliches Abenteuer! Was konnte ihnen groß geschehen? Ein paar Rübenblätter!

Sie sprachen Wolfgang an, sie sagten es ihm: "Na, und was weiter, Herr?" fragten sie. "Ein paar Rübenblätter! Da schreiben Sie nun unsere Namen auf, melden's dem Amtsgericht, Felddiebstahl. Das hat früher

drei Mark gekostet, heute kostet es ein paar Millionen. Und was weiter? Bis wir das Strafmandat bezahlt haben, ist es gar nichts mehr, kein Pfennig mehr - die können uns auf unsern kleinsten Schein nicht mal rausgeben, so wenig ist das dann! Und deswegen die Knallerei?"

"Ruhe!" befahl Pagel ärgerlich. "Das nächste Mal wird nicht in die Luft geschossen!"

"Ach, wegen ein paar Rübenblätter wollen Sie einen Menschen unglücklich machen? So sind Sie also! Gut, daß man das weiß. Andere Leute können auch schießen!"

"Stille biste!" riefen die Leute. "So was sagt man nicht."

"Ruhe!" rief Pagel scharf. Ihm war, als hätte er am Wege Gestalten gesehen. Konnte es der Rittmeister mit seiner Frau gewesen sein -? Unmöglich! Der hätte ein paar anerkennende Worte gesagt.

In leidlicher Ordnung ging es auf den großen Rittergutshof. Nun wurde doch Schimpfen laut, als die Leute vor dem Kuhstall ihre Kiepen entleeren mußten. Sie hatten wohl geglaubt, für ihr Strafmandat die Blätter nach Hause nehmen zu können.

"Was sollen wir nun unserer Ziege geben -?"

"So ein Tier versteht das doch nicht. Das verlangt sein Futter."

"Müssen wir eben gleich noch mal losgehen!"

"Stille biste -!"

Der Humor war fort; ärgerlich, ausfallend, bissig, trotzig wurden die Namen gesagt. Aber sie wurden gesagt. Kowalewski brauchte keine Rippenstöße zu geben.

"Das nächste Mal kriegen Sie mich nicht wieder", erklärte einer.

"Schreiben Sie Georg Schwarz II, Herr Inspektor", meinte ein anderer. "Vergessen Sie die II nicht. Ich will nicht, daß mein Vetter mit so 'nem Scheißdreck zu tun hat."

"Weiter", sagte Studmann müde. "Pagel, sehen Sie zu, daß es ein bißchen rascher geht. Weiter!"

Schließlich: "Guten Abend, Kowalewski. - Ach ja, schönen Dank. Sie werden wohl keine Unannehmlichkeiten davon haben?"

"Nein - ich nicht. Guten Abend."

Sie waren nun beide allein. Studmann und Pagel. Auf dem Schreibtisch lag unordentlich Papier, der schön gewachste Boden des Büros war beschmutzt und voller Sand. Es knirschte bei jedem Schritt.

Studmann stand auf vom Schreibtisch, sah Pagel kurz an und meinte: "Eigentlich sind wir ganz fidel um halb neun losmarschiert, was?"

"Ja, auch der Weg war schön, trotz Ihres Streites mit dem Vogt."

"Ja, es will nicht in seinen Kopf. Und auch in den Kopf der Leute will es nicht. Das ist bestimmt genau wie im Hotel in Berlin: alles, was wir tun, ist für die bloß Schikane, Gemeinheit."

"Man soll von den Leuten nicht zu viel verlangen, Studmann, sie können ja schließlich nicht anders."

"Nein, die nicht, aber ..."

"Aber -?"

Studmann antwortete nicht. Er war ans Fenster getreten, lehnte sich hinaus. Eine Weile verging so, dann wandte sich Studmann wieder in das Büro zurück und sagte halblaut, wie zu sich: "Nein, er kommt nicht ..."

"Wer kommt nicht? Warten Sie noch auf jemanden?"

"Ach "..., sagte Studmann abweisend. Dann aber besann er sich: "Schließlich haben Sie die Hauptsache zu diesem Erfolg getan, Pagel. - Ich dachte, der Rittmeister würde noch kommen, um uns, Ihnen zu danken."

"Der Rittmeister -?"

"Sie haben ihn nicht gesehen?"

"Mir war so ... am Wege ... war er das wirklich?"

"Ja, das war er. Er versuchte sich zu drücken. Ich habe ihn angesprochen. Aber es war ihm sichtlich peinlich. Der gute Prackwitz wünschte, daß ihn die Leute nicht sähen ..."

"Aber wieso denn -?" fragte Pagel sehr erstaunt. "Er will doch grade, daß wir dem Felddiebstahl ein Ende machen?"

"Natürlich! Aber wir sollen es eben tun! Wir, Pagel! Nicht er, er möchte nichts damit zu tun haben."

Pagel pfiff nachdenklich durch die Zähne.

"Ich fürchte, Pagel, wir haben einen Chef, der recht scharfe Beamte wünscht, damit er um so milder scheinen kann. Ich fürchte, wir werden wenig Rückendeckung bei Herrn von Prackwitz finden "... Er starrte noch einmal zum Fenster: "Ich dachte, er würde wenigstens hierherkommen. Aber dann eben nicht. Sind wir beide aufeinander angewiesen, geht auch, was?"

"Großartig", sagte Pagel.

"Keinen Zorn aufeinander, immer gleich aussprechen. Keine Geheimnisse voreinander, immer alles erzählen, jede Kleinigkeit. Wir sind gewissermaßen in einer belagerten Festung, ich fürchte, Neulohe

wird schwer für den Rittmeister zu halten sein. - Pagel, haben Sie was -?"

Pagel zog die Hand von seiner Tasche zurück. Es ist nicht mein Geheimnis, dachte er. Ich muß erst mit der Kleinen reden.

"Nein, nichts", sagte er laut.

Zeitungen, Zeitungen ...

Die Leute, sei es in Neu- oder Altlohe, sei es in Berlin, sei es sonstwo im Reiche, hielten sich Zeitungen. Sie lasen in diesen Zeitungen. Mehr Leute hielten sich Zeitungen als in früheren Zeiten, sie sahen nach den Dollarnotierungen. Noch gab es keinen Rundfunk, aus den Zeitungen erfuhren sie die Notierungen, und während sie die Blätter auf der Suche nach diesen Millionenzahlen umschlugen, sprangen ihnen, sie mochten wollen oder nicht, in großen Schlagzeilen die Geschehnisse ins Auge. Viele wollten nichts davon lesen, seit sieben Jahren waren sie mit immer größeren Schlagzeilen genährt worden, sie wollten nichts mehr hören von der Welt. Die Welt brachte nichts Gutes. Wenn es nur irgend anging, wollten sie allein leben für sich. Aber es half ihnen nichts, sie konnten sich nicht lösen, sie waren Kinder ihrer Zeit, die Zeit sickerte in sie hinein.

Es geschah viel in dieser Zeit. In diesen heißen Erntetagen lasen die Leute davon, daß die Regierung Cuno schon wieder wankte, sie sollte dem Wucher Vorschub geleistet, die Lebensmittelknappheit verschuldet haben. An der Ruhr saß noch immer mit schwarzen Regimentern der Franzose, keine Hand arbeitete dort, kein Schornstein rauchte. Das hieß man den passiven Widerstand, und mit neuen Steuern, neuen Abgaben, die der Besitz durch seine Entwertung bezahlen sollte, dachte man diesen Widerstand zu finanzieren. In der Zeit vom 26. Juli bis zum 8. August stieg der Dollarkurs von Siebenhundertsechzigtausend auf vier Millionen achthundertsechzigtausend Mark! Der Reichsbankdiskont wurde von achtzehn auf dreißig Prozent erhöht.

Aber trotz dieses Widerstandes, trotz des Einspruchs von England und Italien, der das Vorgehen Frankreichs für widerrechtlich erklärt, setzt Frankreich seinen Krieg im Frieden fort. Verlegenheiten muß man Deutschland schaffen, erklärt es, sonst zahlt es doch nicht. Diese Verlegenheiten heißen jetzt schon: über hundert Tote, zehn Todesurteile, ein halbes Dutzend lebenslängliche Verurteilungen, Geiselverhaftungen, Bankraub, Vertreibung von hundertzehntausend Menschen von Haus und Hof. Deutschland soll niederbrechen, aber zahlen!

Von diesen Dingen lasen die Leute in den Zeitungen, sie sahen sie nicht, aber sie fühlten sie. Die Dinge gingen hinein in sie, wurden Teil von ihnen, bestimmten Schlaf und Wachen, Traum und Trunk, Essen und Auskommen.

Verzweifelte Lage eines verzweifelten Volkes, verzweifelt handelt jeder einzelne Verzweifelnde.

Wirre, irre Zeit ...

ELFTES KAPITEL. Es kommen des Teufels Husaren

1

"Es ist eine Unverschämtheit!" schrie der Rittmeister.

"Ich wußte ja, du würdest dich aufregen", sprach sanft Frau von Prackwitz.

"Ich lasse mir das nicht gefallen!" schrie der Rittmeister noch stärker.

"Es war bloße Fürsorge", beruhigte Frau von Prackwitz. "Wo ist der Brief? Ich will meinen Brief haben! Es ist mein Brief!" brüllte der Rittmeister.

"Die Sache ist sicher längst erledigt", vermutete Frau von Prackwitz.

"Ein drei Wochen alter Brief an mich - und ich bekomme ihn nicht zu sehen! Wer ist hier der Herr?!" donnerte der Rittmeister.

"Du!" sagte die Frau.

"Jawohl - und das werde ich ihm beweisen!" schrie der Rittmeister, aber schwächer, denn lauter konnte er nicht mehr schreien. Er lief zur Tür. "Der bildet sich ja Sachen ein -!"

"Du vergißt deinen Brief", erinnerte die Frau.

"Welchen Brief -?" Der Rittmeister stand wie angedonnert. Außer dem einen Brief konnte er an keinen andern mehr denken.

"Den dort - aus Berlin."

"Ach so!" Der Rittmeister stopfte ihn in die Tasche. Er sah seine Frau düster drohend an und sagte: "Daß du mir nicht mit dem Kerl telefonierst!"

"I wo! Rege dich bloß nicht so auf. Die Leute müssen jeden Augenblick kommen."

"Die Leute können mir - - -"

Als wirklich gebildeter Mann sagte der Rittmeister es erst außerhalb des Zimmers seiner Frau, was die Leute ihm könnten. Die gnädige Frau lächelte. Gleich darauf sah sie ihren Gatten, die mageren, langen Glieder mächtig bewegt, barhaupt, den Weg zum Gut entlangstürmen.

Frau von Prackwitz trat zum Telefon, sie drehte die Kurbel, sie fragte: "Sind Sie das, Herr Pagel? Können Sie mir mal rasch Herrn von Studmann geben? Danke schön! - Herr von Studmann? Mein Mann ist im Ansturm. Er ist sauwütend, daß wir ihm den Brief wegen des elektrischen Stroms unterschlagen haben. Lassen Sie ihn sich bitte ein bißchen ausbrüllen. Das Schlimmste hat er schon bei mir abgeladen. - Ja, natürlich, danke schön. - O nein, mir macht es schon lange nichts mehr. Also im voraus meinen besten Dank."

Sie legte den Hörer wieder auf, sie fragte: "Du wünschest, Weio?"

"Darf ich eine halbe Stunde spazierengehen?"

Frau von Prackwitz sah auf ihre Uhr. "Du kannst in zehn Minuten mit mir zum Schloß gehen. Ich muß sehen, ob es mit der Kocherei für die Leute klappt."

"Ach, immer nur zum Schloß, Mama! Ich wäre so gerne mal wieder in den Wald gegangen. Darf ich nicht in den Wald? Und schwimmen -? Ich bin seit vier Wochen nicht zum Schwimmen gekommen!"

"Du weißt, Violet "... Trockenster Ton - gegen das eigene Herz.

"Oh, du quälst mich so! Du quälst mich so, Mama! Ich halte es nicht mehr aus! Dann hättest du mir früher nicht soviel Freiheit lassen sollen, wenn du mich jetzt so an die Kette legen willst! Wie eine Gefangene! Aber ich halte es nicht mehr aus! Ich werde verrückt in meinem Zimmer! Manchmal träume ich, alle Wände fallen auf mich. Und dann sehe ich die Gardinenschnur an und überlege, ob sie hält. Und dann möchte ich zum Fenster hinausspringen. Und in die Scheiben möchte ich schlagen, ich möchte sehen, wie mein Blut läuft, damit ich doch spüre, daß ich lebe ... Ihr seid mir alle wie Gespenster, und ich bin mir auch wie ein Gespenst, als lebten wir gar nicht richtig - aber ich will nicht mehr. Ich tue etwas, es ist mir egal, was ich tue, es kommt mir nicht darauf an ..."

"Ach, Weio! Weio!" sagte die Mutter. "Wenn du uns doch die Wahrheit sagen wolltest! Glaubst du denn, es wird uns leicht? Aber solange du uns weiter belügst, können wir doch gar nicht anders ..."

"Du! Du allein! Papa hat auch gesagt, du machst es viel zu schlimm! Und Papa glaubt mir auch, daß ich die Wahrheit gesagt habe, daß es kein fremder Mann war, sondern der Förster Kniebusch. Alle glauben es mir -

nur du nicht. Du willst uns alle beherrschen, Papa sagt es auch ..."

"Also mach dich fertig", sagte Frau von Prackwitz müde. "Ich will sehen, daß wir hinterher noch ein Stündchen in den Wald gehen."

"Ich will nicht mit dir in den Wald gehen! Ich brauche keinen Aufseher ... Ich will keine gebildeten Gespräche führen ... Ich lasse mich nicht einsperren von dir! Ich - ich hasse dich überhaupt! Ich mag dich nicht mehr sehen! Ach, ich will, ich will nicht mehr ..."

Da hatte sie es wieder, das Schreien war gekommen, dann das immer wieder erstickte, fortgeschriene Schluchzen, das schließlich doch übermächtig aus ihr hervorbrach, sie verkrümmte, hinwarf - in ein jammervolles, von Krämpfen geschütteltes Bündel Geschrei und Gewimmer verwandelte.

Frau von Prackwitz sah sie an. Sie hatte ein festes Herz, sie weinte nicht schon darum, weil andere weinten. Ein grenzenloses Mitleid mit dem armen, verlaufenen, ratlosen Kind erfüllte sie. Aber sie dachte auch: Du lügst doch! Wenn du kein Geheimnis zu verteidigen hättest, würdest du dich nicht so steigern.

Sie drückte auf den Klingelknopf. Als sie den Schritt des Dieners hörte, öffnete sie die Tür und sagte: "Kommen Sie jetzt nicht herein, Hubert. Rufen Sie mir Armgard oder Lotte - dem gnädigen Fräulein ist schlecht geworden ... Ja, und dann bringen Sie mir die Hoffmannstropfen aus dem Apothekenschränkchen."

Während die gnädige Frau sachte wieder die Tür schloß, lächelte sie traurig. Als sie mit dem Diener gesprochen hatte, hatte sie weiter auf das Wimmern und Weinen gelauscht. Merklich war es leiser geworden, als sie dem Diener ihre Weisungen gab, es war fast verstummt, als die verhaßten Hoffmannstropfen bestellt wurden.

Es geht dir wohl schlecht, mein Kind, dachte Frau von Prackwitz. Aber es geht dir nicht so schlecht, daß dich nicht mehr interessiert, was mit dir wird. Es hilft nichts, wir müssen durchhalten, bis eine nachgibt. Hoffentlich du!

2

Der Rittmeister kam auf das Büro gestürmt.

"Hallo!" sagte von Studmann. "Das heiße ich eilig! Kommen die Leute -?"

"Die Leute können mir im Mondschein begegnen!" schrie der Rittmeister, dem sein Sturmlauf frischen Zornesmut gegeben hatte. "Wo

ist mein Brief? Ich will meinen Brief haben!"

"Du mußt nicht so schreien!" meinte Studmann kühl. "Ich höre noch immer ausgezeichnet. Was für ein Brief -?"

"Das wäre ja noch schöner!" schrie der Rittmeister lauter. "Mir werden meine Briefe unterschlagen, und ich soll nicht einmal meine Meinung sagen dürfen?! Ich verlange meinen Brief -."

"Herr Pagel, bitte, seien Sie so freundlich und schließen Sie die Fenster. Es braucht ja schließlich nicht ganz Neulohe zu hören, was wir hier ..."

"Pagel, Sie lassen die Fenster offen! Sie sind mein Angestellter, verstanden?! Ich will endlich den Brief haben - drei, vier, fünf Wochen ist er alt ..."

"Ach so, den Brief meinst du, Prackwitz ..."

"Mir werden also noch mehr Briefe unterschlagen?! Du hast Heimlichkeiten mit meiner Frau, Studmann!"

Hier platzte der junge, leichtfertige Pagel heraus.

Der Rittmeister stand starr. Erst faßte er es nicht. Der junge Pagel hatte gelacht. Man hätte das Sirren einer Mücke auf dem Büro gehört, so still war es.

Der Rittmeister machte zwei lange Schritte auf Pagel zu. "Sie lachen? Sie lachen, Herr Pagel, wenn ich zornig bin -?"

"Verzeihen, Herr Rittmeister - es klang nur so komisch ... ich habe nicht über Herrn Rittmeister gelacht ... Nur, es klang so komisch ... Herr Studmann hat Heimlichkeiten mit der gnädigen Frau ..."

"So. - So!" Eiskalter Blick, mustern von oben bis unten. "Sie sind entlassen, Herr Pagel. Sie können sich von Hartig zum Dreiuhrzug auf die Bahn fahren lassen". Lauter: "Keine Widerworte, bitte! Verlassen Sie das Büro. Ich habe hier geschäftliche Verhandlungen."

Ein wenig weiß, doch in guter Haltung verließ der junge Pagel das Büro.

Herr von Studmann lehnte jetzt gegen den Kassenschrank, geärgert, mit gerunzelter Stirn sah er aus dem Fenster hinaus. Der Rittmeister betrachtete ihn von der Seite. "Das ist ein ganz unverschämter Bengel!" knirschte er probeweise, aber Herr von Studmann reagierte nicht.

"Ich bitte jetzt endlich um meinen Brief", sagte der Rittmeister.

"Ich habe den Brief bereits Herrn von Teschow zurückgegeben", berichtete von Studmann kühl. "Ich habe den Herrn Geheimrat davon überzeugen können, daß seine Forderung unberechtigt war. Er bat um Rückgabe des Briefes, damit die Sache wie nicht gewesen sei ..."

"Das glaube ich!" lachte der Rittmeister bitter. "Hast dich von dem alten Fuchs reinlegen lassen, Studmann! Hat sich blamiert, und du gibst ihm den Beweis seiner Blamage zurück. Köstlich!"

"Die Verhandlung mit Herrn Geheimrat von Teschow war nicht ganz leicht", sagte Studmann. "Wie immer konnte er sich formaljuristisch auf diesen unseligen Pachtvertrag berufen. Was ihn schließlich bestimmte, waren Erwägungen wegen seines Rufs, euer verwandtschaftliches Verhältnis ..."

"Verwandtschaftliches Verhältnis! Ich bin überzeugt, du hast dich einseifen lassen, Studmann."

"Bitte, er hängt anscheinend sehr an Tochter und Enkelin. - Und wie habe ich mich einseifen lassen können, da alles beim alten geblieben ist?"

"Das ist mir ganz egal", erklärte der Rittmeister trotzig. "Ich hätte den Brief lesen müssen."

"Ich glaubte mich bevollmächtigt. Du hast mich ausdrücklich gebeten, dir alles Unangenehme fernzuhalten."

"Wann hätte ich das gesagt?"

"Gelegentlich der festgestellten Felddiebe ..."

"Studmann! Wenn ich mich nicht mit diesen kleinen Diebereien abgeben will, so heißt das noch nicht, daß du mir Briefe vorenthalten darfst!"

"Gut", sagte von Studmann. "Es wird nicht wieder vorkommen". Er lehnte am Kassenschrank, kühl, ein wenig zurückhaltend, aber doch nicht unverbindlich. "Ich habe mir eben die Kocherei in der Waschküche angesehen. Das scheint zu klappen. Die Backs ist wirklich tüchtig."

"Wir werden einen schönen Stunk mit diesen Zuchthäuslern erleben! Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen! Aber wenn alle auf einen einreden! Zehnmal lieber hätte ich die Berliner Leute genommen! Da hätte ich doch aus meiner Schnitterkaserne keine Kasematte zu machen brauchen. Was das alles gekostet hat! - Und nun auch Frechheiten von diesen Berliner Kerls! Da, lies mal -!"

Und er zog den Brief aus der Tasche, reichte ihn Studmann. Der las ihn unbewegt, gab ihn Prackwitz zurück und sagte: "So etwas war zu erwarten!"

"Das war zu erwarten -?!" schrie der Rittmeister fast. "Du findest das noch selbstverständlich! Siebenhundert Goldmark verlangt der Kerl für die Jammerlappen, die ich nicht mit der Kohlenzange anfassen möchte! Und das findest du selbstverständlich?! Studmann, ich bitte dich ..."

"Die Aufrechnung liegt ja dabei: zehn Goldmark Vermittlungsprovision pro Kopf macht sechshundert Mark, sechzig Stunden Zeitversäumnis zu einer Mark, sonstige Kosten vierzig Mark ..."

"Aber du hast sie doch gesehen, Studmann, das waren doch keine Arbeiter! Siebenhundert Goldmark für eine Botanisiertrommel mit Säugling - nein, dem Kerl mußt du einen Brief hinfetzen, Studmann!"

"Natürlich, was wünschest du, das ich schreibe?"

"Aber das weißt du doch selber am besten, Studmann!"

"Ich soll die Forderung zurückweisen?"

"Natürlich!"

"Ganz -?"

"Ganz und gar! Nicht einen Pfennig zahle ich dem Kerl!"

"Gemacht", sagte Studmann.

"Du bist doch einverstanden?" fragte der Rittmeister argwöhnisch.

"Ich einverstanden? Nein, nicht die Spur, Prackwitz. Du verlierst den Prozeß bestimmt!"

"Ich verliere den Prozeß ... Aber, Studmann, das waren doch keine Leute, keine Landarbeiter ..."

"Einen Augenblick, Prackwitz ..."

"Nein, einen Augenblick, Studmann ..."

"Also bitte ..."

Herr Rittmeister von Prackwitz war seinem Freunde von Studmann doch recht böse, als der ihn am Ende davon überzeugt hatte, man müsse versuchen, zu einem Vergleich zu kommen.

"Das kostet alles ein Geld "..., seufzte er.

"Leider werde ich dich heute noch um mehr Geld bitten müssen "..., sagte Herr von Studmann. Er hatte sich über einen Rechenblock gebeugt und warf eilig Zahlen hin, endlose Zahlen mit sehr vielen Nullen.

"Wieso Geld? Ich habe nichts Nennenswertes da. Die Rechnungen haben Zeit", sagte der Rittmeister, schon wieder ärgerlich.

"Da du den jungen Pagel entlassen hast", sagte Herr von Studmann und schien sehr mit seinen Zahlen beschäftigt, "wirst du deine Spielschuld regulieren müssen. Ich habe es eben ausgerechnet: nach dem gestrigen Dollarkurs würden es siebenundneunzig Milliarden zweihundert Millionen Mark sein. Man kann schon sagen: hundert Milliarden."

"Hundert Milliarden!" rief der Rittmeister atemlos. "Hundert Milliarden!

Und du sagst so hin: Prackwitz, ich werde dich um Geld bitten müssen "... Er brach wieder ab, völlig fassungslos. - Dann, in einem ganz andern Ton: "Studmann! Mensch! Alter Gefährte! Ich habe jetzt immer das Gefühl, du bist irgendwie böse mit mir ..."

"Ich böse mit dir -? Eben sah es ganz so aus, als seiest du böse mit mir!"

Der Rittmeister überhörte es: "Als machtest du mir absichtlich Schwierigkeiten -!"

"Ich - dir - Schwierigkeiten -?"

"Aber, Studmann, überlege doch einmal ruhig: wo soll ich denn das Geld hernehmen?! Eben erst diese wahnsinnigen Ausgaben für den Umbau der Schnitterkaserne, nun dieser Berliner Kerl mit siebenhundert Goldmark, dem ich deiner Ansicht nach auch was geben soll, und schon wieder Pagel ... Ja, lieber Studmann, ich bin doch nicht aus Geld gemacht! Ich kann dir schwören, ich besitze keine Banknotenpresse, ich habe keinen Dukatenkacker irgendwo rumstehen, ich kann kein Geld aus den Rippen schwitzen - und du kommst mit derartig exorbitanten Forderungen -! Ich verstehe dich nicht ..."

"Prackwitz!" sagte Studmann eifrig. "Prackwitz, setze dich sofort hier in den Schreibtischsessel. So - du sitzt gut? Schön, warte einen Augenblick. Gleich wirst du etwas sehen -! Ich muß nur mal in Pagels Zimmer nachschauen ..."

"Aber was soll das?!" fragte der Rittmeister völlig verwirrt.

Doch war Studmann schon in Pagels Zimmer entschwunden. Der Rittmeister hörte ihn dort rumkramen. Was hat er bloß? dachte er. Jetzt stehe ich aber auf! Ernste geschäftliche Unterredung, und er fängt irgendeinen Quatsch an ...

"Nein, bleib sitzen!" rief Studmann herbeieilend. "Jetzt sollst du etwas sehen! - Was ist das -?!"

Ein wenig blöde sagte der Rittmeister: "Ein Rasierspiegel! Vermutlich Pagels. Aber was in aller Welt ..."

"Halt, Prackwitz! Wen siehst du in dem Spiegel?"

"Na, mich". Der Rittmeister sah sich wirklich an. Wie alle Männer strich er mit dem Finger am Kinn entlang und horchte auf das leise Knirschen der Stoppeln. Dann rückte er an seinem Schlips. - "Aber ..."

"Und wer ist das, ›mich‹? Wer bist du?"

"Nun sage aber mal, Studmann ..."

"Da du es noch immer nicht weißt, Prackwitz, will ich es dir sagen: Der

dich aus dem Spiegel anschaut, ist der geschäftsunerfahrenste, kindlichste, geld- und weltfremdeste Mann, der mir in meinem ganzen Leben begegnet ist!"

"Ich muß doch sehr bitten", sagte der Rittmeister mit gekränkter Würde. "Ich will ja deine Verdienste gewiß nicht unterschätzen, Studmann, aber immerhin habe ich Neulohe auch vor deiner Zeit recht erfolgreich geleitet ..."

"Sieh ihn an!" sagte Studmann eifrig. "Um der Sache alles Kränkende zu nehmen(denn wahrhaftig, wenn ich nicht dein wirklicher Freund wäre, Prackwitz, ich würde noch in dieser Stunde mein Bündel schnüren und von hinnen gehen), wollen wir also den bewußten Herrn Herrn Spiegel nennen. Herr Spiegel begibt sich erstens nach Berlin, um Leute zu engagieren. Er gerät in eine Spielhölle. Gegen den Rat seines Freundes spielt er. Er borgt sich, als er ratzekahl ist, von einem jungen Menschen an die zweitausend Goldmark und verspielt die auch. Der junge Mensch wird Herrn Spiegels Angestellter; er ist anständig, er mahnt nicht wegen des Geldes, trotzdem er Geld wahrscheinlich sehr nötig hat, denn seine Zigaretten werden alle Tage schlimmer, Prackwitz. Da setzt Herr Spiegel den jungen Mann raus und beschwert sich darüber, daß er nun zahlen muß."

"Aber er hat doch über mich gelacht, Studmann! - Studmann! Nimm wenigstens den verdammten Spiegel weg!"

"Herr Spiegel", fuhr Studmann erbarmungslos fort und folgte mit dem Spiegel dem ausweichenden Kopf des Rittmeisters, "Herr Spiegel engagiert in Berlin Leute, er sagt dem Vermittler ausdrücklich: Ganz egal, wie sie aussehen, ganz egal, was sie gelernt haben! Aber als Herr Spiegel dann die Leute sieht, bekommt er doch einen Schreck, und mit Recht. Statt nun aber einen Vergleich mit dem Vermittler zu suchen, drückt Herr Spiegel sich vor der Auseinandersetzung, flieht vor dem Feind, scheut die offene Feldschlacht ..."

"Studmann!"

"... und macht aller Welt, nur sich nicht, Vorwürfe, daß er nun zahlen muß."

"Ich mache dir doch keine Vorwürfe, Studmann. Ich frage dich nur, woher ich das Geld nehmen soll!"

"Aber das sind Lappalien", sagte Studmann, den Spiegel niederlegend. "Das Wichtige, das Unangenehme kommt erst."

"O Gott, Studmann! Nein, bitte jetzt nicht! Du kannst mir glauben, für einen Vormittag ist mein Bedarf an Ärger völlig gedeckt. Außerdem

müssen die Leute gleich kommen ..."

"Die Leute können uns -", sagte auch Herr von Studmann energisch. "Kreuzweis! Du mußt jetzt zuhören, Prackwitz. Es hilft nichts, wenn du dich windest, du kannst nicht wie ein blindes Huhn in der Welt herumlaufen". Studmann ging ans Fenster, er rief: "Ach, bitte, gnädige Frau, können Sie einen Augenblick hereinkommen?"

Frau von Prackwitz sah zweifelnd erst Weio, dann Herrn von Studmann an. "Ist es so wichtig?"

"Meine Frau ist ganz überflüssig", protestierte der Rittmeister. "Sie versteht überhaupt nichts von Geschäften."

"Sie versteht mehr davon als du!" flüsterte Studmann zurück. "Ach, Pagel, nehmen Sie sich ein bißchen des gnädigen Fräuleins an. Nett. Also bitte, gnädige Frau!"

Ein wenig widerstrebend, ein wenig zweifelnd ging Frau von Prackwitz auf das Büro. Von der Schwelle sah sie noch einmal zurück auf das Paar.

"Wohin befehlen gnädiges Fräulein?" fragte Pagel.

"Ach, hier so ein bißchen vor den Fenstern auf und ab."

Frau von Prackwitz trat in das Büro.

3

"Wollen Sie vielleicht auch die Massenkocherei im Schloß besichtigen?" fragte Pagel. "Da herrscht jetzt Hochbetrieb!"

"Ach, da muß ich nachher mit Mama hin! Wer kocht denn?"

"Fräulein Backs und Fräulein Kowalewski."

"Von der Amanda verstehe ich es. Aber daß die Sophie sich nicht zu fein vorkommt, für Zuchthäusler zu kochen -!"

"Jeder verdient sich heute gern ein bißchen Geld."

"Sie anscheinend nicht, wenn Sie in der Arbeitszeit hier rauchend herumlaufen", sagte Violet streitsüchtig.

"Stört meine Zigarette?" fragte Pagel und nahm sie aus dem Mund.

"I gar nicht. Ich rauche selber gern. Wir können uns nachher, wenn die im Büro nicht mehr an uns denken, ein bißchen in den Park verkrümeln. Dann schenken Sie mir eine."

"Wir können doch auch gleich gehen! Oder glauben Sie, Ihre Mama hält mich für so gefährlich, daß Sie nicht mit mir in den Park dürfen?"

"Sie und gefährlich!" Weio lachte. "Nein, aber ich habe eigentlich

Stubenarrest."

"Sie dürfen also eigentlich nur mit Ihrer Mama gehen?"

"Was Sie nicht alles rauskriegen!" rief sie spöttisch. "Seit drei Wochen redet die ganze Gegend davon, daß ich Stubenarrest habe, und Sie merken es auch schon!"

Aber Fräulein Violets Gereiztheit machte auf Pagel gar keinen Eindruck. Er lächelte vergnügt und fragte: "Danach darf man sich wohl nicht erkundigen, warum Sie Stubenarrest haben? War es sehr schlimm?"

"Seien Sie nicht indiskret!" sagte Weio sehr von oben herab. "Ein feiner Mann ist nicht indiskret."

"Ich werde wohl nie ein feiner Mann werden, gnädiges Fräulein", gestand Pagel betrübt und strich verstohlen lächelnd über seine Brusttasche. "Aber wenn Sie meinen, daß die im Büro jetzt laut genug reden, könnten wir in den Park entwetzen und eine Zigarette rauchen."

"Warten Sie", sagte Weio. Sie lauschte. Man hörte Herrn von Studmanns Stimme, ruhig, aber sehr nachdrücklich. Nun sprach der Rittmeister hastig, protestierte klagend gegen irgend etwas - und jetzt sagte Frau von Prackwitz sehr bestimmt, sehr klar sehr vieles. "Mama ist in Fahrt, also los!"

Sie bogen um Fliederbusch und Goldregen, dann gingen sie langsam den breiten Weg zwischen Rasenflächen in den eigentlichen Park hinunter.

"So, jetzt können sie uns nicht mehr sehen. Jetzt dürfen Sie mir eine Zigarette schenken. - Donnerwetter, Sie rauchen ja eine fabelhafte Marke - was kostet die denn?"

"Irgendwelche Millionen. Ich kann es nie behalten, es ändert sich alle Tage. - Ich bekomme sie übrigens von einem Freund, einem gewissen Herrn von Zecke, der in Haidar-Pascha wohnt. Wissen Sie, wo Haidar-Pascha liegt?"

"Wie soll ich das denn wissen? Ich will doch nicht Steißtrommlerin werden!"

"Nein, natürlich nicht! Entschuldigen Sie ... Haidar-Pascha liegt auf der asiatischen Seite des Bosporus ..."

"Gott, hören Sie bloß mit dem Quatsch auf, Herr Pagel, was mich das schon interessiert -! Warum grinsen Sie eigentlich immer so -? Stets, wenn ich Sie sehe, grinsen Sie!"

"Das ist doch eine Verletzung aus dem Krieg, gnädiges Fräulein. Verletzung des Nervus sympathicus in seiner zentralen Führung - na, das

interessiert Sie wieder nicht. Wissen Sie, so wie die Schüttler schütteln, so grinse ich ..."

"Ziehen Sie mich nun durch den Kakao?" rief sie empört. "Ich lasse mich nicht von Ihnen auf den Arm nehmen ..."

"Aber, gnädiges Fräulein, ganz bestimmt, es ist eine Kriegsverletzung! Wenn ich weinen muß, sieht es aus, als lachte ich Tränen - in die unangenehmsten Lagen bin ich schon dadurch gekommen!"

"Mit Ihnen weiß man nie, wie man dran ist", erklärte sie unzufrieden. "Männer wie Sie finde ich einfach ekelhaft."

"Dafür bin ich aber ungefährlich, das ist wieder ein Vorteil, gnädiges Fräulein."

"Ja, das sind Sie wirklich!" meinte Weio verächtlich. "Ich möchte wirklich wissen, wie Sie sich anstellen würden, wenn ..."

"Wenn was -? Ach, sagen Sie es doch bitte, gnädiges Fräulein! Oder haben Sie Angst -?"

"Angst vor Ihnen -?! Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Ich meine, wie Sie sich anstellen würden, wenn Sie einem Mädchen einen Kuß geben wollten?!"

"Ja, das weiß ich auch nicht", gestand Pagel kläglich. "Die Wahrheit zu sagen, gnädiges Fräulein, ich habe es mir schon tausendmal überlegt, aber ich bin so schüchtern, und da ..."

"Was?" fragte Weio und sah ihn überlegen an. "Sie haben noch nie einem Mädchen einen Kuß gegeben?!"

"Hundertmal habe ich es mir vorgenommen, auf Ehrenwort, gnädiges Fräulein! Aber der Mut, in der entscheidenden Sekunde ..."

"Wie alt sind Sie -?"

"Beinahe vierundzwanzig ..."

"Und Sie haben noch nie ein Mädchen geküßt?"

"Ich sage Ihnen doch, gnädiges Fräulein, meine Schüchternheit ..."

"Feigling!" rief sie voll tiefster Verachtung.

Eine Weile gingen beide schweigend die Allee hoher Linden hinunter, die auf den Teich zuführte.

Dann fing Pagel wieder vorsichtig an: "Gnädiges Fräulein, darf ich Sie was fragen?"

Ungnädig: "Na, man los, Sie - Held!"

"Aber Sie dürfen mir auch nicht böse werden!"

"Fragen Sie!"

"Bestimmt nicht?"

Sehr ungeduldig: "Nein! Fragen Sie doch!"

"Also - wie alt sind Sie, gnädiges Fräulein?"

"Sie Schafskopf! - Sechzehn!"

"Sehen Sie, da werden Sie schon böse - und ich fange doch erst mit Fragen an."

Wütend mit dem Fuß aufstampfend: "Also fragen Sie doch schon - Sie Jammerkerl!"

"Und Sie werden auch bestimmt nicht böse -?"

"Sie sollen fragen -!!!"

"Gnädiges Fräulein - haben Sie schon mal - einen Mann geküßt -?"

"Ich?" Sie denkt nach. "Natürlich. Hundertmal."

"Das glaube ich nicht!"

"Tausendmal!"

"I was!"

"Doch - den Papa nämlich!" Und sie bricht in ein schallendes Gelächter aus.

"Na also!" sagt Pagel schließlich, als sie sich beruhigt hat. "Sie haben auch nicht den Mut."

Weio ist empört: "Ich habe nicht den Mut -?"

"Nein, Sie sind genauso feige wie ich."

"Doch habe ich einen Mann geküßt! Nicht bloß den Papa. Einen jungen Mann, einen mutigen Mann" - ihre Stimme singt jetzt fast -, "nicht so einen Jämmerling wie Sie ..."

"Das glaube ich nicht ..."

"Doch ... Doch ... Er hat sogar einen Schnurrbart, eine kleine blonde Bürste, die sticht - und Sie haben keinen!"

"Na also!" sagt Pagel niedergeschlagen. "Und Sie sind wirklich erst sechzehn, gnädiges Fräulein?"

"Ich bin sogar erst fünfzehn", erklärt sie triumphierend.

"Sie haben aber Mut", sagt er bewundernd. "Ich würde nie so mutig sein können. Aber natürlich", tröstet er sich, "haben Sie nie einen Mann geküßt. Sie haben sich nur von einem Mann küssen lassen. Das ist noch etwas anderes! So einen Mann beim Kopf kriegen und abküssen, das könnten Sie auch nicht."

"Das könnte ich nicht?" ruft sie mit flammenden Augen. "Was denken

Sie denn von mir?"

Er schlägt vor ihren Blicken die Augen nieder. "Bitte, bitte, gnädiges Fräulein! Ich habe nichts gesagt. Doch, doch, Sie können es, ich glaube es auch so ... Bitte, bitte, tun Sie es nicht ... Ich habe solche Angst ..."

Aber sein Flehen hilft ihm nichts. Ihre flammenden Augen, ihr halbgeöffneter Mund sind ihm näher gekommen, er mag Schritt für Schritt hinter sich treten. Und nun legt sich ihr Mund auf den seinen ...

Doch im gleichen Augenblick spürt Weio eine Verwandlung. Als hätten ihre Lippen ihm Kraft eingeflößt, fühlt sie sich eisern festgehalten zwischen seinen Armen, seine Lippen erwidern den Kuß ... Jetz will sie sich ihm entziehen, jetzt bekommt sie Angst ... Aber der Kuß dieser Lippen wird heißer und heißer, noch möchte sie widerstreben, und schon fühlt sie sich nachgeben. Der eben noch stolz aufgerichtete Kopf fügt sich, schmiegt sich ... Ihr Rücken wird weich, sie hängt in seinen Armen ...

"Oh!" seufzt sie und geht schon unter in dem lang entbehrten Meer. "Oh, du ..."

Aber sein Arm hält sie nicht mehr, er stellt sie zurück, fest auf die Erde. Sein Gesicht ist wieder fern ihrem Gesicht, es sieht jetzt ernst aus, nichts mehr von dem Lächeln ...

"So, gnädiges Fräulein, das war das!" sagt Pagel ruhig. "Wer so schwach wie Sie ist, sollte nicht mit Männern spielen!"

"Sie sind gemein!" ruft sie mit flammenden Wangen, zwischen Zorn und Scham. "So etwas tut ein feiner Mann nicht."

"Es war gemein!" gibt er zu. "Aber ich mußte etwas von Ihnen wissen, und die Wahrheit hätten Sie mir nie gesagt. Jetzt weiß ich es. - Hier", er greift in die Tasche, "diesen Brief, diese Abschrift eines Briefes fand ich auf dem Büro, in einem Buch versteckt, er ist doch wohl von Ihnen -?"

"Och, der olle dumme Brief!" sagt sie verächtlich. "Darum machen Sie nun so ein Theater! Was der Meier sich einbildet, daß er davon eine Abschrift macht! Sie hätten das Dings ruhig zerreißen sollen, statt mich so gemein reinzulegen ..."

Pagel sieht sie prüfend an, während er den Brief in kleinste Stücke zerreißt. "So", sagt er, schüttelt das Häufchen und steckt es dann in die Tasche. "Das wird umgehend verbrannt. - Aber eine Abschrift gibt es mindestens noch auf der Welt, und wenn die nun dieser Herr Meier an Ihren Vater schickt - was dann?"

"So was kann sich doch jeder zurechttippen!" ruft sie.

"Sicher!" gibt er zu. "Aber Sie haben schon Stubenarrest - es scheint

also bereits ein Verdacht zu bestehen. Ohne den Verdacht hätte die Abschrift wenig Beweiskraft. Aber mit dem Verdacht -?"

"Ich habe das Original wieder. Wenn ich nichts zugebe, kann man mir gar nichts beweisen!"

"Aber man kann Sie überlisten!"

"Mich doch nicht!"

"Von mir haben Sie sich sehr schnell überlisten lassen!"

"Es sind nicht alle so heimtückisch wie Sie!"

"Kleines Fräulein", mahnt Pagel freundlich, "jetzt wollen wir ausmachen, daß Sie von nun an höflich zu mir sind, genau so, wie ich höflich zu Ihnen bin. Wir wollen diesen Brief, der jetzt zerrissen ist, vergessen. Was ich getan habe, sieht nicht sehr hübsch aus. Aber es ist doch immer noch besser, als wenn ich zu Ihrer Frau Mutter gegangen wäre und geklatscht hätte, nicht wahr? - Vielleicht müßte ich das sogar tun, aber ich mags nicht ..."

"Tun Sie bloß nicht so feierlich!" spottet sie. "Sie werden auch schon Liebesbriefe geschrieben und bekommen haben". Aber ihr Spott hat die alte Kraft nicht mehr.

"O ja", sagt er ruhig, "aber ich bin noch nie ein Lump gewesen. Ich habe noch nie fünfzehnjährige anständige Mädchen verführt. - Kommen Sie", sagt er und faßt sie am Arm, "wir wollen zu Ihrer Mutter gehen. Sicher macht sie sich schon Sorgen."

"Herr Pagel!" sagt sie flehend und wehrt sich gegen das Weitergehen. "Er ist doch kein Lump!"

"Natürlich ist er das, und Sie wissen es auch ganz gut!"

"Nein!" ruft sie und kämpft mit Tränen. "Warum sind alle jetzt so schlecht zu mir?! Früher war es doch anders!"

"Wer ist schlecht zu Ihnen -?"

"Ach, Mama, die mich ewig quält, und Hubert ..."

"Wer ist Hubert? Heißt er Hubert?"

"Nein doch! Unser Diener, Hubert Räder ..."

"Der weiß davon?"

"Ja", sagt sie weinend, "lassen Sie doch bitte meinen Arm los, Herr Pagel, Sie drücken ihn ja kaputt!"

"Verzeihung - Der Diener quält Sie also?"

"Ja ... Er ist so gemein ..."

"Und wer weiß noch davon?"

"Was Bestimmtes keiner."

"Inspektor Meier nicht?"

"Ach der! Der ist doch abgereist!"

"Also der auch. - Wer noch?"

"Der Förster - aber der weiß nichts Bestimmtes."

"Wer noch?"

"Keiner - bestimmt nicht, Herr Pagel! Sehen Sie mich nicht so an, ich habe Ihnen alles gesagt. Ganz bestimmt!"

"Und der Diener quält Sie? Wie quält er Sie?"

"Er ist gemein - er sagt gemeine Sachen, und er steckt mir gemeine Bücher unters Kopfkissen."

"Was für Bücher?"

"Ich weiß doch nicht - von der Ehe, mit Bildern ..."

"Kommen Sie", sagt Pagel und faßt wieder ihren Arm. "Seien Sie mutig. Jetzt gehen wir zu Ihren Eltern und sagen ihnen alles. Sie sind in den Händen von lauter Lumpengesindel; die quälen Sie, bis Sie nicht mehr ein noch aus wissen - bestimmt, Ihre Eltern verstehen das. Jetzt sind sie ja nur mit Ihnen böse, weil sie fühlen, Sie lügen ... Kommen Sie, gnädiges Fräulein, seien Sie mutig - ich bin doch von uns beiden der Feigling". Und er lächelt ihr ermutigend zu.

"Bitte, bitte, lieber, lieber Herr Pagel, tun Sie das nicht!" Ihr Gesicht ist von Tränen überströmt, sie hat seine Hände gefaßt, als wolle er ihr fortlaufen mit der schlimmen Botschaft, sie streichelt ihn ... "Wenn Sie es meinen Eltern sagen, ich schwöre Ihnen, ich gehe ins Wasser ... Wozu wollen Sie es ihnen denn sagen? Es ist ja doch alles aus!"

"Es ist alles aus?"

"Ja, ja", weint sie. "Seit drei Wochen kommt er doch schon nicht mehr."

Er denkt nach, er überlegt.

(Es ist unvermeidlich, daß in dieser Sekunde das Bild einer - ach! entschwundenen - Petra vor seinen Augen steht. Schon seit vielen Sekunden. Schon, als er diese Lippen unter den seinen spürte, diesen Körper schwach werden fühlte, der sofort der Verlockung der Lust nachgab, nicht der Lockung der Liebe. - Schon stieg das Bild auf, fern, aber klar, ein Gesicht, hold und gefaßt, aus den Zeiten ihn grüßend. Er wollte es nicht, aber ohne es zu wollen, mußte er fortwährend vergleichen: Was hätte sie hier getan? Hätte sie das gesagt? So würde sie nie gehandelt haben ...

Und das holde, ferne Gesicht, tausendmal angesehen, das Gesicht des Mädchens, das ihn verlassen hatte, das er verlassen hatte, triumphierte über das Gesicht der behüteten höheren Tochter.

Es triumphierte - und aus dem Triumph der Verlassenen kam es wie eine Mahnung, wenigstens zu dieser gut zu sein, ihr nicht die ganze Last aufzuladen ... Bist du bei mir zu hart gewesen, sei es nicht wieder bei dieser! klang es.)

Er denkt nach, er überlegt, sie liest auf seinem Gesicht.

"Was ist er?" fragt er.

"Leutnant."

"Bei der Reichswehr?"

"- ja!"

"Kennen ihn Ihre Eltern?"

"Ich - glaube nicht. Ich weiß nicht genau."

Wieder denkt er nach. Daß es ein Offizier ist, ein Mann also, der, er mag sein, wie er will, einem gewissen Ehrenkodex unterliegt, ist eine kleine Beruhigung. Wenn der Junge sich einmal vergessen hat, sich dann erschrocken zurückzog, ist es gewissermaßen nicht so schlimm. Dann war's irgendeine Unüberlegtheit, vielleicht im Rausch - keine Wiederholung ist zu fürchten. Man müßte das wissen. Er müßte fragen. Er sieht sie prüfend an. Aber kann man denn ein so junges Mädchen fragen, ob es nur einmal geschah, ob es Folgen hatte -?

Wenn es nur einmal geschehen ist, denkt er, war es eine Unüberlegtheit. Ist es mehrere Male geschehen, war es eine Gemeinheit.

Dann muß man es den Eltern sagen.

Er sieht sie wieder an. Nein, er mag nicht danach fragen. Vielleicht muß er sich später Vorwürfe machen, aber er mag es nicht.(Wieder das ferne Bild.)

"Es ist bestimmt ganz aus?" fragt er noch einmal.

"Ganz bestimmt!" beteuert sie.

"Sie schwören das?" fragt er, obwohl er weiß, wie nutzlos solche Schwüre sind.

"Ich schwöre es!"

Er hat ein ungemütliches Gefühl. Irgend etwas stimmt nicht, in irgendeinem Punkt muß sie ihn belogen haben.

"Wenn ich schweigen soll, müssen Sie mir eines versprechen. Aber ehrenwörtlich."

"Ja, gerne ..."

"Wenn dieser Herr - Leutnant sich wieder an Sie wenden sollte, geben Sie mir sofort Nachricht. Versprechen Sie mir das? Geben Sie Ihre Hand!"

"Ehrenwort!" sagt sie und gibt ihm ihre Hand.

"Also gut. Gehen wir. Suchen Sie irgendeinen Vorwand, daß Sie mir heute abend möglichst spät Ihren Diener Räder rüberschicken."

"Großartig!" ruft sie begeistert. "Was werden Sie mit ihm machen?"

"Ich werde den Jungen sein eigenes Geschrei hören lassen", sagt er grimmig. "Er wird Sie nicht wieder quälen."

"Und wenn er zu Papa läuft?"

"Das müssen wir riskieren. Aber er wird nicht zu Papa laufen, ich werde ihm so angst machen, daß ihm die Lust dazu vergeht. Erpresser sind immer feige."

"Horchen Sie mal, ob die auf dem Büro noch reden? Gott, ich sehe sicher schrecklich aus. Bitte, geben Sie mir mal schnell Ihr Taschentuch, ich muß meins verloren haben - nein, ich habe gar keins eingesteckt. Sie will ich nie wieder belügen, selbst nicht in Kleinigkeiten. Gott, was sind Sie für ein Kerl, das hätte ich nie gedacht. - Wenn ich nicht schon verliebt wäre, würde ich mich auf der Stelle in Sie verlieben."

"Die Sache ist aus, gnädiges Fräulein", sagt Pagel trocken. "Vergessen Sie das bitte nicht. - Sie haben es mir geschworen."

"Aber natürlich. Und nun denken Sie, daß Sie -"

Pagel hebt die Achseln. "Mein liebes gnädiges Fräulein", sagt er, "niemand kann einem Menschen helfen, der mit Gewalt in den Dreck will. Mir ist wirklich nicht nach Witzen zumute. - So, und nun wollen wir uns mal unter dem Fenster bemerkbar machen. Die Debatte dort drin scheint wirklich uferlos."

4

"Gnädige Frau", hatte Herr von Studmann gesagt und Frau von Prackwitz den Schreibtischstuhl zurechtgerückt, den der Rittmeister seiner Frau gerne einräumte. "Entschuldigen Sie, wenn ich Sie rief. Aber wir haben hier eine Besprechung, bei der Sie dabeisein müßten. Wir reden nämlich vom Geld ..."

"Wirklich?" sagte Frau Eva, nahm den Rasierspiegel auf und betrachtete sich prüfend darin. "Das ist freilich ein ganz neues Thema für mich! Achim redet davon nicht häufiger als jeden Tag ..."

"Ich bitte dich, Eva!" rief der Rittmeister.

"Und warum redet mein Freund Prackwitz alle Tage von Geld? Weil er keines hat. Weil die kleinste Rechnung ihn schon in Aufregung bringt. Weil die Pachtzahlung am ersten Oktober wie ein Alpdruck auf ihm lastet. Weil er immer daran denkt, ob er es auch schaffen wird ..."

"Sehr richtig, Studmann, ich mache mir eben Sorgen. Ich bin ein vorsorglicher Kaufmann ..."

"Wir wollen uns einmal deine finanzielle Situation ansehen. Reserven hast du keine, die laufenden Ausgaben werden aus laufenden Einnahmen bezahlt, das heißt aus Viehverkäufen, aus Frühkartoffelverkäufen, aus der Ernte ... Reserven hast du keine ..."

Studmann rieb sich nachdenklich die Nase. Die gnädige Frau bespiegelte sich. Der Rittmeister lehnte am Ofen, war gelangweilt, hoffte aber inbrünstig, daß Studmann("dieses ewige Kindermädchen!") wenigstens so viel Takt besitzen würde, nicht von den Spielschulden anzufangen. -

"Nun kommt der erste Oktober", sagte von Studmann, immer noch sehr nachdenklich. "An diesem ersten Oktober ist die Jahrespacht bar auf den Tisch des Herrn Geheimrats von Teschow zu legen. Die Jahrespacht beträgt, wie bekannt sein dürfte, dreitausend Zentner Roggen. Soweit ich mich unterrichtet habe, ist etwa ein Preis von sieben bis acht Goldmark pro Zentner anzusetzen, das wäre eine Summe von zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend Goldmark, in Millionen und Milliarden nicht ausdrückbar. Schon darum nicht, weil uns der Roggenpreis in Papiermark am ersten Oktober nicht bekannt ist ..."

Von Studmann sah seine Opfer versonnen an, aber sie merkten noch nichts.

Sondern der Rittmeister sagte: "Ich finde es sehr dankenswert, Studmann, daß du dich mit allen diesen Dingen beschäftigst. Aber sie sind uns - verzeih! - bekannt. Die Pacht ist etwas hoch, aber ich habe ja eine ganz nette Ernte draußen stehen, und da ich jetzt die Leute bekomme ..."

"Entschuldige, Prackwitz", unterbrach Studmann, "du siehst das Problem noch nicht. Du hast am ersten Oktober Herrn von Teschow den Wert von dreitausend Zentnern Roggen zu übergeben. Da die Goldmark ein fiktiver Begriff ist, in Papiermark, zum Roggenpreis am ersten Oktober ..."

"Das verstehe ich alles, lieber Studmann, es ist mir bekannt, daß ..."

"Du kannst aber", fuhr der unerbittliche Studmann fort, "nicht

dreitausend Zentner Roggen an einem Tage dem Händler abliefern. Du brauchst, nach deinen Arbeitsbüchern zu urteilen, etwa vierzehn Tage dazu. Sagen wir also, du lieferst am zwanzigsten September dreihundert Zentner Roggen ab. Der Händler gibt dir, sagen wir mal, dreihundert Milliarden dafür. Du legst die dreihundert Milliarden in deinen Geldschrank für die Zahlung am ersten Oktober. In der Zeit vom zwanzigsten September bis zum dreißigsten fällt die Mark weiter, wie wir es in der letzten Zeit erlebt haben. Für die dreihundert Zentner am dreißigsten September bekommst du vom Händler, sagen wir mal, sechshundert Milliarden. Dann stellen die dreihundert Milliarden in deinem Geldschrank nur noch den Wert von hundertfünfzig Zentnern Roggen dar. Du müßtest noch einmal hundertfünfzig Zentner nachliefern ... Das ist doch klar?"

"Erlaube mal", sagte der Rittmeister verwirrt. "Wie war das? Dreihundert Zentner sind plötzlich nur hundertfünfzig Zentner ..."

"Herr von Studmann hat ganz recht", rief Frau von Prackwitz lebhaft. "Aber das ist ja schrecklich. Das kann ja kein Mensch leisten ..."

"Es ist durch vierzehn Tage ein Wettlauf mit der Inflation", sagte Herr von Studmann. "Und uns wird dabei der Atem ausgehen."

"Aber die Inflation braucht doch nicht immer so weiterzugehen!" rief der Rittmeister empört.

"Nein, natürlich nicht. Aber das weiß man nicht. Es hängt von so vielem ab: von der Haltung der Franzosen an der Ruhr, der Festigkeit der jetzigen Regierung, die den Ruhrkampf unter allen Umständen fortsetzen will, also Geld über Geld braucht, von der Haltung Englands und Italiens, die jetzt noch gegen das Ruhrabenteuer Frankreichs sind. Von tausend Dingen also, auf die wir keinen Einfluß haben - aber wir müssen jedenfalls am ersten Oktober zahlen."

"Und man kann das, Herr von Studmann?"

"Man kann das, gnädige Frau."

"Sieh da!" rief der Rittmeister halb lachend, halb ärgerlich. "Unser lieber Studmann! Erst ängstigt er uns, und nun hat er die Rettung in der Hand!"

"Es gibt nämlich", sagte Studmann ganz ungerührt, "Leute, die an einen bodenlosen Fall der Mark glauben, die auf Baisse spekulieren, wie man so sagt. Die sind bereit, dir schon heute dein Korn abzukaufen, Prackwitz, zahlbar am ersten Oktober, lieferbar Oktober - November ... Ich habe da ein paar Angebote ..."

"Ein Heidengeld werden die Brüder an meinem Korn verdienen!" rief

der Rittmeister erbittert.

"Aber du kannst Papa die Pacht pünktlich und richtig geben, Achim! Darauf kommt es doch an."

"Gib mir die Wische, Studmann", sagte Prackwitz grämlich. "Ich seh sie mir mal durch. So eilig wird es ja nicht sein. Jedenfalls bin ich dir sehr dankbar ..."

"Die zweite Frage ist die", begann Herr von Studmann nun, "ob es überhaupt einen Zweck hat, die Pachtung zu bezahlen ..."

Er schwieg und sah die beiden an. Aus den Wolken gefallen, dachte er. Wie die Kinder ...

"Aber wie -?" fragte Frau von Prackwitz verwirrt. "Papa muß doch sein Geld haben?"

"Was du dir da wieder ausgedacht hast, Studmann!" widersprach der Rittmeister sehr ärgerlich. "Als wenn es nicht schon ohnedies Schwierigkeiten genug gäbe! Sich auch noch Schwierigkeiten ausdenken -!"

"Es steht doch im Vertrage", rief Frau von Prackwitz wieder, "daß wir die Pachtung sofort verlieren, wenn nicht pünktlich und vollständig gezahlt wird!"

"Ich erfülle meine Verpflichtungen -!" erklärte der Rittmeister eisern.

"Wenn du es kannst!" meinte Herr von Studmann. Und eifriger: "Höre zu, Prackwitz, unterbrich mich mal nicht. Hören Sie bitte auch zu -. Es wird ein wenig peinlich, ich muß von Ihrem Herrn Vater sprechen ... Nun, reden wir von Verpächter und Pächter. Denn auch für dich wird einiges Bittere abfallen, mein lieber Prackwitz, für dich, den Pächter ...

Das Studium dieses Pachtvertrages ist nicht uninteressant. Wenn man sich hineinvertieft, wird man an den Vertrag von Versailles erinnert, über dem die Devise steht: ›In die Hölle mit dem Besiegten!‹ Über diesem Pachtvertrag stehen die Worte: ›Wehe dem Pächter!‹"

"Mein Vater ..."

"Der Verpächter, gnädige Frau, nur der Verpächter. Ich will nicht von all den kleinen niederträchtigen Bestimmungen reden, die sich zu Katastrophen auswachsen können. Der Fall mit dem elektrischen Licht hat mir die Augen geöffnet. Mein lieber Prackwitz, wäre ich nicht gewesen, du wärest schon über diese Kleinigkeit gestürzt, und du solltest darüber stürzen. Aber ich war da, und der Gegner zog sich zurück. Er wartet, daß du über die Pachtzahlung fallen sollst, und du wirst darüber fallen ..."

"Mein Schwiegervater ..."

"Mein Vater ..."

"Der Verpächter", sprach von Studmann mit starker Stimme, "hat den Pachtpreis mit anderthalb Zentner Roggen pro Morgen festgesetzt. Erste Frage: Ist das eine tragbare Pacht?"

"Sie ist vielleicht ein bißchen hoch "..., fing der Rittmeister wieder einmal an.

"Die staatlichen Domänen hier in der Nähe zahlen sechzig Pfund Roggen pro Morgen, du zahlst weit über das Doppelte. Und wohlgemerkt: Die Domänenpächter hatten zum letzten Termin nur Abschlagszahlungen zu leisten und werden beim kommenden Termin wahrscheinlich gar nichts zahlen. Sie verlieren darum ihre Pachtung nicht; du aber, wenn du nicht pünktlich und vollständig zahlst, nun, du weißt ja, deine Frau hat es eben gesagt ..."

"Mein Bruder in Birnbaum ..."

"Richtig, gnädige Frau, Ihr Herr Bruder in Birnbaum zahlt, wie er überall stöhnend erzählt, dem Verpächter die gleiche Pacht. Aber, was dem einen Kinde recht ist, ist dem andern Kinde - zu teuer. Man hört nämlich überall, daß Ihr Bruder in Wirklichkeit nur neunzig Pfund bezahlt, seinem Vater aber hat versprechen müssen, nur von hundertfünfzig Pfund zu reden. Warum er das tun soll ..."

"Mein lieber Studmann, das wäre ja so etwas wie Betrug. Ich bitte dich sehr ..."

"Mein Bruder ... mein Vater ..."

"Kann man diese Pachtsumme also schon als recht hoch bezeichnen, so könnte ja Neulohe immerhin ein so vorzügliches Gut sein, daß selbst eine ungewöhnlich hohe Pachtsumme berechtigt wäre. Ich habe in diesem Büro", sagte Herr von Studmann und ließ einen ernsten, mißbilligenden Blick über die Regale schweifen, "keine mustergültige Ordnung vorgefunden. Nein, verzeihe bitte, Prackwitz. Aber eines war mustergültig: nicht ein Buch aus der Zeit deines Vorgängers war mehr aufzufinden, nichts, aus dem man über Erträge Neulohes in früheren Jahren Aufschluß bekommen könnte. Aber schließlich gibt es andere Wege. Der Leutevogt hat Druschlisten geführt, auf dem Finanzamt gibt es Aufzeichnungen, die Händler führen Eingangsbücher - nun, mit einiger Mühe bin ich schließlich zu dem Ergebnis gekommen, daß Neulohe auch in früheren Jahren nur einen Durchschnittsertrag von fünf bis sechs Zentner Roggen auf den Morgen hatte ..."

"Viel zu niedrig, Studmann!" rief der Rittmeister triumphierend. "Du

bist eben kein Landwirt ..."

"Ich habe bei dem - Verpächter eine Stichprobe gemacht. Er wußte ja nicht, warum ich fragte, er wollte mich ein bißchen reinlegen, er denkt wie du, ich bin kein Landwirt ... Aber ich bin ein Mann, der rechnen kann; wer reingelegt wurde, war der andere, Herr von Teschow. Der Verpächter hat mir gegen seinen Willen bestätigt: fünf bis sechs Zentner Durchschnittsertrag, mehr darf man nicht annehmen. Es ist eben viel Sand in den Außenschlägen, sagte der Verpächter."

"Aber dann zahle ich ja "... Der Rittmeister hielt bestürzt inne.

"Jawohl", sagte Studmann unbeugsam, "du zahlst fünfundzwanzig bis dreißig Prozent deiner Roherträge als Pacht. Das dürfte wohl kaum tragbar sein. - Wenn Sie sich erinnern wollen, gnädige Frau", erklärte Herr von Studmann freundlich, "damals, im Mittelalter, zahlten die Bauern an ihren Grundherrn den ›Zehnten‹, den zehnten Teil ihrer Roherträge also. Das war nicht tragbar, schließlich empörten sich die Bauern und schlugen ihre Herren tot. Ihr Herr Gemahl zahlt nicht den Zehnten, nein, er zahlt den Vierten - aber einem Totschlag möchte ich doch widerraten."

Herr von Studmann lächelte, er war glücklich. Das Kindermädchen konnte erziehen, der Lehrer durfte belehren - er vergaß darüber ganz die Verzweiflung seiner Hörer. Ein Kind, dem sein Spielzeug entzweigegangen ist, findet es nicht sehr tröstlich, wenn es darüber belehrt wird, wie es dieses Entzweigehen hätte vermeiden können ...

"Aber was sollen wir tun?" flüsterte die gnädige Frau tonlos. "Was sollen wir bloß anfangen -?"

"Mein Schwiegervater hat sicher keine Ahnung von alldem", sagte der Rittmeister. "Man muß ihm das einmal vorstellen. Du bist so geschickt und ruhig, Studmann ..."

"Und das Schweigegebot an den Sohn in Birnbaum?"

Der Rittmeister verstummte.

Von neuem begann Herr von Studmann: "Bis hierher kann man noch immer an einen Verpächter glauben, der sehr gern Geld verdient. Zu gerne. Etwas gierig, nicht wahr? Aber leider ist es noch schlimmer ..."

"Bitte nicht, Herr von Studmann! Es ist jetzt wirklich genug."

"Nein, höre wirklich auf ..."

"Man muß alles wissen, sonst handelt man falsch. Die Roggenpacht beträgt dreitausend Zentner - anderthalb Zentner pro Morgen -, sie entspricht einer Gutsgröße von zweitausend Morgen. Und als so groß ist das Gut auch im Pachtvertrag angegeben ..."

"Stimmt das auch wieder nicht?"

"Ich habe immer gehört, daß Neulohe zweitausend Morgen groß ist, schon viel früher", sagte die gnädige Frau.

"Es ist auch richtig, Neulohe ist zweitausend Morgen groß", bestätigte Herr von Studmann.

"Na also -!" rief der Rittmeister aufatmend.

"Neulohe ist zweitausend Morgen groß - aber wie groß ist die Fläche, die du bestellst, Prackwitz? Von den zweitausend Morgen gehen Wege und Unland ab, Feldraine, Wasserlöcher in den Schlägen, Steinhaufen. Es gehen auch ein paar Stücke ehemaliges Ackerland ab, die mit Fichten aufgeforstet sind - da kannst du dir einen Weihnachtsbaum holen, Prackwitz, ohne den Forstbesitzer fragen zu müssen ..."

"Na ja, so Kleinigkeiten. Ich weiß, die eine Kuschelecke ..."

"Es geht aber auch ab: der Riesenhofplatz, die Leutehäuser, hier das Beamtenhaus, deine Villa mit Garten, es geht auch ab -: das Schloß und der Park -! Ja, mein lieber Prackwitz, du zahlst deinem Schwiegervater Roggenpacht noch für das Haus, in dem er wohnt!"

"Der Teufel soll mich holen, wenn ich das tue!" schrie der Rittmeister.

"Sachte, sachte - das wäre ein bequemer Weg für dich, aus allen Schwierigkeiten zu kommen. Das möchtest du wohl. Ich habe es mir auf der Flurkarte ausgerechnet, die Größe des tatsächlich genutzten Bodens beläuft sich auf wenig über tausendfünfhundert Morgen, in Wirklichkeit zahlst du also zwei Zentner Roggenpacht."

"Ich fechte den Vertrag an! Ich verklage den Kerl!" schrie der Rittmeister und schien aus der Tür fahren zu wollen, wie er ging und stand, hin zum nächsten Gericht.

"Ach, Achim!" klagte Frau von Prackwitz.

"Setze dich hin!" rief Herr von Studmann. "Du weißt nun alles. Jetzt wollen wir über den Schuldigen zu Gericht sitzen, nämlich über dich. Ruhig, Prackwitz! Wie hast du diesen Schandvertrag unterschreiben können? Sie haben ihn übrigens mit unterschrieben, gnädige Frau. - Na, sprich, Prackwitz. Du kannst jetzt reden."

"Wie kann man denken, daß man so gemein hereingelegt wird - unter Verwandten!" rief der Rittmeister unmutig. "Ich habe gewußt, daß mein Schwiegervater knietschig und hinter dem Geld her ist wie der Kater hinter dem Baldrian. Aber daß er seiner eigenen Tochter den Hals abschneidet, nee, Studmann, ich kann es noch immer nicht glauben ..."

"Herr von Teschow ist kein dummer Mann", meinte Herr von

Studmann. "Wenn er so einen Vertrag machte, wußte er auch, daß er nicht zu erfüllen war. Er muß doch eine Absicht dabei gehabt haben - kannst du darüber etwas sagen, Prackwitz? Bitte auch Ihre Ansicht, gnädige Frau ..."

"Ich weiß doch nicht, was mein Vater sich denkt "..., sagte Frau Eva, aber sie wurde rot unter dem prüfenden Blick Studmanns.

"Ich schmeiße ihm den Krempel vor die Füße!" schrie der Rittmeister. "Ich gehe zum Gericht ..."

"Nach Paragraph 17 löst jeder Einwand gegen eine Bestimmung des Vertrages das Pachtverhältnis. Wenn du die Klage eingereicht hast, bist du schon nicht mehr Pächter. - Wie ist der Vertrag zustande gekommen? Er ist doch neu, du wirtschaftest doch schon länger hier ..."

"Ach, das sind ja alles olle Kamellen, das hat hiermit gar nichts zu tun. Als ich aus dem Baltikum wiederkam, hatten wir gar nichts. Meine Pension sollte ich nicht kriegen, ich war ja ein Vaterlandsverräter. Da sind wir hier erst als ›Besuch‹ untergekrochen. Ich hatte nichts zu tun. Ich bin mit dem Herrn Schwiegervater über die Felder gelaufen, habe geholfen - tüchtig geschuftet habe ich! Hat mir damals Spaß gemacht. Na, und eines Tages sagte er: ›Ich bin alt, nehmen Sie den Knatsch, wie er steht und geht, mal erbt die Eva doch alles.‹ Und da habe ich eben alleine zu wirtschaften angefangen ..."

"Ohne allen Vertrag?"

"Ja, ohne Vertrag."

"Und was hast du für Pacht gezahlt?"

"Da war gar nichts abgemacht. Wenn er Geld gebraucht hat, habe ich es ihm gegeben, wenn ich welches hatte; und wenn ich keines hatte, hat er eben gewartet."

"Und weiter?"

"Ja - eines Tages hat er dann gesagt: ›Nun wollen wir einen Vertrag machen.‹ Und da haben wir diesen Schandvertrag gemacht, und nun sitze ich drin!"

"Einfach so gesagt ›Vertrag machen‹ - da muß doch etwas vorgekommen sein?"

"Gar nichts ist vorgekommen!" rief der Rittmeister eilig. "Ich habe mir gar nichts dabei gedacht."

"Da fehlt was", beharrte Studmann. "Nun, gnädige Frau -?" Sie war schon wieder rot. "Nun, Achim", sagte sie zögernd. "Wollen wir es nicht lieber sagen? Es ist doch besser ..."

"Ach, die alten Geschichten!" grollte der Rittmeister. "Studmann, du bist ein richtiger Bohrer. Was nützt es dir denn, wenn du das auch noch weißt - davon wird der Vertrag nicht anders."

"Gnädige Frau!" bat Studmann.

"Eine Weile, ehe das mit dem Vertrag kam", sagte Frau von Prackwitz leise, "habe ich einen Streit mit Achim gehabt. Er dachte mal wieder, er müßte eifersüchtig sein ..."

"Ich bitte dich, Eva, mach dich nicht lächerlich!"

"Doch, Achim, so war es. Nun, Sie kennen Ihren Freund, und ich kenne ihn auch. Er kocht dann gleich über, er macht einen Krach, man denkt, die Welt geht unter. Schreit von Scheidung, Ehebruch - nun, es hört sich nicht schön an. Aber ich bin es ja nun fast zwanzig Jahre gewöhnt und weiß, er denkt sich wirklich nichts dabei ..."

"Liebe Eva", sprach der Rittmeister mit steifer Würde, "wenn du weiter so über mich reden willst, darf ich wohl das Büro verlassen". Doch blieb er unter der Tür stehen. "Und im übrigen war ich völlig im Recht. Dieser Flirt mit Truchseß ..."

"... ist Jahre her", unterbrach Studmann eilig. "Bitte, setze dich wieder, Prackwitz. Vergiß nicht, wir verhandeln hier wegen deines Geldes ..."

"Ich will nichts mehr von diesen Geschichten hören!" rief der Rittmeister drohend, setzte sich aber doch.

"Weiter, gnädige Frau", bat Herr von Studmann. "Es gab also eine kleine eheliche Auseinandersetzung -?"

"Ja, und leider hörte sie mein Vater mit an, ohne daß wir es wußten. Von da an war er fest überzeugt, daß Achim mich quälte und mißhandelte ..."

"Lächerlich!" knurrte der Rittmeister. "Ich bin der ruhigste, friedfertigste Mensch ..."

"Wochenlang lag er mir in den Ohren, ich sollte mich von Achim scheiden lassen ..."

"Was?!" schrie der Rittmeister und sprang mit einem Satz auf. "Das ist ja das Neueste! Du sollst dich von mir scheiden lassen?!"

"Setze dich, Prackwitz", mahnte Studmann. "Es sind ja, wie du sagst, ganz alte Geschichten. Deine Frau ist nicht geschieden ..."

"Nein, Papa sah ein, daß ich nicht wollte. Er hängt viel mehr an mir, als man denkt". Sie war wieder sehr rot. "Ja, und da kam schließlich dieser Vertrag ..."

"Nun verstehe ich ihn", sagte Herr von Studmann und war wirklich

sehr zufrieden. "Und du verstehst ihn hoffentlich auch, Prackwitz, und weißt, wie du dich verhalten mußt. - Ihr Mann soll die Nerven verlieren, er soll unerträglich werden, er soll wirtschaftlich ruiniert werden, seine Unfähigkeit soll bewiesen werden, er soll Schulden über Schulden haben ..."

"Und das Ganze nennt man Schwiegervater!" rief der Rittmeister empört. "Ich habe ihn ja nie leiden mögen, aber ich habe doch immer gedacht: Schließlich ist er in seiner Art ein ganz guter Kerl ..."

"Lieber Prackwitz", sagte Studmann etwas spitz, "manche Leute halten die andern nur deswegen für gut, weil es ihnen so am bequemsten ist. - Wenn du dich jetzt aber nicht zusammennimmst und deinen Schwiegervater etwas von dem merken läßt, was du weißt, dann bist du glatt verloren!"

"Das ist ausgeschlossen!" rief der Rittmeister zornig. "Ich muß ihm meine Meinung sagen können! Wenn ich nur an ihn denke, wird mir schon rot vor Augen!"

"So machst du einfach kehrt, wenn du ihn aus der Ferne siehst. Prackwitz, tu deiner Frau die Liebe, nimm dich zusammen. Versprich uns, daß du dich nicht gehenläßt, keinen Streit anfängst, dich nicht reizen läßt. Geh weg, sag: Herr von Studmann ordnet das - fertig! Das ist deinem Schwiegervater viel unangenehmer, als wenn du loskollerst - das will er ja grade!"

"Ich kollere nicht", sagte der Rittmeister gekränkt. "Puter kollern - ich bin kein Puter!"

"Also du versprichst es uns - schön! Großartig! Du wirst doch jetzt deine Ernte nicht im Stich lassen -"

"Wenn ich sie ihm doch geben muß ..."

"Laß mich das machen! Laß mir alles Geschäftliche. Ich werde schon Wege finden! Jetzt nimmst du doch erst einmal Geld ein, viel Geld, Resultat deiner Arbeit - was wir dann im Winter tun werden, werden wir ja sehen ..."

"Herr von Studmann hat recht", sagte Frau von Prackwitz eifrig. "Dies wäre der falscheste Augenblick, die Pachtung aufzugeben. Überlaß ihm alles ..."

"Na ja, ich bin ja nur so ein Trottel", brummte der Rittmeister. "Das ist ein Mann, der Studmann! Kapiert in drei Wochen mehr als ich in drei Jahren. Ich -"

"Die Leute kommen!" stürzte Weio ins Büro.

Langsamer folgte ihr Pagel.

"Also!" sagte der Rittmeister, erfreut, dem verhaßten Büro entfliehen zu können. "Kommen sie endlich! Ich dachte, da gäbe es auch schon wieder Schwierigkeiten! - Lieber Pagel, kümmern Sie sich mal ein bißchen darum, daß die Kerls gleich Essen fassen können, daß das Arbeitsgerät richtig ausgegeben wird und so weiter. Sie brauchen dann heute nachmittag nicht aufs Feld ..."

Pagel sah seinen Chef mit hellen Augen freundlich an. "Jawohl, Herr Rittmeister!" Er knallte mit den Absätzen und verließ das Büro.

"Aber, Prackwitz, was machst du denn?!" rief Studmann. "Du hast doch Pagel entlassen! Um drei soll er doch abfahren!"

"Ich Pagel entlassen -? Ach, sei doch nicht albern, Studmann! Du siehst doch, der Junge hat mich ganz richtig verstanden. Mal ein ordentliches Donnerwetter, wenn so ein junger Hund frech wird - und erledigt! Ich bin doch nicht nachtragend!"

"Nein, du nicht!" sagte Studmann. "Na, sehen wir uns mal die Leute an. Ich bin doch gespannt, wie so eine Kollektion von fünfzig Zuchthäuslern aussieht!"

5

Ja, da kamen sie -!

Dort, wo die Landstraße nach Meienburg-Ostade in Neulohe einmündet, tauchten sie auf, in Viererreihen, an der Seite jeder vierten Reihe ein Wachtmeister - und sie sangen laut, schallend und gefühlvoll das Lied vom schönsten Platz, den ich auf Erden hab, dem Muttergrab.

"Gott, da singen sie auch noch!" stöhnte am Schloßfenster Frau Belinde von Teschow zu ihrer Freundin Jutta. "Nicht genug, daß in meiner anständigen Waschküche das Essen für diese Mörder gekocht wird, soll ich nun auch noch ihr Grölen anhören! Elias, sagen Sie dem Herrn Geheimrat, er möchte doch einmal zu mir kommen. Mörder, die singen - es ist unerhört!"

"Sie kommen! Sie kommen!" riefen auch die Kinder im Dorf, und was nicht auf den Feldern zur Arbeit war, das ließ stehen, was stand, und fallen, was nicht stehen wollte, stellte sich an den Straßenrand und starrte - starrte mit allen Leibesöffnungen.

Die Zuchthausverwaltung hatte sich nicht lumpen lassen. Trotz der schlechten Zeiten hatte sie ihre Leute frisch eingekleidet. Da gab es keine verbrauchten Monturen, bei denen ein Flicken am andern hackt, keine Hose nur bis zur halben Wade für die Langen, keine Jacken zum

Ertrinken für die Kurzen - hell und sauber, heil und passend saß ihnen die Tracht, stolz sangen sie jetzt ihr Lied: "Schmucke, schlimme Husaren sein's wir!"

Die Leute an der Dorfstraße sperrten die Mäuler immer weiter auf. Wo waren denn nun die kahlgeschorenen Köpfe, von denen immer erzählt worden war? Wo waren die Ketten und Handschellen, die sie tragen sollten? Wo war das finstere, düster brütende Schweigen? Wo die bösen, rot unterlaufenen Blicke? Kein Kainsmal, kein Tierkopf, kein Rothaariger -: "Wenn du den Mund lange genug offengehalten hast, machst du ihn doch wieder zu, Mutter?" rief einer, und alle lachten.

Nein, Neulohe hatte zuviel erwartet, Neulohe hatte jedenfalls etwas ganz anderes erwartet. Was da einmarschierte, war eine Schar Männer in allen Altersklassen, große und kleine, dicke und dünne, hübsche, gleichgültige, häßliche - und jetzt waren sie alle in der besten Stimmung, dem öden, toten Zwang der Mauern aus Eisen, Glas und Zement entronnen, waren sie glücklich, die Welt wiedersehen zu können, die ganze freie Welt, nicht nur den kleinen, ihnen auch noch verbotenen Ausschnitt des Zellenfensters. Die frische Luft hatte sie frisch gemacht, die Sonne hatte sie durchwärmt, nicht mehr das ewige graue Einerlei, ein Tag wie der andere - neue Arbeit, ein anderer Speisezettel, Fleisch und Tabak, der Anblick, ach, schon der Anblick junger Mädchen, einer Frau, die eilig noch den Ärmel über den nackten Arm, der in das Mehlfaß gelangt hatte, hinunterschob.

Sie sangen:

"Wir sind des Teufels Husaren,

Wir wagten einst jeden Ritt,

Wir haben die Sünde erfahren,

Doch auch die Lie-be da-mit!"

Und die Wachtmeister lächelten auch. Auch die Wachtmeister waren froh, der Anstalt entronnen zu sein, dem einschläfernden Dienst mit seinem Kübeln, seinen ewigen Vorführungen, dem ständigen Streiten, Meckern, Beschweren, der nie aufhörenden Sorge vor Widersetzlichkeiten, Ausbrüchen, Revolten. Die Leute würden genug zu essen und zu rauchen kriegen, sie würden friedlich sein, es würde keinen Klamauk geben - trotzdem man das nie ganz sicher wissen konnte! -

Fast mit Wohlwollen blickten die Wachtmeister auf ihre Jungen. Es waren ja die Leute, denen sie ihre ganze Lebensarbeit widmeten, und nachdem die Beamten alle Gefühlsstufen von Verzweiflung, Haß, Gleichgültigkeit durchlaufen hatten, waren sie beinahe dahin gekommen,

ihre Gefangenen zu lieben. Sie sahen so sauber aus, adrett in dem neuen Zeug, das sie gefaßt hatten, sie waren so lustig, sie sangen so vergnügt! - "Herr Wachtmeister, haben Sie den Hasen gesehen?" - "Herr Wachtmeister, das Latschen macht Kohldampf - heute mittag kriege ich aber drei Schläge!" - "Herr Wachtmeister, was gibt's heute mittag - Gänsebraten?"

Sie waren ja wie die Kinder! Oh, die Wachtmeister wußten Bescheid: es waren natürlich keine Mörder unter ihnen, es gab überhaupt keine Langstrafigen in dem Kommando. Vier Jahre war schon hoch, die meisten waren Kurzstrafige, und die hatten auch alle schon über die Hälfte der Strafe abgerissen, oder fast alle. - Es waren keine schweren Jungen darunter, nicht die großen Kanonen des Ganoventums - aber trotzdem, trotz Singen und Fröhlichkeit, blieben sie doch immer Strafgefangene, das heißt Leute, denen man die Freiheit genommen hatte und von denen viele alles, oder fast alles, tun würden, sich diese Freiheit wiederzuerobern. Mit Wohlwollen blickten die Beamten auf die Gefangenen und vergaßen doch nie, daß sie vielleicht das eigene Leben daransetzen mußten, diesen Gefangenen die begehrte Freiheit vorzuenthalten.

"Die Liebste sprach: Ich lasse dich nicht,

Du darfst nicht von mir fahren!

Weiße Arme und Ketten halten mich nicht -

Wir sind des Teufels Husaren!"

sangen sie.

"Sie kommen! Sie kommen!" rief Amanda Backs in der Waschküche des Schlosses und warf die Holzkelle in ihre Speckerbsen, daß es spritzte. "Komm, Sophie, wir wollen sie uns angucken. Vom Kohlenkeller aus können wir die Schnitterkaserne sehen."

"Ich weiß gar nicht, was du hast!" antwortete Sophie kühl. "Solche Zuchthäusler - für die mache ich doch keinen Schritt! Wir werden uns noch genug über die Kerle ärgern müssen beim Essenholen. Das sind doch alles Verbrecher!"

Aber sie ging doch hinter der andern her und lehnte mit ihr in der kleinen schmutzigen Luke des Kohlenkellers - und rascher atmend sah sie hinüber. Sie sah den Zug, und sie hörte den Sang, und sie schaute und schaute und fand ihn doch nicht zwischen dem Gewimmel und fragte sich: Wenn er nun nicht dabei ist? Wenn sie ihn nicht mitgeschickt haben?

"Was stöhnst du denn so, Sophie?" fragte Amanda erstaunt.

"Ich -? Wieso stöhne ich? Ich stöhne doch nicht! Warum sollte ich wohl stöhnen?"

"Das frage ich auch", sagte Amanda ziemlich spitz und sah wieder aus dem Fenster. Denn Freundinnen waren die beiden noch nicht, weil die Frage bisher ungeklärt war, wer von den beiden die Köchin und wer die Gehilfin der Köchin war. -

Hinter dem Zuge der Zuchthäusler fuhren zwei Leiterwagen des Rittergutes, die das Zeug der Leute mitgebracht hatten: Decken und Schüsseln, Bestecke und Apotheke, Waschkannen, Eimer, Spaten, Hacken ... Zwischen dem Leiterwagen und dem Zuge aber marschierte ganz allein der Oberwachtmeister Marofke, ein kleiner Mann, aber fein, Oberkommandierender des Arbeitskommandos 5, Zuchthaus Meienburg, in Neulohe, unbedingter Herr über fünfzig Gefangene und vier Wachtmeister. Er hatte sehr dünne, kurze Beine, aber sie steckten in gut gebügelten grauen Hosen. Seine Stiefelchen waren die einzigen, die fast blank waren - ein Gefangener hatte sie ihm vor dem Einmarsch in Neulohe im Straßengraben "wienern" müssen. Herr Marofke hatte einen mächtigen Spitzbauch, der in einem blauen Waffenrock schaukelte, aber gegürtet war mit einem ledernen Koppel, an dem ein Säbel hing. Was das Gesicht anging, so war es trotz der fünfzig Jahre des Herrn Marofke zartfarbig wie bei einem jungen Mädchen, weiß, rosa. Aber bei der geringsten Erregung lief es scharlach an. Der katerhaft gesträubte Schnurrbart war rötlichgelb, das Auge blaßblau, die Stimme krähend und schneidig. Doch trotz aller Schneidigkeit und Schärfe war Herr Oberwachtmeister Marofke die Gutmütigkeit selbst - solange seine Autorität nicht angezweifelt wurde. Geschah das aber, wurde er sofort bösartig, heimtückisch, rachsüchtig wie ein Panther.

"Das Ganze halt!" krähte er.

Die Zuchthäusler standen.

"Kehrt!"

Sie machten, übrigens nicht sehr militärisch, denn 1923 war alles Militärische den meisten Menschen verhaßt, eine Kehrtwendung. Sie drehten jetzt ihrer Schnitterkaserne den Rücken und sahen das Beamtenhaus und den Hof an.

Der junge Pagel trat auf den kleinen Herrscher zu. "Herr Oberwachtmeister Marofke, nicht wahr? Ihr Direktor hat uns geschrieben. Mein Name ist Pagel, ich bin hier so eine Art - Lehrjunge. Wenn ich Sie dem Chef vorstellen darf, bitte, dort steht er ..."

Unter den letzten Bäumen, den Ausläufern des Parkes neben dem

Beamtenhaus, stand der Rittmeister mit seiner Familie und Herrn von Studmann.

Stolzgeschwellt, als ginge er auf Luft, als stieße ihn jeder Schritt von der niederen Erde ab, ging Oberwachtmeister Marofke auf den Rittmeister zu. Er schlug die Hacken zusammen, legte die Hand an die Mütze und meldete: "Melde gehorsamst, Herr Rittmeister, Oberwachtmeister Marofke mit zwei Wachtmeistern und zwei Hilfswachtmeistern sowie fünfzig Zuchthausgefangenen als Arbeitskommando 5 angetreten!"

"Danke, Oberwachtmeister", sagte der Rittmeister gnädig. Er schaute sich amüsiert den kleinen Kerl an. "Altgedient, was?"

"Zu Befehl, Herr Rittmeister. Zweiunddreißiger Train."

"Ach so, Train! Natürlich. Sieht man". In des Oberwachtmeisters Auge glomm ein Funke auf. "Felde jewesen?"

"Zu Befehl, Herr Rittmeister, nein. Ich hatte ..."

"Keuchhusten? Na ja! Also lassen Sie die Leute einrücken, Oberwachtmeister. Essen ist wohl fertig. Sie sorgen für alles, Herr Pagel, wie? Und daß mir stramm gearbeitet wird, Oberwachtmeister, ich will diese Unsummen nicht umsonst ausgegeben haben! Ich danke, Oberwachtmeister!"

Flammendrot ging der Oberwachtmeister zu seinen Leuten zurück.

Es war nicht zu vermeiden gewesen: Herr von Studmann und die gnädige Frau hatten einen Blick gewechselt. Verzweifelt hatte Frau von Prackwitz die Achseln gehoben, Herr von Studmann hatte beruhigend geflüstert: "Ich renke das schon wieder ein, gnädige Frau."

"Alles können auch Sie nicht wieder einrenken", hatte die gnädige Frau leise geantwortet und Tränen in den Augen gehabt.

"Was macht ihr denn für Gesichter?!" hatte der Rittmeister sich umdrehend erstaunt gefragt. "Komische Kruke das, der Oberwachtmeister. Bildet sich 'nen Sack voll ein. Natürlich ein Drückeberger. Na, ich schleif mir den Bruder schon, der soll noch sehen, was Dienst heißt. Komm, Eva, komm, Weio. Mahlzeit, Studmann, will sehen, daß ich auch was runterkriege - du hast freilich heute früh reichlich dafür gesorgt, daß ich keinen Appetit habe ... Also, Mahlzeit!"

6

"Warum sagt er zu Ihnen Herr und zu mir bloß Oberwachtmeister - verstehen Sie das?!" fragte der kleine Oberwachtmeister hitzig den

jungen Pagel. "Wir sind hier nicht auf dem Kasernenhof, er ist nicht mein Vorgesetzter!"

Sie saßen in dem Stübchen des Oberwachtmeisters. Draußen, in der Kaserne, lärmten die Gefangenen, lachten, schimpften, sangen, nagelten die Bilder ihrer Liebsten und seit langem geheimgehaltene Fotos von Revuestars an die Wände, pfiffen, bauten Betten, klapperten auch schon mit ihren blechernen Eßgeschirren ...

"Kohldampf!" schrie eine Stimme.

"Zigarette gefällig?" fragte Pagel und hielt das Etui über den Holztisch. Aber Herr Marofke dankte für Zigaretten.

"Müßte 'ne hübsche Decke her auf Ihren Tisch", sagte Pagel musternd. "Überhaupt ein paar nette Sachen, Spiegel, Bilder, anständiger Aschenbecher. Man müßte den jungen Mädchen Bescheid stoßen - na, Sie werden das Kind schon schaukeln. Sie haben sicher immer mächtig Anlauf bei den jungen Mädchen gehabt, Herr Oberwachtmeister."

Aber der Haken saß zu tief. "Wenn Herr Direktor zu mir Oberwachtmeister sagt, so ist das richtig. Aber er - er hat gar kein Recht dazu! Dann kann ich zu ihm auch Rittmeister sagen. Möchte mal sehen, was der für ein Gesicht zöge!"

"Kohldampf!" schrien zwei Stimmen. Löffel schlugen taktmäßig gegen Kochgeschirre.

"Mit dem Chef ist das komisch", sagte Pagel nachdenklich. "Vor 'ner guten Stunde hat er mich rausgeschmissen! Jawoll, Herr Oberwachtmeister, sofortiger Rausschmiß wegen Lachens im Dienst. Ich kohle Ihnen nichts vor, Ehrenwort! - Na, ich habe ihm wohl wieder leid getan; weil ich nischt bin und habe, behält er mich nun doch. Aber weil er noch wütend auf mich ist, sagt er Herr zu mir. - Wenn er guter Laune ist, sagt er bloß immer Pagel oder junger Hund."

Pagel saß wundervoll über den Tisch gelümmelt, blies beim Sprechen kunstvolle Rauchringe und sah seinen Gesprächspartner gar nicht an.

Der musterte ihn argwöhnisch von der Seite. "Warum redet er dann von Keuchhusten mit mir?! Wo ich einen doppelten Leistenbruch habe! Nicht jeder kann einen Heimatschuß kriegen."

"Och -!" machte Pagel verächtlich. "Aus Schüssen macht sich der Rittmeister doch gar nichts! Zu Schüssen sagt er auch Keuchhusten. Das ist so ein Wort von ihm. - Na, Schwamm drüber!"

"Kohldampf!" schrien sie draußen lauter.

"Aus was macht sich der Rittmeister denn was?" fragte der Oberwachtmeister neugierig. "Das habe ich doch noch nie gehört, daß

jemand zu Schüssen Keuchhusten sagt! Wenn einem nun ein Bein amputiert wird?"

"Sagt er auch Keuchhusten. Na Schwamm drüber. Besser verbrennt man sich seinen Mund nicht. - Herr Oberwachtmeister, ich hab eine große Bitte an Sie ..."

"Kohldampf!!"

"Wenn Sie mit den Leuten Essen holen, da sind nämlich in der Küche zwei Mädchen. Auf die eine hab ich speziell ein Auge geworfen, wenn Sie da so kameradschaftlich sein wollten, mir nicht in die Quere zu kommen -? Die andere ist nämlich auch ganz hübsch ..."

"Junge!" sagte der Oberwachtmeister Marofke, nun doch sehr geschmeichelt, "ist gemacht! Hab man keine Angst -"

"Danke auch bestens, Herr Oberwachtmeister!" stieß Pagel verwirrt hervor.

"Aber, Mensch, wie ich so alt war wie Sie! Ich weiß nicht, was mit euch jungen Leuten heute los ist! Ich hätte in Ihrem Alter einen Fuffziger wie mich bitten sollen! Na, ist ja gemacht, is ja gut, schäm dich man bloß nicht. Ich paß auch auf die Wachtmeister auf, da sind nämlich zwei Unverheiratete zwischen. Sie geben mir dann einen Wink, welches Ihre ist. Ich werde das Essen wohl meistens selber holen ..."

"Kohldampf!!! Kohldampf!!!"

"Ja, es wird Zeit. Sagen Sie mir noch schnell, was mit Ihrem Chef los ist. Es macht dir doch nichts, wenn ich manchmal du sage? Es ist nur aus guter Meinung. Ich tu's natürlich nicht, wenn die andern dabei sind."

"Danke, Herr Oberwachtmeister, ehrt mich ja nur! Und mit dem Chef - aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie unter allen Umständen dichthalten ..."

"Ich -? Ich red doch nicht. Ich bin doch Beamter - von mir erfährt nicht mal der Staatsanwalt was."

"Also schön - ganz unter uns: Der Chef war verschüttet. Den haben sie für tot aus dem Unterstand rausgezogen. Seitdem ..."

"So sieht er auch aus! Marke: aufgewärmte Leiche!"

"Seitdem hat er nur ›verschüttet‹ auf der Rechnung. Zu allem andern sagt er Keuchhusten!"

"Also: Er spinnt, dein Chef! Schön, hab man keine Angst, ich reiß dich nicht rein ..."

"Guten Tag, die Herren", sagte Herr von Studmann. "Na, alles in Ordnung? Zufrieden, Herr Oberwachtmeister? Haus dicht genug

gemacht? Ich glaub, da reißt Ihnen kein Bengel aus. - Entschuldigen Sie, mein Name ist von Studmann, ich bin hier so eine Art kaufmännischer Leiter. Wenn Sie was brauchen, ganz egal, was, wenn's nicht klappt mit dem Essen, wenden Sie sich immer vertrauensvoll an mich - dem Rittmeister kommen Sie besser mit solchen Sachen nicht ..."

Der Oberwachtmeister warf einen Blick tiefsten Verständnisses auf den jungen Pagel. "Jawohl, Herr, wenn ich vielleicht um eine Tischdecke und einen Aschenbecher bitten dürfte?"

"Sollen Sie alles haben", sagte Herr von Studmann freundlich. "Sie sollen sich hier wohl fühlen. - Pagel, gehen Sie essen, es steht schon auf dem Tisch. Ich werde mit Herrn Oberwachtmeister Essen fassen."

Pagel warf einen Blick tiefsten Schmerzes auf den Oberwachtmeister, der ihm beruhigend zunickte, sagte: "Jawohl, Herr von Studmann" und entschwand.

"Kollege Siemens!" rief der Oberwachtmeister mit Krähstimme in den Flur. "Lassen Sie vier Mann zum Essenholen antreten. Suchen Sie alte Leute aus, verheiratete, es sollen hübsche junge Mädchen in der Küche sein."

Ein Gesumme, Gelächter, Gejohle erhob sich in der Kaserne.

"Wer hat Ihnen denn das erzählt von den hübschen jungen Mädchen?" fragte von Studmann verwundert. "Etwa der junge Pagel?"

"Ein Strafanstaltsbeamter muß all so was sofort wissen", schmunzelte der Oberwachtmeister stolz. "Bei meinen Jungen muß ich auf dem Draht sein - die gehen ran!"

"Sie haben mir noch nicht gesagt, von wem Sie Ihre Wissenschaft haben, Herr Oberwachtmeister", sagte von Studmann trocken. "Es war doch Pagel -?"

"Na ja", sagte der Oberwachtmeister gönnerhaft, "ich glaub, der Junge hat sein Herz in Heidelberg verloren. Unter uns, streng vertraulich: Er hat mich gebeten, ein Auge auf sein Mädchen zu haben, daß nichts passiert, verstehen Sie ..."

"Soso, der Pagel", meinte Herr von Studmann sehr verwundert, "welche von beiden ist es denn: die Amanda oder die Sophie? Natürlich die Sophie, nicht wahr?"

"Das hat er mir noch nicht gesagt. Er wollte sie mir beim Essenholen zeigen, aber da kamen Sie ja dazwischen."

"Tief bedauerlich!" lachte Herr von Studmann. "Nun, er wird es ja nachholen können ..."

Nachdenklich ging Studmann hinter dem Kommandoführer her. Nachdenklich hörte er eine etwas erregte Auseinandersetzung mit an, weshalb nicht vier verheiratete ältere Leute zum Essenholen bereitstanden, sondern nur drei - und der vierte war ein junger Mensch mit einem unsympathisch glatten, hübschen Gesicht, mit falschen Augen und einem zu starken Kinn.

"Ich will den Liebschner nicht!" schrie Herr Marofke. "Wenn ich ältere Leute sage, heißt das nicht Liebschner! Der hat sich reingemogelt - du gehörst überhaupt nicht in mein Kommando, du gehörst in die Zelle ›Mattenflechten‹! Der Brandt hat sich Blasen an die Füße gelaufen und kann nicht Essen holen? - Ich hab auch 'ne Blase, und sogar im Bauch, und kann doch!" Beifälliges, brüllendes Gelächter. "Wenn ich dich noch mal beim Essenholen erwische, Liebschner, marschierst du den gleichen Tag in den Bunker zurück, verstanden?! He, du da, Wendt, faß du den Essenkessel mit an! Abmarsch!"

Nachdenklich hörte sich das Herr von Studmann an. Aber er hörte es gar nicht recht, es ging zum einen Ohr herein und zum andern Ohr hinaus. Der ehemalige Oberleutnant dachte über den jungen Pagel nach. Der junge Pagel interessierte ihn. Von Studmann gehörte zu den Menschen, die immer über etwas nachdenken und grübeln müssen, aber niemals über sich. Er tat, was getan werden mußte, alles war ganz selbstverständlich, er war ein völlig uninteressanter Mensch. Doch der Pagel zum Beispiel war hochinteressant. Der Oberleutnant hatte ihn aufmerksam beobachtet, der Junge tat seine Arbeit ordentlich und fleißig. Er war immer gleichmäßig gut gelaunt, nicht übelnehmerisch, fand sich überraschend in die fremde Landarbeit. Griff mit zu. Er war ein Spieler gewesen - aber nichts verriet, daß er sich nach dem Spiel zurücksehnte. Er hatte keinen Hang zum Alkohol - und daß er viel zuviel rauchte, war eine Zeitkrankheit, von der auch Herr von Studmann nicht frei war. Immerzu wurde angebrannt, losgepafft, weggeworfen, schon wieder angebrannt.

Der junge Pagel war in Ordnung, es war kein Fehl und Tadel an ihm, er tat seine Sache!

Aber er war doch nicht in Ordnung! Es war kein Leben in ihm, er ging nicht aus sich heraus, er begeisterte sich nicht, er erzürnte sich nicht. Gott, der Bursche war dreiundzwanzig Jahre alt - da konnte er doch nicht ewig mit diesem halben, versteckten Lächeln herumlaufen und sich und alles unwichtig nehmen. Als sei die ganze Welt ein Schwindel, und ausgerechnet er habe es entdeckt! Er war, wenn man an ihn dachte, wie durch einen Schleier gesehen, unscharf, verschwimmend - als lebe er

nicht, als vegetiere er bloß, als habe sein Gefühlsleben eine Lähmung erlitten!

Das alles hatte Herr von Studmann schon lange beobachtet, und er hatte sich dabei beruhigt, daß diese Stumpfheit eine Übergangserscheinung sei: Pagel war ein Genesender. Er hatte da eine Liebesgeschichte gehabt, sie war ihm tiefer gegangen, als er geglaubt hatte, er litt noch darunter. Vielleicht war es falsch gewesen, jede Aussprache über diese Sache abzulehnen, aber Herr von Studmann meinte, daß man Wunden in Ruhe lassen soll.

Und nun diese Nachricht, daß Pagel eine neue Liebelei hatte, daß er mit anderen davon sprach, daß er mit Angst an ein Mädchen dachte! Aber dann war ja alles ganz anders, dann war etwas faul im Staate Dänemark, dann war er kein Verletzter, kein Gelähmter, kein Genesender! Dann war er einfach ein fauler Kopf, ein indolenter Bursche, den man auf den Trab bringen mußte!

Studmann nahm sich vor, Pagel noch viel schärfer zu beobachten, noch kameradschaftlicher zu behandeln - es war ja noch immer eine unsichtbare Wand zwischen ihnen! Ein dreiundzwanzigjähriger Bursche - der keine näheren Beziehungen zu irgendeinem Menschen auf der Welt unterhielt, der solch nähere Beziehungen nicht einmal wollte - das war ja direkt unheimlich! Man wurde doch mit dreiundzwanzig kein Eremit! Soviel Herrn von Studmann bekannt war, hatte Pagel auch noch immer nicht an seine Mutter geschrieben - das war auch nicht richtig, da zuerst würde er eingreifen. Alle Kindermädcheninstinkte waren plötzlich in Herrn von Studmann erwacht - er fühlte eine Aufgabe, und er würde über sie nachdenken, grübeln, sie lösen -!

Der gute Studmann - wenn er einmal über sich nachgedacht hätte statt über andere, es wäre ihm klargeworden, daß er sich mit solchem Eifer auf diese neue Aufgabe stürzte, weil er mit seiner alten gescheitert war. Nach der Unterredung am heutigen Vormittag hatte er, ohne es zu wissen, den Rittmeister aufgegeben. Der Rittmeister war nicht zu retten, er war ein unverbesserlicher Hitzkopf - aus einer Übereilung gerettet, stürzte er mit allem Elan in die nächste! Er war ein Kind, das seine Aufgabe nie lernen würde, der Lehrer mußte sein Amt niederlegen. Wenn der Oberleutnant jetzt an den Rittmeister dachte, so dachte er nicht mehr: Wieder einen Schritt vorwärts!, sondern: Was wird er nun wieder anrichten? Er wollte den Rittmeister nicht verlassen, es war da eine Frau, eine Tochter(auch begehrenswerte Aufgaben), aber der Rittmeister war ohne Interesse für ihn: Ein Rätsel, das wir haben raten wollen und von dem sich herausstellt, es ist gar kein Rätsel, sondern nur eine Anhäufung

von Widersinnigkeiten, das lockt uns nie wieder.

Nachdenklich läßt Herr von Studmann seinen freundlichen braunen Blick abwechselnd auf der Amanda Backs und der Sophie Kowalewski ruhen. Die Amanda, derb wie ein starkknochiges belgisches Pferd, scheint ihm nicht in Frage zu kommen.(Obwohl man über den Liebesgeschmack eines andern nie urteilen kann!) Die Sophie - nun ja, ganz hübsch, aber bei näherem Zusehen findet Studmann doch, daß ihr Gesicht manchmal durch die mädchenhaften Züge hindurch etwas Böses, Scharfes bekommt. Dann sind ihre Augen wie Stecknadeln, ihre Stimme wird fast heiser.

So, als sie jetzt zu dem Oberwachtmeister Marofke sagt: "Soll das etwa ein Mißtrauen gegen uns sein?!"

Der Herr Marofke mag vielleicht eine putzige Kruke sein, vor allem leicht zerbrechlich, ein erfahrener Strafanstaltsbeamter ist er doch. Studmann denkt, es hätte schlimmer kommen können.

Marofke hat die vier Essenholer mit dem Kollegen Siemens vor der Waschküchentür warten lassen. Er hat sich von den Mädchen einen Löffel Essen zum Abschmecken geben lassen, er hat sie sogar belobigt: "Da steckt Murr drin! Da werden meine Jungen lachen!"

Dann hat er ihnen gezeigt, wie sie das Mannschaftsessen bereitstellen sollen, und nun hat er ihnen gesagt, daß sie sich, ehe die Leute zum Essenholen hereinkommen, in den Kellergang zurückzuziehen haben. Darauf hat Fräulein Sophie sehr böse gefragt: "Soll das etwa ein Mißtrauen gegen uns sein?!"

"I wo", sagt der kleine Marofke ganz friedlich. "Das gilt für alles Weibliche - nicht bloß für so 'ne kleine Hübsche!"

Sophie Kowalewski wirft den Kopf zornig in den Nacken und ruft: "Wir machen uns nicht mit solchen Zuchthäuslern gemein! So was müssen Sie nicht von uns denken!"

"Aber meine Jungen machen sich schrecklich gern mit Ihnen gemein, Fräulein", erklärt der Oberwachtmeister.

"Komm doch, Sophie!" mahnt auch Amanda. "Was mir schon daran liegt, die Kerle zu sehen!"

Aber Sophie ist seltsam hartnäckig - ach, sie hat den Kopf verloren, nur um sofort zu erfahren, ob er mitgekommen ist, setzt sie alles so listig Begonnene aufs Spiel! Wozu hat sie sich denn um den Posten in dieser alten häßlichen Küche beworben, macht ihre gepflegten Hände mit Kartoffelschälen und Kaltwasserpanscherei rot und häßlich, hat auf ihre schöne freie Zeit verzichtet - wenn sie ihm hier nicht einmal begegnen

soll?! Nun ist sie ja schlechter daran als alle andern: hätte sie vor der Schnitterkaserne, an der Dorfstraße gestanden, dann hätte sie ihn doch wenigstens vorübermarschieren sehen!

Sie wagt alles, sie stellt kopflos sogar ihre guten Beziehungen zu Herrn von Studmann auf die Probe, sie sagt zu ihm: "Nicht wahr, Herr von Studmann, der Herr darf mich doch nicht aus meiner eigenen Küche schicken? Der Herr hat mir doch gar nichts zu sagen!"

Herr von Studmann denkt immerzu scharf nach, er beobachtet genau, aber er kann den Schlüssel zu diesem Rätsel nicht finden! "Seien Sie vernünftig, Fräulein Sophie", sagt er freundlich, "erschweren Sie dem Herrn seinen Dienst nicht noch."

Herr von Studmann ist überrascht von dem bösen, scharfen Blick, den Sophie auf den Oberwachtmeister wirft, ein Blick voller Haß. Aber warum in aller Welt soll Sophie den kleinen spitzbäuchigen Herrn hassen?! Es ist nur dieser eine Blick; nun, nachdem alles umsonst war, rettet Sophie, was zu retten ist.

"Natürlich gehe ich gerne aus meiner Küche, wenn mir das gesagt wird", zieht sie sich zurück. "Nur können Amanda und ich dann für nichts hier aufkommen - die gnädige Frau hat uns alles zugezählt, Tücher und Geschirr ..."

Damit klappt die Tür zum Kellergang, die beiden Mädchen sind fort. Der Oberwachtmeister ruft seine Leute herein, die vorsichtig das bereitgestellte Essen in die Tragkessel umschütten. Dabei flüstert Herr Marofke dem Oberleutnant zu: "Ich habe erst gedacht, es ist die schlanke Hübsche - die von Herrn Pagel, verstehen Sie? Aber es muß die andere sein. Die kleine Hübsche ist scharf auf meine Jungen, scharf wie Gift. Auf die werde ich ein Auge haben, die will sich was anlachen!"

"Aber nein!" protestierte Herr von Studmann nicht ganz überzeugt. "Ich kenne Fräulein Sophie als sehr anständig ..."

Ich kenne sie ja gar nicht, denkt er plötzlich. In der Eisenbahn damals hatte ich sogar einen ausgesprochen schlechten Eindruck von ihr ...

"Sie ahnen ja nicht", sagt der Oberwachtmeister belehrend, während die beiden hinter den Essenholern zur Kaserne zurückgehen, "wie komisch das mit den Weibern ist. Manche sind ganz verrückt nach unsern Jungen ... Kennen sie gar nicht; aber grade, weil es Zuchthäusler sind! Früher haben wir in Meienburg im Winter, wenn Schnee lag, die Straßen gefegt. Sie können sich nicht denken, was manche Frauen aufgestellt haben, um Briefe einzuschmuggeln ... Nee, Herr von Studmann, darin sind die Weiber ein völliges Rätsel, und die schlanke

Hübsche ..."

"Jawohl", sagt Herr von Studmann von Zeit zu Zeit. Er findet dies auch rätselhaft. Aber er wird das Rätsel schon lösen. Vorerst steht er einmal in dem Gemeinschaftsraum und sieht zu, wie die Kerls es sich schmecken lassen. Jawohl, es schmeckt ihnen, und während sie hastig an dem einen Schlag löffeln, schielen sie schon wieder nach dem Kessel, ob wohl noch ein zweiter und womöglich ein dritter Schlag darin ist.

Aber der Clou, der Gipfel sind doch die Salzkartoffeln! Kartoffeln, nicht in der Suppe mitgekocht, in der sie ja doch nur hart werden, sondern extra gekocht, in einem Riesentopf! Das haben die Jungen nicht mehr gehabt, seit sie "drin" sind. Manche rollen die heißen Kartoffeln von einer Hand in die andere und essen sie so, ohne Suppe, sobald sie ein wenig abgekühlt sind.

"Großartig, Herr Chef!" rufen sie zu Studmann. "Können Sie uns nicht mal Pellkartoffeln und Hering machen lassen -?"

"Könnt ihr haben", verspricht Herr von Studmann.

"Ick hab den Matjes gerne mit Sahne!" ruft eine Stimme.

"Und schön auf Eis, wat, Herr Chef?"

"Ick", ruft ein dritter, "muß zu den Pellkartoffeln aber 'ne Braut haben, die die Pelle abschält ... Wenn Se dat machen könnten, Herr Chef?"

Brüllendes Gelächter.

So sind sie, schlimmer sind sie nicht, aber besser sind sie auch nicht. Zutraulich und frech, leicht zufrieden und gierig - sie haben viel von Kindern, denkt Herr von Studmann, nur nicht deren Unschuld.

Jetzt stürmen sie auf Herrn von Studmann ein. Ihr Hunger ist gesättigt. Nun betteln sie um Tabak! Tabak, das Beste auf der Welt, solange man ihn entbehrt; das Selbstverständliche, wenn man ihn hat. Sie wissen, sie haben erst ein Anrecht auf ihn, wenn sie eine Woche gearbeitet haben: kommenden Sonntag sind zwei Päckchen Tabak pro Kopf fällig. Aber auch darin sind sie wie die Kinder, eine Freude, die erst morgen, die erst Sonntag kommt, ist gar keine Freude - gleich muß es sein!

Nun, Herr von Studmann läßt sich auch breitschlagen, er verspricht, den jungen Pagel mit fünfzig Paketen Tabak zu schicken. Er geht ins Beamtenhaus. Die Gefangenen finden, daß er ein großartiger Kerl ist, sie werden ihm noch das Fell von den Rippen schwatzen, schwören sie. Den werden wir noch tüchtig melken, sagen sie, das ist einer, den man auf die süße Tour nehmen muß. Sie schnattern durcheinander, es ist ein Höllenlärm. Nun fahren die Wachtmeister dazwischen, denn die Zucht darf nicht aufgegeben werden. Sie sind nicht auf Ferien hier, sie sollen

arbeiten! -

Als Herr von Studmann die Tür zum Büro öffnet, sieht er da Herrn von Teschow und den jungen Pagel in trautem Verein sitzen. Die beiden Herren, der älteste und der jüngste Landwirt von Neulohe, scheinen sich ausgezeichnet zu verstehen: sie haben beide sehr vergnügte Gesichter.

"Ich erzähle Ihrem Jüngling grade", sagt Herr von Teschow dröhnend, "was ich so als angehender Forkenjünger zu fressen kriegte. Schweinskotelett mit Spinat an einem hundsgemeinen Wochentag -? Oje, oje! Dreimal in der Woche aufgebratene Mehlklöße! Schließlich schmissen wir sie an die Decke, und da blieben sie kleben, so kleisterig waren sie. Als ich wegging von dem Gut, klebten sie noch immer da."

"Und was aßen Sie tatsächlich?" fragt Herr von Studmann höflich, um so höflicher, da er sich schändlich ärgert. Denn von der vorhergegangenen Unterredung mit dem Rittmeister liegen noch alle möglichen Schriftstücke offen auf dem Schreibtisch. Es ist ja nichts Verfängliches, aber der Alte ist schlau, der errät aus einer Andeutung einen ganzen Kriegsplan.

"Wir klauten wie die Raben!" sagt Herr von Teschow. "Speisekammer, Räucherkammer, Apfelkammer - zu jedem Loch hatten wir Nachschlüssel ..."

"So daß am Ende Schweinskotelett mit Spinat für den Arbeitgeber doch vorteilhafter ist", meint Herr von Studmann trocken. "Pagel, wollen Sie so freundlich sein und in die Schnitterkaserne fünfzig Pakete Tabak bringen ..."

"Sie fangen ja gut an!" ruft der Geheimrat dröhnend. "Noch keinen Schlag gearbeitet, die Aasbande, und schon fünfzig Pakete Tabak! Bei Ihnen möchte ich auch Arbeiter werden -! Na, ich rede Ihnen nichts rein ..."

Pagel entschwindet, dem Geheimrat freundlich mit der Hand zuwinkend. Herr von Studmann sieht Herrn von Teschow auffordernd an, denn der alte Mann hat sich auf Studmanns Platz gesetzt, nämlich an den Schreibtisch, nämlich genau vor die verstreuten Briefe - er sieht den Besitzer Neulohes auffordernd an. Aber der Besitzer sitzt, wo er sitzt. So nimmt Studmann die Briefe vom Tisch und fängt an, sie in die gehörigen Mappen zu schieben.

"Der Kram hätte mich auch nicht weiter gestört", sagt der alte Herr gönnerhaft. "Wenn ich Briefe nicht beantworten muß, stören sie mich gar nicht. - Aber Sie schreiben wohl gerne?"

Herr von Studmann murmelt irgend etwas, es kann eine Antwort sein,

es braucht aber keine zu sein.

"Ich sag immer, ein Landwirt braucht überhaupt nicht schreiben zu können. Ein bißchen lesen, meinethalben, damit er die Vieh- und Kornpreise in der Zeitung lesen kann, aber schreiben - zu was denn? Damit sie Wechsel querschreiben können, he? Die ganze Bildung ist 'ne Erfindung von den Roten! Sagen Sie mal, was hat so 'n Landarbeiter davon, daß er schreiben kann? Daß er unzufrieden wird, das hat er davon!"

"Waren früher alle zufrieden?" fragt Herr von Studmann. Er hat seine Briefe abgelegt und lehnt nun rauchend am Ofen. Eigentlich müßte er unbedingt auf den Hof hinaus und nach der Wirtschaft sehen. Aber er ist entschlossen, geduldig abzuwarten, was der alte Herr will. Denn wenn er es nicht anhört, wird es sich der Rittmeister anhören müssen, und dann geht es bestimmt schief.

"I wo!" sagt der alte Herr. "Zufrieden waren wir früher auch nicht. Der Mensch ist zum Meckern geboren, das sage ich Ihnen, mein lieber Herr von Studmann! Wenn der Mensch geboren wird, dann meckert er gleich los wie ein junges Zicklein, und wenn er stirbt, röchelt er wie ein oller Ziegenbock. Und die ganze Zwischenzeit meckert er feste weiter. Nee, zufrieden waren wir natürlich auch nicht, früher! Aber es ist ein Unterschied, mein Verehrtester. Früher wollte jeder nur mehr haben, als er grade hatte; heute will jeder partout das haben, was der andere hat!"

"Da ist was Wahres dran!" bestätigt Herr von Studmann und überlegt sich in aller Eile, was er gerne hätte, was jetzt andere haben. Es fällt ihm sogar etwas ein.

"Und ob da was Wahres dran ist!" sagt der Alte triumphierend. Er ist jetzt ganz zufrieden. Der junge Pagel hat ihm gutgetan, und der Herr von Studmann hat ihm auch gutgetan. Es sind beides umgängliche Leute - nicht so was wie sein Schwiegersohn.

"Hören Sie zu, Herr von Studmann", meint er darum gemütlich. "Wir sprechen vom Meckern. Nun, was meine Gnädige ist, die meckert auch. Und darum sitze ich hier."

Herr von Studmann sieht ihn fragend an.

"Ja, mein lieber Herr von Studmann, Sie haben Schwein, Sie sind Junggeselle. Aber ich alter Mann -! Diesmal sind es Ihre Teufelshusaren -!"

"Wer?!"

"Na, die Zuchthäusler dort, sie nennen sich doch selber so! Seit sie vor gut einer Stunde angekommen sind, gibt es keine Ruhe: ›Horst-Heinz, ich

ertrage es nicht, in unserm lieben Neulohe Zuchthäusler! Und wenn ich aus dem Fenster sehe, dann sehe ich sie, und es sind doch alles Mörder und Räuber, und nun singen sie auch noch - Mörder dürften doch nicht singen‹ ..."

"Soviel ich gehört habe, singen sie aber ganz einwandfreie Lieder."

"Was ich ihr gesagt habe, mein verehrter Herr von Studmann! Genau meine Worte! Singen ja sogar die ›Rasenbank am Elterngrab‹, habe ich ihr gesagt. Aber nein, ihr will es nicht in den Kopf, daß Mörder singen. Mörder müssen ihr ganzes Leben lang bereuen, denkt sie."

"Es sind gar keine Mörder darunter!" sagt Herr von Studmann, eine Spur ärgerlich, denn er merkt, daß dieses Geschwätz doch auf etwas Ernsteres hinauswill. "Es sind Diebe und Betrüger, alles verhältnismäßig Kurzstrafige mit guter Führung ..."

"Meine Worte, Herr von Studmann, genau, was ich der Frau gesagt habe! Aber sagen Sie einer Frau was, wenn sie etwas anderes im Kopf hat! ›Warum sind sie denn im Zuchthaus, wenn sie keine Mörder sind?‹ sagt sie. ›Für die Diebe sind doch die Gefängnisse da.‹ Ich kann der Frau doch nicht das ganze Strafgesetzbuch auseinanderpolken!"

"Und was soll werden?" fragt Herr von Studmann. "Was wünscht die gnädige Frau?"

"Und dann ist da noch die Sache mit unserer Waschküche", fährt der Geheimrat fort. "Nun ja, meine Frau hat sie zur Verfügung gestellt fürs Essenkochen. Aber nun will sie plötzlich nicht mehr. Sie kennen das nicht so, Sie sind Junggeselle. Nun jammert sie über ihre schönen Kessel, in denen sonst unsere Wäsche kocht, und nun das Essen für Ihre Brüder. - Entschuldigen Sie bloß, so habe ich das nicht gemeint, Ihre Brüder sind's natürlich nicht. Aber mit der Backs ist es ihr auch nicht mehr recht, daß die nur noch halb fürs Geflügel da ist. Heute morgen wären's schon weniger Eier als gestern ..."

"Die Hühner haben heute morgen aber bestimmt noch nicht gewußt, daß die Zuchthäusler kommen!" meint Herr von Studmann lächelnd.

"Da haben Sie recht! Hähähä!" lacht der bärtige Greis und haut knallend auf den Schreibtisch. "Das muß ich meiner Frau erzählen! Das wird sie mächtig ärgern. Großartig! Die Hühner haben's noch nicht gewußt! Meine Frau hat sonst ein Faible für Sie, Herr von Studmann - na, das wird sie kurieren! Wirklich ausgezeichnet!"

Herr von Studmann ärgert sich schändlich über seinen Fehler. Der Alte ist in seiner Biedermännischkeit ein so ungeheuerliches Aas, er nützt jede Blöße, die sich der andere gibt, so rücksichtslos aus - nun, man muß

eben noch viel mehr aufpassen. Und nie die Geduld verlieren, denn das will er ja bloß.

"Wir wollen gewiß Ihrer Frau Gemahlin mit unsern Leuten nicht lästig fallen", sagt er höflich. "Wir werden tun, was wir können. Die Waschküche wird geräumt werden. Die Kocherei wird sich auch irgendwo anders einrichten lassen, in der Futterküche oder in der Villa, ich werde sehen. Die Backs wird abgelöst. Ich werde zu der Kowalewski noch die Hartig nehmen ..."

"Die Sophie -?!" ruft der alte Herr erstaunt aus. "Das wissen Sie noch nicht?! Na, Sie wissen ja großartig in Ihrem eigenen Betrieb Bescheid, muß ich sagen. Wie ich hier hinüberlatsche, stand doch die Sophie im Kellergang und heulte, Ihr Wachtmeister hätte sie beleidigt, sie machte nicht mehr mit ... Ich hab ihr natürlich zugeredet, aber Sie wissen ja, wie so Mädchen sind ..."

"Jedenfalls danke ich Ihnen bestens, daß Sie ihr zugeredet haben, Herr Geheimrat", sagt Herr von Studmann ein wenig schärfer. "Auch für Sophie Kowalewski wird sich Ersatz finden. Das Singen in der Schnitterkaserne werde ich untersagen. - Damit wären also alle Mängel behoben, nicht wahr?"

"Reizend von Ihnen!" ruft der alte Herr strahlend. "Mit Ihnen kann doch ein vernünftiger Mensch noch verhandeln! Wenn das mein Schwiegersohn gewesen wäre! Fett und Feuer!! Aber - aber -", der Geheimrat schüttelt betrübt den Kopf, "es ist ja leider noch immer nicht alles, mein lieber Herr von Studmann. Wenn meine Frau am Fenster sitzt - und dann sieht sie diese Zuchthäuslertracht ... Sie erträgt es nicht, Verehrtester, es regt sie ständig auf, es ist 'ne alte Frau, ich muß auf sie Rücksicht nehmen ..."

"Ich darf die Leute leider nicht anders einkleiden", sagt Herr von Studmann. "Seien Sie überzeugt, ich würde sonst auch das tun! Aber das Schloß hat vier Fronten - wenn Ihre Frau Gemahlin vielleicht ein Fenster an einer der drei andern Fronten wählen würde?"

"Mein verehrter Herr von Studmann", antwortet der Geheimrat, "meine Frau hat, sagen wir, netto fünfzig Jahre an ihrem Fenster gesessen. Da können Sie wirklich nicht erwarten, daß sie auf ihre alten Tage noch umzieht, bloß weil Sie Zuchthäusler nach Neulohe importieren!"

"Und was wünschen Sie, das wir tun?" fragt Herr von Studmann.

"Aber Herr von Studmann!" sagt der Geheimrat strahlend. "Diese Leute dahin zurückschicken, wohin sie allein gehören: ins Zuchthaus! - Und am besten heute noch!"

"Und die Ernte -?!" rief Herr von Studmann entsetzt.

Der Geheimrat hob lächelnd die Achseln.

"Sie verlangen es nicht im Ernst?!" fragte Studmann ungläubig.

"Mein lieber Herr!" sagte der Geheimrat grob. "Glauben Sie, ich stell mich in der Mittagszeit 'ne halbe Stunde hin und quassele aus Spaß mit Ihnen?! Die Leute kommen weg aus Neulohe, und das heute noch!"

Der Geheimrat war aus seinem Sessel aufgestanden und sah Herrn von Studmann böse funkelnd an.

Aber da es nun ein Kampf sein sollte, war der ehemalige Oberleutnant ruhig. "Herr Geheimrat", sagte er, "Ihr Einwand kommt zu spät. Sie wissen seit vierzehn Tagen von unserm Vorhaben, ein Zuchthauskommando kommen zu lassen. Sie haben keine Einwendungen dagegen erhoben. Im Gegenteil: Sie haben uns Ihre Waschküche und Ihre Geflügelmamsell dafür zur Verfügung gestellt. Damit haben Sie Ihr Einverständnis erklärt ..."

"Kieke da!" spottete der Geheimrat. "Der kleine Rechtsanwalt in der Westentasche! Aber wenn andere schlau sind, ich bin noch schlauer. Nach Paragraph 21 des Pachtvertrages hat der Pächter jede Beeinträchtigung des Wohnrechtes des Verpächters sofort abzustellen. Ihre Verbrecher sind eine Beeinträchtigung des Wohnrechtes. Sofort, als sich diese Beeinträchtigung herausstellte, habe ich bei Ihnen Abhilfe verlangt. Nun her mit der Abhilfe! Und weg mit den Leuten!"

"Wir weigern uns!" sagte Herr von Studmann. "Wir werden den Nachweis führen, daß eine mit polnischen Schnittern, ihren Weibern und Kindern besetzte Kaserne sehr viel störender wirkt als die unter strammer Zucht stehenden Strafgefangenen. Wir werden weiter nachweisen ..."

"Vor Gericht, was?" rief der Geheimrat verächtlich. "Rufen Sie nur das Gericht an, mein kluger Herr! Jedes Anrufen des Gerichts löst das Pachtverhältnis! Paragraph 17 des Vertrages! Rufen Sie man an - ich übernehme die Ernte gerne ..."

Studmann trocknete sich die Stirne. Oh, mein lieber Prackwitz! dachte er. Wenn du hier stündest! Aber du hast keine Ahnung, und du wirst nie eine Ahnung haben ... Er sah nach dem Schreibtisch hin: Der geht aufs Ganze. Er hat sicher die Briefe mit den Angeboten der Getreidehändler gelesen. Pagel ist viel zu achtlos, zu vertrauensselig. Er ist gierig - er will nicht nur den Schwiegersohn weg haben, er möchte jetzt auch noch die Ernte dazu ... Es muß mir ein Ausweg einfallen ...

"Na, Herr von Studmann", sagte der alte Herr zufrieden.

"Landwirtschaft ist noch was anderes als Hotelbetrieb, wie? Wozu wollen Sie sich hier ärgern? Mein Schwiegersohn dankt Ihnen das bestimmt nicht. Schicken Sie die Leute weg, und wenn Sie vernünftig sind, reisen Sie auch. Das ist hier doch 'ne geplatzte Blase, da kriegen Sie auch keine Luft wieder rein ..."

Herr von Studmann stand am Bürofenster. "Einen Augenblick", sagte er, er sah nach der Kaserne hinüber. Jetzt traten aus der Tür: Pagel; ein, zwei, drei Zuchthäusler; nun ein Wachtmeister ... Sie gingen ab, verschwanden den Weg hinunter, wohl zum Geräteschuppen ...

Das hat die alte Frau nun auch oben gesehen, dachte er. Da kann man nichts machen. Da gibt's keinen Ausweg. - Natürlich möchte er vor allem mich weg haben, mit Prackwitz hat er leichtes Spiel, der schmeißt ihm den Kram heute noch vor die Füße und schenkt ihm die schöne Ernte ... Nein, nein.

Ein Gedanke kam ihm, gleich verwarf er ihn. Aber er sah schärfer nach der Kaserne. Sie stand mit dem spitzen roten Giebel zu Beamtenhaus und Schloß hin. In dem Giebel saßen Tür und ein Dachfenster, den Anblick der beiden Längsseiten entzogen Flieder- und Schneeballbüsche. Studmann sah, blinzelte. Nein, der Gedanke war doch nicht schlecht, es war der Gedanke ...

Er drehte sich mit einem Ruck um.

"Es wurden vier Ausstellungen vom Verpächter gemacht?" sagte er. "Erstens die Backs ..."

"Stimmt!" bestätigte der Geheimrat vergnügt.

"Die Backs wird freigegeben. Ist erledigt?"

"Stimmt!" grinste der Alte.

"Die Benutzung der Waschküche wird aufgegeben."

"In Ordnung!" lachte der Alte.

"Es wird nicht mehr gesungen."

"Schön schön. Und den vierten hohlen Backenzahn füllen Sie mit all Ihrer Schlauheit nicht, Studmännchen."

"Ich bin nicht Dentist. Vierter Einwand: die Leute sind vom Schloß zu sehen."

"Stimmt!" grinste der Herr von Teschow.

"Sonst nichts?" fragte Herr von Studmann.

"Sonst nichts!" lachte der Alte.

"Wird behoben!" sagte Herr von Studmann und konnte nicht hindern,

daß Triumph in seiner Stimme klang.

"Nanu?" rief der Alte verblüfft. "Sie werden doch nicht -?"

"Was werde ich nicht?"

"Die Kaserne fortfahren? Geht nicht. Die Leute umlegen? Geht auch nicht, von wegen der sicheren Verwahrung. Und sonst "... Der Alte grübelte ...

"Sie entschuldigen mich, Herr Geheimrat", sprach Herr von Studmann so freundlich-gnädig, wie nur ein Sieger freundlich-gnädig sein kann. "Ich muß sofort die nötigen Anweisungen geben, damit spätestens am Abend der Schaden behoben ist ..."

"Da möchte ich doch wissen "..., sagte der alte Herr und ließ sich ohne allen Protest durch Studmann aus dem Büro schieben. "Wenn aber am Abend nicht alles in Ordnung ist -!" rief er mit einem Rückfall in das frühere Drohen.

"Es ist am Abend alles in Ordnung", erklärte Herr von Studmann vergnügt und schob den Büroschlüssel ostentativ in die Tasche, statt ihn wie üblich in das blecherne Briefkästchen zu legen. "Ich bitte um die besten Empfehlungen an die Frau Gemahlin "... Er entschritt, dem Hofe zu, wie ein Sieger. Der Geheimrat sah ihm verblüfft nach.

7

All die Zeit, während Herr von Studmann mit dem Geheimrat verhandelt, geredet, gestritten hatte, während er dann auf den Gutshof gelaufen war, Leute zusammengetrommelt, seine Weisungen gegeben hatte - all die Zeit, während Studmann dann an der Schnitterkaserne den jungen, langsam immer mehr aufleuchtenden Pagel instruiert und es dabei nicht unterlassen hatte, ihn nochmals vor jeder Vertraulichkeit mit älteren lodenen und rauschebärtigen Herren zu warnen - und jene Zeit auch, in der Herr von Studmann mit den Hilfswachtmeistern, den Wachtmeistern und dem Oberwachtmeister des Kommandos gesprochen und ihnen zugeredet hatte, damit sie bloß nicht gekränkt waren - den halben Nachmittag also, an dem Studmann geredet, geschmeichelt, gescholten, ermahnt, geschwitzt und gelächelt hatte, um seinen Freund von Prackwitz vor den Anfeindungen des Schwiegervaters zu retten - von der Essenszeit bis nach der Kaffeezeit hatte der Rittmeister Joachim von Prackwitz wütend auf seiner Couch gelegen und mit seinem Freunde von Studmann geschmollt.

Der Rittmeister hat sich empört über Studmann, den Vormund; hat

geschimpft über Studmann, das Kindermädchen; hat hohngelacht über Studmann, den Besserwisser; hat verächtlich gelächelt über Studmann, die Unke!

Was hinwiederum den alten Geheimrat von Teschow anging, so hatte er durch einen Vorhang des Schloßzimmers nur einen Blick auf die beginnenden Studmannschen Arbeiten geworfen, hatte dann sofort anerkennend mit dem Kopf genickt und gesprochen: "Köpfchen bleibt eben doch Köpfchen. So einen Mann hätte ich als Schwiegersohn haben müssen, nicht so 'ne langschinkige Donnerbüchse ..."

Der Rittmeister hatte erkannt, daß er bis auf die Knochen blamiert war. Frau und Freund waren in einen Wettstreit darüber eingetreten, wer ihn am meisten blamieren könnte. Während die Frau ihn mit Aufbauschung eines kleinen Ehe-Intermezzos, bei dem er übrigens vollkommen im Recht gewesen war, vor dem Freunde blamiert hatte, hatte der Freund ihn vor der Frau als einen vollkommenen geschäftlichen Trottel hingestellt. Er hatte ihm die ganze Geschäftsführung abgelistet, und dann hatte er ihm sogar noch das Wort abgenommen, seinem Schwiegervater nicht einmal die Meinung zu sagen! Der Rittmeister war überzeugt, daß alles Gerede über Gefährlichkeit dieses Vertrages Gefasel war. Indem er es sorgfältig vermied, an Einzelheiten zu denken, stellte er fest, daß es ihm bisher auf Neulohe immer noch recht gut gegangen war, daß er sein Auskommen gehabt hatte - und daß er sich wirklich nicht darum kluge Herren aus Berlin kommen ließ, um zu beweisen, daß er dies Auskommen nicht hatte.

Der Rittmeister hatte einen Freund haben wollen, sprich einen unterhaltsamen Gesellschafter, keinen Vormund: Das verbitte ich mir! schrie er innerlich. Daß man den Schrei nicht hörte, machte ihn nicht weniger intensiv. Der gute Studmann hatte gefürchtet, der Rittmeister würde in einen hemmungslosen Zorn auf seinen Schwiegervater geraten. Was sein Schwiegervater, dieser lächerliche Greis von siebzig Jahren in Kniehosen, tat, das war dem Rittmeister völlig piepe - auf seinen Freund hatte er eine Stinkwut, sein Freund hatte ihn tödlich verletzt!

An der Schnitterkaserne schien alles in Ordnung. Schwitzend rannte Herr von Studmann in die Waschküche des Schlosses. Drei eilig zusammengetriebene Dorfweiber folgten ihm mit fliegenden Schürzenbändern, halblaut glucksend wie die Hühner, voll geschwätziger Erwartung, was denn nun wieder los sei. Nachdem er den Umzug der Gerätschaften in die Futterküche des Viehhauses angeordnet hatte, nachdem er eine geradezu verklärte Sauberkeit der Teschowschen,

durch Zuchthäusleressen entweihten Waschkessel befohlen hatte, rannte von Studmann was hast du, was kannst du ins Dorf, in die Wohnung des Leutevogts Kowalewski, um von dem Mädchen Sophie zu hören, was denn da nun eigentlich los war. Er wollte dem Mädchen den Kopf zurechtsetzen und vielleicht ganz nebenbei auch erfahren, worin eigentlich das gute Zureden des Geheimrats bestanden hatte. Aber die Sophie sollte zu einer Freundin am andern Dorfende gegangen sein. Da Herr von Studmann doch einmal schwitzte, konnte es auf ein bißchen mehr Schweiß nicht ankommen. Herr von Studmann rannte zum andern Dorfende.

Herr von Teschow, der alte Geheimrat, sah vom Park aus, wie er rannte. Renne du! sagte er wohlgefällig zu sich. Und wenn du mit allen Erzengeln und den himmlischen Heerscharen meiner Belinde auf den Fersen rennen würdest - du rettetest meinen Schwiegersohn doch nicht!

Damit ging der Geheimrat tiefer hinein in den Park, zu einer ihm gut bekannten Stelle. Spät kommt ihr, doch ihr kommt. Fuchs, du hast die Gans gestohlen. Wer zweimal eine Grube gräbt, der kommt zum Ziel.

"Gnädige Frau bitten den Herrn Rittmeister zum Kaffee!"

"Danke, Hubert. Soll mich zufriedenlassen. Will keinen Kaffee. Bin krank."

"Du bist krank, Achim?"

"Du sollst mich zufriedenlassen!"

"Hubert sagt, du bist krank."

"Ich weiß am besten, was ich gesagt habe! Ich bin nicht krank! Ich will nicht ewig bevormundet werden!"

"Entschuldige, Achim - du hast recht, du bist wirklich krank!"

"Himmelherrgott, laß mich zufrieden, ja?! Ich bin nicht krank! Ich will meine Ruhe haben ..."

Er hatte sie bereits, Frau von Prackwitz war schon gegangen.

Nun hörte er sie nebenan leise mit der Weio reden, beim Kaffeetrinken. Sie sollten ruhig laut reden, sonst kam man nur auf den Gedanken, sie redeten über einen selbst! Natürlich redeten sie über ihn!! Sie sollten nicht so flüstern! Er war nicht krank! Er hatte es ihr doch gesagt! Gott im Himmel, sie zwangen ihn, einen ruhebedürftigen Mann, aufzustehen und sich mit an den Kaffeetisch zu setzen, bloß um ihren Willen zu haben!

Er würde es gerade nicht tun!

Aber sie sollten nicht so flüstern, sonst mußte er es doch tun!

"Redet doch laut!" brüllte der Rittmeister empört durch die

geschlossene Tür. "Dies Flüstern macht einen ja ganz nervös! Wie soll man bei dieser Tuschelei ruhen können -!"

"Was machen die Leute bloß da?" sagte Frau von Teschow zu Fräulein von Kuckhoff. "Ich glaube, sie wollen mauern."

Die beiden alten Damen saßen jede auf ihrem Fensterplatz und sahen auf den heute interessantesten Fleck in Neulohe, die Schnitterkaserne.(Sonst schliefen sie um diese Zeit.)

"Wer warten kann, der ist der Mann", antwortete Jutta von Kuckhoff, aber auch ihr wurde das Warten schwer. "Du hast recht, Belinde, es sieht nach Mauern aus."

"Aber was können sie denn bloß mauern?!" fragte wieder die alte Dame aufgeregt. "Seit Horst-Heinz 97 die Schnitterkaserne gebaut hat, ist sie so. Ich bin an sie gewöhnt. Und nun plötzlich Änderungen, ohne jede Vorbereitung! Bitte, Jutta, klingle nach Elias."

Es wurde geklingelt; bis der Elias kam, wurde weiter geschaut.

"Dieser junge Mensch, dieser sogenannte Herr Pagel, führt das Kommando. Ich habe seinem Gesicht nie getraut, Jutta. Warum läuft er immer in feldgrauen Röcken herum, wo er zwei Koffer voll Anzüge haben soll?! - Elias, hat dieser junge Mensch nicht andere Anzüge?"

"Doch, gnädige Frau, in einem Schrankkoffer und in einem großen Kupeekoffer. Minna sagt, er hat auch seidene Hemden, ganz durchzuknöpfen wie die vom Herrn Rittmeister. Seidene, nicht Linon. Aber er zieht sie nicht an."

"Und warum zieht er sie nicht an?"

Elias bewegte die Schultern.

"Verstehst du das, Jutta? Ein junger Mensch, der seidene Hemden hat und sie nicht anzieht?"

"Vielleicht gehören sie ihm nicht, Belinde?"

"Ach, i wo, wenn er sie im Koffer hat! - Dahinter steckt was - nimm mein Wort, Jutta, denke daran, daß ich es jetzt gesagt habe. Wir müssen aufpassen: wenn er das erste Mal ein Seidenhemd anhat, dann ist etwas los -! Bestimmt!!"

Die drei alten Leute sahen sich an, mit funkelnden Augen, neugierig und gierig; alte Raubvögel, die das Aas schon wittern, wenn es noch lebt. Sie verstanden sich, auch Elias war lange genug Diener, um zu verstehen, mitzuwittern.

"Der junge Mann war heute früh mit dem gnädigen Fräulein im Park", sagte er.

"Mit meiner Enkelin, mit Fräulein Violet -? Sie irren sich, Elias. Violet hat Stubenarrest, sie darf nicht einmal zu uns ..."

"Ich weiß doch, gnädige Frau", antwortete Elias.

"Und -?"

"Sie waren reichlich zweiundzwanzig Minuten im Park, hinten, unter den Bäumen, nicht vorne auf dem Rasen."

"Elias! Meine Enkelin -"

"Geraucht haben sie auch. Er hat ihr Feuer gegeben, nicht mit dem Streichholz, sondern von seiner Zigarette. Ich sage, wie es ist, gnädige Frau. Das habe ich gesehen - nachher habe ich nichts gesehen, weil dann die Bäume kamen. Darüber kann ich nichts sagen."

Die drei schwiegen. Sie sahen sich an, sie sahen wieder voneinander fort, als hätten sie sich bei etwas ertappt.

Schließlich flötete die alte Gnädige: "Und wo war meine Tochter?"

"Die junge gnädige Frau war auf dem Büro - bei Herrn von Studmann."

Die beiden alten Weiblein saßen starr, auch jetzt sahen sie einander nicht an. Dann, als Elias sicher war, der Haken saß fest, sagte er sanft: "Der Herr Rittmeister war auch auf dem Büro ..."

Freundin und Freundin regten sich langsam, wie aus einem tiefen Schlaf heraus. Fräulein von Kuckhoff räusperte sich energisch, völlig männerhaft, sie warf einen zweifelnden Blick auf Elias ... Die gnädige Frau sah lieber zum Fenster hinaus.

"Und was machen sie dort, Elias?" fragte sie.

Elias brauchte nicht hinzusehen, er wußte Bescheid, und wo er nicht Bescheid wußte, da erriet er. "Sie mauern dort die Tür zu", sagte er. "Weil die gnädige Frau der Anblick von den Verbrechern stört ..."

"Sie mauern die Tür zu ..."

Frau von Teschow saß starr, sie versuchte zu erkennen, ob dies eine Kränkung oder eine zarte Rücksichtnahme war. Beides konnte sich so ähnlich sein, es kam ganz darauf an, wie man es auffaßte.

"Und wie kommen die Leute aus der Kaserne heraus?" fragte sie endlich.

"Sie machen doch aus dem zweiten Fenster in der großen Leutestube eine Tür", erklärte Elias. "Grade hinter den Büschen, nein, auf der andern Seite, nach dem Hof zu ... Gnädige Frau werden nichts mehr sehen ..."

"Es ist sehr rücksichtslos von meinem Schwiegersohn, mir meine Aussicht zuzumauern", fing Frau von Teschow bitter an.

"Der Herr Rittmeister weiß nichts davon", beeilte sich Elias. "Herr Rittmeister ist gleich nach Haus gegangen, als die - Leute kamen. Das hat Herr von Studmann angeordnet ..."

"Wie kommt Herr von Studmann dazu, mir meinen alten Ausblick auf die Schnitterkaserne zu verbauen?!!" rief Frau von Teschow hitzig.

"Herr von Studmann macht doch einen sehr angenehmen Eindruck", sagte Fräulein von Kuckhoff warnend.

"Herr Geheimrat haben lange heute mittag mit Herrn von Studmann verhandelt", meldete Elias. "Herr Geheimrat haben einmal sehr laut - geschrien."

"Es war sehr rücksichtsvoll von Horst-Heinz, daran zu denken", sagte Frau von Teschow. "Ich wußte nichts davon - er wollte mich damit überraschen."

Sie sah nachdenklich nach der Schnitterkaserne hinüber. Zwei Steinschichten waren schon gelegt. Dieser junge Mensch in Feldgrau verhandelte eifrig mit den beiden Gutsmaurern, ein Wachtmeister stand mit neugierigem Gesicht dabei - nun lachten alle vier los. Noch lachend sahen sie alle zum Schloß hinüber, zu den Fenstern.

Die gnädige Frau rückte eilig ihren Kopf aus der Sonne - aber auch ohnedies wäre sie auf ihrem Fenstertritt nicht zu sehen gewesen, halb hinter der Gardine versteckt. Noch lachend liefen die beiden Maurer nach dem Gutshof hinüber - der junge Pagel hielt dem Wachtmeister sein Zigarettenetui hin. Auch die beiden lachten.

Das hätte Horst-Heinz nicht tun sollen! dachte die gnädige Frau ärgerlich. Den ganzen Sommer auf die kahle Wand starren! Sicher höre ich Geschichten von all diesen Verbrechern, was sie getan haben, warum sie sitzen - und ich weiß nicht einmal, wie sie aussehen. Ich müßte ...

Sie war in Versuchung, den Diener Elias hinüberzuschicken, sagen zu lassen, der Umbau sei nicht notwendig, aber sie wagte es nicht. Der Herr Geheimrat, ihr Gatte, war nur so lange gemütlich, als man seinen meist geheimen Plänen nicht zuwiderhandelte. Er konnte so nervenzerstörend brüllen! Und er lief dann so blaurot an - Sanitätsrat Hotop sagte immer, ein Schlaganfall würde ihm gefährlich werden ...

"Bitten Sie Herrn Geheimrat zu mir, Elias", sagte die gnädige Frau sanft.

"Herr Geheimrat sind fortgegangen", teilte Elias mit. "Soll ich es ihm sagen, wenn er zurückkommt?"

"Nein, nein, es müßte jetzt sein".(Eine Tür ist so schnell vermauert!) "Aber Sie könnten einmal zu meiner Tochter gehen, Elias, und ihr sagen,

ich ließe bitten, mir Fräulein Violet ein Stündchen zu schicken ..."

Elias nickte.

"Wenn meine Tochter etwas vom Stubenarrest sagen sollte, deuten Sie an, Elias - aber vorsichtig, ganz unauffällig! -, daß Fräulein Violet heute mittag im Park spazierengegangen ist ..."

Elias verbeugte sich.

"Von dem jungen Mann brauchen Sie vor meiner Tochter nichts zu erwähnen", sagte die gnädige Frau. "Ich spreche mit meiner Enkelin selbst darüber ..."

Elias' Gesicht zeigte, daß er alles gut verstanden hatte, daß alles bestens erledigt werden würde. Er fragte, ob noch weitere Wünsche da seien. Aber weitere Wünsche waren nicht da.

Elias ging, würdig, ruhevoll, stets der Besitzer eines enormen Vermögens.

"Wenn Violet heute nicht kommt, gehe ich in die Villa!" Die gnädige Frau setzte sich energisch auf. "Wenn auch Horst-Heinz schilt! Ich lasse mir meine Enkelin nicht verschimpfieren!"

"Darf ich mit, Belinde?" fragte Fräulein von Kuckhoff gespannt.

"Ich will mal sehen. Jedenfalls müssen wir es so abpassen, daß mein Schwiegersohn nicht im Haus ist. Und sieh du gleich einmal, ob du die Minna nicht findest. Vielleicht weiß sie was."

Der junge Pagel hatte einen Einfall gehabt. Fünfzig Mann in der Schnitterkaserne lachten, fünf Beamte lachten, die Maurer lachten - bald würde das ganze Dorf lachen!

Zuerst war die Stimmung recht gereizt gewesen. Dieses befohlene Zumauern einer Tür, gewiß eine gute Lösung des Herrn von Studmann, war keine gute Begrüßung des Kommandos.

"Wenn sie uns nicht sehen mögen, brauchen sie uns auch nicht für ihre Arbeit zu holen", maulten die Zuchthäusler. "Wenn wir nicht zu schlecht sind, ihnen ihre Eßkartoffeln auszubuddeln, muß ihnen auch von unserm Anblick nicht schlecht werden!" schimpften sie. "Wer weiß, wie der sein Geld verdient hat; zusammengebetet wird er sich seinen Steinbaukasten auch nicht haben!" meinten sie.

Und auch die Beamten hatten den Kopf geschüttelt und die Münder verzogen. Sie fanden, sie hatten - mit zwei oder drei Ausnahmen - ein sehr ordentliches Kommando. Es gingen oft ganz andere Arbeitsabteilungen aus Meienburg fort. Wenn die Leute sich anständig benahmen und gut arbeiteten, mußte man sie nicht immerzu daran

erinnern, daß sie bloß Zuchthäusler waren. Das machte sie nur unruhig und erschwerte den Beamten ihre Pflicht.

Aber nun hatte der junge Pagel seinen Einfall gehabt. Nun lachten sie alle, nun grinsten sie alle. "Da können sie beten für uns, das erinnert sie alle Tage!" sagten sie. "Der junge Mann ist in Ordnung - so muß man es mit denen machen. Immer so 'ne Raffkes durch den Kakao ziehen - das ist das beste!"

Vor Vergnügen hätten sie am liebsten wieder losgesungen, irgendwas geschmettert: "Wacht auf, Verdammte dieser Erde!" oder so was, was denen in den Ohren gellte. Aber sie wollten dem jungen Mann keine Ungelegenheiten machen! Mit vergnügten Gesichtern sägten sie an ihren Brettern, nagelten die Regale, die Gerätestände zusammen, packten und zählten die Wäsche. Heute war nur halber Arbeitstag, heute schafften sie erst einmal die Ordnung, die Herr Oberwachtmeister Marofke für unerläßlich hielt, alles in Reih und Glied, alles in Falten und geputzt - genau wie daheim im Zuchthaus Meienburg. Nummern an jedem Eßnapf und Nummern an jeder Waschschüssel, Nummern an den Betten, Nummern an jedem Schemel, jeder Platz am Eßtisch numeriert.

Schwierige, flüsternde, sich erhitzende Beratungen unter den Beamten, wer am besten neben wem am Tisch saß, wer zusammen auf eine Stube gelegt werden konnte - eine falsche Zuteilung, und die Keimzelle zu einem Ausbruchsversuch oder zu einer Meuterei war geschaffen -!

Aber während alldem schlich immer wieder einer an das langsam zuwachsende Türloch, sah, erkundigte sich. Und die Gefährten drinnen fragten grinsend: "Wie weit sind sie denn nun schon? Sieht man's schon? Erkennt man's schon?"

"Sie sind erst bei der sechsten Schichte. Nee, richtig zu erkennen ist es erst, wenn der Querbalken kommt."

Von Studmann erkannte es auch nicht. Er kam aus dem Dorf, schließlich hatte er die Sophie gefunden, aber die Sophie hatte ihm diesmal gar nicht gefallen. Verstockt, hinterhältig, verlogen.

Was nur in das Mädchen gefahren sein mag? Sie ist ganz verändert! Ob der Geheimrat dahintersteckt? Sicher, der hat sie irgendwie aufgehetzt. Das kann er! Den ganzen Tag denkt er nur darüber nach, wie er uns Schwierigkeiten macht. Na ja, die Ernte ... Es wird Zeit für ihn, jedes bißchen, das wir dreschen und verkaufen, tut ihm weh! Ich muß gleich zu Prackwitz, daß er nicht wieder Dummheiten macht. Ach Gott, und die Amanda muß ich auch fragen, was hinter dem Gerede der Kowalewski steckt. Zu irgendwelcher vernünftigen Arbeit kommt man

heute wieder einmal überhaupt nicht. Ewig rennt man hinter irgendwelchem Gewäsch her und rückt die Töpfe vom Feuer, daß sie bloß nicht überkochen! Ich hätte es nie geglaubt - aber es ist wirklich fast noch schlimmer als im Hotel!

"Was stellt das nun wieder vor, Pagel?!" sagte er etwas ärgerlich und sah das Werk der Maurer an. "Hinter dem Viehhaus stehen noch genug rote Steine - warum diese häßlichen weißen Zementsteine dazwischen?!"

Die beiden Maurer sahen sich an und grienten unter ihren Maurerbärten. Aber nach der Art solcher Leute taten sie, als hörten sie nichts, sondern sie mauerten geruhig weiter fort. Schwapp, spritzte der fette Zementbrei. Ein Hilfswachtmeister, der musternd mit dem Kopf aus der Öffnung gefahren kam, zog ihn beim Anblick des Herrn von Studmann hastig wieder zurück.

"Nun?" fragte Herr von Studmann recht ärgerlich.

Der junge Pagel sah seinen Vorgesetzten und Freund lächelnd an. Aber er lächelte eigentlich nur mit den Augen, sie wurden ganz hell davon. Pagel warf seine Zigarette ins Gebüsch, hob die Achseln und sagte mit einem Seufzer: "Es ist ein Kreuz, Herr von Studmann "... Und er ließ die Achseln wieder sinken.

"Was ist ein Kreuz?" fragte Herr von Studmann sehr ärgerlich, denn nörgelnde Kritik an einer notwendigen Arbeit war ihm verhaßt.

"Das!" sagte Pagel und zeigte mit dem Finger auf die Türöffnung.

Die beiden Maurer prusteten los.

Herr von Studmann starrte auf die Wand, auf die Türöffnung, auf die Steine, weiß und rot ...

Plötzlich ging ihm ein Licht auf, er rief: "Sie meinen, das wird ein Kreuz, Pagel -?"

"Ich dachte, es wirkt gefälliger", sagte Pagel grinsend. "So 'ne glatte rote Wand ist ein langweiliger Anblick. Dachte ich. Aber mit einem Kreuz - Kreuz regt gewissermaßen zur Einkehr an."

Man muß sagen, die Gutsmaurer mauerten mit einem geradezu gegenrevolutionären Eifer, sie wollten das Kreuz vor einem Verbot so weit wie möglich in Sicherheit bringen.

Aber Herr von Studmann lachte nach einem Augenblick des Nachdenkens auch. "Sie sind ein Frechling, Pagel", sagte er. "Nun, wenn es zu schlimm wirkt, kann man die weißen Steine immer noch rot anpinseln. - Sehen Sie zu, daß Sie bald fertig werden", sagte er zu den Maurern. "Mit einem Ruck hoch, verstanden? Jetzt kann man wohl

drüben vom Schloß noch nicht sehen, was es werden soll?"

"Jetzt noch nicht", sagten die Maurer. "Und wenn wir erst bei dem Querbalken sind, kann der junge Herr vielleicht ein bißchen weggehen? Wenn die schicken, wir tun nur, was uns gesagt wird."

"Das sollen Sie auch!" erklärte Herr von Studmann gebieterisch. Er wollte kein Komplott mit den Leuten gegen die alte Herrschaft.

"Hören Sie, Pagel", sagte er zu dem Exfahnenjunker. "Ich gehe jetzt zur Villa und bringe dem Prackwitz das hier bei". Umfassende Handbewegung zwischen Schloß und Schnitterkaserne. "Sie halten hier indessen unter allen Umständen die Stellung - einschließlich - ähemm! - Kreuz!"

"Kreuzstellung wird gehalten, Herr Oberleutnant!" sagte Pagel. Er schlug die Hacken zusammen und legte die Hand, da er nichts als seinen Haarschopf trug, an die Stirn. Er sah Herrn von Studmann nach, der aber nicht nach seinen Worten zur Villa ging, sondern in das Beamtenhaus. Es war dem Oberleutnant nämlich eingefallen, daß er in der Villa unter Umständen die Damen treffen würde. Unmöglich konnte er dort so verschwitzt auftreten, zum mindesten einen frischen Kragen mußte er sich umbinden. Bei einem Studmann ist von einem frischen Kragen zu einem frischen Hemd nur ein Schritt. Also wusch sich der Oberleutnant von oben bis unten kühl ab - und in der Zwischenzeit nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Während Herr von Studmann sich wusch, kreuzte das Unheil flügelschlagend den Weg nach der Villa, hinter den letzten Häusern des Dorfes.

Der alte Elias hatte recht gesehen: sein Brotherr war in den Park gegangen. Wenn uns gar nichts Neues mehr einfällt, fällt uns wenigstens immer noch ein, was von unsern alten Plänen unerledigt ist. Herrn Geheimrat von Teschow war auch so etwas eingefallen. Ohne zu zögern, aber doch mit sorglichem Rundblick aus seinen kugligen, leicht geröteten Seehundsaugen begab er sich an jene Stelle des Parkzauns, an der er nächtens schon einmal gestanden hatte. Wie damals brachte er als Werkzeug nichts als seine Hände mit. Aber mit dem Gedächtnis ist es eine wunderbare Sache: was wir behalten wollen, das behalten wir auch. Trotz dunkler Nacht und manchem seitdem verstrichenen Tage hatte der Geheimrat nicht vergessen, wo die lose Latte saß. Ein Zug, ein Stemmen, ein Drücken - die sich aus dem Zaunholz ziehenden Nägel schrien nicht sehr erheblich -, und der Geheimrat hielt die Latte in der Hand.

Ein wenig schnaufend sah er sich um. Wiederum arbeitete sein

Gedächtnis ausgezeichnet: er sah scharf nach dem Busch, in dem er damals die Amanda Backs zu sehen geglaubt hatte. Jetzt bei Tageslicht erkannte er, daß es ein Pfaffenhütchenbusch war - und keiner und keine steckten im Busch. Der Geheimrat ging und setzte mitten in ihn hinein die losgebrochene Latte. Er ging rund um den Busch herum. Der Busch erfüllte alle auf ihn gesetzten Erwartungen - die Latte war unsichtbar geworden.

Befriedigt nickte der Geheimrat und ging auf die Suche nach Attila. Es war nicht des Geheimrats Art, ein Loch in einen Zaun zu machen und es nun den Gänsen zu überlassen, daß sie eines Tages, und wahrscheinlich gerade im falschen Augenblick, dieses Loch finden würden - dies war die Stunde! Sozusagen waren die Gänse in dieser Minute der Tropfen, der den Becher in des Rittmeisters Galle zum Überlaufen bringen mußte - jetzt ging also der Geheimrat auf die Suche nach Attila!

Er fand die Gänse - anderthalb Dutzend an der Zahl - auf der Wiese beim Schwanenteich, wo sie mißvergnügt an dem sauren Parkgras herumbissen. Sie begrüßten ihn mit mißbilligendem, aufgeregtem Gezeter. Sie verdrehten ihre Hälse, sie legten ihre Köpfe auf die Seite, sie schielten von unten himmelblaugiftig nach ihm und zischten böse. Aber der Geheimrat kannte seine Gänse, wenn sie ihn auch nicht erkannten. Diese böse zischenden Damen waren vorübergehende Erscheinungen; Gottes Stellvertreter hier auf Erden, in diesem Falle Frau Geheimrat von Teschow, überlieferte sie alljährlich dem Schlachtmesser der Mamsell, bis auf drei, vier Zuchttiere. Sie hatten keine Ruhestatt dahier, flüchtige Gäste waren sie nur auf des Geheimrats Parkwiesen, kaum erwachsen, wandelte sich ihr junges Fleisch in Spickbrust und Pökelkeulen.

Bleibend, Geschlechter und Geschlechter überdauernd, war nur Attila, der Zuchtganter, ein schwerer Gänserich von einundzwanzig Pfund. Stolz und überlegen hielt er sich für der Schöpfung Nabel, biß die Kinder, flatterte zornig den Briefträgern in die Räder, sie zu Falle bringend, haßte die neuerdings immer länger aus den Röcken reichenden Frauenbeine, die er blutrünstig zwackte. Strenger Herrscher in seinem Harem, völliger König und Autokrat, vertrug er Widerspruch gar nicht, war der Schmeichelei unzugänglich, gehorchte niemandem und hatte nur einen weichen Platz in seinem Gänseherzen - für den Herrn Geheimrat Horst-Heinz von Teschow.

Zwei gleichgestimmte Seelen hatten sich erkannt und liebten einander!

Abseits von dem unvernünftigen Weibervolk wandelnd, wahrscheinlich irgendwelchen Betrachtungen über gänsische Probleme hingegeben,

hatte er die Ankunft des guten Freundes nicht beachtet. Nun aufmerksam geworden, sah er einen Augenblick mit seinen blaßvergißmeinnichtblauen Augen zu der spektakelnden Schar hinüber. Er erkannte den Anlaß des Spektakels, und mit weit ausgebreiteten Flügeln flatterte er knatternd auf den Geheimrat zu.

"Attila!" rief der. "Attila!"

Die Gänse schnatterten aufgeregt. Der Ganter eilte näher in nicht zu hemmender Eile ... Von seinen starken Flügelschlägen getroffen, flogen und taumelten die bestürzten Frauen zur Seite - und an die Beine des Geheimrats geschmiegt, den Hals gegen seinen Bauch gelegt, mit dem Kopf sanft gegen den Fettball klopfend, schnatterte der Ganter leise und zärtlich vieles, mit jedem Ton bedingungslose Liebe des Freundes zum Freunde bekundend.

Schief die Köpfe, langsam wellenförmig die Hälse schlängelnd, stand das Volk der Gänse rundum.

"Attila!" sprach der Geheimrat und kraulte ihm den Kopf dort, wo sich Gänse ihn nie kraulen können, direkt über dem Schnabelansatz. Sanft drückte mit einem leichten, wie einschlafenden Schnattern der Ganter den Schnabel gegen den sacht wogenden Bauch. Dann, als die kraulenden Finger lässiger wurden, schob er mit einer plötzlichen, geschickten Bewegung den Kopf zwischen Weste und Hemd und blieb so ruhend, völlig selig, des höchsten Erdenglückes wieder einmal teilhaftig geworden.

Eine Zeitlang mußte der Geheimrat dem Freunde schon solch friedvolles Verweilen zugestehen. Er stand auf der Parkwiese, von Sommerschatten und Sommersonne getupfelt, seine Zigarre langsam weiterschmauchend, ein bärtiger, rotbackiger Greis in ziemlich durchschwitztem Loden, und Geschöpf dieser Erde, gewährte er willig dem Mitgeschöpf Frieden an seinem Bauche.

"Attila!" sagte er von Zeit zu Zeit behaglich. "Attel!"

Und unter der Weste hervor klang ein friedvolles Zischen zur Antwort. Die Liebe seines Ganters zu enttäuschen wäre ihm frevelhaft erschienen, über die Liebe zu Verwandten dachte er - anders!

Schließlich aber löste er sanft den Freund vom Freunde. Noch einmal kraulte er den Schnabelflaum, dann sprach er auffordernd "Attila" und ging dem Ganter voran, der unverzüglich, leise und zufrieden mit sich schnatternd, ihm folgte. Wie es in den Büchern steht und auf den Bildern für Kinder zu sehen ist, folgten im Gänsemarsch sämtliche Gänse. Erst die alten Legegänse, dann die groß gewordenen Gössel der

Frühjahrsbrut, der jämmerliche Rückständer hinterdrein.

So wanderten sie dahin durch den sommerlichen Park; für einen ahnungslosen Beschauer wäre es ein erheiternder Anblick gewesen, eine Kennerin freilich wie die Geflügel-Backs hätte, schlimmer Ahnungen voll, den Kopf geschüttelt. Leider war die Backs in diesem Augenblick grade damit beschäftigt, den schon verspäteten Herrn von Studmann auf der Dorfstraße mit ihrem Protest aufzuhalten: ihr Wunsch sei es nicht gewesen, aus der Küche abgelöst zu werden. Sie schaffe auch das noch neben ihrem Geflügel, und sie hätte sich gerne das Geld dazuverdient, sie brauche Geld. Aber Herr Geheimrat habe ja gesagt ...

Also die Backs sah nichts, und im Park war um diese Stunde sonst auch keiner: auf dem Lande ist nur ab Dunkelwerden ein Park ein besuchterer Ort. So erreichte der Zug ungesehen, unbemerkt die Zaunlücke. Der Geheimrat trat zur Seite, und Attila stand vor dem Zaunloch ...

"Schöne Wicken, Attila, saftige Wicken, und mich jedenfalls kosten sie nischt", sprach der Geheimrat überredend. Attila legte den Kopf zur Seite und sah seinen Freund prüfend an. Er schien nahe Zärtlichkeiten ungewissem und fernem Futter vorziehen zu wollen. Rasch bückte sich der Geheimrat und fuhr mit dem Arm erklärend durch das Loch. "Sieh doch, Attila, hier kannste durch -!"

Der Ganter fuhr zu und faßte zärtlich, aber fest ein Haarbündel aus dem rötlich gelbgrauen Backenbart.

"Willst du mal, Attila!" sagte der Geheimrat böse und versuchte, sich aufzurichten. Es ging nicht, Attila hielt fest. Ein einundzwanzigpfündiger Ganter kann sehr festhalten, zumal mit seinem Schnabel, zumal Haare. Der Geheimrat stand ungeschickt tief gebückt, genau gesagt, war sein Kopf tiefer als das Ende seines Rückens. Dies ist eine Haltung, die auch jüngeren Männern auf die Dauer unbequem wird. Wie denn erst einem etwas zu vollblütigen Alten, der Anlage für Schlaganfälle hat. Leise und zärtlich schnatterte der Ganter, vermutlich durch die Nase, denn die Backenbarthaare ließ er darum nicht los.

"Attila!" flehte der Geheimrat.

Die weiblichen Gänse fingen an, seinen geneigten Leib und sein Hinterteil zu untersuchen.

"Dies ist unerträglich!" stöhnte der Geheimrat, dem schwarz vor Augen wurde. Mit einem Ruck richtete er sich auf. Taumelig und schwindlig stand er da. Die Backe brannte wie Feuer. Mit leisem Vorwurf schnatterte Attila, der Busch Barthaare klebte noch an seinem Schnabel.

"Verdammtes Vieh!" knurrte der Geheimrat und schob mit einem Ruck den Ganter durch das Zaunloch. Der Gänserich schnatterte lauten Protest, doch schon folgten ihm seine Frauen. Was ihn, der durch den Zaun nur den Freund sah, die Liebe nicht erblicken ließ, merkten seine Frauen sofort: die lang entbehrte Weite der Felder. Sie breiteten, aufgeregt und immer lauter schnatternd, ihre Flügel aus, wehten hinein in die hinter den Arbeiterhäusern sich erstreckenden Leutekartoffeln, eine weiße, aufgeregte, lärmende Wolke.

Attila sah seine Frauen weit voraus. Er wußte Weg und Atzung. Der Freund war vergessen - wie darf eine Gans einem Ganter vorausfliegen?! Er breitete die Flügel aus - flatternd und schnatternd eilte er den Seinen nach, überholte sie und setzte sich an ihre Spitze. Hinter den Arbeiterhäusern vorbei, den Feldern, den weiten, fruchttragenden Feldern zu ging ihr Eilmarsch. Denn sie eilten sich. Sie wußten, sie waren auf verbotenen Wegen. Sie wußten, kaum wurden sie gemerkt, eilten die verhaßten Menschen mit Stöcken und Peitschen herzu, sie auf das saure Gras des Parks zurückzujagen. Leiser waren sie darum nicht, aber eiliger ...

Einen Augenblick noch sah der Geheimrat den weißen Vögeln nach, sie wurden kleiner. Er rieb sich die Backe. Hoffentlich lohnt es die Barthaare, überlegte er. Aber jedenfalls wird es das beste sein, wenn ich die nächsten Stunden nicht erreichbar bin. Passiert den Gänsen was, steht Belinde auch allein ihren Mann.

Er ging rasch durch den Park, auf der andern Seite hinaus, über Feldraine dem Waldrand zu. Der Wind stand ihm entgegen. Darum hörte er die Schüsse nicht. Aufatmend tauchte er in den Schatten seiner Bäume.

Der junge Pagel ist nun mit seinen Maurern schon bei dem Querbalken des Kreuzes. Jetzt ist auch auf größere Entfernung nicht mehr zu verkennen, was dies werden soll. Darum wird auch nicht mehr gelacht, darum werden die Köpfe nicht mehr zusammengesteckt, darum wird nicht mehr zu den Schloßfenstern hinübergeschielt.

"Die sitzen doch da und linsen", sagt der Maurer Tiede. "Und wenn wir hinschielen, ist's ganz verkehrt". Also wird nicht hingeschielt, sondern rein sachlich gearbeitet.

Aber so ist es auch verkehrt, die alte Gnädige fliegt am ganzen Leib ob der ihr angetanen Kränkung. Mädchen und Mamsell laufen wie die Hühner im Schloß umher und suchen umschichtig den Diener Elias und den Herrn Geheimrat ...

"Aber wenn man die Männer braucht, sind sie sicher nie da!" krächzt

Jutta von Kuckhoff.

"Mit dem Heiligsten treiben sie heute ihren Spott", stöhnt die alte Frau. "Aber merke es dir, Jutta, dieser junge Mensch wird auch im Zuchthaus enden."

"Was eine Schweinsborste werden will, ist in der Jugend keine Flaumfeder", bestätigt die Kuckhoff und gießt ihrer Freundin ein Glas Portwein ein.

Zwei Flintenschüsse klingen aus der Ferne herüber. Aber in dem allgemeinen Trubel achtet niemand auf sie. -

Herr von Studmann hat die Schüsse näher gehört, ganz nahe. Er hat sich von der Amanda schließlich frei gemacht, er hat ihr versprochen, noch einmal mit dem Geheimrat zu reden. Nun geht er langsam, um nicht wieder in Schweiß zu geraten, durch die sommerliche Nachmittagshitze der Villa zu.

Er fährt zusammen, als er in nächster Nähe die Schüsse knallen hört. Was für ein Idiot schießt hier direkt bei den Häusern! denkt er in plötzlichem Zorn.

Die schnatternd und spektakelnd über den Weg flüchtenden Gänse bringt er zuerst nicht mit den Schüssen in Verbindung. Dann sieht er eine Nachzüglerin, wehmütig klagend, mit hängendem, wohl gebrochenem Flügel. Dann sieht er drei, vier, fünf weiße Flecke auf dem grünen Feld. Einer dieser Flecke bewegt noch krampfhaft Füße und Kopf - und wird still.

Aber das sind doch zahme Gänse, keine Wildgänse! denkt Studmann verwundert, der noch lange nicht alle Neuloher Zusammenhänge kennt.

Jetzt erblickt er den Rittmeister in einem Parterrefenster der Villa, die Flinte in der Hand. Der Rittmeister ist schneeweiß im Gesicht, er zittert am ganzen Leibe vor Aufregung. Er sieht den Freund starr an, als erkenne er ihn nicht. Dann schreit er viel zu laut: "Bestelle meinem Schwiegervater einen Gruß - und da hätt er Gänsebraten von mir!"

Der Rittmeister schreit's, sieht Studmann noch einmal starr an, mit zitternden Lippen, und ehe Studmann noch antworten kann, hat er das Fenster zugeworfen.

Unglück, Unheil, Mißgeschick! fühlt Studmann, ohne noch alles zu verstehen.

Er rennt die paar Stufen zum Eingang hinauf, er vergißt das Klingeln, aber das macht nichts, die Tür ist offen. Auf der kleinen Diele stehen Frau von Prackwitz, Violet von Prackwitz, der alte Diener Elias ...

Ach, wenn Unglück einen Mann befallen soll, kommt es unaufhaltsam;

kein Kindermädchen Studmann, keine geduldige Frau Eva können es aufhalten! Wäre die gnädige Frau am Kaffeetisch sitzen geblieben, sie hätte durch das offene Fenster das schnatternde Herannahen der feindlichen, der gefürchteten Gänse gehört. Sie hätte die jähzornigen schlimmen Schüsse verhindern können ... Aber da brachte der Diener Elias die Botschaft, das gnädige Fräulein möge zur gnädigen Frau auf das Schloß kommen - man durfte den Rittmeister nicht reizen, und man mußte vertraulich mit Elias sprechen ... Man trat auf die Diele hinaus - keine zwei Minuten vergingen, und es fielen die verhängnisvollen Schüsse!

Weinend eilt die gnädige Frau auf Herrn von Studmann zu. Der große Kummer hat alle Schranken zerbrochen, sie faßt seine Hände, verzweifelt sagt sie: "Ach, Studmann, Studmann, nun ist alles entzwei - nun hat er geschossen!"

"Die Gänse?" fragt Herr von Studmann und sieht die ernsten, bestürzten Gesichter reihum an.

"Mamas Zuchtgänse! Papas Lieblingsganter Attila! Eben ist er gestorben ..."

"Aber es sind doch nur Gänse! Es wird sich einrenken lassen ... Schadenersatz ..."

"Das verzeihen ihm meine Eltern nie!" weint sie. Und zornig: "Und es war auch häßlich von ihm! Es war ihm gar nicht um das bißchen Wicken! Er wollte meine Eltern verletzen ..."

Oberleutnant von Studmann sieht sich fragend um, aber die ernsten Gesichter des alten Dieners, des jungen Mädchens sagen ihm: hier ist mehr zerschossen als eine Gänsebrust!

Die Treppe aus dem Kellergeschoß kommt sachte auf Gummisohlen der Diener Hubert Räder herauf. Er stellt sich neben die Treppe, in achtsamer Haltung; sein graues, faltiges Gesicht sieht teilnahmslos, doch dienstbereit aus. Keinen Blick wirft er auf die weinende Frau oder aus dem Fenster auf die Opfer des Mordes. Aber er ist da; falls er gebraucht werden sollte, ist er bereit und da.

"Was soll ich nur tun?! Oh, was soll ich nur tun?!" weint Frau von Prackwitz. "Was ich auch tue, ihnen ist es nicht recht, und ihm ist es auch nicht recht ..."

Aus seiner Stube fährt wie der Teufel aus der Springschachtel der Rittmeister. Nun ist sein Gesicht nicht mehr weiß, sondern rotfleckig, wodurch der Übergang aus wortlosem Grimm zu schimpfseligem Zorn deutlich wird.

"Habe dich bloß nicht so!" schreit er seine Frau an. "Wegen ein paar lächerlicher Gänse plärrst du vor der ganzen Dienerschaft. Ich ..."

"Ich bitte dich dringend", ruft Studmann erzürnt, "deine Frau nicht anzuschreien!" Als Lehrer gibt er einen Lehrsatz hintennach: "Man schreit seine Frau nicht an."

"Das ist ja reizend!" sagt der Rittmeister empört und sieht sich protestierend in der Runde um. "Habe ich nicht hundertmal darum gebeten, gefleht, protestiert: macht euern Zaun dicht, haltet die Gänse in Verwahrung, laßt sie nicht auf meine Wicken! Habe ich nicht dreihundertmal gewarnt: es passiert was, wenn ich sie noch mal in den Wicken sehe?! Und wo nun etwas passiert ist, weint meine Frau, als ginge die Welt unter, und mein Freund schreit mich an! Es ist wirklich ganz reizend!"

Und der Rittmeister warf sich empört in einen Dielensessel, daß es krachte. Mit langen zitternden Fingern zog er an den Bügelfalten seiner Hose herum.

"Ach, Achim!" klagte seine Frau. "Du hast uns die Pachtung zerschossen! Das verzeiht dir Papa nie!"

Gleich fuhr der Rittmeister wieder heraus aus seinem Sessel. Er hatte eine Erleuchtung: "Glaubst du etwa, daß die Gänse zufällig in die Wicken gegangen sind, nach alldem, was heute geschehen ist -?! Nein, die sind dort hingebracht worden. Man hat mich reizen und herausfordern wollen. Gut - habe ich also geschossen!"

"Aber, Achim, das kannst du doch nie beweisen!"

"Wenn ich im Recht bin, brauche ich das nicht zu beweisen ..."

"Der Schwächere hat immer unrecht "..., fing Studmann weise an ...

"Das wollen wir einmal sehen, ob ich der Schwächere bin!" schrie der Rittmeister, durch den weisen Satz frisch erzürnt. "Ich lasse mich nicht verhöhnen! Elias, gehen Sie sofort in die Wicken, nehmen Sie die toten Gänse, bringen Sie sie meiner Schwiegermutter, bestellen Sie ihr von mir ..."

"Herr Rittmeister", sagte der alte Diener, "ich war hier mit einem Auftrag meiner gnädigen Frau. Halten zu Gnaden, Herr Rittmeister, ich bin im Schloß beschäftigt ..."

"Sie werden tun, was ich sage, Elias!" sprach der Rittmeister mit starker Stimme. "Sie nehmen die toten Gänse und sagen meiner Schwiegermutter ..."

"Ich werde es nicht tun, Herr Rittmeister. Ich könnte es auch gar nicht, wenn ich es selbst wollte. Fünf oder sechs Gänse sind zuviel für mich

alten Mann. Der Attel wiegt allein einen viertel Zentner."

"Der Hubert soll Ihnen halfen! Hubert, Sie nehmen also die toten Gänse ..."

"Guten Tag, gnädige Frau. Guten Tag, Herr Rittmeister". Der Diener Elias ging.

"Trottel! ... und bestellen meiner Schwiegermutter einen schönen Gruß von mir, aber wer nicht hören will, muß fühlen."

"Einen schönen Gruß vom Herrn Rittmeister, aber wer nicht hören will, muß fühlen", wiederholte der Diener Räder, die fischigen Augen ausdruckslos auf seinen Herrn geheftet.

"Richtig!" sprach der Rittmeister sanfter. "Nehmen Sie sich meinethalben eine Karre, holen Sie sich einen Mann vom Hof zur Hilfe ..."

"Jawohl, Herr Rittmeister". Hubert ging zur Tür.

"Hubert!"

Der Diener blieb stehen. Er heftete den Blick auf seine Herrin: "Bitte, gnädige Frau?"

"Sie werden nicht gehen, Hubert. Ich werde selbst gehen. Bitte, Herr von Studmann, begleiten Sie mich ... Es gibt eine schreckliche Auseinandersetzung, aber wir wollen retten, was zu retten ist."

"Selbstverständlich, gnädige Frau", sagte Herr von Studmann.

"Und ich?!" schrie der Rittmeister. "Und ich -?! Ich werde überhaupt nicht mehr gebraucht?! Ich bin gänzlich überflüssig?! - Hubert, Sie gehen auf der Stelle mit den Gänsen los, oder Sie sind entlassen."

"Jawohl, Herr Rittmeister!" sagte der Diener Hubert gehorsam, sah aber seine Herrin an.

"Gehen Sie jetzt, Hubert, oder ich schmeiße Sie raus!" schrie der Rittmeister in einem letzten Anfall von Wut.

"Tun Sie, wie der Herr Rittmeister sagt, Hubert", sagte die gnädige Frau. "Kommen Sie, Herr von Studmann, wir müssen möglichst noch vor Elias bei meinen Eltern sein."

Auch sie ging eilig. Herr von Studmann warf einen Blick auf die beiden Gestalten in der Diele, zuckte hilflos mit den Schultern und folgte Frau Eva von Prackwitz.

"Papa!" fragte Weio, die gespannt darauf gewartet hatte, daß ihre Mutter sie zum ersten Male seit zwei Wochen vergessen würde. "Darf ich ein bißchen raus und baden gehen?"

"Na, Weio -!" sagte der Rittmeister. "Die beiden haben sich aber

wichtig, was? Wegen ein paar Gänsen! Ich will dir sagen, wie es kommt. Die reden einen halben Tag und die halbe Nacht, und dann bleibt alles so, wie es ist."

"Ja, Papa", sagte Weio. "Und darf ich baden gehen?"

"Du weißt, daß du Stubenarrest hast, Weio", erklärte der konsequente Vater. "Ich kann dir nicht erlauben, was deine Mutter verboten hat. Aber meinethalben komm mit, ich gehe ein bißchen in den Wald."

"Jawohl, Papa", sagte die Tochter und ärgerte sich maßlos, daß sie gefragt hatte. Denn der Vater hätte sie bestimmt auch vergessen.

8

Was die Verhandlungen im Schloß so sehr erschwerte, das waren die ermordeten Gänse. Nicht die Tatsache, daß sie standrechtlich wegen Felddiebstahls erschossen worden waren - diese Nachricht hatte der alte Elias natürlich ganz ungewöhnlich, ganz unwürdig eilend noch vor der gnädigen Frau in das Schloß getragen - die war also bekannt. Nein, die Leichname der Ermordeten selbst, ihre entflohenen Seelen, ihre Gespenster geisterten immer von neuem durch die tränenreichen Verhandlungen.

Da saßen sie oben zu viert in dem Zimmer der gnädigen Frau, das so angenehm sommerlich grün verhangen war von hohen Lindenkronen. Das helle Klingling der Maurerhämmer war verhallt, die Tür war zugemauert und das Kreuz nach einer von Herrn Studmann im Vorübergehen hastig geflüsterten Weisung rot übermalt worden. Der alte Geheimrat trieb sich noch immer in seinen Kiefernkuscheln herum und wußte gottlob von nichts, so daß man Zeit hatte, die alte gnädige Frau zu beruhigen und versöhnlich zu stimmen ...

Und Frau von Teschow saß jetzt auch schon gefaßter in ihrem großen Armsessel und führte nur noch selten ihr Tüchlein an die alten, so leicht und mühelos weinenden Augen. Das Fräulein Jutta von Kuckhoff sprach ab und an ein gesalzenes oder ungesalzenes Sprichwort, lieber aber ein gesalzenes. Der Herr von Studmann saß mit einem sehr geziemenden, verbindlichen und ein wenig betrübten Gesicht dabei und warf dann und wann ein kluges Wort ein, sanft wie Wundbalsam ...

Und Frau Eva von Prackwitz hockte vor ihrer Mutter, zu ihren Füßen, auf einer Art Schemelchen, und hatte schon so durch die Wahl ihres Sitzplatzes klug angedeutet, wie völlig sie sich ihrer Mutter unterordnete. Sie bewies, daß sie das Hauptstück aus jedem Ehekatechismus in- und auswendig wußte, daß es meistens nämlich die Ehefrauen sind, die für

die Sünden, Laster und Dummheiten ihrer Ehemänner zu büßen haben. Nicht einen Augenblick vergaß sie den Satz, den sie Herrn von Studmann beim Fortgehen aus der Villa gesagt hatte, daß sie nämlich retten wollte, was noch zu retten war. Und ohne Wimperzucken ließ sie sich von ihrer Mutter nicht nur Dinge sagen, die einer Frau nicht soviel ausmachen, wie nämlich über den Gänsemord, das Backsteinkreuz, die Zuchthäusler oder den Rittmeister. Sondern auch Dinge, die eine Frau nicht einmal von ihrer Mutter ertragen mag: also über die Erziehung der Violet, ihren Verbrauch an seidener Unterwäsche, ihre verschwenderische Neigung für Hummer("Aber, Mama, es sind ja bloß japanische Taschenkrebse!"), über ihren Lippenstift, über ihre Neigung zum Starkwerden und ihre viel zu tiefen Blusenausschnitte ...

"Gewiß, Mama, ich werde mehr darauf achten. Du hast sicher recht", sagte Frau von Prackwitz gehorsam.

Sie war eine Heldin, Herr von Studmann gab es sich unumwunden zu. Sie zuckte nicht, und sie zögerte nicht. Sicher fand sie des Siegers Joch nicht leicht, aber davon ließ sie sich nichts anmerken. Doch für wen, fragte sich der aufmerksam dabeisitzende Herr von Studmann, für wen ertrug sie diese bitteren Demütigungen? Für einen Mann, der es nie verstehen würde, der heute abend, wenn alles glücklich wieder eingerenkt wäre, triumphierend behaupten würde: "Na also, habe ich es dir nicht gleich gesagt!? Geplärr wegen gar nichts! Das wußte ich doch, aber du mußt dich immer anstellen und kannst nie auf mich hören."

Es war erschrecklich, wie rasch eine lange Kameradschaft aus Friedens- und Kriegsjahren sich in diesen Zeiten, unter diesen Verhältnissen auflöste! Herr von Prackwitz war sicher nie ein besonders glänzender, ein sehr befähigter Offizier gewesen. Das hatte Herr von Studmann auch nie geglaubt. Aber er war ein zuverlässiger Kamerad gewesen, ein mutiger Mann und ein angenehmer Gesellschafter. Und was war davon geblieben -? Er war nicht zuverlässig - er schickte seine Beamten gegen Felddiebe aus, aber wenn die Diebe gefaßt waren, drückte er sich in ein Gebüsch. Er war nicht mehr Kamerad - er war nur noch Vorgesetzter, und ein ungerecht nörgelnder Vorgesetzter dazu. Er war nicht mehr mutig, lieber ließ er seine Frau allein zu einer unangenehmen Auseinandersetzung gehen. Er war keine angenehme Gesellschaft mehr - er sprach nur noch von sich, von den Kränkungen, die er erlitt, von den Sorgen, die er hatte, von dem Geld, das ihm knapp war.

Und während Herr von Studmann bei sich diese Betrachtungen anstellte, während er sich zugab, daß alle diese schlimmen

Eigenschaften des Rittmeisters von Prackwitz in der Wurzel schon früher bei ihm vorhanden gewesen waren, daß die Ungunst der Zeiten sie nur so üppig in den Halm hatte schießen lassen - während alldem hatte Herr von Studmann ein anderes Bild vor Augen. Da saß diese Frau des Rittmeisters, und wo der Mann feige war, war sie mutig. Wo er nur an sich dachte, blieb sie Kamerad. Oben saß die alte Frau, ein dürrer, trockener kleiner Vogel mit einem spitzen Schnabel, mit dem sie hacken konnte, und unten saß die junge blühende Frau. Ja, sie war noch jung, sie blühte, das Land wollte ihr wohl, sie war reif wie goldfarbener Weizen, ein Reiz lag über ihr - sie war reif! Als die alte Frau von den tiefen Blusenausschnitten gesprochen hatte, war es dem Oberleutnant doch geschehen, daß er einen raschen Blick auf die sanft atmende Bastseide geworfen und den Blick gesenkt hatte, wie ein erwischter Unterprimaner -!

Oh, Herr von Studmann sah nur Vorzüge an dieser Frau - je verzerrter, je fehlerhafter er des Rittmeisters ehemals freundschaftliche Figur sah, um so fehlerloser sah er die Frau. Theoretisch gab er zu, daß sie eine Frau, ein Mensch war, und also fehlerhaft wie alles Menschliche - ja, sie mußte auch ihre Schattenseiten haben. Aber er hätte seinen ganzen Kopf durchsuchen können, er hätte nichts an ihr auszusetzen gefunden -! Für ihn war sie fehlerlos geworden, ein Bote des Himmels - aber an wen? An einen Narren! An einen Wirrkopf!

Wie sie alles nicht nur schweigend ertrug, nein, noch dazu lächelte, noch darauf antwortete, versuchte, aus der Bußpredigt der Mutter einen Dialog zu machen, ein Gespräch, den alten Haufen Gift aufzumuntern! Ach, sie tut es ja gar nicht für ihren Mann, dachte Herr von Studmann plötzlich. Sie tut es nur für ihr Kind! Über ihren Mann kann sie gar nicht anders als ich denken, sie hat ja eben erst auf der Diele gesehen, wie er ist! Mit ihrem Mann kann sie überhaupt nichts mehr verbinden. Es ist nur noch die Tochter, Violet ... Und natürlich möchte sie sich das Gut erhalten, auf dem sie groß geworden ist ...

Von der Verurteilung des Freundes bis zu seinem Verrat war nur ein Schritt. Aber es muß Herrn von Studmann zugute gehalten werden, daß er nicht klar über diese Dinge nachdachte. Der Lehrer wäre über den Abgrund im eigenen Herzen erschrocken. Herr von Studmann dachte nicht, er sah nur. Er sah diese blühende Frau, ein wenig tiefer sitzend als er, wie das Haar über dem Nacken hochgebunden war, wie der Nacken sich straffte, sich beugte. Die schönen, weißen Schultern, die unter der Bastseide der Bluse verschwanden. Sie bewegte einen Fuß, und die Fessel im Seidenstrumpf war schön. Sie hob die Hand, leise klimperten die Armbänder, und der Arm war voll und makellos weiß - es war die Eva,

die alte ewig junge Eva.

Sie hatte seine Fähigkeit, nachzudenken, zu zergliedern, sich Rechenschaft abzulegen, gelähmt. Herr von Studmann war über fünfunddreißig Jahre alt, er hatte nicht mehr geglaubt, daß er dieses noch einmal erleben würde, in solcher Frische, mit solcher Gewalt. Ja, er wußte noch nicht einmal, daß er dies erlebte. Er saß untadelig dabei, sein Auge verriet nichts, sein Wort blieb bedacht und maßvoll - aber es saß in ihm!

Wenn nur diese verfluchten Gänseleichen nicht gewesen wären! Immer von neuem geistern die Gespenster der Erschlagenen in die sich langsam beruhigende Unterhaltung hinein, machen die Tränen der alten Frau neu fließen! Immer von neuem klopfen der Diener Elias, die Mamsell, die Geflügel-Backs an: der Diener von der Villa sei da mit den toten Gänsen - wohin sie damit sollten? Immer von neuem macht Hubert Räder einen Ansturm aufs Schloß, sooft er auch zurückgewiesen wird. Immer an einer andern Stelle macht der undurchschaubare Intrigant aus der Bedientenstube einen weiteren Versuch, die Leichen zu übergeben - und trägt neuen Zündstoff herbei.

Auf einen flehenden Blick von Frau Eva entschließt sich Herr von Studmann. Er verläßt das Zimmer seiner Bezauberung, und über die Schwelle geschritten, aus der Sicht der Frau, ist er wieder der kühle, überlegte Geschäftsmann, mit allen Dienstbotenschlichen aus mehrjähriger Hotelpraxis vertraut.

Er findet das Souterrain des Schlosses in einer Art Verteidigungszustand. Nachdem der Diener Räder bereits bei jedem der dort Beschäftigten vergeblich versucht hat, die Ermordeten abzugeben, unternimmt er es anscheinend, sich ihrer heimlich zu entledigen, sie auf Fensterbrettern, vor Kellertüren niederzulegen. Nur vereitelt die Wachsamkeit der Einwohner jeden derartigen Versuch. Aber hartnäckig wie ein Maulesel, völlig unbegreiflich umrundet Hubert Räder, gefolgt von einem Tagelöhner, der die Karre mit den Opfern schiebt, von neuem das Schloß, grau, fischig, kalt späht er nach einem offenen Fenster, erwägt die Möglichkeit des Hühnerstalles ...

Diesem Unfug macht Herr von Studmann ein Ende. Er schickt die Schloßbediensteten an ihre Arbeit und kauft sich den Knaben Räder. Aber Herr Räder ist unbegreiflich kühl und abweisend. Er scheint Herrn von Studmann nicht für voll anzusehen. Er habe von Herrn Rittmeister den strikten Auftrag, die Gänse hier im Schloß abzugeben - bei Verlust seiner Stellung! Und auch die gnädige Frau habe diesen Auftrag bestätigt.

Umsonst versichert Herr von Studmann, daß er eben von der gnädigen Frau mit dem Befehl komme, sofort mit den Gänsen zu verschwinden. Hubert Räder ist nicht geneigt, dies als eine Löschung des rittmeisterlichen Auftrages anzusehen. Wo er übrigens mit den Gänsen hin solle? In die Villa? Herr Rittmeister würde ihn auf der Stelle hinausfeuern.

Herr von Studmann müßte eigentlich den Diener Räder für einen sehr getreuen Diener ansehen, er findet ihn aber nur ekelhaft widerborstig. Herr von Studmann möchte wieder hinauf in das große grün-goldene Zimmer. Er muß wissen, was dort verhandelt wird - und hier steht er nun schon fünf Minuten und redet auf diesen Esel ein!

Schließlich befiehlt er Abmarsch bis zum Beamtenhaus; der Tagelöhner folgt, mit der Karre quietschend. Aus dem Souterrain des Schlosses starren alle Gesichter der Prozession nach, protestierend folgt der Diener Räder - Herr von Studmann fühlt, daß er eine etwas lächerliche Figur ist.

Auf dem Büro ergreift Studmann das Telefon. "Ich werde jetzt mit Herrn Rittmeister sprechen", sagt er milder. "Sie sollen keine Angst um Ihre Stellung haben müssen!"

Er dreht an der Kurbel. Kühl bis ans Herz hinan steht der Diener Räder dabei. In der Villa meldet sich niemand. Herr von Studmann dreht die Kurbel des Telefons eifriger, er kann nicht umhin, wütende Blicke auf den Diener Räder zu werfen. Aber an den sind sie verloren, der Diener Räder beobachtet das Spiel der Fliegen um den geleimten Fliegenfänger. Als sich schließlich doch jemand in der Villa meldet, ist es die Köchin Armgard, die mitteilt, daß der Rittmeister mit dem gnädigen Fräulein aufs Feld gegangen sei. Der Diener Räder sieht aus, als habe er dies Ergebnis erwartet.

"Also bringen Sie die Gänse in die Villa, Herr Räder", sagt Herr von Studmann milde. "Sie können sie irgendwo in den Keller legen. Ich regle die Sache mit Herrn Rittmeister - Sie brauchen keine Angst zu haben!"

"Ich soll die Gänse im Schloß abgeben, sonst fliege ich", erklärt Hubert Räder unbeugsam.

"Also lassen Sie die Gänse meinethalben hier im Büro!" ruft Herr von Studmann ärgerlich. "Weg müssen die Biester, und sollte ich sie noch einmal umbringen müssen!"

"Verzeihung", widerspricht der Diener Räder höflich, "aber ich soll die Gänse im Schloß abgeben."

"Zum Donnerwetter!" ruft Herr von Studmann ärgerlich ob solcher Widerborstigkeit.

"Zum Donnerwetter!" brüllt vor der Bürotür eine gewaltigere, schimpfgeübtere Stimme los. "Was ist hier mit meinen Gänsen?! Was ist mit meinen Gänsen auf deiner Schubkarre?! Wer hat mir meine Gänse umgebracht!?"

Herr von Studmann läßt den Diener stehen, wo er steht, und ist mit drei Sätzen aus dem Büro. Draußen steht der alte Geheimrat von Teschow, scharlachrot vor Wut. Er brüllt wie ein angeschossener Löwe, er schwingt seinen Knüppel, er bedroht den Gutsmaurer Tiede, der mit machtlos verhallenden Sprüchen ausweicht.

"Ich bitte, Herr Geheimrat", sagt Herr von Studmann mit all jener mühsam erlernten Ruhe, die ihn auch der hysterischsten Hotelbesucherin gegenüber nicht verlassen hatte. "Der Mann hat mit den Gänsen gar nichts zu tun. Ich werde ..."

"Haben Sie meine Gänse totgeschlagen! Meinen Attila?! Ich werde Sie lehren, mein Söhnchen! Auf der Stelle machen Sie, daß Sie von meinem Hof herunterkommen! - Lassen Sie meinen Stock los, Herr -!"

Der Stock war in gefährlicher Nähe von Studmanns Gesicht gewesen. Herr von Studmann aber war nicht zurückgewichen, mit raschem Griff hatte er den Stock gefaßt und hielt ihn eisern fest.

"Ich bitte, Herr Geheimrat", bat er, während der andere, nun schon blau werdend, an dem Stock zerrte, "hier vor den Leuten -!"

"Die Leute sind mir scheißegal!" röchelte der Alte. "Haben Sie sich vor den Leuten geniert, mir meine Gänse totzuschlagen?! Aber ich sage Ihnen, nicht eine Stunde mehr dulde ich Sie auf diesem Hof -! Kommt aus Berlin, denkt, er ist wer weiß wie klug, schwatzt wie 'n Linksanwalt ..."

Ach, der alte Geheimrat! Er war ja so froh, daß er diesem Studmann die mehrfach erlittenen Niederlagen heimzahlen konnte! Daß er ihn im Feuer eines halb gespielten Zornes beschimpfen durfte! Er war ja viel zu schlau, wirklich zu glauben, Herr von Studmann hätte seine Gänse erschlagen. Aber er konnte doch so tun, als glaubte er es, um volle Schimpffreiheit zu haben -!

Herr von Studmann aber, der lange nicht alle Zusammenhänge dieses Gänsemassakers kannte, hielt dem alten Herrn wohl einen gewaltigen Zorn zugute, fühlte dabei aber, daß nicht alles an diesem Zorn echt war. Er ließ plötzlich den Stock los und sagte mit aller Bestimmtheit, was der alte Herr ja doch erfahren mußte: "Sie irren sich, Herr Geheimrat. Ihr Schwiegersohn hat auf die Gänse geschossen. Es sollte nur ein Schreckschuß sein, leider aber ..."

"Sie lügen!" schrie der alte Herr noch zorniger. "Das lügen Sie in Ihren Hals hinein -!"

"Ich nehme jedenfalls an, es sollte ein Schreckschuß sein "..., sagte Herr von Studmann, blaß werdend.

"Mein Schwiegersohn -?! Sie lügen ja! Ich bin eben mit meinem Schwiegersohn eine halbe Stunde in der Forst zusammen gewesen, und mein Schwiegersohn hat mir kein Wort von den Gänsen gesagt! Wollen Sie behaupten, mein Schwiegersohn lügt, mein Schwiegersohn ist feige -! Nein, Sie lügen, Sie sind feige -!"

Herr von Studmann, schneeweiß im Gesicht, hatte wirklich die allergrößte Lust, hier auf der Stelle kehrtzumachen, seine Koffer zu packen und in geruhigere Gefilde abzureisen - etwa nach Berlin. Oder dem alten Herrn so gefährlich auf die Zehen zu treten, daß er auf der Stelle umkippte. Da stand der Maurer Tiede und war mit offenem Mund und kreisförmigen Naslöchern das Lauschen in Person; auf dem Büro der Diener Räder war nicht sichtbar, hörte aber bestimmt alles. Und ganz dicht, gleich hinter den nächsten Büschen, war das Schloß, und fraglos war auch dies gut mit Ohren gefüllt. Der tobende Greis wurde immer beleidigender, aber Herr von Studmann hatte das untrügliche Gefühl, daß dieser Greis nur tobte, um beleidigen zu können, daß er die Wahrheit kannte.

Wirklich, Herr von Studmann hatte alle Neigung, seine Fähigkeiten einem fruchtbareren Acker zuzuwenden - trug er doch sogar einen Brief mit einem derartigen Angebot seit zwei Tagen in der Tasche! Und die Nachricht, daß der Rittmeister seinem Schwiegervater nichts von dieser neuesten Heldentat berichtet hatte, trug nicht dazu bei, seine Neigung zum Weggang zu verringern!(Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß der alte Herr in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hatte: er hatte den Schwiegersohn wirklich im Wald getroffen, und der Rittmeister hatte kein Wort gesagt.)

Wenn also Herr von Studmann doch nicht zum Kofferpacken auf sein Zimmer im Beamtenhaus ging, wenn er statt dessen kurzerhand von den toten Gänsen und dem tobenden Greis fort auf das Schloß zuging, so bestimmte ihn dazu nicht die Freundestreue, auch nicht die Erinnerung an die schöne, hilflose Frau dort oben. Auch nicht Pflichtgefühl. Sondern allein die jedem rechten Mann angeborene Widerbockigkeit: er fühlte, der Alte wollte ihn weggraulen, für immer und ewig. Darum blieb er. Er ging, wenn es ihm paßte, nicht, wann der wollte. Nun grade nicht!(Spricht jeder Mann.)

"Herr!" schrie der alte Geheimrat, "was wollen Sie da? Was wollen Sie

in meinem Park? Ich verbiete Ihnen meinen Park ...!"

Herr von Studmann ging wortlos weiter. Jetzt war Herr von Teschow im Nachteil. Sollten seine Bannflüche den Verbrecher erreichen, mußte er ihm nacheilen. Im Laufen schimpft es sich für einen an sich schon kurzatmigen Mann schlecht. Zwischen den einzelnen Atemstößen schrie der Geheimrat: "Ich verbiete Ihnen - meinen Park - Sie haben mein Haus nicht zu betreten! - Elias, du läßt ihn nicht rein! - Es ist Hausfriedensbruch! - Laß ihn nicht die Treppe rauf!"

Klapp! fiel oben die Tür zum Zimmer seiner Frau zu.

Seinem Elias winkend, flüsterte der alte Herr fast ganz normal: "Was will er denn da?"

"Die junge gnädige Frau ist oben", flüsterte Elias zurück.

"Hausfriedensbruch!" brüllte der Geheimrat noch einmal. Es war der Kanonenschuß, der den Rückzug decken sollte. "Schon lange?" flüsterte er gleich wieder.

"Über zwei Stunden."

"Und Frau von Teschow?"

"Gott, gnädiger Herr, sie weinen ja wohl alle beide ..."

"Verdammt!" flüsterte der Alte.

"Papa!" rief es von oben sachte zu ihm hinunter, "willst du nicht zu uns heraufkommen?"

"Denke nicht daran!" schrie er. "Muß meinen Attila begraben! Gänsemörder, verdammte!"

Tripptrapptreppe! Ihre Schuhe kamen so rasch die Treppe hinab, als sei sie noch immer siebzehn, als lebe sie noch in seinem Haus, in jener fernen, glücklichen Zeit ...

"Papa!" sagte sie und faßte ihn unter den Arm. "Ich brauche doch deine Hilfe."

"Helfe keinen Mördern!" Und aufwallend: "Der Kerl soll raus aus dem Haus, ich tue keinen Schritt, solange der Kerl noch oben ist!"

"Also, Papa, komm!"

Schon setzte er den ersten Fuß auf die Treppe.

"Du weißt ganz genau, daß Herr von Studmann der anständigste und hilfsbereiteste Mann ist. Vor mir mußt du dich nicht verstellen!"

Es klang etwas anderes in diesen letzten Worten mit, ein fremder, trauriger Ton.

Der alte Herr sagte: "Man sollte nicht alt werden, Evachen". Und

wütend über die Schulter: "Elias, wenn Herr von Prackwitz, mein sogenannter Schwiegersohn, kommt, sagst du ihm, ich sei nicht für ihn zu sprechen! Er soll sich gefälligst eine andere Pachtung suchen - und das heute noch!" Leise zu seiner Tochter: "Evachen, du denkst, du kannst mit mir machen, was du willst. Aber nur, wenn der Herr Schwiegersohn aus Neulohe wegkommt, verstanden -?!"

"Wir werden alles in Ruhe bereden, Papa", sagte Frau Eva.

"Jawohl, bereden möchtste mich, Evchen", knurrte der Alte und drückte ihren Arm.

9

Also: der Geheimrat von Teschow hatte in diesem Punkt wirklich die Wahrheit gesagt: Er hatte seinen Schwiegersohn in dem Forst getroffen, und wenn die beiden auch keine halbe Stunde miteinander geredet hatten, so hatten sie sich doch ganz freundlich "guten Tag" gesagt. Zwei Fünftel der dann folgenden Unterhaltung hatten dem Rehwild gegolten und drei Fünftel dem Mädchen Violet, das der Großvater so lange nicht gesehen hatte. So war keine Zeit für den Bericht des Gänsemassakers übriggeblieben - auch dieser Punkt der Teschowschen Behauptungen war richtig gewesen.

Wenn Herr von Studmann aber grade wegen dieses Verschweigens seinen ehemaligen Freund Prackwitz niedriger eingeschätzt und sogar bei sich Feigling gescholten hatte, so war er damit kaum im Recht. Feige war der Rittmeister nicht, aber launisch - das war er! Launisch wie ein Backfisch, der die Kinderschuhe auszieht, launisch wie eine junge Frau, die ihr erstes Kind erwartet, launisch wie eine Primadonna, die nie eins gehabt hat und nie eins kriegen wird, launisch also wie nur eine Frau war der Herr Rittmeister. Feige aber war er nicht!

Es wäre ihm gar nicht darauf angekommen, seinem Schwiegervater auf der Stelle alles von den Gänsen zu erzählen und mit ihm in den heftigsten Streit zu geraten, ohne jede Rücksichtnahme auf alle möglichen Folgen, wenn er in der Laune zu streiten gewesen wäre. Aber nachdem er am Vormittag und an einem guten Teil des Nachmittags seiner Streitlaune gefrönt hatte, war er nun in der Friedenslaune.

Der Rittmeister hatte sich tagsüber verausgabt, mit den beiden Schüssen war aus der Flinte auch sein Zornesmut hinausgeflogen. Der Rittmeister sah den schwitzenden, lodengekleideten Greis an, die Stirn des alten Mannes war mit Schweißtropfen bedeckt -.

Was du wissen mußt, wird dich noch heißer machen! dachte der

Rittmeister und sagte seinem Schwiegervater höflich zu, mit Eva darüber zu sprechen, ob der Stubenarrest insoweit gemildert werden könne, um Besuche Weios bei den Großeltern zu erlauben.

"Mächtig spack und blaß siehste aus, Weiochen", sagte der Großvater. "Na, komm, Kindting, gib deinem ollen Opa 'nen Kuß. - Na, nicht so stürmisch, erst will ich mich mal ein bißchen trockenlegen."

Und der Greis zog ein ungeheures Taschentuch aus der Hose, bunt mit den Insignien des heiligen Hubertus bedruckt.

Indigniert sah der Rittmeister hin und dann weg. Wenn er etwas empörend fand, so war es, daß dieser kommune Greis mit bedruckten Baumwolltaschentüchern einmal seine Tochter küssen durfte, zum andern ihn durch einen elenden Vertrag zwicken und zwacken konnte. Der Rittmeister sah in die Fichten, zwischen deren Zapfen in der Sonne Vögel ab und zu flatterten, und nach einer Weile fragte er trocken: "Wenn wir uns verabschieden dürften -?"

"Jewiß doch, Verehrtester!" krähte der Alte fröhlich, der sich über die Gefühle seines Schwiegersohnes nicht im geringsten unklar war, aus dessen "Feinheitsfimmel" er schon manches reine Vergnügen gesogen hatte. "Na, denn noch mal ran, Weiochen, an die großväterliche Brust!" Und er rief mit dem versoffenen Stimmklang eines Berliner Wursthändlers: "Warm sind se noch! Dick sind se ooch ..."

"Also bitte, Weio!" befahl der Rittmeister scharf.(Man konnte nicht fünf Minuten mit dem Alten zusammen sein, ohne sich über ihn zu ärgern!)

"Geh zu, Weiochen!" krähte der Alte. "Ich bin für deinen Vater wieder mal nicht fein genug! Komisch bloß, daß ihm mein Gut fein genug ist!"

Und nach diesem Kernschuß trabte der Alte ab, nicht ohne vergnügt in sich hineinzumeckern.

Schweigend ging der Rittmeister eine Weile neben seiner Tochter her - er ärgerte sich also doch wieder, und er wollte sich doch nicht ärgern - er vertrug Ärger nicht! Gewaltsam verbannte er jeden Gedanken an den Schwiegervater aus dem Kopf, dachte an einen Horchwagen, den er sich brennend gerne gekauft hätte, den er sich in diesem Herbst nach dem ersten Dreschen unbedingt hatte kaufen wollen - und auf den freilich der rechnende Studmann heute früh jede Aussicht zerstört hatte. Und warum - bloß weil dieses alte Ekel ihn mit einem betrügerischen Vertrage hereingelegt hatte!

"Dein Großvater muß mich doch auch immer ärgern, Violet!" beklagte er sich.

"Ach, Großpapa meint es doch nicht so, Papa!" tröstete ihn Weio. Und

aus ihren Gedanken heraus: "Du, Papa, was ich dich fragen wollte ..."

"Und ob er es so meint! Der meint noch viel mehr, als er sagt!" Der Rittmeister köpfte ärgerlich mit seinem Stock das Kraut am Wegrande. - "Na, was wolltest du denn fragen?"

"Die Irene hat mir doch geschrieben, Papa", log Violet kühn. "Denke dir, die Gustel Gallwitz will heiraten!"

"So?" fragte der Rittmeister uninteressiert, denn die Gallwitzens saßen im Pommerschen und waren mit den Prackwitzens weder verwandt noch verschwägert. "Wen denn?"

"Ach, ich weiß nicht. Irgend jemand - du kennst ihn doch nicht, einen Leutnant. Aber was ich fragen wollte, Papa ..."

"Von der Reichswehr?"

"Ich weiß nicht. Ja, ich glaube. Aber, Papa ..."

"Dann muß er was haben, oder die Gallwitzens geben ihr was mit ... Von den paar Kröten, die er als Leutnant bezieht, können sie sicher nicht existieren."

"Aber, Papa!" rief Weio verzweifelt, da sie ihren Vater ständig auf falscher Fährte sah. "Das meine ich doch gar nicht! Ich will doch was ganz anderes fragen! Die Gustel ist doch nicht älter als ich -!"

"Na - und?" fragte der Rittmeister verständnislos.

"Aber, Papa!" rief Weio.(Sie wußte sehr gut, daß sie mit ihrer Mutter dies Gespräch nicht hätte führen dürfen, die hätte gleich Lunte gerochen. Aber der gute Papa merkte ja nie etwas.) "Die Gustel ist doch erst fünfzehn! Darf man denn mit fünfzehn Jahren schon heiraten -?"

"Nee!" erklärte der Rittmeister mit Entschiedenheit. "Ganz ausgeschlossen! Das ist ja Verführung Min"... Er biß sich auf die Lippe. "Nein", sagte er. "Das ist nicht zulässig. Das steht sogar im Strafgesetzbuch."

"Was steht im Strafgesetzbuch, Papa -?" rief Weio erschrocken.

"Daß solche Kücken wie du noch nichts von solchen Sachen wissen dürfen!" bremste der Rittmeister mit etwas gespielter Munterkeit. Grade noch zur rechten Zeit war ihm eingefallen, daß Frau Eva sehr unzufrieden über dieses väterliche Gespräch mit Violet gewesen wäre, daß sie sogar den Verdacht hatte, Violet sei nicht mehr ganz so ahnungslos, wie ihre Eltern glaubten. Für alle Fälle setzte er darum mit finsterer Miene hinzu: "Und Kerls, die sich mit fünfzehnjährigen Mädels einlassen, sind Lumpen und kommen ins Gefängnis - das steht im Strafgesetzbuch."

"Aber der Mann braucht es doch nicht zu wissen, daß sie erst fünfzehn Jahre ist!" rief Violet aufgeregt.

Der Rittmeister blieb stehen und sah seine Tochter an. "Wer sich mit einem Mädchen einläßt und weiß nicht einmal, wie alt sie ist, der ist schon darum ein Lump. Solche Kerle verteidigt man nicht, Violet. Na, komm."

Sie gingen weiter. Der Rittmeister dachte schon wieder an seinen Schwiegervater und den Horchwagen - es mußte zu machen sein. Alle Bekannten hatten einen Wagen, er allein ...

"Aber, Papa", fing Violet vorsichtig neu an, "er will doch die Gustel heiraten! Es muß doch also gehen mit der Heirat, auch wenn sie erst fünfzehn ist ..."

"Na schön, wenn's geht, dann geht es - seine Sorge!" rief der Rittmeister ärgerlich. "Ich glaube, man kann da ein Gesuch machen beim Innenminister, was weiß ich! Ich würde es jedenfalls meiner Tochter nicht erlauben!"

"Ich will ja auch gar nicht, Papa!" lachte Weio. "Denkst du, ich will -? Gott, Papa, ich bin so froh, daß ich mit dir durch den Wald laufen kann. Alle andern Männer finde ich eklig, bloß dich nicht!"

Sie hing sich in seinen Arm und schmiegte sich an ihn, und er, er hätte nicht der Rittmeister Joachim von Prackwitz sein müssen, um ihr nicht auf den Leim zu gehen.

"Na, Weiochen, daß du noch keine Männer im Kopf hast, das habe ich der Mama schon zehnmal gesagt!" rief er vergnügt und drückte ihren Arm kräftig.

"Aua, Papa, du tust mir ja weh! - Aber weißt du, Papa, das mit der Gustel interessiert mich doch brennend. Wenn die Irene es schreibt, muß es doch stimmen. Erklär mir alles davon, Papa, alles über die Gesetze und was sie tun müssen ..."

"Na, was denn noch, Weiochen? Ihr Weiber seid doch alle gleich; wenn von Heiraten die Rede ist, werdet ihr neugierig wie die Ziegen."

"Pfui, Ziegen, Papa! Ich bin keine Ziege! - Aber wenn der Innenminister ja sagt, dann muß der Vater doch auch ja sagen?"

"Wieso denn?" fragte der Rittmeister, dem die Zusammenhänge dieser verdammten pommerschen Heirat immer unklarer wurden. "Der Vater muß doch erst den Innenminister um Heiratserlaubnis bitten!"

"Der Vater? Nicht die Gustel -?"

"Aber die ist doch erst fünfzehn, Kind, die ist doch noch nicht mündig!"

"Und wenn er nun ein Gesuch an den Innenminister macht, der Leutnant, meine ich!"

"Ohne die Erlaubnis vom alten Gallwitz kann die Gustel nie heiraten! Wundert mich überhaupt, daß er die gegeben hat!"

"Nie, Papa -?"

"Na, jedenfalls nicht vor ihrem einundzwanzigsten Jahr!"

"Warum denn nicht eher? Viele heiraten doch schon mit siebzehn und achtzehn, Papa!"

"Himmelherrgott, Weio, du machst mich ja rein verrückt! - Die haben eben die Erlaubnis von ihrem Vater!"

"Und ohne die ..."

"Und ohne die", schrie der Rittmeister, "heiratet überhaupt kein anständiges Mädchen, verstanden, Weio?!"

"Aber natürlich, Papa!" sagte Weio unschuldsblau. "Ich frage dich doch bloß, weil du alles weißt, und keiner kann mir alles so gut erklären wie du. Nicht einmal die Mama."

"Wahrhaftig, Weio", sagte der Rittmeister, aber schon halb besänftigt, "du fragst heute der Kuh das Kalb ab."

"Weil ich doch alles wegen der Gustel wissen möchte! Die Irene schreibt nämlich, der alte Gallwitz ist gar nicht so recht einverstanden, aber der Leutnant will durchaus und die Gustel auch - und sie wollen unter allen Umständen heiraten. Es muß doch also gehen, Papa!"

"Jawohl, Weio", sprach der Vater. "Wenn sie ein schlechtes, unfolgsames Mädchen ist, dann reißt sie mit ihm aus, und sie fahren nach England. Da ist ein Schmied, und der Schmied darf sie trauen, und dann sind sie verheiratet. Aber es ist eine Lumpenheirat - und kein solches Mädchen darf wieder in ihr Elternhaus, und der Leutnant muß seinen Rock ausziehen und darf nie wieder Offizier sein ..."

"Aber sie sind richtig verheiratet, Papa -?" fragte Weio süß.

"Jawohl, richtig verheiratet!" schrie der Rittmeister kirschrot. "Aber ohne ihrer Eltern Segen!"(Der Rittmeister ging nie in die Kirche.) "Und der Eltern Segen baut den Kindern ein Haus auf, aber des Vaters Fluch reißt es nieder, oder wie es in der Bibel heißt".(Seit seiner Konfirmationszeit hatte der Rittmeister nie wieder in die Bibel gesehen.) "Und ich verbiete dir, Weio, diesen beiden albernen Gänsen, die dich auf so dumme Gedanken bringen, je wieder zu schreiben! Und den Brief gibst du mir sofort heraus, wenn wir nach Haus kommen!"

"Jawohl, Papa!" sagte Weio gehorsam. "Den Brief habe ich aber schon

zerrissen."

"Das Schlaueste, was du tun konntest!" knurrte der ahnungslose Vater.

Und nun gingen die beiden schweigend weiter durch den Wald. Der Rittmeister, der sich nun doch wieder geärgert hatte, versuchte zuerst vergeblich, an seinen Horch zu denken. Es kam immer ein störender Gedanke dazwischen. Erst als er sich intensiver mit der Inneneinrichtung beschäftigte und an die ernste Frage herantrat, Polsterung oder Leder und welche Farbe - erst da gelang es ihm, wieder ruhig zu werden und behaglich einherzugehen durch den schönen sommerlichen Wald, an der Seite seiner gottlob nun endlich verstummten, manchmal doch recht weiblichen Tochter.

Und ebenso behaglich ging Violet neben ihrem Vater her, denn sie wußte nun endlich, was sie schon lange wissen wollte. Daß es eben doch eine Möglichkeit gab, ihren Leutnant zu heiraten. Und was der Vater sonst noch gesagt hatte, von dem Fluch der Eltern und dem Ausziehen der Uniform, das wog vor diesem neuen herrlichen Wissen federleicht. Wenn sie wirklich daran dachte, so dachte sie nur, daß sie ihren Vater noch immer herumgekriegt hatte, und warum denn nicht nach einer Heirat -?! Und ihr Fritz war so geschickt, der konnte eigentlich alles werden und brauchte kein Leutnant zu sein, und da sie als einziges Kind doch einmal alles hier erben würde, wie sie sehr wohl wußte, so konnte er ebensogut gleich hier wirtschaften und dem Papa helfen, statt immer auf einem Rad durchs Land zu fahren!

So ging es dem Mädchen in Kopf und Herzen durcheinander, aber sie merkte es gar nicht. Sondern die ganze Zukunft erschien ihr wie ein mit Maienreisern besteckter Spiegel, in dem sie nur ihr eigenes strahlendes Gesicht sah. Wenn aber heute schon zum zweiten Male das Wort Lump an ihr Ohr schlug, so kümmerte sie das auch nicht und machte sie kein bißchen nachdenklich. Sondern hier konnte man mit einem Wort aus Jutta von Kuckhoffs Sprichwörterschatz sagen, daß die Liebe auch einen Besenstiel grün macht: Da er aus Liebe zu ihr ein Lump geworden war, verzieh sie ihm stracks kraft ihrer Liebe sein Lumpentum. Ja, sie bewunderte ihn gar noch wegen seines Heldenmutes, daß er um ihretwillen weder Strafgesetzbuch noch Gefängnis gescheut hatte.

Aber all dies bewegte sich nur unscharf und ohne feste Gestalt in ihr, was sie wach träumend deutlicher sah, das war die heimliche Flucht zu Lande und zu Wasser in das ferne Reich England. Plötzlich freute sie sich, daß sie bei der Mama Englisch weiter getrieben hatte, denn nun konnte sie sich mit den Leuten drüben verständigen. Und sie freute sich, daß kein Krieg mehr war, denn sonst hätte sie sich ja nicht in England mit

ihm trauen lassen können!

Und nun kam gleich der trauende Schmied; daß es gerade ein Schmied war! Und sie sah die kleine Schmiede, ganz wie die Gutsschmiede hier in Neulohe, und vor der Tür waren unter einem kleinen Dach die Pferde angebunden, die beschlagen werden sollten. Und rechts von der Tür lehnten die großen Wagenräder, auf die Reifen zu binden waren, und gerade durch die Tür sah man das offene Schmiedefeuer, das unter dem fauchenden Blasebalg rot erglühte - und nun trat der Schmied aus der Tür, groß und dunkel, mit einem Lederschurzfell, und über dem Amboß wurden Violet von Prackwitz und der Leutnant Fritz getraut!

Ach, dieser unselige Schmied von Gretna Green - daß es auch gerade ein Schmied sein mußte! Wäre es ein Schornsteinfeger oder ein Schneidermeister gewesen, nie hätte er in den Köpfen von zwei Generationen soviel Unheil anrichten können, letzte Hoffnung aller verzweifelten blutjungen Liebenden!

Aber ein Schmied - in der bürokratischen Papierwelt erschien er allen denen, die ihre Papiere nicht zusammenkriegen konnten, wie ein Recke der Vorzeit, Eisen und Blut, Fleisch und Hammersang, der nach göttlichem Recht traute, nicht nach papiernem.

Er hat so viele Köpfe verdreht, dieser sportelnfette Ehemacher - warum sollte er nicht auch noch der Weio den Kopf verdrehen? Sie sah die Schmiede, und sie sah den Schmied, er konnte trauen, und er traute, und nun gab es keine Heimlichkeiten mehr und kein verzweifelndes Warten. Keinen Stubenarrest, keinen schamlosen Diener Räder und keinen frechen Herrn Pagel - es gab nur noch den Fritz, morgens, mittags, abends, tags wie nachts, alltags wie sonntags ...

Und diese Träume waren so schön, und sie verstrickten die Weio so sehr, und sie spann sich darin ein wie in ein warmes, beschützendes Netz, daß sie gar nicht mehr an Weg und Vater dachte, sondern ganz selbstvergessen, leise vor sich hin summend einherging. Bei der Tochter war es der Leutnant, bei dem Vater war es der Horchwagen, sie träumten alle beide, ihrem Lebensalter angemessen ...

Und so bekamen sie alle beide den gleichen Schreck, als ein Mann aus einem Busch heraustrat, ein Mann in einer ziemlich abgerissenen feldgrauen Montur, aber mit einem Stahlhelm auf dem Kopfe, einem Gewehr unter dem Arm, und am Gürtel nicht nur eine Pistolentasche, sondern auch ein halbes Dutzend Handgranaten.

Dieser Mann befahl sehr entschieden: "Stehenbleiben!"

Nach dem ärgerlichen Zusammentreffen mit dem Geheimrat hatte den

Rittmeister sein Wunsch nach Einsamkeit unversehens immer tiefer in die Forst geführt; längst hatten Vater und Tochter die halbwegs begangenen Schneisen verlassen, und auf einer Art Pirschpfad waren sie in einen verlassenen Waldteil geraten, der nur "Der Schwarze Grund" hieß. Hier, an den äußersten Grenzen des Teschowschen Waldreviers, sah es düster und verwildert aus. Selten nur kamen die Forstarbeiter hierher, um aufzuräumen und durchzulichten. Das sonst fast handflache Land warf hier Wellen und Buckel, zwischen denen dunkle Tälchen saßen, in deren Kesseln Quellen versickerten, grade kraftvoll genug, auch einen trockenen Sommer zu überdauern und einen Morast zu bilden, in dem das Schwarzwild sein fast unzugängliches Standlager hatte. Die Fichten und Tannen ragten hoch und dunkel, weithin bildeten die Brombeeren undurchdringliche Dickichte - nicht einmal für Wilderer war hier etwas zu holen, der Schwarze Grund war zu dicht.

Und mitten in dieser tiefen Waldesverlassenheit stand nun ein schwerbewaffneter Mann und sprach ganz ohne jeden Rechtsgrund zu dem Schwiegersohn des Besitzers: "Stehenbleiben!" Und sprach es auch noch unhöflich.

Violet von Prackwitz hatte im ersten Schreck einen kleinen Schrei ausgestoßen. Aber nun stand sie ruhig, doch tief atmend da - irgend etwas sagte ihr, daß dieser Soldat mit ihrem Leutnant zu tun haben müßte, daß sie ihn nach so langer Trennung vielleicht sogar zu sehen bekommen würde ...

Der Herr Rittmeister aber, der im ersten Schrecken bloß "Nanu!" gesagt hatte, war über dieses "Stehenbleiben" in der Forst, wo er eigentlich der Erste für solche Befehle gewesen wäre, gar nicht so ärgerlich, wie man denken sollte. Denn der Mann, der ihm diesen unhöflichen Rat gab, trug eine Uniform, und der Rittmeister trug keine Uniform. Und wenn der Rittmeister von der Richtigkeit eines Satzes durchdrungen war, so von dem, daß eine Uniform jedem Zivilisten befehlen kann. Diesen Satz hatte er mit der Muttermilch eingesogen, sein ganzes Offiziersleben hindurch wahr befunden - und so stand er denn auch sofort still, sah den Posten an und wartete, was nun geschehen würde.(Auch das wortlose Warten gehörte dazu. Echte Zivilisten hätten natürlich neugierig gefragt, ein altgedienter Mann hält die Schnauze und wartet.)

Und richtig, als der Mann sah, daß seine beiden Leute keine Miene zu Widerstand und Ausreißen machten, setzte er eine kleine Pfeife an seinen Mund und trillerte - nicht zu laut und nicht zu leise.

Dann setzte er seine Pfeife wieder ab und sagte ganz freundlich: "Der

Herr Leutnant wird gleich kommen."

Wäre der Rittmeister nicht so außerordentlich von diesen lang entbehrten militärischen Vorgängen gefesselt gewesen, so hätte ihm seine Tochter ein wenig wunderlich erscheinen müssen. Nun wurde sie rot, nun wurde sie blaß, nun faßte sie nach seinem Arm, nun ließ sie ihn wieder los, nun schluckte sie, jetzt lachte sie beinahe ...

Aber der Rittmeister achtete auf nichts Derartiges, er freute sich, wie sich nur ein verabschiedeter Offizier freuen kann, daß er nach all dem zivilen Ärger in eine militärische Übung hineingeraten war. Er sah den Posten wohlwollend an, und der Posten sah wieder die rot-blasse Weio wohlwollend an.

Nun rauschte es in den Büschen - nicht umsonst war getrillert worden, es klappte alles -, und hervor trat der Herr Leutnant, ein magerer Hecht mit einem trockenen Kopf und scharfen, kalten Augen, einige fliegende rötliche Haare am Kinn. Weio sah ihn mit immer größer, immer strahlender werdenden Augen an, denn es war ja nun wirklich und wahrhaftig und endlich der Leutnant, ihr Leutnant!

Aber der Leutnant sah Violet nicht an, er sah auch den Rittmeister nicht an, sondern er trat zu dem Posten.

Der Posten meldete: "Zwei Zivilisten, Herr Leutnant!"

Der Leutnant nickte, und als merke er erst jetzt die beiden, richtete er seinen scharfen, klaren Blick auf sie.

Schade, daß Fritz nicht auch einen Stahlhelm aufhat! Ich hätte ihn gar zu gerne einmal im Stahlhelm gesehen! schoß es Violet durch den Kopf.

Aber der Leutnant sah nur unter einer Feldmütze hervor die beiden überlegend an. Er schien Weio nicht zu kennen, er schien auch von dem Rittmeister nichts zu wissen, er fragte kühl: "Wer sind Sie?"

Leben kam in den Rittmeister, er stellte sich vor, er berichtete militärisch kurz, daß er als Schwiegersohn des Besitzers auf einem Spaziergang durch diese seine Waldungen - kurz, hoch erfreut, eine militärische Übung - zweifelsohne Reichswehr ...

"Danke!" sagte der Leutnant kurz. Und: "Wollen Sie bitte denselben Weg, den Sie gekommen sind, ohne Aufenthalt zurückgehen! Und wollen Sie bitte unbedingtes Stillschweigen über dieses Zusammentreffen bewahren?! Strengste Geheimhaltung liegt im Staatsinteresse!" Er schwieg und sah den Rittmeister ernst an. Er setzte hinzu: "Ich bitte, dies auch der jungen Dame begreiflich zu machen!"

Weio sah ihren Fritz vorwurfsvoll-flehend an. Sie sollte ihn verraten können, sie, die allen Erpressungsversuchen ihrer Mutter erfolgreich

widerstanden hatte! Nein, es war nicht nett von Fritz! Daß er sie vor dem Vater nicht erkannte, war richtig, obwohl auch dies Nichterkennen durch ein rasches Augenzwinkern nicht beeinträchtigt worden wäre. Aber daß er so tat, als könnte sie schwatzen, sie, die so treu zu ihm hielt, nein, das war nicht nett von ihm!

Und auch der Rittmeister war von so viel sachlicher Strenge nicht angenehm berührt. Dieser junge Dachs von Leutnant hatte unrecht, ihn wie einen völligen Zivilisten zu behandeln. Er hätte den alten Offizier, den Kameraden auch unter dem zivilen Sakko wittern müssen! Glaubte dieser junge Fant etwa, einem erfahrenen Offizier Sand in die Augen streuen zu können -?! In der ersten Überraschung, hier im tiefsten Winkel der Forst Militär zu finden, hatte der Rittmeister es übersehen können ... Dieser Fant sprach von Staatsinteressen, aber der Rittmeister erkannte an den zusammengestoppelten, recht abgerissenen Uniformstücken, am Fehlen aller Abzeichen, daß es sich hier nicht um Reichswehr handelte, sondern höchstens um das, was man Schwarze Reichswehr nannte, die kaum die Interessen heutiger Regierung, jetzigen Staates vertrat.

Aber in den Ärger, so unkameradschaftlich behandelt, für so dumm gehalten zu werden, mischte sich bei dem Rittmeister die Neugierde, endlich einmal zu erfahren, was hier in der Gegend hinter seinem Rücken vorging. Er hatte schon in Berlin mit Herrn von Studmann über diese ungemütliche Unsicherheit gesprochen, über dieses ahnungsvolle Nichtwissen - hier war er an der Quelle, hier konnte er endlich erfahren, was sich vorbereitete, und danach seine eigenen Maßnahmen treffen!

Als darum der Leutnant mit neuer Strenge "Bitte sehr!" wiederholte und unmißverständlich den Waldpfad hinunter deutete, sagte der Rittmeister rasch: "Wie gesagt, ich bin der Besitzer von Neulohe - der Pächter vielmehr. Ich habe einiges gehört - von gewissen Vorbereitungen. Ich bin - ähemm! - nicht einflußlos. - Wenn ich um eine kurze Unterredung bitten dürfte -?"

Er sah aufgeregt diesen jungen Mann an, der ihn unverwandt betrachtete. Als der Rittmeister aber etwas atemlos geendet hatte, fragte der Leutnant kurz und knapp: "Zu welchem Zweck?"

"Nun", antwortete der Rittmeister eifrig, "ich möchte mich orientieren, klarsehen, verstehen Sie. Man hat ja auch seine Entscheidungen zu treffen ... In meinem Betriebe arbeiten immerhin fünfzig Mann, zum größten Teil altgediente Leute ... Ich könnte unter Umständen eine wertvolle Hilfe ..."

"Danke!" unterbrach der Leutnant schneidend dies Gestammel. "Unter allen Umständen verhandelt man derartige Dinge nicht vor jungen

Damen! - Posten, Sie sehen, daß die Herrschaften sofort den Platz verlassen. - Guten Tag!"

Und damit tauchte der Leutnant wieder in die Büsche, ferner raschelten die Zweige ...

Fritz! hätte Weio beinahe gerufen und sich an seine Brust geworfen. Oh, sie verstand so gut seine Kälte, sie hatte es alle diese Tage schon gefürchtet, als er nicht mehr kam und keine Nachricht von ihm: er hatte ihr die Scherereien mit ihrem törichten Liebesbrief nicht verziehen, er fürchtete, sie gefährde seine Sache; sie war für ihn ein dummes, schwatzhaftes kleines Mädchen, er hatte sie aufgegeben! Vielleicht tat auch ihm das Herz weh, aber er ließ sich nichts merken, er war stahlhart! Sie hatte es immer gewußt, er war ein Held! Aber sie würde ihm beweisen, daß sie seiner würdig war, nie würde jemand etwas von ihr erfahren, und eines Tages ...

"Bitte sehr!!" befahl der Posten fast drohend.

"Also komm, Violet!" mahnte der Rittmeister, aus seiner Erstarrung hochschreckend, und nahm den Arm der Tochter. "Kind, du siehst ja ganz blaß aus, und eben warst du noch feuerrot. Du hast wohl einen ordentlichen Schrecken bekommen -?"

"Er war ein bißchen sehr grob, nicht wahr, Papa?"

"Gott, Weio, er ist eben Offizier und im Dienst! Wo kämen die hin, wenn sie allen Auskunft geben wollten?! Ich bin überzeugt, er macht seinen Vorgesetzten Meldung. Die erkundigen sich über mich, und einer von den Herren sucht mich dann auf ... So ist es eben beim Militär, alles muß exakt klappen ..."

"Aber er war doch richtig häßlich zu dir!"

"Ach, so ein junger Leutnant! Der schießt leicht mal übers Ziel hinaus. Weil er sich noch unsicher fühlt, wird er grob."

"War es denn wirklich ein Leutnant? Er sah so - abgerissen aus."

"Der Posten hat es doch gesagt! Es ist eben keine reguläre Truppe."

"Und wie fandest du ihn?"

"Na ja, Weio, ich verstehe dich ja, du bist jetzt ärgerlich auf ihn, weil er ein bißchen grob war und gar nicht höflich zu einer Dame. Aber ich fand eigentlich, er machte einen ganz schneidigen Eindruck, nicht wahr? Sicher ein fähiger junger Offizier ..."

"Wirklich, Papa?! Hast du auch gesehen, was für schöne, gepflegte Hände er hatte -?"

"Nein, Weio, darauf habe ich wirklich nicht geachtet. Aber bei mir hätte

er nicht so unrasiert herumlaufen dürfen, wie gesagt, es ist eben keine reguläre Truppe!"

"Aber, Papa ..."

Weio hätte gern dieses zärtliche Versteckspiel mit ihrem Vater, das ihr schweres Herz so erleichterte, bis nach Haus weitergespielt. Doch kam der Förster Kniebusch dazwischen. Aus zwei Wacholdern trat er heraus und grüßte Vater und Tochter.

"Na, Kniebusch?" fragte der Rittmeister erstaunt. "Was machen Sie denn hier hinten? Ich dachte, in diese Revierecke hier kämen Sie nie."

"Man muß eben überall mal nachsehen, Herr Rittmeister", sagte der Förster bedeutungsvoll. "Man denkt, es passiert nichts, aber es passiert immer was."

"Nanu?!" fragte der Rittmeister und blieb erstaunt stehen. "Waren Sie etwa auch dahinten?"

"Im Schwarzen Grund? Zu Befehl, Herr Rittmeister", meldete der Förster, den seine Wissenschaft wieder einmal brannte.

"So, so", meinte der Rittmeister gleichgültig. "Und haben Sie was Besonderes gesehen?"

"Jawohl, Herr Rittmeister", sagte der Förster, der wußte, daß eine gleich hergegebene Neuigkeit nichts wert ist. "Den Herrn Rittmeister und Fräulein Tochter habe ich gesehen."

"Im Schwarzen Grund?"

"So weit sind der Herr Rittmeister ja nicht gekommen!"

"Ach so", meinte Herr von Prackwitz sehr unzufrieden, daß ein anderer die ärgerliche Szene mit angesehen haben sollte. "Sie haben wohl gesehen, wie wir angehalten wurden?"

"Jawohl, Herr Rittmeister, das habe ich gesehen."

"Haben Sie auch gehört, was wir geredet haben?"

"Nein, Herr Rittmeister, dafür war ich zu weit ab". Nach einer kleinen Spannungspause: "Ich war ja zwischen dem Posten und den andern Leuten."

"So, es waren noch andere da?" fragte der Rittmeister möglichst gleichgültig. "Wie viele denn?"

"Dreißig Mann, Herr Rittmeister."

"So, ich dachte, es wären mehr. - Vielleicht haben Sie nicht alle gesehen?"

"Ich war doch von Anfang an da! Ich hatte das Auto gehört. Ich muß

doch wissen, was in meinem Walde vorgeht, Herr Rittmeister! Ich habe mich doch gleich zu Anfang versteckt. Dreißig Mann, zusammen mit dem Leutnant Fritz!"

"Fritz heißt der Leutnant -?" rief der Rittmeister erstaunt.

"Na ja", sagte der Förster und wurde dunkelrot unter dem Blick des gnädigen Fräuleins. "Seine Leute haben wenigstens so zu ihm gesagt", stotterte er verlegen. "Ich hab das so verstanden."

"Seine Leute haben ihn Fritz gerufen, Kniebusch -?" fragte der Rittmeister ungläubig.

"Nein, nein", beeilte sich der Förster. "Die Leute haben Herr Leutnant gesagt, aber da war noch ein anderer da, vielleicht war das auch ein Leutnant, der hat Fritz gesagt ..."

"So ist das", meinte der Rittmeister beruhigt. "Das wäre ja auch unerhört gewesen, wenn die Mannschaften ihren Offizier Fritz genannt hätten! So etwas gibt es auch bei einer irregulären Truppe nicht."

"Nein", verbesserte sich der Förster, "es ist wohl der andere Leutnant gewesen, so ein ganz dicker!"

"Na ja", sagte der Rittmeister. "Und ein Auto hatten sie auch dabei?"

"Jawohl, Herr Rittmeister!" Der Förster war froh, von dem gefährlichen Thema loszukommen - selbst unter Preisgabe seines Geheimnisses: "Ein Lastauto, dicke vollgeladen!"

"Haben Sie denn gesehen, mit was?"

"Jawohl, Herr Rittmeister". Der Förster sah sich nun doch um; als er aber nur lichten Hochwald sah, in dem kein Lauscherohr versteckt sein konnte, sagte er, doch sehr leise: "Waffen, Herr Rittmeister! Gewehre, Munitionskisten, Handgranaten - zwei leichte Maschinengewehre, drei schwere ... sie graben alles ein ..."

Der Rittmeister wußte alles, was er wissen wollte. Er richtete sich straffer auf, er blieb stehen.

"Hören Sie, Förster Kniebusch!" sprach er feierlich. "Ich hoffe, Sie sind sich darüber klar, daß Sie sich mit Ihrer Wissenschaft um Kopf und Kragen reden können! Es liegt im Staatsinteresse, daß hierüber unverbrüchliches Stillschweigen gewahrt wird. Wenn die Schnüffelkommission davon erfährt -! Besser hätten Sie gar nichts gesehen! Sie sind viel zu neugierig, Förster Kniebusch. Sobald Sie sahen, es war Militär, wußten Sie doch, die Sache war in Ordnung - da hatten Sie sich gar nicht in den Büschen zu verstecken, verstanden?!"

"Jawohl, Herr Rittmeister!" sagte der Förster kläglich.

"Am besten vergessen Sie alles, Förster. Wenn Sie daran denken, müssen Sie sich sagen: Das habe ich bloß geträumt. Das ist alles nicht wahr. Verstanden?"

"Jawohl, Herr Rittmeister!"

"Und noch eins, Kniebusch. - Solche staatspolitischen Dinge verhandelt man überhaupt nicht vor Damen - selbst wenn es die eigene Tochter ist! Merken Sie sich das für alle Zukunft!"

"Jawohl, Herr Rittmeister!"

Der Rittmeister hatte sich gerächt, nach einem alten Satz hatte er den Tritt, den er bekommen, weitergegeben, und so ging er zufrieden an der Seite seiner Tochter.

"Und was macht Ihr Gefangener, der Bäumer?" fragte er leutselig.

"Ach, Herr Rittmeister, der Lump -!"

Ein tiefer Seufzer entrang sich des Försters Brust. Es schien, daß Bäumer nun endlich zur Besinnung gekommen war, und sie gingen ja um mit ihm wie mit einer Zuckerpuppe. Nun hatten sie ihn in die Klinik nach Frankfurt geschafft, und nur noch ein paar Tage, so sollte der Förster ihm am Krankenbett gegenübergestellt werden ...

"Und ich weiß schon, wie es dann kommen wird, Herr Rittmeister! Dann werde ich nicht erzählen dürfen, was er alles verbrochen hat. Sondern er wird lügen, daß ich ihn halbtot geschlagen habe! Wo ich doch den Stein im Walde zeigen kann, auf den er gefallen ist! Aber das wollen die Herren nicht hören! Der Oberlandjäger sagt, es ist schon ein Strafverfahren in Gang gegen mich, wegen Körperverletzung oder Mißbrauch der Amtsgewalt. - Und am Ende komme ich noch ins Gefängnis, wo ich doch schon siebzig bin, und der Wilddieb, der Bäumer ..."

"Ja, ja, Kniebusch", sagte der Rittmeister, sehr zufrieden, daß andere auch ihre Sorgen hatten. "So ist eben die Welt heute, das verstehen Sie bloß nicht. Wir haben den ganzen Krieg durch gesiegt und sind nun die Besiegten. Und Sie sind Ihr ganzes Leben ehrlich gewesen und kommen jetzt ins Gefängnis. Das ist alles ganz in Ordnung - nehmen Sie mich zum Beispiel. Mein Schwiegervater ..."

Und der Rittmeister sprach dem alten Förster den ganzen Rest des Weges weiter tröstlich zu.

10

Es wurde schon dunkel, als Herr von Prackwitz mit seiner Tochter aus

dem Wald nach Haus kam. Trotzdem war die gnädige Frau noch immer nicht aus dem Schloß zurück. Weio stieg hinauf in ihr Zimmer, unten ging der Rittmeister unmutig auf und ab. Er war in der besten Laune aus dem Walde heimgekehrt, er hatte heimlichen militärischen Operationen zugeschaut, die auf den bereits vorbereiteten Sturz der jetzigen verhaßten Regierung schließen ließen, und wenn er auch unter allen Umständen Diskretion üben würde, so konnte er doch in Andeutungen Eva seine neue Wissenschaft ahnen lassen.

Und nun war keine Eva da! Statt dessen stand im Arbeitszimmer am Fenster die abgeschossene Flinte und erinnerte ihn an den albernen, ärgerlichen Zwischenfall. Seit fünf, seit sechs Stunden saß seine Frau wegen dieser Geschichte, bei der er sonnenklar in seinem Rechte gewesen war, im Schloß, und der tüchtige Freund Studmann saß sicher mit! Es war lächerlich, es war kindisch, es war nicht auszuhalten! Der Rittmeister klingelte nach dem Diener Räder und erkundigte sich, ob seine Frau nichts wegen des Abendessens hinterlassen habe? Mit vorwurfsvollem, gereiztem Ton versicherte er, Hunger zu haben. Der Diener Räder meldete, die gnädige Frau habe keine Weisungen gegeben. Nach einer kurzen Pause fragte er dann, ob er für den Herrn Rittmeister und das gnädige Fräulein den Abendbrottisch decken solle?

Der Rittmeister beschloß, ein Märtyrer zu werden, und sagte, nein, er wolle warten. - Als der Diener aus der Tür ging, kam seinem Herrn doch noch die Frage über die Lippen, die er hatte hinunterschlucken wollen, ob die Gänse im Schloß abgegeben worden seien.

Räder drehte sich um, sah seinen Herrn ausdruckslos an und sagte: nein, der Herr Studmann habe es nicht leiden wollen. - Damit ging der Diener.

Die Dunkelheit fiel rascher, in den Zimmern war es sehr grau - so grau kam dem Herrn von Prackwitz sein Leben vor. Er war im Walde gewesen, er hatte Interessantes erlebt, das hatte ihn fröhlich gemacht. Aber kaum heimgekommen, fiel alles Graue wieder über ihn her, es gab keine Rettung, es war wie ein zäher, erbarmungsloser Sumpf, der ihn jeden Tag tiefer einsog.

Der Rittmeister stützte den Kopf in die Hände, er hatte nicht einmal mehr Kraft für seinen raschen Zorn. Er sehnte sich nach einer andern Welt, in der einem nicht alles Schwierigkeiten bereitete, sogar Frau und Freund. Er wäre gern fort gewesen aus Neulohe. Wie alle schwachen Menschen klagte er ein imaginäres Schicksal an: Warum muß mich das alles befallen?! Ich tue doch keinem Menschen etwas! Ich bin ein bißchen jähzornig, aber ich meine es nicht böse, ich bin immer gleich

wieder gut. Ich stelle doch wahrhaftig keine großen Anforderungen, ich bin ganz bescheiden! Andere haben dicke Autos, fahren alle Woche nach Berlin, haben Frauenzimmergeschichten! Ich bin anständig und stecke ewig in Verlegenheiten ...

Er stöhnte, er hatte starkes Mitleid mit sich. Er hatte auch sehr starken Hunger. Aber kein Mensch kümmerte sich um ihn. Allen war es egal, wie es ihm ging. Er konnte verrecken, da guckte kein Mensch danach, seine Frau schon gar nicht. Gesetzt den Fall, er schösse sich in seiner tiefen Verzweiflung eine Kugel durch den Kopf - ein etwas weicherer Mensch als er wäre in seiner Situation dazu imstande! Sie käme heim und fände ihn hier liegen! Sie würde ein schönes Gesicht machen; dann, wenn es zu spät war, würde es ihr leid tun. Zu spät würde sie einsehen, was sie an ihm gehabt hatte!

Die Vorstellung seines einsamen Todes, der Gedanke an seine verzweifelt trauernde Witwe erschütterte den Rittmeister, daß er aufstand, Licht machte und sich am Likörschrank einen Wodka einschenkte. Dann brannte er sich eine Zigarre an und löschte das Licht wieder. In einem Sessel hockend, die langen Beine von sich gestreckt, versuchte er noch einmal, sich sein Sterben auszumalen. Aber zu seiner Betrübnis mußte er feststellen, daß beim zweiten Male die Bilder lange nicht mehr so stark wirkten wie das erstemal.

Der Diener Räder, dieser aus unbegreiflichen Erwägungen heraus handelnde Mensch, dieser verschlagene Diplomat der Dienerstube, der ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen hatte, das er mit tausend Ränken und Kniffen verfolgte - der Diener Räder stieg leise wieder in das Zimmer des gnädigen Fräuleins hinauf, nachdem er den Pfeil gegen Herrn von Studmann in das Herz seines Herrn abgeschossen hatte. Fräulein Violet saß am Tisch und schrieb eifrig.

"Nun, was wollte Papa?" fragte sie.

"Der Herr Rittmeister wußte nicht, wie es mit dem Abendessen werden sollte."

"Und wie wird es?"

"Herr Rittmeister wollen warten."

"Wenn Mama noch im Schloß bliebe, könnte ich selber den Brief hinbringen "..., zögerte Weio.

"Wie gnädiges Fräulein wünschen", sagte der Diener Räder kühl.

Weio schloß den Brief sorgfältig, hielt ihn in der Hand und sah Räder prüfend an. Heute vormittag hatte sie noch vorgehabt, ihn einer kräftigen Tracht Prügel, vom jungen Pagel verabreicht, auszuliefern. Aber

man löst sich nicht so leicht von einem Mitverschworenen und Mitwisser. Immer wieder stellt sich heraus, daß man ihn braucht. Weio war fest überzeugt, daß der Leutnant heute abend nach dem Vergraben der Waffen noch ins Dorf kommen würde. Er hatte sich vierzehn Tage nicht im Dorf sehen lassen, so lange war er noch nie abwesend gewesen. Anders als die andern, hatte er keinen Stahlhelm aufgehabt. Beweis, daß er noch einen Weg vorhatte! Schon sicherheitshalber würde er in dem Baum nach Botschaft von ihr sehen, aber noch sicherer würde es sein, ihm den Brief persönlich auszuhändigen. Und sie konnte nicht weg, Räder war der beste Bote ... und Räder war jetzt auch gar nicht frech ...

Ach, die kleine, verlaufene, arme Weio! Sie hatte vergessen, daß sie ihrem Fritz geschworen hatte, nie wieder einen Brief zu schreiben. Sie hatte vergessen, daß sie Pagel geschworen hatte, die Sache sei zu Ende. Sie hatte vergessen, daß sie sich geschworen hatte, sich nie wieder mit dem stets unheimlicher werdenden Räder einzulassen! Sie hatte vergessen, daß sie ihren Vater und ihren Freund Fritz in Gefahr brachte, wenn sie in einem solchen Brief von den vergrabenen Waffen schrieb!

Ihr Herz hatte sie alles vergessen lassen, das Herz war ihr mit Sinn und Verstand durchgegangen, sie dachte nur daran, daß sie ihn liebte, daß sie sich vor ihm rechtfertigen mußte, sie dachte nur daran, daß sie ihn wiedersehen wollte um jeden Preis, daß er sie nicht so kalt beiseite lassen durfte, daß sie nicht mehr warten konnte, daß sie ihn brauchte!

Violet nimmt den Brief und reicht ihn dem Diener. "Also Sie besorgen den gut, Hubert."

Räder hat keinen Blick von ihrem Gesicht gelassen, seine bleifarbenen, in den Winkeln fast violetten Lider tief über die Augen gesenkt, hat er das junge Mädchen beobachtet. Nun nimmt er den Brief und sagt: "Ich kann doch nicht versprechen, daß ich den Herrn Leutnant finde!"

"Ach, Sie werden ihn schon finden, Hubert!"

"Ich kann doch nicht die ganze Nacht herumlaufen, gnädiges Fräulein. Vielleicht kommt er gar nicht? Wann soll ich ihn denn in den Baum stecken?"

"Wenn Sie den Herrn Leutnant nicht bis zwölf oder eins gefunden haben."

"So lange kann ich aber nicht herumlaufen, gnädiges Fräulein, ich brauche meinen Schlaf. Ich werde ihn um zehn in den Baum stecken."

"Nein, Hubert, das ist viel zu früh. Jetzt ist es ja schon neun, und wir haben noch nicht gegessen. Vor zehn kommen Sie gar nicht aus dem Haus."

"Die Herren Ärzte sagen aber, gnädiges Fräulein, daß der Schlaf vor Mitternacht der gesündeste ist."

"Ach, Hubert, sei bloß nicht so albern. Du willst mich nur wieder ärgern."

"Ich will doch das gnädige Fräulein nicht ärgern ... Mit dem Schlaf ist es doch so. - Und man müßte einmal wissen, was man eigentlich für so was kriegt. Wenn die Herrschaft das erfährt, bin ich entlassen, und auf Zeugnis und Referenz kann ich dann auch nicht rechnen."

"Ach, Hubert, wer soll denn das erfahren?! Und was soll ich Ihnen denn geben? Ich habe doch nie Geld!"

"Es muß ja nicht immer Geld sein, gnädiges Fräulein ..."

Hubert spricht immer leiser, und unwillkürlich paßt Violet ihre Stimme seiner Lautstärke an. Zwischen den einzelnen, verlorenen, leisen Sätzen hört man den in die Nacht hinübergleitenden Sommerabend mit einem Ruf vom Dorfe her, dem Klappern eines Eimers, dem summenden Liebestanz der Mücken über den Gartenbüschen.

"Was wollen Sie denn haben, Hubert? Ich weiß wirklich nichts ..."

Sie vermeidet es, in sein Gesicht zu sehen. Sie blickt im Zimmer umher, als suchte sie etwas unter den Gegenständen hier, was sie ihm schenken könnte ... Er aber sieht sie immer eindringlicher an, sein totes Auge bekommt Leben, auf den Backenknochen sitzt ein roter Fleck ...

"Wenn ich Stellung und Ruf für das gnädige Fräulein riskiere, möchte ich das Fräulein Violet auch um etwas bitten dürfen ..."

Sie wirft einen blitzschnellen Blick auf ihn und sieht sofort wieder weg. Etwas von der schon einmal vor ihm empfundenen Angst steigt in ihr hoch. Sie wird trotzig, sie will dagegen an, sie versucht ein Lachen, sie fordert ihn heraus: "Sie wollen doch nicht etwa einen Kuß von mir, Hubert?!"

Er sieht sie unverwandt an, ihr Lachen ist schon wieder vorbei, es hat häßlich und falsch geklungen. Mir ist nicht zum Lachen, denkt sie.

"Nein, keinen Kuß", sagt er fast verächtlich. "Ich bin nicht für die Knutscherei ..."

"Aber was denn, Hubert? Sagen Sie doch endlich ..."

Sie vergeht vor Ungeduld. Er aber hat erreicht, was er wollte: ihr ist auch der tollste, aber ausgesprochene Wunsch lieber als dieses peinvolle, ungewisse Warten.

"Es ist nichts Ungebührliches, was ich mir von dem gnädigen Fräulein erbitte", sagt er mit seinem alten, steifen, lehrhaften Ton. "Es ist auch

nichts Unanständiges ... Ich möchte nur meine linke Hand eine Weile auf das Herz vom gnädigen Fräulein legen dürfen ..."

Sie schweigt, jetzt sieht sie ihn an, vorgebeugt, mit weit geöffneten Augen. Sie bewegt die Lippen, sie möchte etwas sagen, aber sie schluckt nur und schweigt wieder.

Er macht keine Bewegung, ihr näher zu kommen. Er steht in seiner ordentlichen Dienerhaltung unter der Tür, er hat eine livreeartige Jacke mit grauen Wappenknöpfen an, auf seinem ölglänzenden Scheitel liegt jedes Haar ordentlich.

"Da das gnädige Fräulein unterrichtet sind", sagt er wieder in seinem leblosen Ton, "darf ich sagen, daß ich nichts Unkeusches im Sinne habe. Es kommt mir nicht auf die Berührung der Brust an ..."

Sie verharrt in ihrer Starre. Er sieht zu ihr hinüber. Sie sind fast durch die ganze Zimmerbreite getrennt.

Der Diener Hubert Räder macht so etwas wie eine ganz leichte Verbeugung.(Sie hat sich nicht bewegt, sie ist ganz starr.) Er geht langsam durch das Zimmer auf sie zu - ohne Bewegung sieht sie ihn näher kommen: so erwartet das schreckstarre Opfer den tödlichen Schlag des Mörders. - Er sieht sie an ...

Dann legt er den Brief vor sie auf den Tisch zurück, dreht sich um und geht gegen die Tür.

Sie wartet, sie wartet endlos lange, er faßt schon nach der Klinke, da bewegt sie sich. Sie räuspert sich - und Hubert Räder dreht sich wieder um, sieht sie an ... Sie will etwas sagen, aber die Bezauberung liegt über ihr, sie deutet nur mit einer fahrigen, wirren Bewegung auf den Brief - und denkt doch gar nicht mehr an Brief und Empfänger ...

Der Mann hebt die Hand, er dreht an dem Lichtschalter neben der Tür, und das Zimmer liegt im Dunkeln.

Sie möchte schreien, es ist so dunkel, sie steht hinter dem Tisch, sie sieht nichts von ihm, nur die beiden Fensterrechtecke, schräg links, treten grau aus dem Dunkel heraus. Sie hört nichts von ihm, immer geht er so leise, ach, wäre er nur erst da -!

Stumm, stumm, kein Laut, kein Atemzug ...

Wenn ich schreien könnte, aber ich kann ja nicht einmal atmen!

Und nun fühlt sie seine Hand auf ihrer Brust. Leiser kann sich kein Schmetterling auf der Blüte niederlassen, doch mit einem Schauder, der ihren ganzen Leib schüttelt, weicht sie zurück ... Die Hand folgt dem ausweichenden Leib, sie legt sich kühl über die Brust ... Sie kann nicht mehr zurückweichen, auch der Schauder vergeht ... Kühl dringt es durch

den leichten Stoff des Sommerkleides, Kühle dringt durch die Haut, dringt bis zum Herzen vor ...

Die Angst ist vorbei, sie fühlt die Hand nicht mehr, nur eine immer tiefer eindringende Kühle ...

Und die Kühle ist Ruhe ...

Sie hört keinen Laut, sie möchte etwas denken, sie möchte sich sagen: Es ist ja nur der Hubert, ein ekliger, lächerlicher Kerl ... Aber es wird nichts daraus. Es fliegt fort, wie in Fetzen die Bilder aus dem Ehebuch durch ihren Kopf wehen, einen Augenblick sieht sie die Seiten, wie in hellem Lampenlicht, die eckige Form der Buchstaben - und vorbei ...

Nun hört sie eine Melodie, ganz deutlich tönt es zu ihr herauf: "Hupf, mein Mädel, hupf recht hoch "... Einen Augenblick weiß sie, daß es ihr Vater ist, dem das Warten langweilig wurde. Er hat sich das Grammophon aufgedreht - "Hupfe, hupfe, hupfe doch! Hoffentlich hast du im Strumpfe kein Loch ..."

Aber jetzt ist es, als würde die Melodie schwächer und schwächer, als verlöre sie ihre Kraft in der immer tiefer eindringenden Kälte. - Ihre Sinne werden stumpf für die Außenwelt, sie spürt nur noch die Hand ... Und spürt jetzt die andere Hand ...

Die Finger berühren leise tastend ihren Nacken, sie schieben die Haare zurück ... Nun gleitet die Hand ganz um ihren Hals, mit einem leichten Druck liegt der Daumen auf dem Kehlkopf, dabei verstärkt sich der Druck auf ihrem Herzen ...

Sie macht eine rasche Bewegung mit ihrem Kopf, um ihren Hals von der Hand zu befreien - umsonst, fester liegt der Daumen auf ...

Aber es ist doch bloß der Diener Hubert - er kann mich doch nicht ersticken wollen ...

Sie atmet schwer. In ihren Ohren braust das Blut. Im Kopf wird es ihr leicht schwindlig ...

Hubert! will sie schreien ...

Da ist sie frei - nach Atem ringend, starrt sie in das Dunkel, das schon hell wird. An dem Lichtschalter steht der Diener Hubert, untadelig, grau, kein Härchen in seiner Tolle verschob sich ...

"Hupfe, hupfe, hupfe doch "..., klingt es wieder von unten.

"Ich danke auch vielmals, gnädiges Fräulein", sagt er so unbewegt, als habe sie ihm einen Taler geschenkt. "Der Brief wird bestens besorgt."

Er hat ihn schon wieder in der Hand, muß ihn sich im Dunkeln vom Tisch genommen haben.

Auf dem Wege vor dem Hause erklingt die Stimme ihrer Mutter, nun die des Herrn von Studmann.

"Es wird sofort Abendessen geben, gnädiges Fräulein", sagt der Diener Räder und gleitet aus dem Zimmer.

Sie sieht sich um. Es ist ihr Zimmer, unverändert. Es war auch der alte unveränderte, alberne Diener Räder, und auch sie hat sich nicht verändert. Ein wenig mühsam, als hätten ihre Glieder das volle Leben noch nicht zurück, geht sie vor den Spiegel und sieht ihren Hals an. Aber von dem feuerroten Striemen, den sie sich einbildete, ist nichts zu sehen. Keine noch so leise Rötung der Haut. Er hat sie nur ganz sachte angefaßt, wenn er sie überhaupt angefaßt hat. Vielleicht hat sie sich das meiste nur eingebildet. Er ist eben ein verrückter, ekelhafter Kerl; wenn eine kleine Zeit vergangen ist, daß er nicht denkt, es geht von ihr aus, muß sie bei Papa und Mama erreichen, daß ein anderer Diener ins Haus kommt ...

Plötzlich, sie hat sich schon das Gesicht gewaschen, überkommt sie ein Gefühl grenzenloser Verzweiflung, als sei alles verloren, als habe sie um ihr Leben gespielt und habe es verloren ...

Sie sieht ihren Leutnant Fritz, plötzlich aufflammend und nun wieder ganz kalt, fast häßlich zu ihr ... Sie hört Armgard zur Mutter flüstern, daß Hubert ein Unhold sei, und der Gedanke schießt ihr durch den Kopf, daß Hubert vielleicht auch der dicken Köchin Armgard die Hand so auf die Brust, so um den Hals gelegt hat - und daß sie den Diener darum haßt ...

Mit einer fast gleichgültigen Neugierde betrachtet sich Violet im Spiegel. Sie sieht das weiße Fleisch ihrer Arme, des Halses an, sie streift den Brustausschnitt zurück. Das Fleisch müßte fleckig und verdorben aussehen, so beschmutzt kommt sie sich vor.(Dieselbe Hand, die Armgard angefaßt hat ...) Aber das Fleisch ist weiß und blühend ...

"Abendessen, Weio!" ruft die Stimme der Mutter von unten.

Sie schüttelt die quälenden Gedanken ab, wie ein Hund Wasser aus seinem Fell schüttelt. Wahrscheinlich sind die Männer alle so, denkt sie. Alle ein bißchen eklig. Man muß eben nicht daran denken.

Sie läuft die Treppe hinunter, vor sich hin summend: "Hupf, mein Mädel, das Bein recht hoch -!"

11

Es stellte sich heraus, daß Frau Eva mit Herrn von Studmann schon drüben im Schloß bei den alten Teschows zu Abend gegessen hatte. Tief

gekränkt saß der Rittmeister mit seiner Tochter am Tisch, während die beiden, auf die er so heroisch gewartet hatte, leise miteinander redend, im Nebenzimmer saßen. Die Tür stand offen, vernehmlich brummte und knurrte der Rittmeister, ließ abgebrochene Sentenzen über Pünktlichkeit und Rücksichtnahme fallen und bellte von Zeit zu Zeit seine Tochter an, die behauptete, keinen Appetit zu haben.

Der Diener Räder stand mit einer Serviette unter dem Arm an der Tür und war der einzige, der die Billigung des Rittmeisters hatte: unfehlbar erriet er, welche Platte der Rittmeister wünschte; zur Sekunde schenkte er das Bierglas nach.

"Lieber Studmann!" rief der Rittmeister schallend, der endlich klar den Rauchgeruch erschnuppert hatte, "tu mir den einzigen Gefallen und rauche wenigstens nicht, solange ich esse!"

"Entschuldige, Achim, ich rauche!" rief seine Frau von drüben.

"Um so schlimmer!" knurrte der Rittmeister.

Mit einem Ruck stand er endlich auf und ging zu den beiden andern.

"Geschmeckt?" fragte seine Frau.

"Reizende Frage! Wo ich eine Stunde umsonst auf dich gewartet habe". Er stand an seinem Likörschrank und schenkte sich höchst ärgerlich wiederum einen Wodka ein. "Höre mal, Eva", sagte er dann kriegerisch, "der Studmann muß morgens um vier aus dem Bett. Du hättest ihn besser schlafen lassen sollen, statt ihn hierher zu verschleppen! Oder soll etwa das Gerede um diese lächerlichen Gänse noch einmal losgehen?!"

"Violet!" rief Frau Eva. "Komm, sage gute Nacht. Du kannst dich hinlegen, es ist gleich zehn. - Hubert, schließen Sie noch die Türen ab, Sie sind jetzt frei ..."

Und als die drei allein waren, zu ihrem Mann: "Also ja! Jetzt soll das lächerliche Gerede noch einmal losgehen. Du darfst dich übrigens bei deinem Freunde von Studmann bedanken, ohne ihn brauchten wir nicht zu reden, sondern nur unsere Koffer zu packen und abzureisen. Mit Neulohe wäre es ohnehin vorbei gewesen."

Frau von Prackwitz' Stimme klang schärfer, als sie je mit ihrem Manne gesprochen hatte. Sechs Stunden Kampf mit einer weinerlichen Mutter, einem verschlagenen Vater hatten ihre Geduld erschöpft.

"Großartig!" rief der Rittmeister. "Ich soll mich bedanken, daß ich in Neulohe bleiben darf? Was mir schon an Neulohe liegt! Ich finde überall in der Welt eine Stellung, besser als die hier". Und in einem plötzlichen Übergang: "Ihr wißt eben nicht, was in der Welt vorgeht! Die Armee

braucht wieder Offiziere!"

"Sprechen wir doch ruhig!" bat Herr von Studmann, der besorgt den aufkommenden Sturm beobachtete. "Du hast sicher recht, Prackwitz, eine Offiziersstellung würde dir am meisten liegen, aber das Hunderttausendmannheer ..."

"Ah!" rief der Rittmeister zornig, "du hältst dich wohl schon für einen tüchtigeren Landwirt, als ich es bin?!"

"Wenn dir", sprach Frau von Prackwitz zornig, "so wenig an Neulohe gelegen ist, so wird dir unser Vorschlag nur recht sein, erst einmal ein paar Wochen zu verreisen ..."

"Ich bitte dich, Prackwitz ...!" flehte Herr von Studmann. "Gnädige Frau ...!"

"Ich soll verreisen!" schrie der Rittmeister. "Nie! Ich bleibe!"

Und er setzte sich mit Hast in einen Sessel, als könnten ihm die beiden sogar den Platz im Sessel streitig machen. Er starrte sie finster glühend an.

"Es ist leider eine Tatsache", sagte Herr von Studmann leise, "daß deine Schwiegereltern beide von einer augenblicklich starken Verstimmung gegen dich ergriffen sind. Deine Schwiegermutter hat hundert Wünsche, dein Schwiegervater nur einen: den Pachtvertrag zu lösen."

"Also soll er ihn lösen, zum Himmeldonnerwetter!" rief der Rittmeister. "Er findet nie wieder einen Trottel wie mich, der ihm dreitausend Zentner Roggenpacht gibt. - Trottel!"

"Da es unmöglich ist, heute mit Familie von einer Rittmeisterpension zu leben ..."

"Wieso unmöglich? Tausende tun es!"

"... und da die Pachtung eine gewisse Lebensbasis bietet ..."

"Du hast heute früh erst das Gegenteil behauptet!"

"... wenn nämlich der Verpächter wohlgesinnt ist ..."

"... was dein Herr Vater noch nie in seinem Leben war, liebe Eva ..."

"... so hat deine Frau eingewilligt, für die nächsten Wochen allein zu wirtschaften, während du ein bißchen reist. Bis nämlich bei deinen Schwiegereltern eine gewisse Beruhigung eingetreten ist, daß man wieder mit ihnen verhandeln kann."

"So, eingewilligt hat sie", höhnte der Rittmeister bitter. "Ohne mich zu fragen. Ist ja auch nicht nötig. Über mich wird einfach verfügt. Hübsch. Sehr hübsch. Darf ich vielleicht auch hören, wohin ich zu reisen habe?"

"Ich hatte die Idee "..., fängt Herr von Studmann an und faßt nach seiner Tasche.

"Nein, nicht, Herr von Studmann", winkt die gnädige Frau ab. "Da er ja doch nicht verreisen will, brauchen wir ihm keine Vorschläge zu machen. - Mein lieber Achim", sagt sie energisch und sieht ihn mit ihren schönen, ein wenig vorstehenden Augen ärgerlich an, "wenn du nicht einsehen willst, daß Herr von Studmann und ich nur deinetwegen sechs Stunden lang mit den Eltern geredet haben, dann ist jedes Wort umsonst. Wer hat ewig Schwierigkeiten mit Papa? Wer hat auf die Gänse geschossen? Doch nur du! Und schließlich geht es um deine Zukunft! Violet und ich, wir können immer in Neulohe bleiben, wir stören keinen, wir haben keine Schwierigkeiten mit den Eltern ..."

"Also bitte!" rief der Rittmeister. "Wenn ich euch störe, ich kann sofort reisen! Bitte wohin, Studmann?"

Er war tödlich verletzt.

"Jaha "..., sagte Studmann zögernd, rieb sich die Nase und betrachtete nachdenklich den gekränkten Freund. "Ich habe da so eine Idee gehabt ... Es war nämlich meine Idee ..."

Der Rittmeister sah ihn finster an, sagte aber kein Wort.

Der Oberleutnant griff in seine Tasche und brachte einen Brief hervor. "Da ist nämlich dieser ulkige Vogel, der Geheimrat Schröck, der dir soviel Spaß gemacht hat, Prackwitz ..."

Der Rittmeister sah nicht nach Spaß aus.

"Er hat mir ein paarmal geschrieben, wegen dieser Entschädigung von dem Baron, du erinnerst dich, Prackwitz ..."

Der Rittmeister gab kein Zeichen, daß er sich erinnerte.

"Nun, ich habe natürlich alles abgelehnt, du kennst ja meine Einstellung ..."

Ob der Rittmeister sie kannte oder nicht - er blieb stumm und finster.

Fröhlicher fuhr Studmann fort, und er schwenkte den Brief -: "Und da ist nun dieses letzte, vorgestern gekommene Schreiben des Geheimrats Schröck ... Er scheint ja wirklich ein komischer Kauz zu sein, mit seltsam plötzlichen Sympathien und Antipathien. Du erzähltest mir ja, wie sehr er diesen Patienten, den Baron Bergen, zu hassen schien. Nun, für mich scheint er sein Herz entdeckt zu haben, sehr komisch auch, wenn man bedenkt, daß er mich nie gesehen hat, nur von mir weiß, daß ich betrunken eine Hoteltreppe hinuntergefallen bin ... Also, in diesem Brief macht er mir einen neuen Vorschlag, von sich aus, es hat nichts mit diesem Baron von Bergen zu tun ..."

Herr von Studmann ist wieder bedenklich geworden. Nachdenklich sieht er den Brief an, dann den so ungewohnt schweigsamen Freund, dann rasch die stille Frau Eva. Frau Eva nickt ihm ermutigend zu. Es ist eigentlich kaum ein Nicken, mehr nur ein Schließen der Lider, das ja bedeuten soll. Wieder blickt Studmann seinen Freund an, ob der etwas von diesem Zeichen bemerkt hat. Aber von Prackwitz steht still und schweigend am Fenster.

"Jaha "..., sagt Herr von Studmann und bringt sich wieder in Gang. "Es ist natürlich nur eine Idee von mir, ein Vorschlag ... Herr Geheimrat Schröck hat daran gedacht, einen kaufmännischen Direktor für sein Sanatorium einzustellen. Es sind ziemlich umfangreiche Betriebe, über zweihundert Patienten, an die siebzig Angestellte, Riesenpark, auch etwas Landwirtschaft ... Nun, du verstehst, Prackwitz, es gibt da so allerlei zu tun ... Und wie gesagt, Herr Geheimrat Schröck hat da an mich gedacht ..."

Studmann sieht seinen Freund freundlich an, aber der Freund sieht ihn nicht wieder an. Er schenkt sich vielmehr einen Wodka ein und trinkt ihn aus. Dann schenkt er sich einen zweiten Wodka ein, den er aber noch nicht trinkt. Frau Eva rückt auf ihrem Sessel hin und her und räuspert sich, aber sie sagt nichts - auch nichts gegen die Wodkas.

"Natürlich will mich Herr Geheimrat Schröck nicht blindlings engagieren, so weit gehen selbst seine Sympathien nicht", fährt Herr von Studmann fort. "Er lädt mich ein, erst einmal einige Wochen als Gast zu ihm zu kommen, und damit ich mich diese Zeit bei ihm nicht überflüssig fühle, führt er beweglich Klage über eine fast australische Kaninchenplage, die ihm Park und Feld verheert. Er meint, wenn ich mal mit seinem Frettierer und mit Netzen und Flinte dagegen vorginge -. Er scheint ein ganz praktischer Mann zu sein, der alte Herr ..."

Wieder sieht Herr von Studmann den Freund freundlich an. Der Rittmeister erwidert diesen Blick finster, statt einer Antwort kippt er den zweiten Wodka und gießt sich einen dritten ein. Frau von Prackwitz trommelt leise auf der Lehne ihres Sessels, aber sie schweigt auch. Die Last des Redens liegt weiter auf dem Oberleutnant, sie wird allmählich drückend.

"Ja, du bist doch nun so ein passionierter Jäger und glänzender Schütze, Prackwitz", fängt Herr von Studmann wieder an. "Und wir haben gedacht - ich habe gedacht, ein bißchen Ausspannung wird dir sehr gut tun. Denke einmal, die Ruhe, das gute Essen in so einem Sanatorium. - Und dann den ganzen Tag draußen, es soll dort ja Tausende von Karnickeln geben "... Herr von Studmann schwenkt aufmunternd den

Brief. "Und da ich, wie die Dinge nun einmal liegen, hier eine Beschäftigung gefunden habe und wegen deines Schwiegervaters nicht gut abkömmlich bin ... Er wünscht nämlich so etwas wie eine feste kaufmännische Hand ... Da habe ich gedacht, wenn du als mein Stellvertreter hinfahren würdest? Wie gesagt, die Ruhe, kein Ärger - und daß du mich warm für den Direktorenposten empfehlen würdest, davon bin ich ja gottlob fest überzeugt "... Herr von Studmann versuchte zu lachen, aber es gelingt ihm nicht ganz. "Also sag was, Prackwitz", ruft er darum, mit einer etwas gemachten Munterkeit, "steh da nicht so finster und so bleich! Dein Schwiegervater wird sich wieder beruhigen ..."

"Sehr fein ausgedacht", sagt der Rittmeister finster. "Großartig eingefädelt ..."

"Aber Prackwitz!" ruft Studmann erschrocken. "Was ist denn mit dir los -?"

"Das habe ich kommen fühlen "... murmelt Frau Eva, lehnt sich in ihren Sessel zurück und legt die Handflächen vorsorglich gegen die Ohrmuscheln.

Und richtig bricht der Rittmeister nach so langem Schweigen doppelt betäubend los.

"Aber daraus wird nichts!" schreit er und hebt drohend einen dünnen, zitternden, langen Finger. Er ist schneeweiß im Gesicht und fliegt an allen Gliedern. "Für verrückt möchtet ihr mich erklären! In eine Irrenanstalt wollt ihr mich sperren!! Oh, listig, tüchtig!!"

"Prackwitz!" ruft Studmann verzweifelt. "Ich beschwöre dich! Wie kannst du das denken! Hier, lies den Brief vom Geheimrat Schröck, handschriftlich ..."

Der Rittmeister schiebt Brief und Arm und Freund beiseite.

"Fein ausgedacht, aber ich danke! Ich durchschaue euch! Der Brief ist bestellt - das ist ein Komplott mit meinem Schwiegervater! Ich soll ausgebootet werden, von mir will man sich scheiden lassen. - Der Ersatzmann ist zur Stelle, was, Eva?! Irrsinnig! Aber ich verstehe jetzt alles! Das Geschwätz über den Vertrag heute früh - war es überhaupt der richtige Vertrag? War der etwa auch unterschoben wie dieser Brief?! Nur um mich zu reizen! Dann die Gänse - wahrscheinlich von euch selbst hierhergelockt. Die Flinte - wieso war die Flinte geladen? Ich hab sie entladen in den Gewehrschrank gestellt! Alles vorbereitet, und nun, wo ich euch in die Falle gegangen bin, wo ich wirklich geschossen habe, gegen meinen Willen ... ich schwöre, gegen meinen Willen!! ... nun soll ich für verrückt erklärt werden! Abgeschoben - in eine Klapsmühle!

Entmündigt - in eine Gummizelle ..."

Er schien von Kummer überwältigt. Aber schon packte ihn neu die Wut. "Aber ich weigere mich! Keinen Schritt gehe ich aus Neulohe! Ich bleibe! Ihr könnt machen, was ihr wollt! - Aber vielleicht sind schon die Irrenwärter da, die Zwangsjacke "... Er besann sich auf einen Namen, wie ein Strahl aus dem Himmel fuhr er in sein Hirn. "Wo ist Herr Türke? Wo ist der Irrenwärter Türke -?"

Er sprang zur Tür. Vor ihm lag die kleine Diele still und schweigend.

"Sie können versteckt sein", murmelte er. "Herr Türke, kommen Sie vor, ich weiß doch, daß Sie da sind "..., schrie er in das dunkle Haus.

"Nun ist es aber genug!" rief Frau Eva zornig. "Du brauchst nicht auch noch das ganze Personal an deinem Rausch teilnehmen zu lassen! Du bist einfach betrunken! - Er verträgt Schnaps nie, wenn er aufgeregt ist. Dann kriegt er einfach einen Koller", flüsterte sie Studmann zu.

"Irrsinnig!" klagte der Rittmeister jetzt. Er stand am Fenster und hatte den Kopf gegen die Scheibe gelegt. "Von der eigenen Frau und dem Freund verraten! Entmündigt!! Eingesperrt!!!"

"Gehen Sie lieber jetzt", flüsterte sie Herrn von Studmann zu, der von dem Gedanken besessen war, seinem Freunde vernünftig zuzureden, ihm alles erklären zu müssen. "Jetzt gehört er einfach ins Bett. Morgen früh ist er dann zerknirscht. Er war schon einmal so - Sie wissen, die Sache mit Herrn von Truchseß, die meinen Vater so böse gemacht hat ..."

"Ich gehe nicht!" schrie der Rittmeister in einem neuen Wutanfall und schlug gegen die Scheiben.

Eine Scheibe zersprang. "Aua!" schrie der Rittmeister und hielt seiner Frau die blutende Hand entgegen. "Ich habe mich geschnitten. Ich blute ..."

Beinahe hätte sie gelacht über sein verändertes, klägliches Gesicht. "Ja, komm rauf, Achim, ich verbinde dich. Du mußt gleich ins Bett. Du brauchst Schlaf."

"Ich blute "..., flüsterte er und stützte sich kläglich auf ihren Arm. Dieser Mann, der im Kriege dreimal verwundet worden war, wurde bleich von einem blutenden Ritz in seiner Hand, kaum zwei Zentimeter lang.

Herr von Studmann hielt es bei diesem Anblick wirklich für geraten, zu gehen. Nicht die Frau war hier die Schutzbedürftige.

Mit einem letzten Anfall unbeugsamer Entschlossenheit blitzte der Rittmeister ihm nach: "Ich reise - nie!"

Es war gar kein Wunder, es war eigentlich selbstverständlich, daß der

Rittmeister von Prackwitz doch reiste - am nächsten Mittag, und recht aufgeräumt sogar, und zwar zu Herrn Geheimrat Schröck, mit drei Flintenfutteralen und einem Leukoplaststreifen auf der rechten Hand. Wogegen er sich am Abend mit Geschrei gewehrt hatte, Irrsinn und Klapsmühle, dem stimmte der Rittmeister am Morgen auf das erste freundliche Wort der Frau fast begeistert zu. Es war nicht nur der Kater, es war nicht nur der Wunsch, dem Freunde, vor dem er sich so sehr hatte gehenlassen, aus den Augen zu kommen. Nein, es war ganz offen die Freude an der Veränderung: eine Reise, Weidwerk statt Geldsorgen ... Und es war nicht zuletzt das hochfeine Sanatorium, die Erholungsstätte des Adels - ein Reichsfreiherr statt des schwitzenden Schwiegervaters ...

"Veranlasse nur, daß regelmäßig ausreichend Geld geschickt wird", sprach er besorgt zu seiner Frau. "Ich möchte mich doch nicht blamieren -"

Frau Eva versprach es.

"Ich denke, ich gehe in Berlin noch einmal bei meinem Schneider vorbei", meinte der Rittmeister sinnend. "Ich habe eigentlich keinen ganz frischen Jagdanzug mehr ... Du bist doch einverstanden, Eva?"

Frau Eva war einverstanden.

"Ihr müßt dann eben sehen, wie ihr hier zurechtkommt. Ich reise nur auf euren Wunsch, vergiß das nie! Bitte keine Klagen, daß etwas nicht klappt. Mir liegt nichts an der Reise. Ich kann auch hier Karnickel schießen!"

"Willst du dich nicht noch von Studmann verabschieden, Achim?"

"Ja, natürlich! Wenn du meinst. Erst einmal werde ich packen. Und die Flinten müssen auch noch gefettet werden. Jedenfalls grüße ihn schön von mir, wenn ich ihn nicht mehr sehen sollte. Er wird jetzt wohl immer deinen Herrn Vater um Rat fragen. Er kann ja nicht Winter- und Sommergerste unterscheiden! Ihr werdet hier Sachen anrichten!" Der Rittmeister lächelte freudig. "Na, wenn es gar zu schlimm wird, kannst du mich rufen. Ich komme natürlich sofort. Ich bin nicht übelnehmerisch, ich nicht!"

12

An der Tür lauschend, hatte Violet nur den Anfang der Auseinandersetzung im Zimmer ihres Vaters angehört. Dann, als sie sich überzeugt hatte, der Streit werde wohl noch eine Weile weitergehen und die Mutter in Atem halten, war sie durch die dunkle Küche aus dem Haus

geschlüpft. Einen Augenblick stand sie zaudernd an der Hinterfront. Noch einmal überlegte sie, ob sie es wagen sollte. Kam ihre Mutter dahinter, daß sie bei Nacht statt ins Bett aus dem Haus gegangen war, konnte kein noch so trotziges Lügen sie vor der angedrohten Einschließung in ein strenges Töchterpensionat retten! Außerdem hatte sie Hubert Räder mit dem Brief losgeschickt - fand er den Leutnant, erreichte der Brief ihn, so würde Fritz noch in dieser Nacht unter ihr Fenster kommen, und da war an der Wand das Spalier! Ging sie fort, verfehlte sie ihn vielleicht ...

Zögernd stand sie. Alles sprach dafür, zu bleiben und zu warten. Aber da war die warme, voll ausgestirnte Augustnacht ... Die Luft war wie etwas Lebendiges, das sich an ihre Haut schmiegte - sie war wie eine Verbindung zu ihm, der auch in dieser weichen Nacht draußen war, vielleicht ganz in ihrer Nähe ... Sie fühlt das Blut leise in ihren Ohren singen, diesen süßen, verführerischen Lockgesang, den der Körper singt, wenn er bereit ist ... Sie möchte doch lieber gehen - ihr wird ganz traurig, als sie daran denkt, daß sie die Nacht umsonst auf ihn warten könnte ...

Ein kleiner Lichtfleck ganz unten am Hause, fast in der Erde, erregt ihre Aufmerksamkeit. Unentschlossen, wie sie ist, geht sie erst einmal auf ihn zu, froh über jede Ablenkung, die den Entschluß hinausschiebt. Sie geht ganz leise; nun, neben dem Lichtschein angelangt, läßt sie sich aufs Knie nieder und späht. Was sie im Keller sieht, ist die erleuchtete Kammer des Dieners Räder. Aber so weit sie sich auch vorbeugt: die Kammer ist leer, für niemanden brennt das Licht. Es kann auch nicht anders sein, sagt sie sich. Er ist fortgegangen, um ihren Brief zu besorgen. Sie kann beruhigt hinauf in ihr Zimmer gehen: ist der Leutnant heute nacht in Neulohe, kommt er auch unter ihr Fenster. Der ordentliche Räder hat beim eiligen Weggehen vergessen, das Licht auszuknipsen.

Violet will sich schon wieder aufrichten, als die Tür am andern Ende der Kammer sich öffnet. Es ist komisch, und es ist ein bißchen unheimlich: sie hier, im Dunkeln mit der ganzen Nacht um sich, sieht unbemerkt auf eine kleine helle Bühne, die lautlos ist. Und komisch und dabei doch ein wenig unheimlich ist auch der Anblick, der sich ihr bietet: wer jetzt sorgfältig die Tür schließt, ist der Diener Hubert Räder. Aber nicht mehr der förmliche junge Mann in grauer Livree, sondern etwas Lächerliches in einem übermäßig langen, weißen Nachthemd mit bunter Borte. Über diesem weißen Engelsgewand aber sitzt der graue, fischige Kopf mit den blicklosen Augen - und seit heute abend kann Violet diesen Kopf nicht mehr dumm und albern finden, sondern ein leises Grauen erfüllt sie ...

Nachdem der Diener Räder die Tür sorgfältig geschlossen hat, geht er zum Schrank in der Ecke. In seiner Hand trägt er ein Glas mit einer Zahnbürste. Er schließt den Schrank auf und setzt das Glas mit der Bürste hinein ... So sind die Menschen! Nachdem Hubert Räder heute abend vielleicht doch eine ungewöhnliche Sensation erlebt hat, etwas, das man vielleicht die Probe auf einen Mord nennen kann, zieht er sich wie alle Abend ein Nachthemd an und putzt sich die Zähne ... Er ist nicht immer ein Mörder, meistens ist er nur ein kleiner, ganz gewöhnlicher Bürger, das macht ihn so gefährlich! Einen Tiger erkennt man an seinen Streifen, aber ein Mörder putzt sich wie alle andern die Zähne, er ist unkenntlich.

Und nun soll Violet etwas noch Seltsameres sehen ...

Aber Violet beobachtete jetzt nicht sehr, sie denkt auch nicht weiter über den Diener Räder nach, sie rechnet ...

Höchstens fünf Minuten habe ich an der Tür gelauscht, rechnet sie. Dann bin ich gleich hier rausgegangen. Höchstens drei Minuten habe ich dann am Küchenausgang gestanden. Hubert hat noch abzudecken gehabt - das hat er getan, während ich gute Nacht sagte. Dann das Geschirr wegsetzen. - Aber er kann gar nicht aus dem Haus gewesen sein! Sich ausziehen, waschen, Zähne putzen - und mein Brief? Mein Brief -?!

Mein Brief! möchte sie schreien und gegen die Scheibe schlagen und ihn zurückfordern. Es ist nicht nur die Scheu, das Haus jetzt aufmerksam zu machen, es ist nicht nur die Abneigung gegen eine langwierige, alberne Verhandlung mit dem verschrobenen, verlogenen Kerl, die sie zurückhält.

Ach, laß den Brief! denkt sie plötzlich ganz ruhig. Ich brauche ihn gar nicht, ich finde Fritz auch so ... Er wird ihn unterschlagen haben, nicht um ihn den Eltern zu bringen, nein, um wieder einmal eine Belohnung zu verlangen!

Sie sieht sich dastehen im Dunkeln und auf ihn warten. Sie fühlt die Hand auf ihrem Herzen, die kalte, unmenschliche Hand, und wieder spürt sie etwas von dem Geschmack des Grauens im Munde. Wenn ich es Fritz sage, schlägt er ihn tot; Fritz hat den kleinen Meier schon wegen viel weniger totschlagen wollen ... Aber sie spürt, daß sie es Fritz nicht sagen wird, daß dies für Fritz immer ein Geheimnis bleiben muß, es gehe aus, wie es wolle. Eigentlich müßte sie ja nun erschrecken, daß sie mit dem Räder zusammen ein Geheimnis hat. Aber es erschreckt sie nicht. Eine düstere Verführung liegt in dieser bösen Dienerhand, sie versteht es nicht, aber sie fühlt es ...

Während ihr all dies durch den Kopf schießt - und es vergeht ja kaum eine Sekunde über diesen Erwägungen und Befürchtungen -, ist der Diener Hubert Räder am Fußende des Bettes niedergekniet. Da hockt er in seinem langen weißen Nachthemd, die Hände gefaltet, und betet sein Nachtgebet wie ein Kind. Aber der graue, böse Kopf hat nichts Kindliches. Violet, wie sie ihn kaum drei Meter entfernt auf dem Boden der tiefen Kellerstube, auf der kleinen, nur für sie erleuchteten Bühne knien und beten sieht gleich einem frommen Kind, ihn, der eben noch seine Hand um ihren Hals gelegt - Violet, wie ihr einfällt, ob er jetzt wohl dem lieben Gott dankt, daß er das mit ihr hat tun dürfen - Violet packt ein grausiger Lachkrampf, sie kann sich nicht mehr halten, sie springt auf und läuft gradenwegs in die Nacht hinaus, wie es kommt, ohne an die Leute zu denken, die sie nicht sehen dürfen. Und an den Fritz, den sie sehen muß ...

Sie läuft durch den Garten, immer weiter, einen Grasrain zwischen den Feldern hinauf. Ihre Brust keucht. Es ist, als müßte sie fortlaufen von alldem, von sich und allem. Aber am Ende bezwingt ihr Körper das Grausen doch, und sie wirft sich hin, wo sie steht, und sieht in den gestirnten, sehr dunklen Nachthimmel, auf dessen unfaßbar tiefem Grund die Sterne um so heller funkeln. Endlich schläft sie ein ...

Aber sie kann nur ganz kurz geschlafen haben, die Sterne sind nicht weitergerückt, seitdem sie die Augen schloß. Es ist ihr, als habe sie etwas sehr Leichtes, Heiteres geträumt, aber sie weiß nichts mehr davon, ein Gefühl nahender Gefahr hat sie geweckt. Doch es ist nichts von Gefahr zu sehen, es ist nur Stille, ländliche Nacht um sie. Jetzt ist auch das Dorf schlafen gegangen, kein Laut ist mehr von dort zu hören.

"Nein, es ist keine Gefahr", sagt sie, ihr pochendes Herz beruhigend. Aber plötzlich fällt ihr ein, daß sie allein auf den Feldern und daß ihr Rufen zu fern ist, um einen Menschen im Dorf zu wecken ... Und sie, die hundertmal zu Nachtzeiten draußen in Feld und Wald ohne den Gedanken auch nur an Angst gewesen ist, sie packt plötzlich feige, zähneklappernde Angst, er könne kommen in seinem weißen Hemd, den Feldrain entlang, und wieder seine Hand auf ihr Herz legen wollen. Ich könnte mich ja nicht wehren! denkt sie.

Und fängt wieder an zu laufen; sie läuft fort von der Villa, aus der er ihr nachkommen kann, sie läuft gegen die dunkle Baummasse des Parks zu. Sie überklettert den Zaun, eine Bahn ihres Kleides reißt scharf an einer Nagelspitze durch. Vornüber taumelt sie in das Gras, aber sie springt gleich wieder auf ihre Füße und läuft hinein in den Park, dem Schwanenteich zu, an den hohlen Baum ... Sie faßt hinein in die Höhlung,

aber es liegt kein Brief darin; so hat er ihn also schon herausgenommen und ist auf dem Wege zu ihr ...

Da läuft sie wieder, aber schon im Anlaufen fällt ihr ein, daß er den Brief gar nicht bekommen hat, daß der Brief noch in Räders Besitz ist, und eine rasende Wut gegen den Bengel Räder faßt sie ... Aber sie vergeht, denn während sie weiterläuft, muß sie darüber nachdenken, warum sie noch immer läuft. Es hat ja keinen Zweck mehr, zu laufen, natürlich ist er überhaupt nicht im Dorf, natürlich kehrt man nach einer solchen Waffenvergrabung zu seinem Truppenteil zurück und macht Meldung, daß alles gut abgegangen ist, statt auf Liebesabenteuer in die Dörfer zu gehen. Aber trotzdem sie weiß, daß sie nicht mehr zu laufen braucht, läuft sie weiter, als hetze sie irgend etwas, und sie hält erst inne, als sie durch die Bäume ein helles, gelbes Lichtrechteck schimmern sieht ...

Sie ändert ihren Schritt in vorsichtigstes Schleichen und nähert sich katzenleise dem hellen Fenster. Es steht weit offen, aber die Gardinen sind vorgezogen. Violet überquert den Weg, tritt auf den schmalen Grasstreifen unter dem Fenster und schiebt die Gardinen vorsichtig auseinander. Sie ist so verwirrt diese Nacht, daß ihr nicht einen Augenblick der Gedanke kommt, sie tue etwas Unzulässiges, ja nur Ungewöhnliches. Nachdem sie einen ersten musternden Blick in das Zimmer geworfen hat, schiebt sie den Kopf ganz durch die Gardinen, und so bleibt sie beobachtend stehen: mit dem Leib draußen in der Nacht, aber mit dem Kopf in der hellen Stube.

Am Tisch sitzt der junge Wolfgang Pagel und schreibt einen Brief. Es war ein ziemlich zerfahrener Tag gewesen, er hatte ihn unlustig und traurig gemacht, auf diese Art schmeckte auch Landarbeit nicht. Am Vormittag der Krakeel mit dem Rittmeister, der ihn hinauswarf; dann das Durcheinander mit den Zuchthäuslern; die zugemauerte Tür mit dem weißen Kreuz, das wieder rot überpinselt werden mußte; der verdrehte Diener Räder mit seinem Karren voller Gänseleichen; der geheimnisvoll im Schloß beratende Studmann - alles war überreizt, zerfahren, so wenig ländlich wie nur denkbar gewesen!

Als er dann schließlich ärgerlich sein einsames Nachtessen hinuntergewürgt hatte - Studmann war durch den Diener Elias entschuldigt worden -, hatte er mit seinem Abend dagestanden, unfähig zu schlafen, unlustig, noch etwas zu tun. Es war ihm sogar der Gedanke gekommen, in den Gasthof zu gehen; man konnte ein bißchen trinken, um sich aufzumöbeln, und vielleicht einen kleinen Skat dreschen ... Schließlich hatte er die Idee gehabt, ins Dorf zu bummeln und nach der

Sophie Kowalewski auszuschauen. Alles in allem war sie ein ganz nettes Mädchen und wahrscheinlich, da berlinisch angehaucht, ohne allzuviel Ziererei. Das gnädige Fräulein, Violet von Prackwitz, mit seinen Vormittagsküssen, wäre gefährlicher gewesen.

Aber da fiel ihm ein, daß er nicht aus dem Haus konnte, weder in den Gasthof noch zur Sophie! Er hatte einen Auftrag angenommen, er erwartete einen Besuch, den er zu vertrimmen hatte: den besagten dämlichen Diener mit dem Fischkopp, Hubert Räder.

Eine Weile war Wolfgang Pagel nun durch die Dämmerung in seinen beiden Gemächern auf und ab gegangen, jetzt im Büro, jetzt in seinem Zimmer. Aber es verbessert eine schlechte Stimmung entschieden nicht, wenn man viertelstundenlang auf und ab geht und überlegt, wie man einen schuftigen Kerl bedrohen, einschüchtern und verhauen wird. So etwas erledigt man am besten ohne jede Überlegung aus dem Handgelenk. Aber was dann tun -?

Es war eine ziemlich auffallende Geschichte: wenn er sich mit irgendeinem Mädchen beschäftigte, heiße es nun Violet, Amanda oder Sophie, so lief es am Ende stets auf ein Erinnern an Peter hinaus. Nun, Peter war endgültig versunken und vergessen, Friede ihrer Asche, ein gutes, freundliches Mädchen, aber wie gesagt: Friede ihrer Asche! Immerhin konnte er endlich einmal seiner Mutter schreiben, ihr von seinen neuen Lebensumständen einiges berichten und zu größerer Beruhigung die Liquidation der Masse Petra Ledig melden. Das wäre immerhin erheblich besser, als hier tatenlos auf eine klägliche Schlägerei zu warten. Der Kerl war bestimmt ein Feigling!

Kurz entschlossen schaltete Pagel das Licht in seinem Zimmer ein, zog die Gardinen vor und holte sich Schreibgerät aus dem Büro. Nun noch das Jackett aus: in Sporthemd und Gürtelhose saß er bequem und luftig am Tisch und fing an zu schreiben.

Zuerst störte ihn noch der Gedanke an das Kommen Räders, aber bald vergaß er diesen Knaben Pflaumenweich ganz und ließ seine Feder laufen. Er schrieb von seinem Leben in Neulohe, ein bißchen schnoddrig, ein bißchen flapsig, wie man eben schreibt, wenn man dreiundzwanzig Jahre alt ist und nicht zugeben will, daß einem etwas Spaß macht. In fünf Sätzen zeichnete er ein Bild seines "Brötchengebers", dann des rauschebärtig biederen Schwiegervaters, der aus allen Knopflöchern nach List und Heimtücke stank. Von vergangenen Dingen schrieb er nichts, nichts von einem weggenommenen Bild, nichts vom Verbleib einer immerhin beträchtlichen Geldsumme, gar nichts von einer in die Luft gegangenen Heirat. Weder Scham noch Verstocktheit hinderten

Wolfgang, von diesen weniger angenehmen Dingen zu schreiben. Sondern solange man noch wirklich jung ist, glaubt man noch, daß das Vergangene auch wirklich vergangen sei, nämlich völlig abgetan. Man glaubt, daß man jeden Tag ein "neues Leben" anfangen kann, und man setzt bei all seinen Mitmenschen den gleichen Glauben voraus - bei der Mutter zumal. Man weiß noch nichts von jener Kette, die man ein ganzes Leben hinter sich dreinschleppen wird; jeder Tag, jedes Erlebnis fügt an diese Kette ein neues Glied. Man hört ihr Klirren noch nicht, man hat noch nicht die entmutigende, hoffnungslose Bedeutung des Satzes begriffen: Weil du dieses tatest, mußt du dieses sein!

Nein, dreiundzwanzig Jahre, hin ist hin, vergangen ist vergangen - Wolfgangs Feder läuft über das Papier. Jetzt zeichnet sie ein Bild Studmanns, des Kindermädchens und hauptamtlichen Belehrers; Pagels Laune steigt, der Geist seines Vaters fährt in ihn ... Er entwirft am Rande des Briefes eine Karikatur Studmanns, er zeichnet ihn als ein betrübt vor seinem Bau sitzendes Kaninchen. Das Kaninchen sieht weise und töricht zugleich in die Welt - vor allem aber betrübt.

Pagel betrachtet zufrieden flötend sein Werk, es ist wirklich ähnlich. Dann hebt er den Blick und begegnet dem Auge des gnädigen Fräuleins: Violet von Prackwitz.

"Hoppla!" sagt Pagel ohne sonderliches Erstaunen über diesen ungewöhnlichen Zaungast. Dann: "Der Knabe Räder ist ausgeblieben?"

Sie schüttelt den Kopf. Dabei gleitet eine Schulter durch den Vorhang, und sanft legt sich unter ihr die Brust auf das Fensterbrett. Der durch die vorgebeugte Haltung weit offene Ausschnitt läßt die zarte Haut sehen, so verführend milchweiß neben dem dunklen Braun des Halses.

"Nein", sagt Violet nach einem Augenblick des Zögerns. Sie sagt es langsam, als spräche sie unlustig, aus einem Schlaf heraus. "Räder hat noch für Papa zu tun. Ich konnte ihn nicht schicken."

Pagel wirft einen Blick auf das Mädchen. "Und Sie, meine Gnädigste?" fragt er gezwungen leicht. "Noch so spät unterwegs? Kein Stubenarrest mehr?"

Wieder wartet sie eine ganze Zeit mit der Antwort, während sie ihn unverwandt ansieht. "Ich war bei den Großeltern", erklärt sie schließlich. "Ich wollte Ihnen doch Bescheid sagen ..."

"Danke!" sagt Pagel, "ein bißchen zu spät."

Es ist so still, warm und still. Die Brust auf dem Fenster, der atmende Mund, Geheimnis atmend, Erfüllung versprechend. Es ist so lange her ... Alles wächst, reift, gedeiht ... Verweile doch -!

"Ja "..., sagt Pagel nach einer Weile, verloren, träumerisch.

Dann ist wieder alles still, stille, dunkle, treibende Nacht.

"Kommen Sie einmal her "... flüstert sie plötzlich. So leise sie flüsterte, er fährt zusammen, als habe er einen Schlag bekommen.

"Ja -?" fragt er halblaut und ist doch schon aufgestanden von seinem Stuhle.

"Bitte, ja "..., flüstert sie wieder, und er geht ihr langsam näher.

Ohne daß er es weiß, hat sein Gesicht einen anderen Ausdruck bekommen, einen bitter entschlossenen Ausdruck, als schmecke er die Frucht schon, die nicht süß sein kann. Ihr Gesicht aber sieht weiter aus wie da, als sie in das Zimmer mit dem betenden Diener hineinspähte: halb schlafend, als spüre sie Grauen und Verzweiflung und Lust und Verlangen.

"Näher!" flüstert sie, als er einen Schritt vor ihr stehenblieb. "Noch näher!"

Es ist die Verführung der Stunde, und es ist die Verführung des hungrigen Fleisches, aber es ist auch die Verführung ihres Verlangens. Dieses Verlangen ist wie ein Netz, das ihn unspürbar umfängt, ihn näher zieht ...

"Nun -?" fragt er leise, und sein Gesicht ist direkt bei dem ihren.

"Möchten Sie "..., sagt sie stockend, "möchten Sie mich nicht noch einmal küssen -?"

Und sie hebt ihm ihren Kopf entgegen; mit einer entschlossenen und doch kindlichen Bewegung bietet sie ihm die Lippen. Plötzlich stehen in ihren Augen Tränen ... Ach, es ist nicht nur Verderbtheit, die sie die Lust in des andern Umarmung suchen läßt - es ist auch die Angst vor dem, der unaufhaltsam in ihr vordringt! Er hatte die Hand auf ihr Herz gelegt, von ihr Besitz ergriffen ...

"Da!" sagte sie ratlos, und ihre Lippen begegneten sich. So blieben sie eine endlose Zeit. Auf seiner Hand, die sich auf das Fensterbrett stützte, lag ihre Brust, er fühlte durch den seidigen Stoff ihre Schwere und Reife, schöner als jede Frucht! - Waren es die Grillen, die draußen im Park zirpten -? Eine dünne, süße Melodie, wie von seinem Blut gesungen, weiter, immer weiter, ohne Absetzen, als sänge die Erde sie selbst, diese gute, fruchtbare Mutter Erde, die die Liebenden liebt ... Eine endlose Zeit bleibt sein Mund auf ihren Lippen liegen ...

Dann spürt er, daß sie unruhig wird. Sie möchte etwas sagen. Er will diese Lippen nicht loslassen, den Zauber nicht unterbrechen ... Mit einer gelenkigen Bewegung schlüpft ihre linke Schulter aus dem Kleid.

Während ihre linke Hand weiter auf seiner Schulter liegt, befreit die rechte die Brust ...

"Da!" sagt sie klagend. "Leg deine Hand darauf - es ist so kalt ..."

Und ehe er noch seinen Willen befragen kann, hat sich seine Hand schon um ihre Brust geschlossen.

"Oh!" seufzt sie und drängt ihre Lippen fester gegen die seinen.

Was denkt er? Denkt er überhaupt etwas? Die Flamme steigt und steigt. Er sieht etwas wie Bilder, eilige Bilder, vorüberfliegen, ein Gespensterspiel des Ehemals auf der Bühne seines Hirns. Das Zimmer bei der Pottmadamm, er erwacht und begegnet dem Blick Peters ... die Flamme steigt und steigt ... "Darf ich nicht mitkommen?" - so oder ähnlich fragte sie, und dann kam sie mit; in der gipsernen Marmorpracht eines Berliner Treppenvestibüls stellten sie sich einander vor: Petra Ledig - unvergeßliche Stunde.

Die Grillen feilen noch immer, aber es sind keine Grillen, Grillen leben nicht in einem Park, Grillen leben in Häusern - es sind Grashüpfer, Heuschrecken, die so singen, grüne, ziemlich grotesk ausschauende Tiere ...

Da ist die Brust wieder in deiner Hand, du spürst sie wieder. Es ist die Brust, es war nur die Verführung des Fleisches, nicht die der Liebe. Lose, leise; lockere den Mund, wir dürfen das kleine Mädchen nicht erschrecken, es ist bloß verdorben. Aber es hat nichts für seine Verdorbenheit eingetauscht, nicht einmal Wissen. Es weiß nichts von sich, es ist wie eine Schlafwandlerin, man darf es nicht plötzlich aufwecken. Peter war anders - oh, Peter war ganz anders! Sie wußte alles - aber sie war unschuldig wie ein Kind! Es kann unmöglich stimmen, was sie mir auf der Wache von ihr erzählt haben. Peter war nicht verderbt, sie wußte, aber sie war immer unschuldig ...

"Was ist Ihnen?" fragt Weio und sieht ihn verständnislos an. "Woran denken Sie?"

"Ach -", sagt er verloren. "Ich habe mich eben an was erinnert ..."

"Erinnert -?!" fragt sie.

"Ja", sagt er. "Erinnert. Ich gehöre einer andern Frau". Er sieht die plötzliche Veränderung ihres Gesichtes, das Erschrecken. Er sagt eilig: "So, wie Sie einem andern Mann gehören."

"Ja -?" fragt sie folgsam. Sie ist so leicht zu lenken, ein junges Pferd, das Maul ist noch zart. Sie folgt jedem Zügelzug. "Und die andere Frau - ist es auch vorbei?"

"Ich habe es gedacht", sagt er eilig. "Aber eben fiel mir ein, daß es

vielleicht doch nicht vorbei ist."

"Eben -?"

Sie steht da, im Fenster, zwischen den Vorhängen, wie er sie mitten im Kuß vergaß, das Haar unordentlich, die Brust noch immer entblößt, die Unterlippe weinerlich zitternd -: die Stätte der Lust, von der Lust verlassen ... Sie sieht bemitleidenswert aus.

"Auch bei Ihnen ist es ja nicht wirklich vorbei", tröstet er hastig. "Sie brauchen nur ein wenig zu warten, Sie wissen doch. Es ist nur ehrenhaft von ihm, daß er sich solange zurückzog."

"Meinen Sie -?" fragt sie lebhafter. "Sie meinen, er kommt wieder? Es sind nur meine dummen fünfzehn Jahre?"

"Natürlich!" sagt er. "Warten Sie, ich mache mich schnell zurecht, ich bringe Sie nach Haus. Wir können noch über alles reden."

Er dreht sich um, er geht zum Spiegel, kämmt sich das Haar. "Brauchen Sie auch einen Kamm?" ruft er. "Da!"

Er zieht sich seine Jacke an, wäscht sich die Hände, unterdes ist auch sie fertig geworden. "Los!" sagt er und schwingt sich durch das Fenster. "Das Licht kann ruhig brennen bleiben, ich bin ja gleich wieder zurück."

Sie gehen gemächlich nebeneinanderher, die Nacht ist lind und windstill, sie verlockt zum Bummeln und Schlendern. Als sich im Gehen ihre Hände zweimal gestreift haben, faßt er ihre Hand, und so gehen sie weiter, Hand in Hand, wie zwei gute Freunde.

"Wissen Sie was, Weio", sagt Pagel, "ich will Ihnen sagen, was ich eben entdeckt habe. - Eigentlich schickt es sich ja nicht, über so was mit jungen Mädchen zu sprechen, aber wer soll es Ihnen sonst erzählen? Ihre Eltern doch bestimmt nicht -!"

"Die!" sagt Weio verächtlich. "Die denken ja, ich glaube noch an den Klapperstorch!"

"Siehste!" meint Pagel vergnügt. "Wahnsinnig rückständig - was die sich einbilden! Bei den Schlagern heute soll sich ein junges Mädchen wohl keine Gedanken machen? Also, passen Sie auf - aber wie sage ich es meinem Kinde? Verdammt komisch, von solchen Sachen zu sprechen; man geniert sich und ist wütend, daß man sich geniert ..."

"Ihre Entdeckung "..., erinnert Weio.

"Jaha! Also, ich habe Ihnen doch gesagt, ich gehöre einer andern Frau, und glauben Sie mir, die Minute vorher habe ich das noch nicht gewußt ..."

"Hören Sie mal!" ruft Weio und bleibt stehen. "Sie sagen mir reizende

Sachen ..."

"Ach, Quatsch, Weio, haben Sie sich doch bloß nicht so! Das ist doch keine Beleidigung für Sie, Sie sind doch jung und hübsch - na, und so weiter! Also, die Sache ist so: ich hab's nicht gewußt, daß ich der anderen gehöre. Früher, ehe ich sie kannte, habe ich so rumgeflirtet, mal da, mal dort ... Und ich habe gedacht, das ist immer so, das bleibt auch immer so: man verkracht sich, und dann ist eine andere da. Man hat die eine über, her mit der nächsten! Die Mädchen sind ja auch nicht anders", sagt er ein bißchen beschämt, zur Entschuldigung seines krassen Männerstandpunktes ... "Denken Sie bloß an das Lied: ›Wenn an der nächsten Straßenecke schon ein andrer steht‹ ..."

"So ist es doch auch, wenn's der eine nicht ist, ist's eben der andere!" stimmt Violet zu.

"Sehen Sie!" sagt Pagel triumphierend. "Das ist eben der Quatsch! Auf den Leim bin ich auch gekrochen! Aber es ist gar nicht wahr! Wie ich mit dem Peter angefangen habe, ich habe meine Freundin nämlich immer Peter genannt, eigentlich heißt sie Petra ..."

"Komischer Name!" meint Weio abfällig.

"Na, Violet ist nun auch nicht grade hinreißend!" ärgert sich Pagel, lenkt aber sofort ein. "Na also, das ist ja Geschmackssache. Mir gefällt Peter ausgezeichnet. Wie ich da mit Peter also ein Jahr zusammen gehaust habe ..."

"Sie haben mit ihr richtig zusammen gelebt!?"

"Natürlich! Wie denn sonst? Da findet doch heute kein Mensch mehr was bei! Ich hab gedacht, das ist genauso wie mit den früheren. Diese ist friedlicher und netter, deswegen hält's ein bißchen länger. Und wie es dann doch zu Ende war, grade ehe ich hierherkam, dachte ich: Nun also! Weg mit Schaden! Wird sich schon eine andere finden! Wissen Sie", sagt Pagel sich besinnend, "eigentlich, wenn man es sich jetzt so überlegt, ist es hundsgemein, so zu denken. - Aber was soll man tun, alle reden sie so, alle tun sie so, und dann denkt man, das ist auch so ..."

"Das ist auch so!" erklärt Weio trotzig.

"I wo, Schiete!" ruft Pagel übermütig. "Das ist ja grade meine Entdeckung! Die ganzen Wochen laufe ich hier nun schon in Neulohe herum, und soweit gefällt es mir ja ganz gut, danke schön, aber einen richtigen Mumm habe ich doch nicht gehabt. Früher, wenn ich morgens bloß aufwachte, freute ich mich schon, ganz ohne besonderen Grund, bloß weil ich da war; heute denke ich: Ach, wieder so 'n Tag, na, rin ins Hemde, daß er rasch verbraucht wird ..."

"Genau wie bei mir", sagt Weio. "Mich freut auch nichts mehr."

"Dieselbe Krankheit, meine Dame!" ruft Pagel. "Ich pule Ihnen das noch genau auseinander! Also keinen Mumm mehr und keinen Spaß mehr, und körperlich ist einem auch so unfrisch ..."

"Ich will Ihnen was sagen", erklärt Violet wichtig. "Ich habe das gelesen: Sie haben einfach Abstinenzerscheinungen - wo Sie doch ganz mit ihr zusammen gelebt haben."

"I du Donnerwetter!" ruft Wolfgang Pagel verblüfft. "Für Ihr Alter war das ganz hübsch, gnädiges Fräulein!"

Er schweigt einen Augenblick nachdenklich. Bedenken steigen in ihm auf: Ist es auch richtig, daß er einem so jungen Mädchen, grade diesem jungen Mädchen, von seiner Entdeckung erzählt -? Aber er beruhigt sich wieder; wäre sie wirklich, wie dieser Ausspruch vermuten läßt, sie hätte ihn nicht getan! Wirklich verdorbene Menschen suchen ihre Verderbtheit zu verbergen.

"Nein", sagt er darum wieder nach einer Weile. "Es gibt Mädchen genug im Dorf. Das ist es grade, was ich entdeckt habe, daß nicht an jeder Ecke eine andere steht. Oder eben doch: eine andere. Aber man sucht dieselbe. Glücklich kann nur dieselbe machen. Und auch Sie suchen denselben ..."

Sie denkt eine Weile nach, dann sagt sie: "Ich weiß es nicht, ich verstehe es nicht. Ich bin so ruhelos, immerzu treibt es mich um, und dann eben, wie ich in Ihr Fenster sah, dann ist mir so, als wäre es ganz gleich, wer es ist, als könnte jeder mir Ruhe geben ..."

"Ich", sagt Pagel, "ich habe es jetzt erst begriffen. Wenn ich ein Mädchen sehe, und es mag mir noch so gut gefallen, ich muß es gleich mit Peter vergleichen, und dann weiß ich, es ist nichts."

"Verstehen Sie das?" fragt Weio und hat kaum auf ihn gehört. "Nach so was kann man nun keinen Menschen fragen! Die Eltern nicht, keinen. Ich denke den ganzen Tag daran, und nachts träume ich davon. Manchmal glaube ich, ich werde noch verrückt. Wenn Papa und Mama fort sind, schleiche ich in Papas Zimmer und sehe im Konversationslexikon nach. Aber wenn man darin liest und man liest in Räders Buch, dann klingt es so, als wäre alles nur Körper. Und manchmal ist mir dann so, als stimmte es, und ich werde traurig. Und dann wieder sage ich mir: so kann es doch nicht sein ..."

"Natürlich ist es nicht nur der Körper", sagt Pagel. "Das haben Sie sich so zurechtgemacht. Wenn es nur der Körper wäre, dann wäre ja jeder für jede richtig, und da braucht man sich ja nur die andern anzusehen, um

zu wissen, daß das nicht stimmen kann."

"Da haben Sie recht", meint sie. "Aber - vielleicht ist es doch so, daß mehrere stimmen? Vielleicht sehr viele? Bloß nicht alle! Alle natürlich nicht."

"Ich denke jetzt: nur eine!" sagt Pagel. "Ich bin schrecklich froh, daß ich das gefunden habe ..."

"Herr Pagel "..., sagt sie halblaut.

"Ja -?"

"Herr Pagel - ich wäre - vorhin - schrecklich gern zu Ihnen ins Zimmer gekommen."

Er schweigt.

Sie sagt trotzig: "Es ist sicher schrecklich gemein von mir, daß ich das sage, aber es ist doch so. Bei allen muß ich lügen, auch bei Fritz. Da will ich bei Ihnen einmal die Wahrheit sagen können."

"Sie hätten sicher einen schrecklichen Kater bekommen", sagt er vorsichtig. "Und ich auch."

"Sagen Sie", fängt sie wieder an, "vorhin, da an Ihrem Fenster - waren Sie darum so, weil ich erst fünfzehn bin und weil man ein Lump ist, wenn man sich mit einer Fünfzehnjährigen einläßt?"

"Nein!" sagt er verblüfft. "Daran habe ich gar nicht gedacht."

"Sehen Sie!" ruft sie triumphierend. "Dann braucht mein Leutnant auch kein Lump zu sein."

Sie ist stehengeblieben, sie sind oft stehengeblieben auf diesem Weg durch das Dorf - es ist ja nach elf Uhr, um diese Stunde schläft in der Erntezeit alles. Sie hat seine Hand losgelassen, er spürt, daß sie etwas sagen möchte.

"Nun?" fragt er.

"Ich", bittet sie stockend und doch mit einer verzweifelten, fest flehenden Hartnäckigkeit. "Ich möchte furchtbar gerne noch einmal mit Ihnen umkehren ..."

"Nein, nein", wehrt er ganz leise ab.

Da hat sie schon die Arme um seinen Hals geworfen, sie drückt sich an ihn, sie lacht und sie weint in einem Atem, sie überschüttet ihn mit ihren Küssen, sie möchte ihn verführen ...

Und unter dieser Verführung wird es ganz kalt in ihm, er drängt sie nicht zurück, er hält sie sogar lose in seinen Armen, damit sie nicht fällt. Er vergißt nicht wieder, daß sie ein halbes Kind ist ... Sein Mund bleibt

kalt, und sein Blut bleibt kalt, keine Flamme steigt mehr empor.

Aber aus dem Dunkel wächst das Bild der andern, keiner behüteten anderen, keiner höheren Tochter, keiner Erbin - wahrhaftig nicht! Es gibt etwas anderes, denkt er plötzlich erschüttert, immer stärker erschüttert, aufgewühlt und angefaßt. Man kann durch den Schmutz gegangen sein und viel Schlimmes erlebt haben, und man muß doch nicht schmutzig und schlimm geworden sein. Sie, sie, sie hat mich geliebt, und sie war rein - aber ich habe es nicht gewußt! Und es scheint ihm so gleichgültig, was sie ihm da von Krankheit und Strich erzählt haben, es ist nicht wahr!

Und während er all dieses flüchtig bedenkt, bedrängen ihn Weios Küsse, ihre Zärtlichkeiten immer weiter. Ach, wenn es ihr doch über würde, wenn sie es doch aufgäbe! denkt er angeekelt. Aber es ist, als machte sie die eigene Zärtlichkeit immer närrischer und toller, sie stöhnt leise, sie faßt seine Hand und drückt sie wieder gegen ihre Brust ... Ich werde doch nicht noch grob werden müssen! denkt er besorgt.

Da tönen Schritte aus dem Dunkel, schon ganz nahe ... Blitzschnell läßt sie von ihm und gleitet gegen den nächsten Zaun, an dem sie mit von der Dorfstraße abgewandtem Gesicht stehenbleibt ... Auch Pagel dreht sich halb ab ...

Und nun geht Herr von Studmann, das ewige Kindermädchen, dieses Mal das Kindermädchen, ohne es zu wissen, an ihnen vorüber. Er scheint durch das Dunkel nach ihnen zu spähen, ja, er rückt sogar an seinem Hut, er sagt höflich: "Guten Abend."

Pagel knurrt etwas, und vom Zaun kommt ein Laut - ist es Lachen? Ist es Weinen?

Dann verhallen die Schritte.

"Das war Herr von Studmann, Fräulein Violet", sagt Pagel.

"Ja, ich muß schnell nach Haus, meine Eltern werden jetzt schlafen gehen. Gott, wenn Mama in meinem Zimmer nachsieht!" Sie läuft eilig neben ihm her, sie stößt wütend hervor: "Und alles wegen gar nichts! So ein trauriger Mond!"

"Ich denke, Sie waren bei Ihren Großeltern?" fragt Pagel, ein wenig spöttisch.

"Ach, Quatsch!" ruft sie wütend. "Sie können mir ja leid tun, wenn Sie noch nicht kapiert haben, was ich gesucht habe!"

Pagel antwortet nicht mehr, und auch sie schweigt nun. Sie erreichen die Villa. "Gottlob, sie sind noch unten!" ruft sie. Aber grade, wie sie es sagt, geht das Licht in des Rittmeisters Zimmer aus, und die schräg aufsteigenden bunten Fensterchen des Treppenhauses werden hell. "Los,

das Spalier hoch! Vielleicht schaffe ich es noch!" ruft Violet.

Sie laufen um das Haus herum.

"Bücken Sie sich, ich steige Ihnen auf den Buckel!" ruft sie und lacht. "Das ist ja doch das einzige, wozu Sie taugen!"

"Immer gerne zu Diensten", erklärt Pagel höflich. Sie steht schon oben, angelt nach einer Spalierlatte.

Eine Elfe bist du auch nicht, denkt Pagel, der merkt, wie sie ihn mit Vergnügen ihr volles Gewicht spüren läßt. Aber jetzt ist sie schon höher, er tritt in einen Busch, die Glyzinienranken rascheln, nun verschwindet der helle Schatten in der dunklen Fensterhöhle.

Pagel sieht noch vier andere Fenster hell werden, er hört durch das offene Fenster den Rittmeister klagen, schimpfen und jammern.

"Klingt ziemlich besoffen", sagt er überrascht zu sich.

Er macht sich auf den Heimweg. Ich muß der Mama doch noch von Petra schreiben, denkt er. Sie muß sich erkundigen, was aus ihr geworden ist. Und habe ich in einer Woche keinen Bescheid, fahre ich nach Berlin. Ich werde sie schon finden ... Die Weio ist ein schwerer Fall ... Na, laß!

Aber die Zeitungen ...

Aus dem Sommer wurde langsam der Herbst, die gelben Getreideschläge leerten sich, der Schälpflug bräunte die helle Stoppel, die Leute auf dem Lande sagten: "Ja, das hätten wir wieder einmal geschafft!" Sie spuckten in die Hände und mähten das Grummet, manche fingen schon mit den Kartoffeln an!

Ja, es war etwas getan worden, eine gewisse Menge Arbeit war geleistet. Aber schlugen sie dann die Zeitungen auf - selten am übermüden Feierabend, eher noch am Sonntag - und lasen in ihnen: Was war nun draußen geschafft worden? Was hatte man in der Welt für Arbeit geleistet?

Die Leute lasen in den Zeitungen, daß die Regierung Cuno gestürzt worden war. Die Regierung Stresemann tauchte auf, der die Franzosen freundlicher gesinnt sein sollten - aber die Franzosen wurden nicht freundlicher.

Sie lasen davon, daß jetzt sogar in der Reichsdruckerei gestreikt wurde. Nun gab es eine Weile gar kein Geld mehr, nicht einmal das Dreckgeld.

Sie lasen davon, daß ein Krieg anhob, erst noch ein Papierkrieg,

zwischen dem Reichswehrminister und dem sächsischen Ministerpräsidenten. Sie lasen auch von einem Kampf der bayerischen Regierung gegen die Reichsregierung.

Sie lasen davon, daß England seinen Widerstand gegen die französische Ruhrbesetzung aufgegeben habe; sie lasen von Separatistendemonstrationen in Aachen, Köln, Wiesbaden, Trier; sie lasen davon, daß das Reich in einer Woche an Unterstützungen für Rhein und Ruhr dreitausendfünfhundert Billionen Mark ausgegeben habe. Dann lasen sie von der Aufgabe des passiven Widerstandes an der Ruhr und am Rhein, der Kampf gegen die widerrechtliche Besetzung durch die Franzosen wurde aufgegeben.

Sie lasen davon, daß der Export aufgehört habe, daß die deutsche Wirtschaft vernichtet sei; sie lasen auch von Kämpfen zwischen Separatisten und Polizei - die Polizisten aber wurden von den Franzosen in die Gefängnisse gesteckt.

In dieser Zeit, in diesen wenigen Erntewochen stieg der Dollar von vier Millionen Mark auf hundertsechzig Millionen!

"Wofür arbeiten wir?" fragten die Leute. "Wofür leben wir?" fragten sie. "Die Welt geht zugrunde, alles zerfällt", sagten sie. "Laßt uns noch fröhlich sein und unsere Schmach vergessen, ehe wir dahin müssen!"

So sagten sie, dachten sie, handelten sie.

ZWÖLFTES KAPITEL. Such verloren!

1

Kam Frau Eva von Prackwitz in diesen Wochen auf das Büro, um mit Herrn von Studmann die Wirtschaft zu besprechen, so vergaß Studmann nie, mit einem raschen, ernsten Aufblick zu fragen: "Und Ihr Herr Gemahl? Was schreibt Prackwitz -?"

Meistens bewegte Frau Eva dann nur verneinend ihre schönen, vollen Schultern, die sich in immer reizvolleren, leichteren Blusen verbargen(schien es Studmann). Manchmal aber sagte sie auch: "Wieder eine Postkarte! Es geht ihm gut. Er hat jetzt sein fünfhundertstes Karnickel geschossen!"

"Ausgezeichnet!" pflegte dann Herr von Studmann zu sagen. Und nun sprechen sie nicht weiter vom Rittmeister, sie sprechen von der Ernte, von der Arbeit. Sie sind beide zufrieden mit ihren Erfolgen, aber sie sind auch zufrieden miteinander. Was für zweckmäßig gehalten wurde, das

wurde ohne langes Reden beschlossen und auch ausgeführt. Stellte sich dann hinterher heraus, daß es doch nicht zweckmäßig gewesen war, so wurde nicht lange bedauert, sondern geändert, verbessert, anderes erprobt.

Es kamen natürlich immer Fehler vor, große wie kleine. Es war nicht leicht für Herrn von Studmann, einen so großen, ihm ganz neuartigen Betrieb in der eiligsten Arbeitszeit zu übernehmen und zu leiten. Oft mußte er in einer Minute die schwierigsten Entscheidungen treffen. Es half kein Zögern: die Brücke zum Außenschlag 5 war zusammengebrochen, zwanzig Gespanne, achtzig Leute standen tatenlos herum, sahen tiefsinnig das in den Graben gesunkene Erntefuder an, rekelten sich schon im Schatten und sprachen: "Da kannste nichts bei machen!"

Herr von Studmann machte was dabei. In einer Minute sausten die Boten ab zum Hof, in fünf Minuten waren Hacken, Spaten, Schaufeln auf dem Felde. Eine Viertelstunde später war schon ein Damm durch den Graben gelegt, nach zwanzig Minuten kam ein Fuhrwerk aus dem Wald mit Knüppeln - es war noch keine halbe Stunde vergangen, so fuhren die Erntefuder wieder von Außenschlag 5 auf den Hof ...

"Das ist ein Kerl!" sagten die Leute.

"Von dem möchte man direkt ein Kind haben!" sagte die Hartigen bewundernd, obwohl sie jetzt Feldarbeit statt Büroreinigung machen mußte.

"Das möchtste wohl, Frieda!" lachten die andern beifällig.

"Der ist eine andere Nummer als dein Negermeier!"

Ja, Herr von Studmann machte sich recht gut, aber er hatte auch gute Hilfe. Es war ein wahres Wunder, wie der alte, eingeschüchterte, demütige Leutevogt Kowalewski auftaute, wie mancher vorzügliche Ratschlag, aus alter Erfahrung geboren, seinem Kopfe entsprang! Bei den Leuten blieb er ja immer ein bißchen weich und lasch, aber da war es nun wieder erstaunlich anzusehen, wie der junge Pagel schwitzend, aber quicklebendig auf seinem Rade heranspritzte, mit den dollsten Weibern die unanständigsten Witze riß, aber genau sagte: "Bis hierher kommt ihr bis Mittag - und bis dorthin zu Feierabend!"

Wenn sie zeterten, das sei unmöglich, das Junkerchen möge es doch halbwege machen, sie seien doch bloß schwache Weibsen und kein solcher Kraftkerl wie er, so verspottete er sie, sie trauten sich doch wohl noch jeden Mann zu, und wenn man auf ihre Mäuler höre, sei der Knabe doch noch nicht geboren, der sie müde mache. Nun sollten sie es einmal

beweisen!

Unter ihrem brüllenden Lachen fuhr das Junkerchen wieder ab, aber am Abend waren sie so weit, wie er gezeigt hatte. Oder vielleicht sogar ein Stückchen weiter, und das vergaß er nie festzustellen, lobend oder, besser noch, mit einem derben Witz. Er gefiel ihnen allen, besonders, da keine auf eine andere seinetwegen eifersüchtig sein konnte.

"Der paßt in die Welt!" sagten sie. "Der kriegt mal 'ne feine Frau - nicht so einen Besen wie dich!"

"Na, und du -?! Dich Dreckhaufen kehre ich noch immer weg!"

Als sie erfuhren, was er gewesen war - und mit ihrer wachen Neugier bekamen sie natürlich alles heraus -, da hatten sie ihn erst Fähnrich genannt, dann den Fahnenjunker, dann den Junker, dann das Junkerchen. Und da er oft mit Fräulein Violet aufs Feld kam, so war es ihnen ganz so, als wären die beiden Besitzerssohn und -tochter. - Denn daß sie kein Liebespaar waren, das hatten die Frauen schnell weg.

Ja, Weio war in ihrer Verlassenheit Wolfgang Pagels ständige Begleiterin geworden. Ihre Mutter hatte wenig Zeit für sie, die Mutter war ja auch viel auf dem Feld. Frau Eva hatte ihre ganze Jugend in Neulohe verlebt, früher war sie mit ihrem Vater, dem alten Geheimrat, oft aufs Feld gefahren. Sie hatte gehört, was der Alte vor sich hin brabbelte, sie hatte gesehen, worauf er achtete. Sie wunderte sich, wie viel davon in ihr haftengeblieben war, sie hätte es nicht geglaubt. War sie mit dem Rittmeister aufs Feld gekommen und hatte etwas gesehen, so durfte sie es doch nicht gesehen haben, denn der Rittmeister hatte gleich gesagt: "Davon verstehst du nichts. Kümmere dich bitte nicht um meine Wirtschaft!" Und war sofort ärgerlich geworden.

Herr von Studmann wurde nie ärgerlich. Aufmerksam hörte er ihren Berichten zu, er ermutigte sie noch. Er sagte zu ihren Vorschlägen: "Ausgezeichnet!", und wenn er dann manchmal doch nicht das tat, was sie vorgeschlagen hatte, so begründete er seine abweichende Meinung so ausführlich und gut, daß sie ihm recht geben, aber auch rasch ein bißchen gähnen mußte. Herr von Studmann war sicher ein sehr zuverlässiger, ein tüchtiger Mann, aber er war ein bißchen umständlich. Es war nicht auszudenken, wie er es anstellen würde, wenn er ihr eines Tages seine Liebe erklären, begründen, motivieren, auseinandersetzen würde, sein Verhalten dem Freund gegenüber entschuldigen, erläutern würde, seine Forderungen für die Zukunft präzisieren würde. Nicht auszudenken war es! Herr von Studmann war bei aller Tüchtigkeit für einen Flirt das Untüchtigste von der Welt. Aber Frau Eva mußte zugeben, daß seine Art, bei einer nüchternen Kalkulation der Futtermittelmischung

für den Kuhstall den Blick versonnen von ihrer Fußspitze bis zu ihrem Munde gehen zu lassen, dann "ähemm!" zu sagen und von neuem anzufangen, ihre Reize hatte.

Langsam, aber sicher, dachte Frau Eva. Sie hatte keine Eile, von Hast und Überstürzung hatte sie erst einmal genug. Übrigens bestanden wahrscheinlich gar keine festen Pläne und Absichten, die ruhige, achtungsvolle Verehrung Herrn von Studmanns tat ihr einfach gut; nach der Sturzflut von Unruhe, Streit, Hast der letzten Jahre ließ sie sich zufrieden von dem ruhigen Strom der Zuverlässigkeit und Ordnung, der von Studmann ausging, schaukeln und wiegen.

Aber es ist einzusehen, daß eine so vielseitig beschäftigte Mutter nicht genug Zeit für ihre Tochter haben konnte. Zuerst hatte Frau Eva noch den Versuch gemacht, Violet auf ihren Fahrten über das Feld, bei ihren Gängen zum Büro mit sich zu nehmen. Aber das hatte sich bald gegeben. Bei engerem, längerem Zusammensein hatte sich herausgestellt, daß das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter eine ernstliche Trübung erfahren hatte. Mit Besorgnis sah Frau Eva, daß Weio gereizt alles ablehnte, was von ihr kam. Sagte sie, das Wetter sei heute schön, so fand Violet es drückend; schlug sie vor, Violet solle doch einmal wieder baden gehen, so fand Violet Baden öde. Es war nichts zu machen, es war ein Widerstand da, eine Kampfstellung, etwas wie ernstliche Feindschaft.

Vielleicht habe ich ihr wirklich unrecht getan, überlegte Frau von Prackwitz. Vielleicht war da gar nichts - irgendeine harmlose Jungmädchengeschichte - von irgendeinem Fremden hat man ja wirklich nichts mehr gehört. Und sie ist nun tödlich in ihrer Mädchenehre gekränkt. Nun, dann ist es das beste, ich erzwinge nichts, sondern lasse ihr Zeit. - Eines Tages wird sie doch wieder zu mir kommen.

Weio hatte also ihre Freiheit zurück, von Stubenarrest war nicht mehr die Rede. Aber was sollte sie nun mit sich anfangen? Wie leer dieses Leben geworden war! Sie konnte doch nicht ewig so weiter warten! Bei dem Gedanken, ein, zwei, drei Jahre zu warten - und vielleicht vergeblich zu warten, schauderte sie. Dann lieber noch ..., dachte sie. Aber sie wußte nicht, was lieber noch. Tod, der erste beste - sie wußte es nicht. Es mußte nur etwas geschehen! Aber es geschah nichts, rein gar nichts!

In den ersten Tagen ihrer wiedergewonnenen Freiheit war sie an all die alten Plätze gelaufen, wo sie mit Fritz gewesen war. Halbe Tage war sie im Walde auf und ab gegangen, dort, wo sie ihn einmal getroffen hatte. Die Stellen waren noch da, wo sie im Gras gelegen hatten, sie erinnerte sich an jede einzelne ... Es war, als habe sich das Gras eben erst wieder

aufgerichtet, als sei das Moospolster eben erst wieder glatt geworden - aber er kam nicht mehr. Manchmal schien es, als sei er nie mehr gewesen als ein Traum!

Sie war auch in den Schwarzen Grund gegangen, nach langem Suchen hatte sie die geschickt verborgene Stelle gefunden, wo die Waffen vergraben waren. Lange ging sie dort auf und ab, er mußte doch einmal kommen und nachsehen, ob das Geheimnis noch unverletzt war - er kam nicht!

Manchmal traf sie auf ihren Wegen im Walde den alten Förster Kniebusch. Er schüttete ihr sein Herz aus. Nun hatten sie ihn dem Wilddieb Bäumer gegenübergestellt, der Lump mußte Wind bekommen haben von den Prahlereien des Försters. Er, der nicht einen Augenblick bei Bewußtsein gewesen war, nach seinem Sturz vom Rade, behauptete frech, der Förster habe ihn vom Rad geworfen, mit dem Kopf viele Male auf den Stein gestoßen, ihn totschlagen, umbringen wollen! Sie hatten den alten Mann hart angefahren, sie hatten ihm gesagt, nur sein Alter schütze ihn vor sofortiger Haft. Von dem gewilderten Rehbock war nicht die Rede, erst sollte einmal der Totschlagversuch an dem Bäumer verhandelt werden! Und unterdessen lebte dieser Wilddieb wie ein Fürst im Krankenhaus, er hatte sein gutes Essen, fürsorgliche Pflege, ein Sonderzimmer, allerdings mit Gittern vor den Fenstern - es war ihm in seinem Leben noch nicht so gut ergangen, dem Lump, dem infamen!

Gelangweilt hörte Violet dies Gejammer an. Der Förster mußte ja selber wissen, was er von dem Gerede über einen Heldenkampf mit dem Wilderer Bäumer verantworten konnte! Sie hört erst wieder hin, wie der Förster berichtet, daß er auch den kleinen Inspektor Meier in Frankfurt getroffen hat. Doch der kleine Meier ist gar kein kleiner Mann mehr, er scheint ein großer Mann geworden zu sein, er hat Geld, viel Geld!

Der Förster schildert ausführlich, wie der Herr Meier gekleidet war, seine Eleganz, die kostbaren Ringe an seinen Fingern, eine goldene Uhr mit Sprungdeckel! Aber der kleine Herr Meier ist nicht hochmütig geworden, er hat den Förster zu einem Abendessen eingeladen, in ein feines Weinlokal. Es hat Rheinwein gegeben, und nachher Sekt, der zum Schluß mit rotem Burgunder gefärbt wurde, "Türkenblut" hat der kleine Meier das genannt! Der Förster leckt sich die Lippen bei dem Gedanken an diese Schlemmerei.

"Noch ein Schieber mehr!" sagt Weio verächtlich. "Dafür paßt der Negermeier ausgezeichnet! Und Sie haben ihm natürlich zum Dank für die Sauferei alles erzählt, was in Neulohe vorgeht?"

Der Förster protestiert rot und aufgeregt gegen diesen Verdacht. Er hat

nicht einmal erzählt, daß der Herr Rittmeister nicht mehr hier ist, gar nichts hat er erzählt. Und im übrigen haben sie von ganz anderen Dingen geredet ...

"Von was haben Sie denn geredet?" fragt Weio streitlustig. Aber das kann der Förster so genau nicht sagen. "Betrunken sind Sie gewesen, Kniebusch!" stellt Weio fest. "Sie wissen überhaupt nicht mehr, was Sie geredet haben. - Na, Weidmanns Heil!"

"Weidmanns Dank!" stammelt der Förster, und Violet geht allein weiter.

Der Förster langweilt sie mit seinem elenden Gewäsch, der Wald langweilt sie, die Großmutter mit ihren frommen Sprüchen langweilt sie. Der Großvater ist ewig geheimnisvoll verreist oder steckt beim Schulzen Haase oder ist schweigsam, nachdenklich und langweilig. Dem Diener Räder aber geht sie aus dem Wege, sie hat nicht einmal gefragt, wo er mit ihrem Brief geblieben ist.(Aber sie schließt jetzt, tags wie nachts, trotz des erstaunten Protestes der Mama, ihr Zimmer ab.) Ach, alles langweilt sie, ekelt sie ... Ganz erstaunt fragt sich Violet, was sie denn eigentlich früher den ganzen Tag angefangen hat, ehe der Fritz kam? Sie grübelt, sie weiß es nicht. Alles ist schal und leer - alles ist langweilig.

Als einziges bleibt Wolfgang Pagel. Ihn müßte sie eigentlich noch mehr hassen als die Mutter, aber bei ihm ist es ihr ganz gleichgültig, wie er über sie denkt, was er ihr sagt, wenn er sie auslacht. Es ist, als habe sie gar keine Scham vor ihm, als sei er eine Art Bruder.

Die beiden haben einen unglaublichen Ton miteinander, die Großmutter im Schloß würde auf der Stelle in Ohnmacht sinken, wenn sie ihre Enkelin, für die sie den Lüstling Wolfgang von Goethe reinigt, mit dem jungen Pagel reden hörte.

"Nicht diese zärtlichen Berührungen, gnädiges Fräulein", konnte Pagel sagen. "Ich sehe schon, Sie haben heute wieder Ihren gewendeten Tag, bei dem das Innere sich nach außen kehrt. Schwarze Ringe um die Augen, aber bedenken Sie, ich bin nur ein schwacher, hinfälliger Mann ..."

Bei diesem Ton konnte Violet nicht ganz mit. Sie hing sich in seinen Arm, drückte ihn sehr und sagte: "Grade schön! Sie könnten ruhig mal ein bißchen nett zu mir sein, Sie brauchen nicht alles für Ihre Petra aufsparen."

"Auf-zu-sparen!" korrigierte Pagel mit Studmännischer Pedanterie. "Sie könnten vielleicht einmal den Versuch machen, gelegentlich Deutsch zu lernen -?!"

Oh, er konnte sie ärgern, reizen, peinigen bis aufs Blut! Er hielt sie sich vom Leibe, zu Küssen kam es nicht wieder, da paßte er auf. Manchmal lief sie, Tränen der Wut in den Augen, mit hochroten Backen von ihm fort. Sie schwor, daß er ein Feigling, ein Lump, ein Schlappschwanz sei, daß sie nie wieder ein Wort mit ihm reden würde.

Am nächsten Morgen stand sie vor der Bürotür und wartete schon auf ihn.

"Na, wieder in Gnaden?" grinste er. "Ich schwöre Ihnen, Violet, ich bin heute noch feiger, noch lumpiger, noch schlappschwänziger aufgelegt."

"Wenn mein Fritz wiederkommt", rief sie mit blitzenden Augen, "erzähle ich ihm, wie Sie mich behandelt haben. Dann fordert er Sie und schießt Sie über den Haufen. Da freue ich mich aber!"

Pagel lachte nur.

"Denken Sie, ich tu's nicht -? Ich tu's bestimmt!" rief sie, schon wieder wütend.

"Imstande sind Sie dazu", lachte er. "Das weiß ich schon lange, daß Sie eigentlich ein ganz kaltes Aas sind und daß die ganze Welt Ihretwegen gerne verrecken kann, wenn Sie nur kriegen, was Sie haben wollen."

"Sie sollen verrecken!" schrie sie.

"Ja. Ja. Aber nicht jetzt, jetzt muß ich erst mal in die Pferdeställe. Die Senta hat heute nacht gefohlt - kommen Sie mit?"

Natürlich kam sie mit. Vor Rührung und Zärtlichkeit beinahe fassungslos, stand sie vor dem kleinen, hochbeinigen Geschöpf mit dem großen Kopf. Sie flüsterte aufgeregt: "Ist es nicht süß? Könnte man es nicht auffressen?! Ach, es ist himmlisch!"

Mit einem tiefinneren Vergnügen sah Wolfgang seine Violet von der Seite an. Und so was würde mich mit dem gleichen Vergnügen im Dreck liegenlassen, Herzschuß. Oder lieber noch Bauchschuß, daß ich ihr noch ein bißchen was vorjammere. Nee, da ist Peter mir doch hunderttausendmal lieber! Du taugst nichts; außen hopphe, aber innen faul! Ich habe nie was für die mulmigen Äpfel übrig gehabt!

Aber so ruhig und sicher sich Wolfgang Pagel sonst vor ihr fühlte, wie überlegen er seine kleine, gierige Violet anschaute, mit einem konnte sie ihn doch in eine fast sinnlose Wut bringen: wenn sie sich körperlich vor ihm gehenließ. Drängte sie sich an ihn, markierte sie halb ironisch Zärtlichkeit und Leidenschaft, nun gut, es mochte hingehen, es war nicht angenehm, aber es war zu ertragen.(Obwohl die Rolle des Joseph vor der Potiphar immer etwas Lächerliches hat.) Sie war nun einmal wach gemacht worden, sie hatte nicht gelernt, sich zusammenzunehmen, sich

etwas zu versagen.

Aber wenn sie mitten auf einem Weg durch die Felder nachlässig überlegen zu ihm sagte: "Gehen Sie einen Schritt voraus, Pagel. Ich muß mal aufs Töpfchen", wenn sie sich beim Baden mit einer Ungeniertheit vor ihm auszog, als sei er ihre Großmutter - dann kam ein wilder Zorn über ihn. Am liebsten hätte er sie geschlagen, er beschimpfte sie maßlos, zitternd vor Erregung.

"Verdammt noch mal, Sie sind doch keine Hure!" schrie er.

"Und wennschon!" sagte sie und sah ihn spöttisch, amüsiert an. "Sie hätten ja doch keinen Bedarf."

Oder aber: "Wie Sie wieder angeben! Ich denke, Sie sind in festen Händen? Warum regt Sie denn so was auf?"

"Verrottet! Verfault! Verdorben bis ins Mark!" schrie er. "Da ist kein Fleck an Ihnen, der nicht Dreck ist!"

"Flecken sind meistens Dreck", erklärte sie kühl.

Es war vielleicht nicht einmal die Beleidigung seiner Männlichkeit, die ihn so maßlos aufbrachte, trotzdem solche Dinge jeden Mann, und noch dazu einen dreiundzwanzigjährigen, empören müssen. Es war vielleicht viel stärker noch eine ihn plötzlich überkommende panische Angst: Wohin gleitet sie ab? Gibt sie sich schon ganz verloren? Will sie bewußt in den Dreck? Ist dieser Fünfzehnjährigen schon alles zum Ekel?

Jeder anständige Mensch fühlt sich ein wenig für seinen Mitmenschen verantwortlich -: nur die Bösen lassen ihre Brüder ohne Warnung in den Sumpf laufen. Pagel fühlte sich für seine tägliche Gefährtin Violet mitverantwortlich. War sein Zorn verraucht, versuchte er mit ihr zu reden, zu warnen. Aber es war unmöglich, ihr näherzukommen. Sie heuchelte ein völliges Unverständnis, sie saß in einem Stacheldrahtverhau alberner, landläufiger Redensarten: "Alle Menschen sind so - man muß gemein sein, sonst wird man bloß schlecht behandelt". Oder aber: "Finden Sie es etwa anständig, wie Herr Studmann vor Mama balzt, grade wo Papa erst abgereist ist - und ich soll anständiger sein?! So dumm!" - Oder: "Sie erzählen mir auch nicht, was Sie alles mit Ihrem Fräulein Petra aufgestellt haben, ehe Sie zerplatzt sind! Sehr anständig werden Sie da auch nicht gewesen sein. Da brauchten Sie nicht grade bei mir mit der Anständigkeit anzufangen - wenn ich auch bloß ein Mädchen vom Lande bin". - Oh, sie konnte teufelsschlau sein! Mit einem plötzlichen Übergang: "Ist es wahr, daß es in Berlin Lokale gibt, wo die Mädchen ganz nackt tanzen? Und da sind Sie drin gewesen? Na also! Und Sie wollen mir hier erzählen, Sie fallen in

Ohnmacht, wenn Sie mal ein Stückchen von mir sehen?! Sie sind ja lächerlich!"

Es war nichts zu machen, sie wollte einfach nicht. Hundertmal war Wolfgang Pagel drauf und dran, mit Herrn von Studmann oder der gnädigen Frau über das Mädchen Violet zu sprechen. Wenn er es doch nicht tat, so schwieg er nicht aus irgendeinem albernen Gefühl lebemännischer Diskretion, sondern viel eher, weil er sich sagte: Was sollen die Alten dabei machen, wenn sie auf mich Jungen schon nicht hört?! Mit Strafen und Predigten wird so was bloß schlimmer. - Vielleicht muß ich reden, wenn sie mal ausreißen will oder hier etwas passiert, aber solange alles seinen alten Trott geht, passiert ihr schon nichts. Mit irgendeinem von den Bengeln hier läßt sie sich bestimmt nicht ein - dafür fühlt sie sich viel zu sehr als großmächtige Erbin und möchte nichts von ihrem Nimbus als künftige Besitzerin einbüßen. Und wenn dieser Lebejüngling, der Herr Leutnant Fritz, wieder auftauchen sollte, so erfahre ich es sofort. Dann werde ich mir diesen Knaben einmal vorknöpfen und ihm meine Ansicht auf den Buckel schreiben, daß er das Wiederkommen in diese glücklichen Gefilde für immer vergißt ...

Pagel reckte und streckte sich. Er scheute sich nicht vor einer Prügelei mit dem längsten Laban des Dorfes. Das Vierteljahr Landleben hatte ihn in die Breite wachsen lassen, er fühlte sich für jeden Leutnant kräftig genug und für jeden Abenteurer hinreichend ausgekocht.

"Na, wen möchten Sie denn jetzt umarmen?" fragte Weio spöttisch.

"Ihren Leutnant Fritz!" sagte Pagel überraschend. Er sprang aufs Rad. "Tjüs, gnädiges Fräulein. Heute früh wird es nichts mit unserm Spaziergang, ich muß zu meinen Husaren! Aber vielleicht um eins -?"

Damit war er weg.

"Komm doch zu uns herein, Violet!" rief Frau Eva, die vom Bürofenster aus den Abschied der beiden beobachtet hatte und der das enttäuschte Gesicht Weios leid tat. "Ich fahre in einer Viertelstunde in die Stadt, Lohngeld holen. Komm mit - wir essen bei Kipferling Torte mit Schlagsahne."

"Och!" machte Weio unentschlossen und schob die Unterlippe vor. "Ich weiß nicht, Mama. - Nein, danke schön, Schlagsahne macht auch bloß dick ..."

Und sie ging rasch, um nicht wieder zurückgerufen zu werden, in den Park hinein.

"Manchmal mache ich mir doch rechte Sorge", sagte Frau von Prackwitz.

"Ja?" fragte von Studmann höflich. Er saß über den Lohnlisten - obwohl er den Zahlen längst nicht alle Nullen gab, die ihnen zukamen, konnte keine Spalte den Reichtum fassen.

"Sie ist so unentschlossen, so lasch. Es steckt kein Leben in ihr ..."

"Ein ziemlich kritisches Alter für junge Mädchen, nicht wahr?" schlug Herr von Studmann vor.

"Vielleicht ist es wirklich nur das", sagte Frau Eva bereitwillig. "Was soll auch sonst dahinterstecken?" Sie dachte nach, dann sagte sie vorsichtig: "Sie ist eigentlich nur noch mit dem jungen Pagel zusammen, und der Ton zwischen den beiden scheint mir kräftig. Sie haben da keine Bedenken -?"

"Ich - Bedenken?"

Studmann sah ein wenig zerstreut von seinen Lohnlisten auf. Wenn man für das Anschreiben des Bruttolohns schon die Krankenkassenspalte zu Hilfe nehmen mußte, dann mußte man für die Kassenbeiträge die Invaliditätsspalte nehmen. Die Invaliditätsspalte war zu eng, man nahm die Lohnsteuerspalte dazu - und nun erwies sich, daß das Lohnbuch viel zu schmal war. Man hätte eine Art Atlas als Lohnliste haben müssen mit sämtlichen Längengraden des Erdballs ... Verdammte Zucht! Und stimmen tat gar nichts. Mit strengem, unmutigem Gesicht sah der ordentliche Herr von Studmann seine unordentlichen Lohnlisten an.

"Herr von Studmann!" flötete die gnädige Frau mit jener Taubensanftheit, die jeden Mann zusammenschrecken läßt, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. "Ich fragte Sie eben, ob Sie nicht Bedenken wegen des jungen Pagel hätten -!"

Studmann fuhr zusammen, ganz wie es sich gehörte.

"Oh, Pardon, gnädige Frau, ich bitte tausendmal um Entschuldigung! Ich war hier ganz in meine elenden Lohnlisten vertieft. Es wird immer schlimmer, ich kriege sie nicht mehr stimmend. Und ich sehe ein: es hat keinen Sinn mehr, sich damit zu quälen. Ich schlage vor, wir zahlen jetzt nur noch runde Summen, zum Beispiel für jeden verheirateten Mann einen Milliardenschein. Wir legen zwar etwas drauf, aber ich sehe keinen andern Weg."

Er sah Frau Eva gedankenvoll besorgt an.

"Einverstanden", sagte sie friedlich. "Und wenn Sie sich nun noch, nachdem die Geldfragen geregelt sind, mit meinen Besorgnissen als Mutter beschäftigen würden? Mit meinen Bedenken wegen des jungen Pagel -?"

Herr von Studmann wurde sehr rot. "Gnädige Frau, ich bin ein

schrecklicher Esel. Wenn ich mich in etwas verrannt habe, ist gar nichts mit mir anzufangen. Ich will es Ihnen erklären ..."

"Nein, bitte nicht, lieber Studmann!" rief Frau Eva verzweifelt. "Ich möchte keine Erklärungen, sondern eine Antwort! - Manchmal", meinte sie nachdenklich, "haben Sie doch eine verblüffende Ähnlichkeit mit Achim, sosehr Sie beide Gegensätze sind. Bei ihm kriege ich aus Hast, bei Ihnen aus Gründlichkeit keine Antwort. Das Ergebnis bleibt für mich gleich: Ich weiß noch immer nicht, ob ich mir wegen des Herrn Pagel Sorgen machen muß."

"Bestimmt nicht", erklärte Herr von Studmann eilig und schuldbewußt. "Ganz abgesehen davon, daß Pagel ein völlig zuverlässiger Ehrenmann ist, er ist auch ganz ungefährlich - bestimmt!"

"Ich weiß nicht", sagte Frau Eva zweifelnd, "er ist doch sehr jung. Und er ist gewissermaßen jetzt völlig auf der Höhe, er sieht die letzten Wochen richtig strahlend aus. Ich merke das, da wird es ein junges Mädchen doch auch merken!"

"Nicht wahr?" fragte Herr von Studmann vergnügt. "Er hat sich mächtig rausgemacht! Ich bin ganz stolz auf meinen Erfolg! Als er aus Berlin kam, war er ein Wrack, krank, unlustig, faul - fast verdorben. Und jetzt? Sogar die Zuchthäusler strahlen, wenn sie ihn zu sehen kriegen."

"Und meine Violet auch!" sagte die gnädige Frau trocken. "Sie führen nicht grade einen Beweis für die Ungefährlichkeit des jungen Mannes ..."

"Aber, gnädige Frau!" rief Herr von Studmann vorwurfsvoll. "Er ist doch verliebt! So vergnügt und aufgeräumt und mit allem zufrieden ist doch nur ein Verliebter! Das muß man doch sehen - das sehe doch sogar ich vertrockneter Zahlenmensch".(Er wurde wiederum rot, aber nur wenig, unter ihrem leicht spöttischen Blick.) "Als er hierherkam, hat er gedacht, die Sache wäre aus. Irgend etwas war ihm passiert, er war finster, ohne Leben. Nein, ich habe ihn nach nichts gefragt, ich wollte nicht. Ich halte Gerede über Liebe für unheilvoll, weil ..."

Die gnädige Frau räusperte sich mahnend.

"Aber seit einiger Zeit hat sich die Sache wohl wieder eingerenkt, er bekommt und schreibt Briefe, er ist munter wie ein Vogel, er arbeitet mit Lust - er möchte die ganze Welt umarmen!"

"Aber bitte nicht meine Weio!" rief Frau Eva von Prackwitz mit Entschiedenheit.

2

Jawohl, Herr von Studmann hatte recht gesehen: Wolfgang Pagel schrieb und bekam wieder Briefe. Und Herr von Studmann hatte auch darin recht: Wolfgangs neue Lebenslust, seine wiedererwachte Tatkraft hing mit diesen Briefen zusammen, obwohl noch nicht eine Zeile von Petra gekommen, an Petra geschrieben worden war. Trotzdem fröhlich. Trotzdem tatenlustig. Trotzdem alle Welt umarmend. Trotzdem geduldig mit dem Kinde Violet.

Als die alte Minna den ersten Brief des jungen Herrn vom Briefträger in Empfang genommen, als sie die Schrift erkannt, als sie den Absender gelesen hatte, da flogen ihr die Glieder so, daß sie sich erst einmal still auf den Stuhl in der Diele setzen mußte.

Und da wurde sie ganz ruhig und nachdenksam.

Ich darf die alte Frau nicht so erschrecken, dachte sie. Sie ißt nichts mehr, sie trinkt nichts mehr, sie tut nichts mehr, sie sitzt immer nur da und denkt nach. Und wenn sie meint, ich merke es nicht, zieht sie den Zettel aus der Tasche, den er ihr damals hingelegt hat, als er die Sachen heimlich wegholte, auf dem er geschrieben hat, daß er jetzt richtig arbeiten will und daß er nicht eher schreibt, bis er wieder zurecht ist. - Und nun hat er geschrieben!

Sie sah den Brief prüfend, mißtrauisch an.

Aber vielleicht steht doch wieder was Dummes drin, was sie aufregt und noch unglücklicher macht! Minna wurde immer zweifelhafter. Und vielleicht will er wieder nur Geld und sitzt irgendwo fest ... Sie drehte den Brief um, aber auf der Rückseite waren bloß die Freimarken. Sie drehte ihn wieder um. Die Schrift ist ganz ordentlich, Wolfi hat schon schlimmer geschrieben. Und auch Tinte, nicht bloß Blei. Nicht so eilig hingekliert, er hat sich Zeit gelassen. Es steht vielleicht doch etwas Gutes darin ...

Minna war eine Weile entschlossen gewesen, den Brief heimlich zu öffnen und, wenn gar zu schlimm, von sich aus zu beantworten. Wolfi war ja auch so etwas wie ihr Kind, sie hätte es getan, aber -: Aber wenn es eine Freude ist, soll sie auch zuerst die Freude haben. Ach, es wird schon nichts Schlimmes sein!

Und damit war sie von ihrem Stuhl aufgestanden, Ruhe und Entschlossenheit waren bei ihr eingekehrt. Sie legte den Brief so unter die Zeitung, daß nichts von ihm zu sehen war, und als die gnädige Frau sich unlustig und trübe an den Kaffeetisch gesetzt hatte, verließ Minna gegen alle Gewohnheit ihren Plauderposten unter der Tür, brummelte was von "Markthalle" und verschwand, taub für die Rufe ihrer Herrin. Sie rannte wirklich in die Markthalle auf dem Magdeburger Platz und erstand für neunzig Millionen Mark eine Bachforelle - da würde die gnädige Frau

heute mittag endlich wieder mit Appetit essen!

Sie würde es wirklich! Das sah Minna sofort, als sie die Wohnungstür aufschloß. Die Gnädige stand schon auf der Lauer, und ihre Augen funkelten, wie sie in den letzten acht Wochen nicht mehr gefunkelt hatten!

"Alte Gans!" begrüßte sie ihre Getreueste. "Mußt du wirklich weglaufen, daß ich mit keinem Menschen ein Wort reden kann -?! Jawohl, der junge Herr hat geschrieben, er ist jetzt auf dem Lande, auf einem großen Gut, so etwas wie Lehrling. Aber er hat ziemlich viel Verantwortung, ich verstehe nichts davon - das mußt du selber lesen, der Brief liegt auf dem Kaffeetisch. Es geht ihm gut, und er läßt dich grüßen, und es ist wahrhaftig der erste Brief seit, ich weiß nicht wie lange, wo er kein Wort von Geld schreibt. Und bei der Entwertung könnte ich es ihm nicht mal übelnehmen, selbst wenn er das Geld von dem Bild noch hätte, wäre es nichts mehr wert! Er schreibt mächtig fidel, so fidel hat er noch nie geschrieben; es muß da eine Masse komische Menschen geben, aber er scheint mit allen gut auszukommen. Nun, du wirst es ja selbst lesen, Minna, warum soll ich dir das alles erzählen? Dabeibleiben bei der Landwirtschaft will er aber doch nicht, soviel Spaß es ihm macht; er schreibt, es ist so eine Art Sanatorium. Mir soll es recht sein, und wenn er wirklich Taxichauffeur wird, ich rede ihm nicht mehr rein. - Aber antworten tu ich ihm nicht, das kommt natürlich gar nicht in Frage, ich habe nicht vergessen, wie Sie mir gesagt haben, ich habe ihm alles zu leicht gemacht. - Und dabei sind Sie's gewesen, die ihm immer die Bonbons zugesteckt hat, wenn er mal brüllte, Sie alte Superkluge! Ich hab gedacht, Sie antworten ihm erst einmal, und dann werden wir ja sehen, ob er gleich wieder schmollt und beleidigt ist. Dann ist es noch nichts mit dem Gesundwerden. Und, Minna, er möchte auch gern, daß wir eine Erkundigung einziehen. - Es ist mir nicht recht, nein, es ist mir gar nicht recht, aber ich rede ihm nicht wieder rein, und so können Sie sich heute nachmittag freinehmen und mal hören. Und heute abend schreiben Sie ihm sofort; wenn der Brief heute noch in den Kasten kommt, hat er ihn morgen. Aber vielleicht ist da Landbestellung, dann wird es einen Tag später. Übrigens, einen Gruß könnte ich vielleicht doch drunterschreiben ..."

"Gnä' Frau", sagte Minna und sah mit gefährlich blitzenden Augen den Frühstückstisch an, den Brief aber gar nicht. Denn allmählich hatte sie ihre immer weiter redende Herrin mit sich aus dem Vorplatz über den Flur ins Speisezimmer gezogen. "Gnä' Frau - und wenn Sie sich jetzt nicht sofort hinsetzen und nicht Ihr Ei und mindestens zwei Schrippen essen, dann lese ich den Brief nicht, und dann schreibe ich auch keine

Antwort heute abend ... Das ist doch nun wirklich die reine Unvernunft: erst essen Sie aus Kummer nichts, und dann essen Sie aus Freude nichts, und dann verlangen Sie noch, daß Wolfgang ein ruhiger, vernünftiger Mensch ist ..."

"Hör auf, du redest einen ja tot, Minna!" befahl die gnädige Frau. "Lies jetzt den Brief, ich esse ja schon ..."

Aber obwohl Frau Pagel wirklich gut zum Frühstück aß und auch mittags der Neunzigmillionenforelle alle Ehre antat, an diesem Tage wurde die Antwort an Wolfgang Pagel noch nicht geschrieben.

So leicht war die erbetene Auskunft nicht einzuziehen, so leicht war die Spur aus der Georgenkirchstraße in die Fruchtstraße nicht zu finden.

Minna mußte auf ihrer Irrfahrt durch die Meldeämter Berlins noch manchen Weg machen, noch manche Stunde geduldig auf Auskunft warten, fragen und sich fragen lassen, hierhin und dorthin geschickt werden, bis sie schließlich doch recht verwundert vor dem großen Plankenzaun stand, auf dem, neben den üblichen Kreidemalereien der Kinder: "Wer dies liest, ist dohf", in großen weißen Buchstaben gemalt stand: "Emil Krupaß Wwe., Produktenhof".

Hier? fragte sich Minna zweifelnd und ein bißchen verzweifelt, da haben sie mich doch bestimmt wieder falsch geschickt! Und sie spähte ärgerlich durch das Tor auf den großen Hof, der mit seinen Bergen aus rostigem altem Eisen, seinen verschmutzten Flaschenbatterien und den alten geplatzten Matratzenhaufen wirklich nicht sehr einladend aussah.

"Obacht!" schrie ein junger Bengel und rasselte mit seinem Hundegespann haarscharf an ihr vorüber auf den Hof. Zögernd folgte ihm Minna. Aber auf ihre Frage in einem Schuppen nach Fräulein Ledig wurde ihr ganz bereitwillig geantwortet: "Ist bei den Lumpen. Dahinten - die schwarze Baracke!"

Minna ging schon williger, erwägend: Das arme Ding! Sie wird auch ihre Not haben, ihr bißchen Lebensunterhalt sich zusammenzurackern.

Minna fand, es sah fürchterlich dreckig aus in der alten Baracke, und noch fürchterlicher stank es. Mit einem Wohlgefühl dachte sie an ihre hübsche, saubere Küche, und wenn die Petra wirklich hier drinnen steckte, tat sie ihr noch dreimal so leid!

"Fräulein Ledig!" schrie Minna in das graue Dunkel, in dem Gestalten hockten und Staub wirbelte, und sie mußte husten.

"Ja?" fragte eine Stimme.

Und dann kam es auf die hustende Minna zu, und es hatte einen blaugrünen Mantel an und sah komisch verändert aus, aber oben darauf

saß das alte liebe, klare, einfache Gesicht.

"Gott, Petra, Kind, bist du's denn wirklich?" sagte Minna und starrte sie an, was sie nur starren konnte.

"Minna!" rief Petra erstaunt und erfreut. "Hast du mich also wirklich gefunden?!"

(Und beide merkten es gar nicht, daß sie sich plötzlich "du" nannten, was sie nie zuvor getan hatten. Aber das ist eben so: es gibt Menschen, die merken erst, wenn sie sich lange nicht gesehen haben, beim Wiedersehen, wie gern sie sich haben.)

"Petra!" rief Minna und fiel natürlich sofort mit der Tür ins Haus. "Wie siehst du denn aus?! Du bist doch nicht -?"

"Doch!" lächelte Petra.

"Wann -?" schrie Minna fast.

"Ich denke, zu Anfang Dezember", antwortete Petra, wieder lächelnd.

"Aber das muß ich dem Wolfi auf der Stelle schreiben!"

"Das wirst du dem Wolf unter gar keinen Umständen schreiben!"

"Petra!" sagte Minna flehend. "Du bist doch nicht etwa böse mit ihm?"

Petra lächelte nur.

"Du bist doch nicht etwa nachtragend?! Das hätte ich nie von dir gedacht!"

Sie sahen sich eine Weile schweigend an, in der staubigen Lumpenbaracke. Ritsch, ratsch, sortierten die Weiber die Lumpen. Sie sahen einander prüfend ins Gesicht, als müßten sie erkennen, wie sehr sich ein jedes verändert.

"Komm doch raus aus der schlechten Luft, Petra", bat Minna. "Hier können wir doch nicht reden!"

"Ist er draußen -?" fragte Petra langsam, mit großen Augen. Sie dachte daran, was die Mutter Krupaß einmal gesagt hatte, daß sie laufen würde, wenn er auf der andern Straßenseite stünde. Sie wollte partout nicht laufen.

Minna sah Petra prüfend an; plötzlich wußte sie, es war gar nicht gleichgültig, was sie für eine Schwiegertochter bekamen. Viel Kummer vertrug die alte Frau bestimmt nicht mehr.

"Sollen wir hier stehen und Wurzel schlagen in dem Dreck und Mief?!" rief sie, mit dem Fuß aufstampfend. "Wenn er draußen ist, wird er dich schon nicht beißen."

Petra wurde erschreckend blaß, man sah es selbst in der dunklen

Kabache. Aber sie sagte entschlossen: "Wenn er draußen ist, geh ich nicht raus. Das habe ich versprochen!"

"So, du gehst nicht raus?!" schimpfte Minna. "Das wird ja immer schöner! Du gehst nicht zu dem Vater von deinem Kind?! Wem versprichst du denn solche Sachen -?"

"Ach, sei bloß still, Minna!" schalt Petra, und jetzt stampfte sie mit dem Fuße auf. "Warum schickt er dich denn?! Ich dachte, er wäre ein bißchen anders geworden. Aber so ist er immer gewesen: wenn ihm was unangenehm war, ließ er es andere tun."

"Du mußt dich nicht so aufregen, Petra", riet Minna. "Das kann ›ihm‹ nicht gut sein."

"Ich reg mich nicht die Spur auf!" rief Petra und wurde immer zorniger. "Aber soll man sich da nicht ärgern, wenn er nie und nichts lernt und sich überhaupt nicht ändert?! Und nun ist er also wieder bei euch untergekrochen?! Alles genau so, wie es die Krupaß vorausgesagt hat!"

"Die Krupaß -?" fragte Minna eifersüchtig. "Ist das die Witwe, die draußen am Zaun angeschrieben steht? Erzählst du der die Geschichten von unserm Wolfi? Das hätte ich nie von dir gedacht, Petra!"

"Einen Menschen muß man haben, mit dem man sprechen kann!" sagte Petra entschieden. "Auf euch konnte ich nicht warten. - Was macht er denn jetzt?" Und sie deutete mit dem Kopf nach draußen.

"Also hast du richtig Angst vor ihm und willst ihn gar nicht sehen?" fragte Minna, entsetzlich böse. "Wo er doch der Vater von deinem Kind ist!"

Aber plötzlich war es, als hätte ein Gedanke allen Zweifel, alle Angst und Sorge der Petra aus dem Gesicht gewischt. Die alten klaren Züge traten wieder hervor, in der bittersten Not bei der Pottmadamm hatte Minna diese Züge nie böse oder weinerlich gesehen. Und es war auch der alte Klang in der Stimme, jawohl, aus ihren Worten läutete wieder das alte Erz, es erklangen die alten Glocken Vertrauen, Liebe, Geduld.

Petra faßte ruhig der Minna zuckende Hand zwischen die ihren und fragte: "Du kennst ihn doch auch, alte Minna, und du hast ihn sogar groß wachsen sehen, und du weißt, daß man ihm nicht böse sein kann, wenn man ihn kommen sieht und wenn er so lacht und seine Witze mit uns armen Weiberchen macht ... Daß einem das Herz dann gleich fortfliegt und daß man immerzu glücklich ist und an nichts mehr denkt, was er einem vielleicht mal angetan hat ..."

"Das weiß Gott!" sagte Minna.

"Aber, Minna, jetzt wird er doch ein Vater sein müssen und an andere

denken. Es soll doch nicht nur sein, daß alle strahlen, wenn er da ist, sondern er soll Sorgen mit tragen helfen und arbeiten und auch einmal ein ärgerliches Gesicht vertragen, ohne gleich für einen halben Tag auszureißen. Und die Krupaß hat recht, und hundertmal hab ich es in diesen Wochen gedacht: Er muß erst einmal ein Mann werden, ehe er ein Vater sein kann. Jetzt ist er doch bloß unser aller verzogenes Kind ..."

"Da hast du recht, Petra, das weiß Gott", stimmte Minna zu.

"Und wenn ich noch hier mit dir stehe und abwechselnd am ganzen Leib heiß und kalt werde, so ist es doch nicht, weil ich auf ihn böse bin oder ihm etwas nachtrage oder ihn strafen will! Wenn er hier reinkäme, Minna, und gäbe mir die Hand und lächelte mich an auf seine alte Art - ach, ich weiß mir ja gar nichts Besseres, als ihm um den Hals zu fliegen. Ich wäre ja so glücklich! Aber, Minna", sagte Petra sehr ernsthaft, "es darf doch nicht sein, ich habe es doch jetzt eingesehen, ich darf es ihm doch nicht immer wieder so leicht machen! In der ersten Stunde wäre es wunderschön, aber schon in der nächsten Stunde dächte ich: Soll denn mein Kind solch einen verwöhnten Liebling zum Vater haben, vor dem ich keinen rechten Respekt habe?! Nein, Minna, und tausendmal nein! Und wenn ich hier einen Tag und eine Nacht in der Lumpenbaracke sitzen soll und wenn ich auch von hier wieder fortlaufen soll, fortlaufen vor ihm und vor meiner eigenen Schwäche -: Ich habe es der Krupaß und mir fest versprochen: er soll erst etwas sein. Und wenn es nur ein ganz bißchen ist; und vor einem halben Jahr will ich ihn überhaupt nicht wiedersehen ..."

Sie hielt einen Augenblick inne, dachte nach und sagte traurig: "Aber nun ist er ja doch wieder bei euch alten Frauen untergekrochen, der junge Mensch!"

"Aber nein, Peterchen!" rief die alte Minna sehr vergnügt. "Was bildest du dir denn ein?! Gar nicht ist er das!"

"Jetzt lügst du aber, Minna", sagte Petra und löste ihren Arm aus dem der andern. "Du hast es doch selber gesagt!"

"Gar nichts habe ich davon gesagt! Nein, komm jetzt nur mit raus. Ich habe genug von euerm Gestank und Staub ..."

"Ich gehe nicht heraus. Ich gehe nicht zu ihm!" rief Petra und wehrte sich kräftig.

"Aber er steht ja gar nicht draußen! Das bildest du dir doch nur ein!"

"Du hast es selbst gesagt, Minna - bitte, laß uns hierbleiben!"

"Ich hab gesagt, ich will ihm schreiben, daß du ein Kindchen erwartest -: Wie kann ich ihm denn schreiben müssen, wenn er draußen steht! Du

hast dir alles bloß eingeredet, Petra, weil du die Angst hast, die Angst vor deinem eigenen Herzen und die Angst um das Kind. Und weil du Angst hast, darum ist alles gut. Und jetzt soll mir nur einer kommen, die Gnädige oder sonst einer, und ein Wort über dich sprechen - ich weiß Bescheid! Und ich bin froh, daß du so geredet hast, denn nun weiß ich auch, was ich ihm schreiben muß, nicht zuviel und nicht zuwenig. Aber jetzt laß dir eine Stunde freigeben und komm mit mir, es wird ja hier in eurer Gegend so etwas geben wie ein Café, und du erzählst mir alles, und ich erzähle dir alles. Den Brief von ihm habe ich meiner Gnädigen auch für dich stibitzt, und sie hat kein Wort gesagt, trotzdem sie es gut gesehen hat. Aber du mußt ihn mir wiedergeben, du kannst ihn dir ja schnell abschreiben - wo gehen wir also hin? Und bekommst du auch frei?"

"Ach, Minna!" sagte Petra übermütig. "Wie soll ich denn nicht freibekommen -? Ich gebe mir ja selber frei! Denn alles, was du hier siehst", und sie trat mit Minna auf die Schwelle des Schuppens, "alles, die Lumpen und das Papier und das Alteisen und die Flaschen - das steht unter meinem Kommando, und die Leute, die hier arbeiten, natürlich auch. Herr Randolf", sagte sie freundlich zu einem alten Mann mit Seehundsbart, "ich gehe mit meiner Freundin ein bißchen rauf zu mir. Wenn was Besonderes ist, brauchen Sie mich nur zu rufen."

"Wat soll denn Besonderes sind, Frollein?" fragte der alte Mann kollerig. "Jlooben Sie, die rollen uns hier heute nachmittag noch Wilhelm seine Krone an -?! Legen Sie sich man ruhig lang. Wenn ick wäre wie Sie, ick steckte mir nich 'n halben Nachmittag bei die Lumpen!"

"Na schön, Herr Randolf", sagte Petra vergnügt. "Es ist auch mein erster Besuch in dem Vierteljahr."

Und damit gingen die beiden hinauf in die kleine Wohnung der Mutter Krupaß, und sie setzten sich hin und redeten und erzählten. Und nach einer Weile legte sich Petra dann wirklich lang, aber sie redeten und erzählten weiter. Als aber die Zeit für Minna gekommen war, heimzugehen, um ihrer Gnädigen das Abendessen zu machen, wurde Minna verwegen, und sie tat, was sie seit urdenklichen Zeiten nicht getan hatte: Sie ging ans Telefon und sagte an, sie käme nicht und der Schlüssel zur Speisekammer liege im rechten Fach vom Küchenbüfett hinter den Löffeln und der Schlüssel zum rechten Fach stecke in der Tasche von ihrer blauen Schürze, die bei den Geschirrhandtüchern hänge. Und ehe Frau Pagel diese klare Weisung noch ganz erfaßt hatte, hing Minna schon ab: "Denn sonst quetscht sie mich ja doch schon am Telefon aus, und sie kann auch mal warten. Und nun erzähle mir weiter

von deiner Mutter Krupaß - klaut Hemdenknöpfe und hat doch ein gutes Herz. So was steht auch nicht im Katechismus und in der Bibel. Wie lange hat sie, sagst du -?"

"Vier Monate - und das paßt grade, als hätten die's auf dem Gericht gewußt. Denn Anfang Dezember komme ich zu liegen, und Ende November kommt sie heraus. Sie hat's auch gleich angenommen, ihr Anwalt, der Herr Killich, hat gesagt, sie soll froh sein. Aber ein Jammer ist es doch, wenn so 'ne alte Frau vor den Richtern steht, ich hab's mit angesehen. Und der Richter hat sie auch mächtig runtergeputzt, und sie hat immerzu geweint, ganz wie ein Kind, die alte Frau ..."

Es war wirklich halb elf Uhr nachts geworden, ehe Minna nach Haus kam. Sie hatte wohl das Licht im Zimmer ihrer Gnädigen gesehen, aber sie dachte: Warte du man! und schlich leise in ihre Kammer. Aber doch nicht leise genug für die Ohren von Frau Pagel. Denn die rief ganz lebhaft durch die Tür: "Sind Sie das, Minna? Na, Gott sei Dank, ich dachte schon, Sie legten sich auf Ihre alten Tage noch aufs Nachtleben."

"Das wird wohl so sein, gnä' Frau", sagte Minna brav. Und dann ganz scheinheilig: "Haben gnädige Frau sonst noch Wünsche?"

"I du falsche Katze!" rief die gnädige Frau entrüstet. "Tust du so, als wenn du nicht wüßtest, was mich juckt?! Was hast du ausgerichtet -?"

"Ach, nichts Besonderes", sagte Minna gelangweilt. "Bloß, daß gnä' Frau demnächst Großmutter werden!"

Und damit fuhr Minna mit einer Geschwindigkeit, die man dem alten knochigen Besen nie zugetraut hätte, in ihre Küche, und von der Küche in ihre Kammer, und die Kammertür schloß sie so geräuschvoll, daß klar wurde: heute abend war die Sprechstunde aus!

"I du Donner!" sagte die alte Gnädige, rieb sich energisch die Nase und sah träumerisch die Teppichstelle an, auf der eben noch ihr Hausdrache gestanden. "Kommst du mir so?! Großmutter! Eben noch verwaiste Frau ohne allen Anhang, und nun plötzlich Großmutter ... Nein, die Arznei schlucken wir noch nicht, wenn du sie mir auch noch so gerissen eingibst, du alter rachgieriger Teufel, du!"

Damit schüttelte Frau Pagel ihre Faust in dem leeren Flur und zog sich zurück in ihre Gemächer. Schlecht bekommen aber mußte ihr die Nachricht doch nicht sein, denn sie schlief so fest und so rasch ein, daß sie nicht mehr hörte, wie die Minna noch einmal aus dem Hause schlich, einen Brief in der Hand, den sie sogar noch ganz bis zum Postamt trug - und es war doch nun schon nach Mitternacht!

Und dieser Brief wurde der Anfang jenes Briefwechsels mit Neulohe,

der aus Wolfgang Pagel einen jungen Mann machte, der, nach Herrn Studmanns Worten, die Welt zu umarmen schien, und das, obwohl nicht eine Zeile von Petra Ledig dabei war -!

3

Wenn Wolfgang Pagel allein zu den Zuchthäuslern radelte und wenn Violet von Prackwitz sich ohne Widerspruch darein fügte, obwohl ihr ein Vormittag mit dem jungen Mann lieber gewesen wäre, so waltete hier ein höherer Wille, dem alle in Neulohe sich zu fügen hatten: der des Oberwachtmeisters Marofke. Dieser lächerliche, kleine, eitle Mann mit Spitzbauch machte nicht nur die Gesichter seiner Zuchthäusler griesgrämig. Wenn er mit irgendeinem seiner nie aufhörenden Wünsche das Gutsbüro betrat, stöhnte Frau von Prackwitz: "Ach du lieber Gott!", und Herr von Studmann legte seine Stirn in ärgerliche Falten. Die Kollegen, die Wachtmeister und Hilfswachtmeister, schimpften über den Kollegen - aber leise; die Mädchen in der Küche schimpften über den "eingebildeten Hanswurst" - und sehr laut.

Immer hatte Marofke Ausstellungen, ewig war ihm etwas nicht recht. Jetzt war das Hammelfleisch im Essen für die Gefangenen zu fett, nun war das Schweinefleisch zu spärlich. Seit drei Wochen hatte es keine Erbsen gegeben, aber zweimal in der Woche war Weißkohl gekocht worden. Die Leute kamen nicht rechtzeitig von der Arbeit, und das Essen war nicht rechtzeitig fertig. Dies Fenster mußte zugemauert werden: die Gefangenen konnten sonst in ein Zimmer sehen, das Mädchen bewohnten. Es war unzulässig, daß das Klo neben der Schnitterkaserne auch von den Leuten aus dem Dorf benutzt wurde, zum Beispiel von Frauenzimmern. Es war ebenso unzulässig, daß sich Frauen in der Nähe der arbeitenden Kolonne sehen ließen, das konnte die Leute aufregen.

Es riß nicht ab, es hörte nie auf! Dabei machte dieser infame Speckjäger sich selbst das Leben verdammt leicht. Die Überwachung der Kolonne überließ er meistens seinen Untergebenen, den vier Wachtmeistern. Er saß fast den ganzen Tag in seiner Kaserne, füllte mit wichtigtuerischer, eitler Miene Listen aus oder schrieb Berichte an die Zuchthausverwaltung, oder er schritt ruhelos in den Räumen der Kaserne umher, riß jedes Bett auseinander, durchsuchte es. Ein Löffelstiel, aus dem ein Gefangener sich einen Pfeifenreiniger gemacht hatte, rief sein intensivstes Nachdenken hervor: Was sollte nun dieses wohl wieder bedeuten? Gewiß, ein Pfeifenkratzer, aber wer sich einen Pfeifenkratzer macht, kann sich auch einen Dietrich machen! Und er revidierte alle Schlösser, die Gitterstäbe und die Stellen, an denen die

Gitterstäbe in der Wand festsaßen. Dann strich er zum Klohäuschen, hob die Klappen hinten hoch und prüfte, ob nur Klopapier oder ob vielleicht doch zerrissene Fetzen eines Briefes da unten lagen.

Aber die meiste Zeit saß er auf der Bank vor der Schnitterkaserne, mitten in der Sonne, drehte die Daumen über dem fetten Bauch, hatte die Augen halb geschlossen und dachte nach. Die Leute, die ihn da so behaglich-verschlafen sitzen sahen, lachten verächtlich über ihn. Denn auf dem Lande ist es eine Schande für einen gesunden Mann, in der Erntezeit faul dazusitzen. Jeder wird gebraucht, es gibt nie genug Arme.

Aber es muß zugegeben werden, daß der Herr Oberwachtmeister Marofke nicht irgendwie träumerisch-versonnen in der Sonne saß: er dachte wirklich nach. Er dachte ununterbrochen über seine fünfzig Gefangenen nach. Er erinnerte sich ihrer Vorstrafen, ihrer Straftaten, ihres Alters, ihrer Beziehungen zur Welt, ihrer Reststrafen. Mann für Mann prüfte er ihre Charaktere, er dachte an Vorkommnisse im Zuchthaus, winzige Ereignisse, die aber doch grell zeigten, wessen ein Mann fähig war. Wenn die Leute aßen, ruhten, plauderten, schliefen, beobachtete er sie ununterbrochen. Er achtete darauf, wer mit wem redete, auf Freundschaften, auf Abneigungen. Und als Ergebnis seiner Überlegungen und Beobachtungen gab es ständig Verlegungen, Feinde wurden zusammengebracht, Freundschaften auseinandergerissen. Die einander widerlich waren, mußten in den Betten nebeneinander schlafen. Marofke änderte die Tischrunde ständig, er bestimmte, wer neben wem gehen durfte, wer allein arbeiten mußte, wen die Beamten ständig im Auge zu behalten hatten.

Die Gefangenen haßten ihren Marofke wie die Pest; die Beamten, denen er endlose Scherereien machte, fluchten hinter seinem Rücken über ihn. Bei dem geringsten Widerspruch lief Marofke krebsrot an, sein dicker Bauch wackelte, es zitterten seine hängenden Hamsterbacken, er schrie: "Ich mache Sie verantwortlich, Wachtmeister! Sie haben einen Eid geschworen, Ihre Pflicht zu tun!"

Studmann sagte geekelt: "Es gibt eben solche Meckerköppe! Am besten läßt man sie laufen! Denen würde sogar der liebe Gott nichts recht machen!"

Pagel sah Herrn von Studmann an und widersprach: "Nein! Diesmal irren Sie sich. Das ist ein ganz schlauer Fuchs. Und tüchtig!"

"Ich bitte Sie, Pagel!" hatte Studmann ärgerlich gesagt. "Haben Sie den Mann schon je regelrecht Dienst tun sehen wie seine Kollegen? Jawohl, in der Sonne sitzen und sich neue Meckereien ausdenken, das kann er! Leider habe ich dem Kerl nichts zu befehlen, er untersteht nur

der Zuchthausverwaltung, aber Sie können sicher sein: wäre ich sein Vorgesetzter, ich brächte das fette Kind ein bißchen auf den Trab!"

"Sehr tüchtig", hatte Pagel unbeirrt gesagt. "Und schlau. Und fleißig. Nun, Sie werden es noch einsehen."

Jawohl, Wolfgang Pagel war der einzige, der an die Meriten dieses unausstehlichen Hanswurstes glaubte, und daher kam es wohl auch, daß die beiden sich gut vertrugen, ja, der meckrige Marofke hatte einen richtigen Affen an dem jungen Pagel gefressen.

Auch an diesem Morgen war Pagel, ehe er auf das Feld hinausfuhr, bei der Schnitterkaserne vom Rad gestiegen und hatte dem Oberwachtmeister einen kleinen Besuch abgestattet. Herr Marofke war für solche Höflichkeiten sehr empfänglich.

Er saß an seinem Tisch, hatte einen dunkelroten Kopf und starrte auf einen Brief, den ihm wohl eben der Postbote gebracht hatte. Pagel warf nur einen Blick auf den Kleinen, er sah, es saß Sturm in der Wolke, er fragte harmlos: "Na, was Neues im Westen, Ober?"

Der Kleine sprang so plötzlich auf die Füße, daß der Stuhl krachend umfiel. Klatschend schlug er auf den Brief, er rief: "Jawohl, Neues! Aber nichts Gutes! Abgelehnt, Fähnrich, mein Antrag auf Ablösung ist abgelehnt!"

"Wollten Sie denn weg von uns?" rief Pagel erstaunt. "Davon weiß ich ja gar nichts!"

"Ich weg? Unsinn! Ich werde mich doch nicht von so einem schwierigen Posten ablösen lassen! Ich ein Drückeberger? Nee, Fähnrich, nie gewesen - die Leute können über mich reden, soviel sie wollen! Nein", sagte er ruhiger, "Ihnen kann ich es ja erzählen, Sie halten dicht. Ich hatte beantragt, fünf Leute abzulösen, weil sie mir nicht mehr sicher scheinen. Und die Bürofatzken lehnen es mir ab - mein Antrag sei nicht begründet! Die brauchen erst einen totgeschlagenen Beamten auf ihrem Büro - dann haben sie ihre Begründung, dann sind sie froh! - Affen!!"

"Aber es ist doch alles ganz ruhig und friedlich", sagte Pagel beruhigend. "Mir ist nicht das geringste aufgefallen. Oder hat sich heute nacht was ereignet?"

"Bei Ihnen muß sich auch erst was ereignen", knurrte der Oberwachtmeister mürrisch. "Wenn sich in einem Zuchthauskommando was ereignet, junger Mann, dann ist es auch schon zu spät. Aber Ihnen nehme ich es nicht übel, Sie haben keine Erfahrung, und Sie verstehen nichts von Zuchthäuslern ... Nicht einmal meine Kollegen sehen etwas - sie haben ja erst heute früh wieder gesagt, bei mir piept es - lieber bei

mir piepen, als eine Nachteule sein, die bei Tage nichts sieht!"

"Aber was in aller Welt ist denn los?" fragte Pagel, erstaunt über soviel Ingrimm. "Was haben Sie denn gefunden, Herr Oberwachtmeister -?"

"Nichts!" sagte der Oberwachtmeister dumpf. "Keinen Zettel, keinen Dietrich, kein Geld, keine Waffe - nichts, was auf Flucht oder Aufruhr hindeutet. Aber doch stinkt es! Ich rieche es seit Tagen, ich merke doch so was, es ist mulmig, irgend etwas geht vor ..."

"Aber warum denn? Woran merken Sie das -?!"

"Ich bin über fünfundzwanzig Jahre im Zuchthaus", gestand Herr Marofke und fand nichts dabei. Im Gegenteil! - "Ich kenne meine Leute. Mir sind in meiner ganzen Dienstzeit drei Mann ausgerissen. Bei zweien hatte ich keine Schuld, und beim dritten war ich erst ein halbes Jahr im Dienst, da weiß man noch nichts. Aber heute weiß ich was, und ich schwöre Ihnen: die fünf haben was vor, und ehe ich sie nicht aus meinem Kommando raus habe, ist mein Kommando nicht sauber!"

"Welche fünf denn?" fragte Pagel. Er hatte den Eindruck, der Oberwachtmeister bildete sich was ein.

"Ich habe beantragt, folgende Leute abzulösen", sagte Marofke feierlich: "Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt, Holdrian ..."

"Aber das sind doch grade unsere umgänglichsten, intelligentesten, anstelligsten Leute!" rief Pagel erstaunt. "Bis auf den alten Wendt - der ist ein bißchen doof."

"Den haben sie nur mit drin als Sicherheitsventil. Den lassen sie hochgehen, wenn Gefahr am Mann ist. Der Wendt ist gewissermaßen deren Reugeld, aber die andern vier "... Er seufzte. "Ich habe alles versucht, sie auseinanderzubringen. Ich habe sie verlegt, keiner schläft mehr in einem Zimmer mit den andern, ich lasse sie nicht zusammen sitzen. Ich zieh den einen vor und behandele den andern schlecht. Das macht sie sonst wütend - aber nein, kaum drehe ich den Rücken, stecken sie wieder zusammen, tuscheln miteinander ..."

"Vielleicht mögen sie sich einfach leiden?" schlug Pagel vor. "Haben Freundschaft geschlossen -?"

"Im Zuchthaus gibt es keine Freundschaften", erklärte der Oberwachtmeister. "Im Zuchthaus ist immer einer des andern Feind. Wenn da zweie zusammenhalten, sind sie Verschwörer - für einen bestimmten Zweck. Nein, es stinkt, Fähnrich, wenn ich Ihnen das sage, ich, der Oberwachtmeister Marofke, so können Sie mir das glauben!"

Eine Weile waren sie stumm. "Ich fahre jetzt raus zu den Leuten", sagte Pagel schließlich, um fortzukommen. "Ich werde meine Augen

aufhalten, vielleicht sehe ich was."

"Ach, was wollen Sie denn sehen!" sagte der Oberwachtmeister wegwerfend. "Das sind doch ausgekochte Jungen - die bringen noch einen alten Kriminalkommissar ins Schwitzen. Ehe Sie was sehen, liegen Sie schon da mit einem Loch im Schädel. Nein", sagte er nachdenklich, "ich habe mir das überlegt. Wo die jetzt meinen Antrag abgelehnt haben, gehe ich aufs Ganze. Ich mache heute mittag einen Aufruhr, ich streue ihnen Salz ins Essen, richtig, wörtlich, ich versalze denen ihren Fraß so, daß sie ihn nicht runterkriegen. Und dann zwinge ich sie zu essen und reize sie und bedrohe sie, bis sie meutern, und dann habe ich einen Grund, dann greife ich mir meine fünfe heraus und schicke sie als Meuterer zurück. Das kostet sie dann noch ein, zwei Jahre Zusatzstrafe!"

Er kicherte höhnisch.

"Verdammt!" rief Pagel erschreckt. "Das kann aber schiefgehen: fünf Mann gegen fünfzig in der engen Bude!"

"Fahnenjunker!" sagte der Oberwachtmeister und kam dem jungen Pagel gar nicht mehr lächerlich vor, "wenn Sie bestimmt wissen, es will Sie jemand von hinten anspringen, was tun Sie? Sie drehen sich um und springen den Kerl an! Ich bin so, ich laß mich lieber von vorne als von hinten totschlagen."

"Ich werde heute mittag mit meiner Knarre rüberkommen!" sagte Pagel eifrig.

"Das werden Sie hübsch bleibenlassen!" knurrte der Oberwachtmeister. "Bei so 'ner Sache kann ich keinen unerfahrenen Hasen brauchen, eine Minute, und der nächste Ganove hat Ihre Knarre, und dann: Leb wohl, mein Vaterland! - Nee, fahren Sie jetzt man los, ich muß über meine Tischordnung nachdenken, daß ich die lautesten Schreier direkt bei meinem Gummiknüppel zu sitzen habe ..."

4

Von der festen Überzeugung eines Mannes geht ein Fluidum aus, das auch den Gegner beeinflußt. Sehr nachdenklich fuhr Wolfgang Pagel die nun schon so bekannten Wege zum Außenschlag 9 hinaus, auf dem die Kartoffelernte in Gang war. Von Zeit zu Zeit kam ihm ein Kastenwagen voller Kartoffeln entgegen, dann sprang er vom Rad und erkundigte sich bei dem Knecht, wie die Kartoffeln lohnten. Ehe er sich aber wieder aufs Rad schwang, fragte er noch beiläufig: "Alles in Ordnung draußen?" Aber was sollte eigentlich solche Frage? Natürlich war alles in Ordnung draußen, der Pferdeknecht brummelte auch nur etwas Unverständliches

zur Antwort.

Pagel fuhr weiter. Man soll sich von Gespenstersehern nicht anstecken lassen!

Es war ein schöner Herbsttag ausgangs September. Ein wenig frisch, der Ostwind - aber in der Sonne und im Windschutz noch recht behaglich warm. Pagel hatte jetzt völligen Windschutz, er fuhr durch Wald; Außenschlag 9, der entfernteste von allen Schlägen des Gutes, stieß mit einer Längs- und einer Schmalseite an Wald. Die andere Schmalseite grenzte schon an Birnbaumer Feld. Leise mit der Kette schnurrend, sonst ganz lautlos, fuhr das Rad über die Waldwege. Natürlich war draußen alles in Ordnung, aber Pagel mußte zugeben, daß Außenschlag 9, ein halbes Dutzend Kilometer vom Gutshof, im Walde versteckt, weitab von jeder anderen Ortschaft, eine treffliche Gelegenheit für unerlaubte Unternehmungen der Zuchthäusler abgeben konnte.

Unwillkürlich trat er die Pedale kräftiger und bremste gleich wieder, über sich selbst lächelnd. Er wollte sich doch nicht anstecken lassen. Seit einer Woche arbeiteten die Zuchthäusler schon draußen, und es war nichts passiert! Also war es Unsinn, schneller zu treten, nur um fünf Minuten eher draußen zu sein: wenn in sechs Arbeitstagen nichts passiert war, würde nicht gerade in diesen fünf Minuten sich etwas ereignen.

Pagel versuchte sich vorzustellen, wie überhaupt etwas geschehen konnte. In vier Abteilungen zu je zwölf und dreizehn Mann arbeiteten die Zuchthäusler auf dem freien Feld, zehn Schritte hinter jeder Gruppe stand ein Wachtmeister, den geladenen Karabiner in der Hand. Vor ihm, immer unter seinen Augen, lagen auf den Knien die Leute. Nicht einmal aufstehen durfte ein Mann, ohne den Beamten zu fragen. Ehe einer auch nur drei Schritte weiter war, würde ihm die Kugel im Leibe sitzen. Denn es wurde sofort ohne Warnung scharf geschossen, das wußten sie. Gewiß, theoretisch gab es die Möglichkeit, daß sich zwei oder drei opferten, um den andern die Freiheit zu verschaffen. Wenn der Wachtmeister sich leer geschossen hatte, konnten bis zum nächsten Laden, bis zum Hochreißen der Knarre die andern laufen. Aber praktisch gab es solchen Opfermut bei Zuchthäuslern nicht, hier dachte jeder bestimmt nur an sich und war bereit, alle zu opfern, nur nicht sich selbst.

Nein, hier draußen würde sich bestimmt nichts ereignen, eher noch in der Kaserne. Marofke spielte ein gefährliches Spiel heute mittag, Pagel schwor sich, mit der Knarre wenigstens am Fenster draußen zu stehen. Und vielleicht wagte Marofke dieses Spiel für nichts, für Einbildungen, für Gespenster ...

Langsam fährt Pagel weiter, während des Fahrens denkt er nach. Was ihn von vielen jungen Leuten und den meisten alten unterscheidet, ist dieses Nachdenken, ein selbständiges, beharrliches Nachdenken, eine Suche nach Verstehen. Er war nicht für die gebahnten Straßen der andern, er wollte seinen eigenen Weg. Alle in Neulohe hielten den Oberwachtmeister Marofke für einen faulen, eingebildeten, albernen Affen. Das beeinflußte Wolfgang Pagel nicht, er war völlig anderer Ansicht. Und wenn Marofke sagte, es war etwas nicht in Ordnung mit seinen Leuten, so war es töricht, einfach zu antworten: "Das ist Quatsch!" - so schwach die Begründung auch sein mochte, die Marofke für seine Ansicht hatte.

In einem Punkte hatte der Oberwachtmeister jedenfalls recht: er, der Pagel, verstand nichts von Zuchthäuslern, aber er, der Marofke, verstand sehr viel von ihnen. Wenn Pagel mit den Leuten sprach, so waren sie sehr nett zu ihm, sie machten Späßchen, treuherzig erzählten sie von ihren Leiden im "Bunker" und in der Welt draußen. Auf ihn machten sie einen harmlosen, ein bißchen zu freundlichen Eindruck. Aber falsch mußte dieser Eindruck sein, das war bei einigem Überlegen sofort einzusehen, sie konnten gar nicht harmlos und freundlich sein.

"Lassen Sie sich bloß nicht die Augen verblenden, Pagel!" hatte Marofke nicht umsonst zehnmal zu ihm gesagt. "Vergessen Sie nicht, sie sind Zuchthäusler geworden, weil sie etwas Schuftiges getan haben. Und einmal Schuft, immer Schuft. Im Gefängnis kann mancher dazwischensitzen, der aus Not, aus Eifersucht gehandelt hat - wer im Zuchthaus sitzt, hat immer was Gemeines getan!"

Ja, und sie taten dabei harmlos. Der Oberwachtmeister hatte recht: dieser Harmlosigkeit durfte man nicht trauen. Darin unterschied sich eben Marofke von den andern Beamten: er schlief nicht ein, sein Argwohn war immer wach. Er vergaß nicht eine Minute, daß in einer schließlich und endlich ganz unzureichend gesicherten Schnitterkaserne fünfzig schwere Verbrecher saßen und daß diese fünfzig, losgebrochen, eine unendliche Summe Unglück für ihre Mitmenschen bedeuten konnten.

"Aber sie kommen ja doch in einem Monat, in drei Monaten, in einem halben Jahr raus!" hatte Pagel eingewendet.

"Natürlich - dann aber kommen sie mit einer polizeilichen Abmeldung, in Zivilkluft, mit ein bißchen Geld für den Anfang raus. Wenn sie aber ausreißen, ist gleich ihre erste Straftat, sich Zivilkleidung zu besorgen: Diebstahl, Einbruch, Überfall ... Sie können nirgendwo angemeldet wohnen, sie müssen bei Verbrechern unterkriechen oder bei Huren, die

nichts umsonst tun. - Also müssen sie sich Geld verschaffen: Diebstahl, Betrug, Hochstapelei, Einbruch, Überfall ... Verstehen Sie nun, was das für ein Unterschied ist: Entlassung oder Ausreißen?!"

"Geht in Ordnung!" sagte Pagel.

Der Mann Marofke hatte recht, und die andern hatten unrecht, sie hatten auch darin unrecht, wenn sie behaupteten, Marofke drücke sich vom Dienst, weil er daheim blieb.(Der Rittmeister hatte ja gleich gesagt, Marofke sei ein Drückeberger.) Aber Pagel sah wohl, was für eine stumpfsinnige, gleichgültige Beschäftigung man aus dem Stehen hinter der Kolonne machen konnte. Verdammt noch mal! Marofke war nicht stumpfsinnig, er zergrübelte sich den Kopf, ein paarmal hatte er schon gestöhnt: "Ach, Fähnrich, wenn ich doch erst wieder heil mit meinen fünfzig Husaren daheim wäre! Erst freut man sich auf das Kommando, die frische Luft, das Essen, das man der Frau spart - und nun zähle ich schon immer: noch sechs Wochen, noch fünf Wochen und sechs Tage, und so weiter und so weiter, und womöglich kriegen wir eure Kartoffeln bis zum ersten November gar nicht raus!"

"Und da sind dann noch die Rüben!" hatte Pagel heimtückisch gesagt.

Aber es war nicht richtig gewesen, zu dem Manne heimtückisch zu sein. Er war kein Angsthase, das bewies sein Vorhaben für heute mittag. Dazu gehörte schon eine ziemliche Portion Entschluß und Courage. Vielleicht piepte es wirklich ein bißchen bei ihm, fünfundzwanzig Jahre Zuchthausdienst konnten einen Mann wohl etwas verdreht machen. Aber Pagel war sich dessen nicht ganz sicher. Er fand, dieser Oberwachtmeister Marofke beobachtete scharf, dachte klar. Er nahm sich vor, heute auf dem Felde die Augen gewaltig aufzutun und festzustellen, ob diese Beobachtungen richtig oder falsch seien.

Worauf ihn die Ereignisse binnen fünf Minuten darüber belehren sollten, was seine Beobachtungen wert waren und was Laienhilfe bei Zuchthäuslern nützte.

Er lehnte sein Rad gegen einen Straßenbaum am Feld, nebenbei gesagt, auch etwas, was ihm der Oberwachtmeister streng untersagt hatte. Denn das ohne Aufsicht stehende Rad konnte die Flucht eines Mannes begünstigen - aber für diesmal hatte die Leichtfertigkeit des jungen Pagel keine weiteren Folgen. Er ging die Kartoffeldämme entlang quer über das Feld auf das Kommando zu. Die Leute arbeiteten in einer langen Kolonne nebeneinander, auf den Knien weiterrutschend, am Aushacken und Einsammeln der Kartoffeln. Vier Mann gingen aufrecht hin und her, sie schütteten die vollen Körbe in Säcke und gaben sie entleert den Buddlern zurück. Die vier Beamten standen hinter der

Kette, in der etwas gleichgültigen Pose von Leuten, die Tag für Tag zehn Stunden lang ein Ereignis fürchten müssen, das doch nie eintritt. Zwei von den Wachtmeistern hielten ihre Karabiner unter dem Arm, zwei hatten sie umgehängt - das war auch von Marofke verboten, und darum fiel es Pagel auf. Die Leute sammelten gerade von einer Hügelkuppe in eine Mulde hinab, die von älteren Fichtenschonungen begrenzt war. Die Mulde war verunkrautet, dazu war das Kraut hier, wo sich alles Wasser gesammelt hatte, noch halb grün, es buddelte sich schlecht.

Das riefen die Leute auch sofort Pagel zu: "Das ist Mist hier, Herr Inspektor! - Man kommt gar nicht voran! - Die Kartoffeln sind hier noch ganz grün. - Bloß, daß Sie Tabak an uns sparen!"

Pagel hatte zur Belebung des Fleißes eingeführt, daß für ein bestimmtes Zentnerergebnis eine Tabakszulage gegeben wurde.

"Nun, wir wollen mal sehen, was sich machen läßt", rief Pagel vertröstend und ging auf den nächsten Beamten zu. Er grüßte und stellte ihm gleich wieder die Frage, die ihm heute stets auf der Zunge lag: "Alles in Ordnung?"

"Natürlich", antwortete der junge Hilfswachtmeister gelangweilt. "Was soll denn nicht in Ordnung sein?"

"Ich frage ja nur ... Es buddelt sich hier schlecht?"

"Marofke hat Ihnen wohl einen Floh ins Ohr gesetzt? Bei dem piept's ja! Immer meckern und stänkern! So wie dies Kommando hat es keines: Essen in Ordnung, Baracke in Ordnung, Rauchen in Ordnung - aber er kann keine Ruhe halten. Man kann es auch übertreiben!"

"Was übertreiben -?"

"Herr Wachtmeister!" rief ein Gefangener in das Gespräch. "Darf ich mal austreten?"

Der Wachtmeister warf einen gelangweilten Blick auf ihn, dann auf die Reihe. "Los, Kosegarten!"

Der Gefangene warf einen vergnügt-vertraulichen Blick auf Pagel, trat hinter die Reihe und knöpfte grinsend seine Hosen ab. Dann hockte er sich hin, die Augen weiter auf Pagel gerichtet, der eine halbe Drehung machte, um diesen Anblick nicht ständig vor Augen zu haben.

"Wieso übertreiben -?" fragte der Hilfswachtmeister. "Weil Marofke sich beim Direktor anschmieren will! Er hat geschworen, er bringt jeden Mann fünfundzwanzig Pfund schwerer wieder nach Meienburg. ›Und wenn wir das Gut arm fressen!‹ hat er gestern erst wieder gesagt. ›Ich schimpf immer weiter übers Essen, die können gar nicht gut genug kochen!‹"

Pagel hatte keine Zeit mehr, auf diese Denunziation zu antworten. Das

Gesicht des Hilfswachtmeisters veränderte sich in einem plötzlichen Schreck - "Halt!" brüllte er und riß den Karabiner von der Schulter ...

Pagel fuhr herum, grade sah er noch den Gefangenen Kosegarten, der eben sein Geschäft verrichtet hatte, in die Fichten springen ...

"Aus dem Weg!" brüllte ihn der Wachtmeister an und schlug Pagel mit dem Karabinerlauf hart vor die Brust.

"Nicht schießen, Herr Wachtmeister!" brüllten zwei, drei Stimmen. "Wir holen ihn ..."

Einen Augenblick nur zögerte der Wachtmeister - und zwei, drei weitere Gestalten verschwanden in den Fichten.

"Steht!" schrie der Wachtmeister und schoß.

Der Knall, trocken und gar nicht laut, klang lächerlich gering gegen den Tumult der Gefangenen. Jetzt wurde auch oben geschossen.

"Antreten zu vieren!" brüllten Stimmen.

Pagel sah einen fünften Mann gegen die Fichten laufen, er setzte ihm nach.

"Bleiben Sie stehen, Sie Dummkopf! Ich kann ja nicht schießen!" brüllte der Beamte.

Pagel zögerte, warf sich hin, über ihm pfiffen die Kugeln. Man hörte es in den Fichten klatschen.

Fünf Minuten später waren die Leute zum Abmarsch aufgestellt, gezählt und die Namen der fehlenden ermittelt. Es fehlten fünf Mann. Ihre Namen lauteten: Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt, Holdrian.

Großer, weiser Marofke! dachte Pagel und schämte sich kräftig der eigenen Torheit.(Wie oft hatte ihm Marofke verboten, mit dem Beamten während der Wache ein Gespräch anzufangen! Wie schafsdumm war es von ihm, einem Ausreißer nachzulaufen, nachdem ihm schon zwei Gefangene demonstriert hatten, wie gut solch Nachlaufen eine Flucht deckte!)

Die Gefangenen schwirrten vor Aufregung, schwatzten - oder waren ganz finster und wortlos, die Aufseher erregt, bärbeißig, wütend.

"Sie, Herr Pagel, sausen Sie mal mit D-Zug-Geschwindigkeit aufs Gut und erzählen Sie Marofke die Scheiße. Gott, wird der platzen, Gott, wird der uns beschimpfen! Und er hat recht gehabt - wir sind alle Idioten gegen ihn, na, mit dem Arbeitskommando ist's nun vorbei - heute nachmittag geht's heim nach Meienburg. Sagen Sie dem Marofke, wir kommen erst in gut zwei Stunden. Ich lasse außen rum marschieren, über die offenen Felder. Jetzt mit den Jungen durch den Wald, das

riskiere ich nicht, also los!"

Pagel schwang sich auf sein Rad und sauste in den Wald. Während er die Schneisen entlangraste, dachte er: O Gott, was wird Marofke sagen?! Die Jungen hätten's jetzt verdammt einfach, mich vom Rade zu hauen! Ach, Marofke, hätt ich doch richtig aufgepaßt ...

5

In den nächsten drei, vier Stunden surrte und schwirrte es in Neulohe wie in einem Bienenhaus vor dem Ausflug der Königin. Nur, daß hier schon ausgeflogen war - und von keiner Königin!

"Dachte ich es mir doch!" hatte der Oberwachtmeister Marofke nur gerufen und war auf das Büro gestürzt, um die Zuchthausverwaltung anzurufen, gefolgt von dem atemlosen Pagel, dem der Schweiß lief.

"Hätten Sie sich ein bißchen mehr um Ihre Leute gekümmert!" sagte von Studmann ärgerlich.

Aber der kleine, eitle, eingebildete Marofke ließ sich keine Zeit zu einer Richtigstellung, Rechtfertigung. "Heute müssen wir sie kriegen, ehe sie aus dem Wald raus sind, oder wir kriegen sie gar nicht!" hatte er zu Pagel gesagt und telefonierte schon mit der Direktion, nicht einmal zu einem Triumph seiner Besserwisserei ließ er sich Zeit.

Pagel flüsterte mit Studmann, während der Beamte telefonierte - mit Staunen merkte er, daß ihm am wichtigsten die Rechtfertigung des kleinen Marofke vor Studmann erschien. Davon flüsterte er. Der kleine Marofke dachte entgegengesetzt, er hatte nur zwei Ideen: den Rest seines Kommandos rasch und ohne weiteren Abgang nach Meienburg zurückzuführen und die Ausreißer möglichst schnell wieder einzufangen.

Es war deutlich zu hören, daß Marofke eine fürchterliche telefonische Abreibung erhielt, aber er zuckte nicht, er sprach kein Wort von seinem abgelehnten Gesuch. "Was soll jetzt geschehen?" war sein einziges Interesse.

"Das ist doch ein Kerl!" sagte Pagel zu von Studmann.

Aber Studmann murrte nur: "Wenn er ein Kerl wäre, hätte er die Leute nicht erst ausreißen lassen!"

Oberwachtmeister Marofke hing ab.

"Herr von Studmann!" meldete er militärisch und sehr kalt. "Das Arbeitskommando Neulohe wird heute noch abgelöst. Wachtmeister zum Abtransport der Leute kommen sofort aus Meienburg. Ich bitte, zu - sagen wir: zu drei Uhr, zwei Gespanne für die Abfuhr der Sachen

bereitzuhalten. Ich selbst fahre jetzt dem Kommando entgegen und bringe es in die Kaserne."

"Sie persönlich? - Nein, wirklich!" rief Herr von Studmann bitter. "Und was wird aus unsern Kartoffeln?!" Er sah schlimme Folgen voraus, er war bitter.

Aber Marofke beachtete den Stich gar nicht.

"Ich bitte Sie, Herr von Studmann, sich mit dem Förster und vielleicht dem Besitzer der Forst in Verbindung zu setzen. In der nächsten halben Stunde muß aus den Forstkarten genau festgestellt werden, wo sich die Leute etwa befinden. Wann sind sie ausgerissen, genau, Herr Pagel?"

"Zehn Uhr dreißig etwa!"

"Also, Ort ist bekannt, ein Plan wird ausgearbeitet - so weit können sie gekommen sein, da können sie sich versteckt haben. Es wird Gendarmerie kommen, fünfzig Mann, hundert, Militär vielleicht - es wird noch vor Abend ein Kesseltreiben geben ..."

"Hübsch!" sagte Herr von Studmann.

"Ich selbst bin so schnell wie möglich wieder hier. Sie, Pagel, gehen jetzt sofort ins Schloß, rufen von da die Polizeidirektion in Frankfurt an, Sie werden von ihr Weisungen bekommen. Nachher werden Sie wohl alle Gendarmeriestationen in der Nähe anrufen müssen ... Die Grenze nach Polen muß gesichert werden, der Weg nach Berlin gesperrt. - Dieser Apparat hier bleibt für eingehende Anrufe frei, es wird nicht von diesem Apparat aus telefoniert, sagen Sie das auf dem Postamt ..."

"Mein Gott!" rief von Studmann, nun doch von der Energie des kleinen Mannes angesteckt. "Ist es denn wirklich so gefährlich?"

"Vier Mann sind verhältnismäßig ungefährlich", sagte der Oberwachtmeister. "Zuhälter, Hochstapler, Betrüger -. Aber einer ist dabei, Matzke, dem kommt es auch nicht auf einen Mord an, wenn er bloß Zivilsachen und Geld kriegt ... Los, meine Herren, an die Arbeit ..."

Und er schoß aus dem Büro wie eine Rakete.

"Los, Pagel!" rief auch Studmann. "Schicken Sie mir den alten Herrn!"

Pagel lief durch den Park. Von der Seite kam Fräulein Violet, sagte etwas, er rief ihr nur zu: "Zuchthäusler ausgerissen!" und lief weiter. Er drängte den öffnenden alten Elias zur Seite, er kam in Gang, seine Langsamkeit verschwand, er lief an den Apparat in der Diele: "Hallo, hallo, Amt - die Polizeidirektion in Frankfurt/Oder. Dringend! Dringend!! Nein, sofort! Ich bleibe am Apparat ..."

In den Türen zur Diele erschienen Gesichter, erschrockene, erstaunte.

Zwei Stubenmädchen warfen sich einen Blick zu. - Warum sehen sich die denn so komisch an? dachte Pagel flüchtig. Nun erschien Violet auf der Diele, sie lief auf Pagel zu: "Was ist los, Herr Pagel? Die Zuchthäusler -?"

Geräuschvoll öffnete sich die Tür von des Geheimrats Zimmer: "Wer brüllt denn hier in meinem Haus?! In meinem Haus brüll ick alleene!"

"Herr Geheimrat, bitte sofort auf das Büro! Fünf Zuchthäusler sind entflohen ..."

Ein Mädchen oben lachte hysterisch.

"Und darum soll ich auf euer Büro?!" Der Geheimrat strahlte. "Meint ihr, die kommen, um mich auf euerm Büro anzusehen? Aber ich habe es ja gleich gesagt: Nehmt euch vernünftige Menschen! Nun kann ich jeden Abend meiner Frau mit 'nem Revolver unters Bett leuchten ..."

"Hier spricht die Gutsverwaltung Neulohe", sprach Pagel in den Apparat. "Neu-lo-he! Ich melde im Auftrag der Zuchthausdirektion Meienburg ..."

"Geht in Ordnung!" sagte eine gleichmütige Stimme am Ende der Strippe. "Wir wissen schon von Meienburg her Bescheid. Wer spricht denn da? Der Inspektor? Na also, ihr macht ja schöne Zicken da! Könnt ihr nicht ein bißchen besser aufpassen?! Na, hören Sie zu. Sie hängen jetzt ab, ich sage unterdes Ihrem Amt Bescheid, und wenn's wieder klingelt, gibt Ihnen Ihr Amt nacheinander alle Gendarmeriestationen in Ihrer Gegend. Denen sagen Sie bloß an: Fünf Zuchthäusler ausgerissen, alle Mann sofort nach Neulohe - aber mit Karacho! So, das besorgen Sie möglichst schnell, wir haben hier schon alle Apparate vollhängen, die Grenze, keine zwanzig Kilometer ab ..."

Der Geheimrat war mit seiner Enkelin doch auf das Gutsbüro gegangen. Der junge Pagel stand am Apparat und telefonierte. Durch das Haus liefen die Mädchen wie kopflos, manchmal blieb eine rascher atmend bei Pagel stehen, sah ihn an und las die immer gleichlautende Meldung von seinen Lippen. Was Frauenzimmer für verrückte Gesichter machen können! dachte Pagel, auch er recht erregt, wenn sie einen Schrecken bekommen. Ein bißchen aufgeregt und ein bißchen glücklich. - Oben weint die gnädige Frau? - Sie hat schon Angst um ihr bißchen Leben!

Und er hatte, indem er immer wieder neu dieselbe alte Alarmnachricht durchgab, Gelegenheit, zu hören, wie verschieden die Menschen darauf reagierten:

"Donnerwetter!"

"Ach nee?"

"Und ich habe grade Reißen im Bein!"

"Wie kommt denn Neulohe zu Zuchthäuslern?"

"Ist 'ne Prämie ausgesetzt?"

"So was, so was, na ja, heute ist Freitag!"

"Ausgerechnet, wo meine Frau mir ein Huhn gebraten hat."

"Da kann ja jeder kommen und sagen, er ruft im Auftrag der Polizeidirektion an! Wer sind Sie denn überhaupt?!"

"Was meinen Sie, Inspektor, Stiefel? Oder kann ich in langer Hose kommen?"

"Fünfe ist bitter!"

Und das fürchterliche Wort: "Jetzt lebt der noch und weiß von nichts, den sie vielleicht schon in zehn Minuten umlegen!"

Etwas Grausiges stieg aus diesen Worten auf, Schuld und Mitschuld ... Und während Wolfgang immer weitertelefonierte, dachte er an das, was er in dieser Sache verfehlt hatte. Es war nicht viel, Kleinigkeiten, kein vernünftiger Mensch konnte ihm, dem Unerfahrenen, einen Vorwurf machen, da so viel Erfahrene versagt hatten. Kleinigkeiten hatte er falsch gemacht ... Aber Wolfgang Pagel, der noch vor einem Vierteljahr so bereit gewesen war, sich alle eigenen Sünden zu vergeben, ja, bei dem es gar keiner Vergebung bedurft hatte, Wolfgang Pagel dachte jetzt anders über diese Dinge. Nein, er dachte nicht, er fühlte anders. War es die Arbeit draußen oder das Erleben der letzten Zeit, war es das Wort in Minnas Briefen von dem Mannwerden - es war gleichgültig, ob andere noch mehr gesündigt hatten, er wollte sich nichts vorzuwerfen haben - nicht einmal wenig.

Die Gendarmerieposten reißen nicht ab, immer wieder klingelt der Apparat, immer wieder die Meldung, immer wieder die Ausrufe des Ärgers, der Überraschung, der Bereitschaft. Und dabei sieht er sie, die fünf; fünf Männer in Zuchthaustracht. Sie hocken versteckt wie Wild in den Wäldern zwischen Neulohe und Birnbaum, sie haben kein Geld, keine Waffe, keine übermäßige Intelligenz. Aber sie haben eines, was sie von den andern Menschen unterscheidet: sie haben die Hemmungslosigkeit, zu tun, was sie wollen.

Wolfgang Pagel denkt daran, daß es eine Zeit gab, nicht lange her, da er stolz von sich dachte: Mich bindet nichts; ich kann tun, was ich will; ich bin frei ...

Jawohl, Wolfgang Pagel, jetzt verstehst du es: du warst frei,

hemmungslos zu sein wie ein Tier! Das Menschentum liegt nicht darin, zu tun, was man will, sondern zu tun, was man muß.

Und während Wolfgang weiter und immer weiter meldet, dreißigmal, fünfzigmal, siebzigmal, sieht er die gesunde Lebenskraft ausholen zum Schlage gegen die kranke. Plötzlich kommen ihm die Witze über des Teufels Husaren so schal vor, so frech ihr Zuchthäuslerlied! Er sieht die fünfzig, die hundert Gendarmen auf ihre Räder steigen, auf vielen Wegen streben sie alle einem Ziele zu: Neulohe. Er sieht die Beamten auf der Polizeidirektion in Frankfurt, auf Dutzenden von Polizeistationen klingeln jetzt die Telefone, die Morseapparate klappern. In den Zollämtern der Grenzwachen setzen die Beamten die Mützen auf, sie schnallen besonders sorgfältig um, sie sehen ihre Pistolen nach: der Tod geht um!

Der Tod geht um! Fünf Menschen entschlossen zu allem - und in einer Zeit, die sich über nichts einig zu sein scheint, in der alles zerfressen, verfault zusammenstürzt, in dieser Zeit ist das Leben sich doch noch immer gegen den Tod einig! Das Leben ist es, das alle Straßen verstellt, überall seine Augen hat. In den Zufahrtsstraßen der großen Städte stehen jetzt die Polizisten und mustern jeden Passanten - ein Halstuch, eine Hose können verräterisch sein! Die Elendsquartiere, die Winkel, in denen das Verbrechen haust, werden schärfer bewacht als je. In den kleinen Städten gehen die Polizisten die Wege hinter den Häusern, dort, wo sie sich nach den Gärten, nach den Hofplätzen öffnen. Die Wanderer auf den Landstraßen, die Kutscher der Wagen, die Chauffeure der Lastautos werden gewarnt. Ein ganzer Landstrich, von der polnischen Grenze bis nach Berlin hin, kommt in Bewegung. Schon arbeiten in den Druckereien die Schnellpressen, aus denen die Steckbriefe hervorgleiten, die Aufrufe, Signalements, die heute nachmittag noch an die Säulen, an die Wände geklebt werden. Über den Strafakten der Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt, Holdrian sitzen die Beamten; aus dem Bericht über vergangene Straftaten suchen sie den Hinweis auf mögliche neue. Sie prüfen die Blätter, aus den alten suchen sie die neuen Spuren zu erraten: Wo kann er sich hingewandt haben? Wer ist seine Freundschaft? Von wem bekam er während seiner Haftzeit Briefe?

Es ist vielleicht nicht mehr das Leben in seiner alten Gewalt und Frische, zu viel wurde in den vergangenen Jahren zerstört, das Leben selbst wurde krank - es ist vielleicht manches nur Gewohnheit von früher her in dem, was nun geschieht. Die Maschine knarrt, stöhnt, ächzt - aber sie läuft noch, sie holt noch einmal aus, sie faßt zu - wird sie erfassen?

6

Wie lange hatte Wolfgang Pagel am Telefon gestanden? Eine Stunde? Zwei Stunden? Er wußte es nicht. Als er aber aus dem Schloß zum Beamtenhaus hinüberging, sah er schon die ersten Wirkungen seiner Telefonate mit Augen: an der Wand des Beamtenhauses lehnten Räder über Räder, die Landjäger standen in Gruppen vor der Tür, auf den Wegen. Sie rauchten, sie redeten, ein paar lachten. Und immer neue kamen an, mit "hallo" oder einem abwartenden Stillschweigen begrüßt, Witze wurden gerissen.

Drinnen im Büro fand Pagel die Leute ernster. Karten lagen auf dem Tisch, die gnädige Frau, der alte Geheimrat, Herr von Studmann sahen gespannt darauf. Ein Oberlandjägermeister zeigte mit dem Finger. Marofke stand am Fenster, er sah bleich und verfallen aus, sichtlich war es ihm nicht gut ergangen.

"Die polnische Grenze, Polen scheidet ganz aus", sagte der Oberlandjägermeister. "Keiner von den fünfen kann nach den bisherigen Ermittlungen Polnisch, außerdem ist Polen kein Arbeitsfeld für Verbrecher solchen Schlages. Für mich ist sicher, daß sie nur die Absicht haben, sich möglichst schnell nach Berlin durchzuschlagen. Natürlich in Nachtmärschen auf Nebenwegen. Es sind - bis auf einen - Zuhälter, Betrüger, Hochstapler, solche Kerle lockt nur Berlin ..."

"Aber "..., fing Oberwachtmeister Marofke an.

"Ich bitte, mich nicht zu unterbrechen!" sagte der Oberlandjägermeister scharf. "Zweifelsohne werden die Leute sich bis zur Nacht im Wald versteckt halten. Mit einem Teil meiner Mannschaften werde ich versuchen, die Kerle da zu fangen - obwohl ich das für ziemlich aussichtslos halte, die Wälder sind zu groß. Unser Hauptaugenmerk müssen wir nachts auf die Nebenstraßen und die abgelegenen Dörfer richten. Auf ihnen werden sie versuchen, vorwärts zu kommen, in ihnen sich Zivilsachen und Essen besorgen ... Vielleicht fassen wir sie schon diese Nacht. In dieser Nacht sind sie hier noch in der Nähe ..."

"Erzählen Sie das bloß meiner Frau nicht, Verehrtester!" rief der Geheimrat.

"Wenn irgendein Punkt zwischen hier und Berlin vollkommen sicher vor den Brüdern ist, so ist es Neulohe", erklärte der Oberlandjägermeister lächelnd. "Das ist ohne Frage. Hier, wo wir unser Hauptquartier haben. - Nein, die kleinen abseitigen Dörfer, für die wird es schlecht, aber wir werden für Bewachung sorgen. Die allein liegenden Höfe - aber wir werden sie warnen. Und wenn wir die fünf auch nicht zu sehen kriegen, ungefähr wissen wir doch immer, wo sie sind. Ich rechne mit sechzig

Kilometer Nachtmarsch im Durchschnitt, in der ersten Nacht weniger, dann etwas mehr. Müssen sie sich mit Essenbesorgen aufhalten, wird es wieder weniger. Ich nehme an, sie werden in der ersten Nacht, statt westlich zu marschieren, nach Norden gehen, um diesem unruhigen Bezirk auszuweichen. Allerdings liegt da wieder Meienburg "... Ein Gedanke kam ihm. Er sah Marofke an, er fragte: "Wissen Sie, ob einer von den fünfen in Meienburg Verbindungen hat: Verwandte, eine Braut, Freunde?"

"Nein!" sagte der Oberwachtmeister.

"Was heißt nein?!" tadelte der Oberlandjägermeister scharf. "Wissen Sie es nicht, oder haben die Leute keine Verbindungen?"

"Die Leute haben keine Verbindungen", sagte der Oberwachtmeister böse.

"Soweit Ihnen das bekannt ist, natürlich", spottete der Oberlandjägermeister. "Ihnen ist ja nicht sehr viel bekannt, nicht wahr? - Also dann danke! Wir brauchen Sie hier nicht mehr, Herr Oberwachtmeister; lassen Sie mir noch Meldung machen, ehe Sie mit Ihrem Kommando abmarschieren."

"Zu Befehl!" sagte der Oberwachtmeister, legte die Hand an die Mütze und ging aus dem Büro.

Alle sahen ihm nach, aber keiner sagte ihm ein Wort zum Abschied - auch Herr von Studmann nicht. Wolfgang sah von einem Gesicht zum andern. Der Geheimrat fing an zu brummen: "Ach wie bald, ach wie bald schwindet Schönheit und Gestalt ..."

Der Oberlandjägermeister lächelte wohlwollend.

Die gnädige Frau sagte: "Er hat mir von Anfang an einen unangenehmen Eindruck gemacht ..."

Herr von Studmann meinte: "Unser Herr Pagel ist anderer Ansicht ..."

"Einen Augenblick Entschuldigung", sagte Pagel und ging rasch aus dem Büro.

Der Oberwachtmeister Marofke war durch die versammelten Landjäger gegangen, mit seinem lächerlichen Spitzbauch, seinen dünnen Beinchen in tadellos gebügelten Hosen, mit seinem gesträubten Katerschnurrbart und seinen rötlichvioletten Hamsterbäckchen. Der Oberwachtmeister sah nicht rechts noch links, er blickte starr vor sich hin - bei jedem Schritt erzitterten seine Bäckchen, so fest setzte er die Füße auf. Aber wenn Herr Marofke auch nichts sah, seine Ohren konnte er nicht verschließen, sie hörten, wie ein Landjäger erstaunt fragte: "Was ist denn das für einer?"

"Na, Mensch! Der hat sie doch türmen lassen!"

"Ach so! Wegen dem können wir jetzt nachts im Walde rumliegen!"

Marofke ging grade, ohne eine Miene zu verziehen, auf die Schnitterkaserne zu. Er setzte sich nieder auf die Bank, auf der er so oft zum Ärger der Neuloher Bevölkerung gesessen hatte, er sah wieder starr vor sich hin.

Drinnen in der Kaserne war der Lärm des Einpackens und Aufbrechens; ärgerlich, gereizt schalten die Wachtmeister; zornig, wütend antworteten die Gefangenen - Marofke stand nicht auf. Er wußte, es konnte nichts fehlen, keine Decke war gegen Tabak vertauscht worden, kein Laken zu Lunte versengt, keine Spaten auf dem Felde vergessen. Es war alles in bester Ordnung, nur fünf Mann waren abgängig. Und wenn sie selbst heute noch wieder eingefangen wurden(woran Marofke nicht glaubte), das Odium würde auf ihm haftenbleiben: ihm waren fünf Mann weggelaufen, seinetwegen war ein Kommando aufgelöst worden. Das wusch ihm keiner wieder ab!

Ja doch, jawohl, da war sein Bericht an die Zuchthausverwaltung. Er hatte Scharfblick bewiesen, er hatte um die Ablösung grade dieser fünf gebeten - aber auch das würde ihn nicht rein waschen! Grade die Schreibhengste auf dem Büro, die seinen Antrag abgelehnt hatten, würden alles tun, um dieser Eingabe Gewicht zu nehmen. Sie war ja völlig unbegründet, auf solche Eingabe konnte man keine Rückschickung verfügen, die Leute hätten sich mit vollem Recht beschwert! Und wenn der Herr Marofke den Leuten wirklich so sehr mißtraute, so hätte er ihnen nicht von der Pelle gehen dürfen, er hätte Tag und Nacht neben ihnen stehen müssen, sie nicht einem unerfahrenen Hilfswachtmeister anvertrauen dürfen - ach, hundert Stricke würden ihm gedreht werden! Die Kollegen mochten ihn nicht, sie würden alle Schuld auf ihn schieben - und dann dazu noch der Bericht von der Gutsverwaltung hier, vom Oberlandjägermeister -!

Er war nun so lange im Beruf, der Oberwachtmeister Marofke, er wußte, pensionieren würden sie ihn wegen dieser Sache nicht können, aber sie würden ihn nicht befördern! Er hatte mit dieser Beförderung zum Herbst gerechnet, Michaeli schied der Hauptwachtmeister Krebs aus, er hatte mit diesem Posten gerechnet, er hätte ihn haben müssen! Es war nicht die liebe Eitelkeit, es war nicht nur der verständliche Ehrgeiz, höher zu kommen, der ihn diese Beförderung hatte ersehnen lassen, es war noch etwas anderes. Er hatte ein Mädchen daheim, eine Tochter, ein etwas altjüngferliches Geschöpf mit Brille, das er sehr liebte. Dieses Mädchen wäre für sein Leben gerne Lehrerin geworden - von

einem Hauptwachtmeistergehalt hätte er sie vielleicht aufs Seminar schicken können, jetzt würde sie Kochen lernen müssen und Mamsell werden! Lächerlich und zum Kotzen war dieses Leben, weil ein junger Bursche einen Wachtmeister im Dienst anquatschte, liefen fünf Mann weg - und darum konnte er seiner Tochter ihren Lebenswunsch nicht erfüllen!

Der Oberwachtmeister sieht auf. Neben ihn auf die Bank hat sich der junge Pagel gesetzt. Er streckt ihm mit einem Lächeln das Zigarettenetui hin und sagt dabei: "Idioten!"

Marofke möchte die Zigarette zurückweisen. Aber es tut ihm ja doch gut, daß ihm dieser junge Mensch vom Büro her nachgegangen ist, daß er sich vor aller Leute Augen zu dem in Ungnade Gefallenen auf die Bank setzt und mit ihm rauchen will. Er meint's ja gut, sagt er sich und nimmt dankend eine Zigarette. Er kann ja nicht wissen, was für Folgen seine Dummheit hat. Alle machen Dummheiten.

"Ich werde dafür sorgen, Ober", sagt Pagel, "daß ich den Bericht an Ihre Direktion mache. Und der soll aussehen, daß Sie zufrieden sind!"

"Schön von Ihnen", dankt Marofke. "Aber es lohnt nicht, daß Sie sich darum Ihre Stellung hier verderben, weil's mir nämlich nicht viel helfen wird. - Aber passen Sie auf, was ich Ihnen jetzt sage. Ich sage es Ihnen allein, die andern wollen ja nicht auf mich hören. - Was der Landjägermeister gesagt hat, haben Sie verstanden?"

"Ich war ja nur einen Augenblick drin, aber was er gesagt hat, das hat mir eingeleuchtet, Ober", antwortet Pagel.

"Schön. Aber mir hat's nicht eingeleuchtet. Und warum nicht? Weil es Sachen sind, die man sich so ausdenkt, wenn man die Leute nicht kennt. Es stimmte, wenn nur der Wendt und der Holdrian von der Tour wären. Die sind doof genug, die machen ein halbes Dutzend schwere Einbrüche und womöglich noch Raubüberfälle, bloß wegen dem bißchen Essen und Kleidern unterwegs. Und wenn sie wirklich nach Berlin kommen, dann haben sie schon für sechs, acht Jahre Zuchthaus ausgefressen, bloß um hinzukommen. Aber sie kommen nicht so weit, denn jeder Einbruch ist eine Spur ..."

"Und wie machen sie's denn?"

"Es sind eben der Matzke und der Liebschner und der Kosegarten dabei. Das sind helle Jungen, die überlegen sich ein bißchen, was sie tun. Die sagen sich immer: ›Es muß sich auch lohnen, was wir anfangen.‹ Die machen keinen Einbruch in ein Bauernhaus für mindestens ein Jahr Zet, um nachher 'ne olle Manchesterjacke von einem Knecht zu finden, die

sie sich nie auf den Leib ziehen würden."

"Aber sie müssen sich doch Zivil besorgen!" sagte Pagel. "In der Tracht kommen sie doch nicht weit!"

"Richtig, Pagel", sagte Marofke und legte den Finger mit der alten, so eitel aussehenden Überlegenheit an die Nase. "Und da sie schlau sind und sich das selber sagen und da sie vorsichtig sind und Zivil nicht stehlen wollen, so folgt daraus?"

Pagel sah den kleinen Mann an und wußte noch immer nicht, was daraus folgte.

"Es wird ihnen einer Zivil besorgen", erklärte Marofke milde, "sie haben Helfershelfer hier in Neulohe, einen oder mehrere. Glauben Sie mir, so ausgekochte Jungen wie der Kosegarten und der Liebschner, die reißen nicht aus ohne Vorbereitung. Das ist eine verabredete Sache, und weil ich nicht gemerkt habe, wie sie es verabredet haben(denn sie haben es hier verabredet, durch Briefe oder Zeichen; in Meienburg haben sie es doch nicht verabreden können), weil ich doof gewesen bin, deswegen geschieht's mir schließlich ganz recht, wenn alle über mich schimpfen ..."

"Aber, Herr Oberwachtmeister, wie sollen sie denn hier unter unser aller Augen -? Und wer soll sich denn hier in Neulohe dazu hergegeben haben -?!"

Der Oberwachtmeister bewegte unnachahmlich die Schultern. "Ach, Fähnrich, was wissen Sie, wie schlau ein Mensch ist, der seine Freiheit wiederhaben will -?! Sie denken den lieben langen Tag an hundert verschiedene Dinge, so ein Mann denkt von morgens bis abends und die Hälfte der Nacht nur eines: Wie komme ich raus? Und da wollen Sie was von unsern Augen reden?! Wir sehen gar nichts. Wenn er raus zur Arbeit geht und er dreht sich 'ne Zigarette und sein Tabak ist grade alle und er schmeißt das Tabakpapier vor ihren Augen in den Dreck, Sie gehen mit den Leuten weiter. Aber nach drei Minuten kommt der, der gemeint ist, und er hebt das Papier auf und liest, was darauf gekritzelt ist ... Und vielleicht ist noch nicht mal was darauf gekritzelt, es ist bloß so und so gefaltet, und das bedeutet dann das und das ..."

"Aber, Herr Oberwachtmeister, ich finde, das klingt so unwahrscheinlich ..."

"Unwahrscheinlich ist gar nichts, bei denen nicht", sagte Marofke und war in seinem Fahrwasser. "Bedenken Sie mal so 'n Zuchthaus, Pagel, Eisen und Glas und Zement, Schlösser und Riegel, und nochmals Schlösser und Riegel, und Ketten gibt es auch noch. Und Mauern und

Tore und dreifache Kontrolle und Posten draußen und Posten drinnen - und glauben Sie mir, es gibt kein einziges Zuchthaus in der ganzen Welt, das wirklich vollkommen dicht ist! So ein riesengroßer Apparat und so ein einzelner Mensch, mittendrin in Eisen und Stein! Und doch erfahren wir immer wieder: es ist ein Brief rausgegangen, den hat keiner gesehen, und es ist Geld oder eine Stahlfeile reingekommen, keiner weiß den Weg. Und wenn so was in einem Zuchthaus möglich ist, mit all seinem Apparat, da soll es nicht hier draußen auf unsern ungeschützten Arbeitskommandos möglich sein - vor unsern sehenden Augen?!"

"Aber, Ober", sagte Pagel, "das mag ja sein, daß sie einen Brief schreiben können. Aber dann muß doch einer hier sein, der mit ihnen unter einer Decke steckt, der den Brief auch lesen will!"

"Und warum soll denn keiner hier sein, Pagel?!" rief Marofke. "Was wissen Sie denn?! Und was weiß ich denn?! Hier braucht ja nur einer bei euch zu wohnen, der mit einem von meinen Jungens im Felde zusammen gewesen ist. Die brauchen sich ja nur anzusehen, und meiner sagt mit einem Blick: Hilf mir, Kamerad! - schon sind sie im Komplott! Einer von hier kann doch einmal in Untersuchungshaft gesessen haben, und mein Husar hat in der Zelle daneben seine Untersuchungshaft abgerissen, und sie haben sich damals Nacht für Nacht durchs Zellenfenster das Herz ausgeschüttet - schon ist der Schade geschehen. - Aber das alles braucht nicht zu sein, das wär ein Zufall - und ein Zufall braucht nicht zu sein. Aber die Weiber sind kein Zufall, die Weiber sind immer und überall dabei ..."

"Was für Weiber -?" fragte Pagel verblüfft.

"Was für Weiber, Pagel? Alle Weiber! Das heißt, ich meine natürlich nicht alle Weiber. Aber überall sitzt so 'ne Sorte, die ist scharf auf solche Kerls wie manche Männer auf Wildfleisch, wenn es recht stinkerig ist. Und die bilden sich ein, so 'n ausgeruhter Zuchthäusler ist mehr als ein anderer Mann, ist gewissermaßen raffinierter, Sie verstehen mich schon. Und solche Weiber tun alles, um einen Zuchthäusler für sich ins Bett zu kriegen; Gefangenenbefreiung und das, da denken die doch nicht daran, davon haben sie noch nie gehört ..."

"Aber, Herr Oberwachtmeister!" wandte Pagel wiederum ein, "solche Weiber gibt's vielleicht in Berlin, aber doch nicht hier bei uns auf dem Lande!"

"Woher wissen Sie das denn, junger Mann?" sagte Marofke unendlich überlegen, "was es hier für Sachen gibt und was für Weiber?! Nee, Fähnrich, Sie sind ein netter Kerl, Sie sind der einzige, der hier anständig zu mir war, aber Sie sind mir noch zu dünn! Sie denken immer: Es ist

alles halb so schlimm, und es wird nischt so heiß gegessen, wie's gekocht wird. Aber, Manning, Manning, das sollten Sie doch heute früh begriffen haben, daß manches noch viel heißer gegessen wird!"

Pagel machte ein unbehagliches Gesicht. Es heißt davon: ein Gesicht wie von einer Katze, wenn's donnert. Für Pagel donnerte es jetzt, und recht unbehaglich.

"Ich habe Ihnen heute früh alles von meinen Gedanken erzählt", sagte der Marofke seufzend. "Ich habe nicht geglaubt, daß Sie mir viel helfen könnten. Aber ich habe gedacht, er wird ein bißchen die Augen aufhalten, der junge Mann. Die Augen haben Sie ja nicht grade aufgehalten, Fahnenjunker, das Eiserne Kreuz hätten Sie im Felde nicht dafür gekriegt ... Na, ist ja schon gut, ich weiß auch, wie einem jungen Mann zumute ist. Aber nun tun Sie mir einen Gefallen - machen Sie die nächsten Tage wirklich ein bißchen die Augen auf! Die ganzen Landjäger, so groß sie tun, ich glaube nicht, daß sie meine fünfe fangen ... Und dann sind Sie hier, und es wäre doch ganz schön, wenn Sie in ein paar Tagen der Direktion schreiben könnten: Hier sind die fünf, und der Marofke hat uns gesagt, wie wir sie fassen ... Was meinen Sie dazu?"

"Gerne, Ober!" sagte Pagel bereitwillig. "Und was soll ich nun also Ihrer Ansicht nach tun -?"

"Mensch!" sagte der Marofke und schnellte hoch von seiner Bank. "Haben Sie denn Watte in den Ohren? Haben Sie denn keine Verstehste? Ich habe Ihnen doch alles gesagt! Die Augen sollen Sie aufmachen, weiter gar nichts! Sonst wird nischt von Ihnen verlangt! Sie sollen nicht Detektiv spielen, Sie sollen nicht in die Ecken kriechen, nicht mal schlau sollen Sie sein - bloß die Augen sollen Sie aufmachen!"

"Na schön, Ober", sagte Pagel und stand auch auf. "Ich werde sehen, was sich machen läßt ..."

"Sie wissen Bescheid!" sagte Marofke eilig. "Ich glaube daran, die Leute haben Helfershelfer im Dorf, einen oder mehrere, wahrscheinlich Mädchen, aber das muß nicht sein. Solange hier rum alles voll Polizei ist, halten sie sich versteckt, im Wald, im Dorf, was weiß ich! Sie sollen die Augen auf haben! Und wenn's ein bißchen ruhiger geworden ist, in drei, vier Tagen, dann fahren die Brüder ab, richtig mit der Bahn und fein in Zivil ..."

"Ich werde aufpassen!" versprach Pagel.

"Tun Sie das aber auch!" bat Marofke. "Aufpassen ist schwerer, als man denkt. Und da ist noch eins, was Sie wissen müssen. Das sind die Sachen, die die Leute auf dem Leibe haben -"

"Ja -?" fragte Pagel.

"Die sind nämlich Staatseigentum! Und jeder Gefangene weiß, daß er wegen Unterschlagung belangt wird, wenn er nur ein Stück von den Sachen wegbringt. Da kann ein Halstuch, das fehlt, ein halbes Jahr Zuchthaus kosten. Darum, wenn so ausgekochte Jungen türmen, sehen sie, daß ihre Sachen möglichst rasch ins Zuchthaus zurückkommen. Meistens schicken sie sie mit der Post, dann gebe ich Ihnen Bescheid. Aber wenn hier nur ein Stück auftaucht, dann müssen Sie aufpassen wie ein Schießhund! Denken Sie nicht, es ist hier von mir was liegengeblieben, von mir bleibt nichts liegen! Und wenn es nur eine graue Gefängnissocke mit rotem Rand ist, dann stinkt was! Wissen Sie überhaupt, wie unsere Hemden aussehen? Und die Halstücher -? Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen ..."

Aber er kam nicht mehr dazu, der Herr Oberwachtmeister Marofke, seinen Freund Pagel in die Geheimnisse der Anstaltswäsche einzuführen. Die Dorfstraße hinunter fuhr es "klingling" auf zehn Rädern, und neun Wachtmeister des Strafanstaltsdienstes saßen darauf, alle umgeschnallt. Die Gummiknüppel schaukelten, und die Gesichter waren schweißnaß. Vorne aber fuhr ein dicker, faltiger Mann, in einem dicken, faltigen schwarzen Anzug, sein Bauch lag fast auf der Lenkstange, und er hatte ein weißes, strenges, fettes Gesicht mit buschigen, dunklen Brauen und einem schneeweißen Bart.

Als der Oberwachtmeister diesen drohenden, weißschwarzen Koloß sah, richtete er die Augen starr auf ihn. Er vergaß alles um sich, eingerechnet den jungen Pagel, und murmelte tief bestürzt: "Der Herr Arbeitsinspektor selbst!"

Pagel sah den Dicken schnaufend vom Rade steigen; ein diensteifriger Wachtmeister hielt es dem Inspektor, der sich die Stirn vom Schweiß trocknete, ohne seinen Marofke zu sehen.

"Herr Inspektor!" sagte Marofke flehend und hielt die Hand noch immer am Mützenschild. "Ich melde Arbeitskommando 5, Neulohe, ein Oberwachtmeister, vier Wachtmeister - fünfundvierzig Mann ..."

"Wo ist hier das Gutsbüro, Jüngling?" fragte der Elefant fern und fremd. "Wollen Sie mir bitte den Weg zeigen. - Was Sie angeht, Marofke "... Der Inspektor sah nicht Marofke, er sah interessiert die Giebelwand der Kaserne an, auf der das Steinkreuz sich mit einem etwas helleren Rot abhob ... "Was Sie angeht, Marofke, so werden Sie wohl noch lernen, daß Sie nichts mehr zu melden haben". Er sah immer noch die Wand an, dachte nach. Dann, gleichgültig im Ton, fern, fremd, sehr weiß, sehr faltig, sehr fett: "Sie werden jetzt sofort feststellen, Marofke, ob das

Schuhwerk der Gefangenen nach Vorschrift geschmiert und ob es ordnungsgemäß geschnürt ist, also Doppelschleifen, keine Knoten!"

Einer der wartenden Wachtmeister lachte höhnisch auf.

Oberwachtmeister Marofke, der kleine, eitle Dickwanst, sagte weiß, aber sich zusammenreißend: "Zu Befehl, Herr Inspektor!" und entschwand um die Kasernenecke.

Vor dem Inspektor zum Büro her gehend, dachte Pagel mit Erbitterung über diesen kleinen Mann nach, der getreten wurde von allen, obwohl er sich die meiste Mühe gegeben, die schwersten Sorgen gemacht hatte. Er dachte daran, daß ihm selbst kein Mensch einen Vorwurf gemacht, daß ihm eben noch auf dem Büro alle zugelächelt hatten, obwohl er Fehler genug begangen hatte. Er schwor sich, die Augen wirklich aufzumachen und Herrn Marofke, biete sich nur irgendeine Gelegenheit, wieder zu rehabilitieren. Aber er verstand, wie schwer es bei aller Tüchtigkeit einem so lächerlich aussehenden Mann sein mußte, etwas zu gelten. Es genügte bei weitem nicht nur Tüchtigkeit, viel wichtiger war es, tüchtig auszusehen.

"Und das hier also ist das Büro", sagte der Arbeitsinspektor milde. "Ich danke Ihnen, junger Mann. Wer sind Sie?"

"Ein Freund von Herrn Marofke", antwortete Pagel grob.

Aber der dicke Mann war nicht zu erschrecken. "Ich meinte mehr Ihren Beruf", sagte er unverändert freundlich.

"Lehrling!" antwortete Pagel wütend.

"Sieh da! Sieh da!" strahlte der Dicke erfreut. "Da passen Sie freilich zu Marofke. Lehrling! Der muß auch noch viel lernen."

Er legte die Hand auf die Klinke, nickte Pagel noch einmal zu und verschwand.

Wolfgang Pagel aber hatte wiederum eine Lehre, nämlich die, daß man seinen Ärger nicht an Leuten auslassen soll, die solcher Ärger freut.

7

Eine halbe Stunde später war das Arbeitskommando 5 aus Neulohe abgerückt, und wieder eine Viertelstunde später waren auch die Gendarmen ausgezogen auf ihre Treibjagd durch die Wälder. Von den Fenstern des Büros hatten alle vier: der Geheimrat, der Oberleutnant, der junge Pagel und Frau von Prackwitz, den Ausmarsch angesehen; er hatte keine Ähnlichkeit mit der Ankunft der Husaren gehabt. Kein Lied war gesungen, kein Gesicht hatte gelächelt, mit gesenkten Köpfen, die

Gesichter verbissen, die Schuhe im Staube der Straße schleifend, waren sie fortgezogen. Dieses hohle Schlürfen auf dem Wege hatte etwas so Verzweifeltes gehabt, ein böser Rhythmus, ein "Wir sind die Feinde dieser Erde" - so hatte es geklungen, für Wolfgang.

Sicher hatten die Leute an ihre entflohenen Leidensgefährten gedacht, glühender Neid hatte sie erfüllt, wenn sie an die Freiheit dieser fünf dachten, die nun in den Wäldern hausten, während sie unter dem Geleit schußbereiter Karabiner wieder in ihre steinernen Einzelzellen zurückkehren mußten - sie bestraft, weil jene entflohen waren. Ihnen war der Anblick der Felderweite genommen, eines lachenden Mädchengesichtes, eines Hasen, der die Kartoffelfurche entlanghoppelt - eingetauscht gegen die gelbgraue Öde der Zellenwände, weil fünf andere in der Freiheit herumliefen.

Vor dem Zuge aber ging der Oberwachtmeister Marofke; rechts hatte er ein Rad zu führen, links hatte er ein Rad zu führen - nicht einmal bewachen durfte er seine Leute noch. Hinter dem Zuge schritt schwer und schwarzweiß, mit strubbligen Augenbrauen, auf Elefantenfüßen der Inspektor, ganz allein, das weiße fette Gesicht ausdruckslos erhoben. In seinem Munde glänzten weiße starke Zähne. Auf einem Steine am Wegrande hatte Weio gestanden und den vorübergehenden Zug gemustert. Pagel war böse gewesen, daß sie dort stand.

Dann hatte der Geheimrat mit einem Blick auf seine Enkelin zu der Tochter gesagt: "Übrigens würde ich dir empfehlen, die nächsten Nächte doch lieber nicht allein mit eurem dusseligen Räder in der Villa zu schlafen. Unsern klugen Oberlandjägermeister in allen Ehren, aber sicher ist sicher."

"Vielleicht würde einer der Herren -?" sagte Frau von Prackwitz und sah abwechselnd Pagel und Studmann an.

Obwohl Marofke ausdrücklich vor allem Detektivspiel gewarnt hatte, wollte Pagel in den nächsten Nächten lieber frei sein, ein bißchen herumzustöbern, ein wenig umherzuhorchen - kurz, die Augen aufzuhalten, wie ihm gesagt worden war. Er sah darum keinen an, sondern zum Fenster hinaus - aber die Zuchthäusler waren endgültig fort, und die Schnitterkaserne sah wie ein roter, leerer Kasten aus.

"Ich bin gerne bereit, bei Ihnen zu schlafen", sagte von Studmann - und wurde entsetzlich rot.

Der alte Geheimrat meckerte einmal auf und sah auch zum Fenster hinaus. Pagel, die Augen starr auf der Kaserne, bewegte die Schultern; die Ungeschicklichkeiten der Geschickten sind stets am allerschlimmsten. Wenn ein formvollendeter Mann wie Herr von

Studmann ausrutschte, schämten sich alle, die es sahen.

"Also, das ist abgemacht. Schönen Dank, Herr von Studmann", sagte Frau von Prackwitz mit ihrer vollen, ruhigen Stimme.

"Einen Haufen Geld wird es euch kosten, die Schnitterkaserne wieder in den alten Stand zu setzen", erklärte der alte Geheimrat, die Augen immer noch aus dem Fenster. "All diese Gittergeschichten und Riegel müssen wieder weg, die Tür aufgebrochen - und das alles möglichst bald."

"Vielleicht könnte man das Haus vorläufig so lassen?" fragte Studmann vorsichtig. "Es wäre doch schade, wenn man alles rausrisse und müßte es im nächsten Jahr wieder einmauern."

"Im nächsten Jahre -? Nach Neulohe kommt nie wieder so ein Kommando!" verkündete der Geheimrat entschlossen. "Ich habe jetzt genug von den Angstzuständen deiner Mutter, Eva. Na, ich will jetzt mal rauf und nach ihr sehen, die vielen grünen Landjägerröcke werden ihr gutgetan haben! So ein Aufstand - aber was wird mit euern Kartoffeln, frage ich mich immerzu."

Mit diesem letzten Kanonenschlag verließ der Geheimrat das Büro. Für das Rotwerden Herrn von Studmanns, für die kurze, nur ihm merkbare Verlegenheit der Tochter, für das betont gleichgültige Aus-dem-Fenster-Starren des jungen Pagel hatte der eifersüchtige Vater sich hinreichend gerächt.

"Ja, was wird mit unsern Kartoffeln -?" fragte auch Frau Eva und sah Herrn von Studmann zweifelnd an.

"Ich denke, das wird keine großen Schwierigkeiten machen", erklärte Studmann eilig, froh, ein Thema gefunden zu haben. "Arbeitslosigkeit und Hunger werden immer größer. Wenn wir in der Kreisstadt bekanntmachen, daß wir Kartoffeln buddeln lassen, daß wir keinen Barlohn geben, sondern vom Zentner gebuddelter Kartoffeln zehn oder fünfzehn Pfund in natura, werden wir genug Leute kriegen. Wir müssen eben jeden Morgen zwei, drei, vier Gespanne in die Stadt schicken und die Leute holen lassen, wir müssen sie abends zurückfahren - aber es wird gehen."

"Umständlich - teuer", seufzte die gnädige Frau. "Ach, wenn diese Zuchthäusler ..."

"Immer billiger, als wenn uns die Kartoffeln einfrieren. Sie, Pagel, werden dann auch nicht mehr Freiherr und Baron sein. Sie werden den ganzen Tag auf dem Felde stehen und Zählmarken ausgeben müssen, für jeden Zentner eine Marke ..."

"Gott zum Gruß!" sagte Pagel ergeben und überlegte ärgerlich, daß er sich dann seinem Augenaufreißen nicht mehr würde widmen können.

"Ich muß morgen doch verreisen", fuhr Herr von Studmann fort. "Ich werde dabei auch diese Sache in Gang setzen. Inserat im Kreisblatt - Besprechung mit dem Arbeitsamt."

"Sie wollen verreisen?" fragte die gnädige Frau. "Jetzt grade, wo die Zuchthäusler "... Sie war sehr ärgerlich.

"Nur schnell einen Tag nach Frankfurt", tröstete Herr von Studmann. "Wir haben heute nämlich den Neunundzwanzigsten."

Frau von Prackwitz verstand nicht. "Übermorgen ist die Pacht fällig, gnädige Frau!" sagte Herr von Studmann mit Nachdruck. "Ich habe etwas vorverhandelt, aber nun wird es höchste Zeit, daß ich das Geld heranschaffe. Der Dollar steht auf hundertsechzig Millionen Mark, wir müssen eine ungeheure Summe auftreiben, jedenfalls eine ungeheure Menge Papier ..."

"Die Pacht! Die Pacht! Jetzt, wo die Zuchthäusler hier frei im Lande herumlaufen!" rief Frau Eva ungeduldig. "Hat mein Vater denn gemahnt -?"

"Herr Geheimrat hat nichts gesagt, aber ..."

"Ich bin überzeugt, meinem Vater würde es gar nicht recht sein, wenn Sie grade jetzt losfahren. Sie haben doch eine Art Wachtdienst bei uns übernommen "... Sie lächelte.

"Ich würde bis zum Abend zurück sein. Meiner Ansicht nach muß die Pacht auf die Minute bezahlt werden. Es ist das auch ein Ehrenpunkt von mir ..."

"Aber Herr von Studmann! Papa verliert doch nichts, wenn er die Pacht eine Woche später bekommt, zum dann geltenden Dollarkurs. Ich werde mit Papa reden ..."

"Ich glaube nicht, daß der alte Herr mit sich reden lassen wird. Sie haben eben erst gehört, daß er die sofortige Instandsetzung der Schnitterkaserne forderte."

"Es kann jetzt jede Stunde soviel passieren!" bat Frau von Prackwitz förmlich. "Wirklich, Herr von Studmann, lassen Sie mich nicht grade jetzt hier allein ... Ich habe ein so ungemütliches Gefühl ..."

"Gnädige Frau!" sagte Herr von Studmann fast verlegen. Einen Augenblick sah er zu dem schweigend aus dem Fenster schauenden Pagel, aber gleich vergaß er ihn wieder. "Ich würde so gerne ja sagen, aber verstehen Sie doch, ich möchte Herrn Geheimrat nicht um einen Aufschub in der Pachtzahlung bitten. Es ist wirklich eine Ehrensache für

mich. Ich habe die Wirtschaft von Prackwitz übernommen, ich bin ihm verantwortlich. Wir können zahlen, ich habe alles genau überlegt, es würde ja eine Blamage für mich sein. Man muß doch genau sein im Leben, exakt ..."

"Blamage! Genau!" rief Frau von Prackwitz sehr ärgerlich. "Ich sage Ihnen doch, meinem Vater ist es egal, wann wir zahlen". Leiser: "Jetzt, wo mein Mann weg ist. Es kam ihm doch nur darauf an, meinen Mann zu ärgern. Ich sage Ihnen, wenn ich an die Villa denke, und allein die ganze Nacht mit der Weio und den törichten Mädchen und dem noch törichteren Räder, fünfhundert Meter bis ans nächste Dorfhaus ... Ach, es ist nicht das!" rief sie plötzlich, ärgerlich, gereizt, überrascht, einen ganz andern Studmann kennenzulernen, ernstlich etwas von den Schattenseiten der Pedanterie und Verläßlichkeit zu erfahren. "Ich habe ein ungemütliches Gefühl, und ich möchte die nächsten Tage nicht ganz allein sein ..."

"Aber Sie haben wirklich nichts zu fürchten, gnädige Frau!" erklärte Studmann mit jener beharrlichen Sanftheit, die einen erregten Menschen wahnsinnig machen konnte. "Auch der Oberlandjägermeister meint, daß die Leute aus der hiesigen Gegend fort sind. - Und schließlich bleibt Vertrag Vertrag, grade unter Verwandten. Man muß ihn korrekt erfüllen, ich stehe schließlich mit meiner Person dafür ein. Prackwitz würde mir mit Recht vorwerfen ..."

"Der Herr Rittmeister!" sagte Pagel mit halber Stimme am Fenster. "Er fährt eben auf den Hof!"

"Wer?" fragte Studmann verblüfft.

"Mein Mann?" rief Frau von Prackwitz. "Ich denke, er schießt sein fünfhundertstes Kaninchen!"

"Es ist nicht möglich!" sprach von Studmann und sah doch schon den Rittmeister aus dem Auto steigen.

"Ich habe schon seit heute früh dieses unruhige Gefühl "..., meinte Frau von Prackwitz.

"Dachte ich es mir doch!" sagte der Rittmeister, trat in das Büro und schüttelte den drei Überraschten strahlend die Hände. "Wieder einmal der Große Rat versammelt zur Besprechung jener völlig unlösbaren Fragen, die mein Freund Studmann dann schließlich doch löst! Großartig! Ganz wie ich gedacht habe, alles beim alten. Studmann, ich bitte dich, zieh kein Gesicht. Ich soll dir übrigens von deinem dir noch unbekannten Freunde Schröck bestellen, daß du nach wie vor der richtige Mann für ihn bist. Ich tauge nur zum Karnickelschießen. - Aber, Kinder, sagt, was

machen denn die vielen Laubfrösche hier in Neulohe? Eine ganze Abteilung sah ich, wie sie auf den Wald losmarschierte. Der Herr Schwiegervater will doch nicht etwa seine Wilddiebe gefangennehmen lassen?! Unsern guten Kniebusch traf ich übrigens heute früh in Frankfurt auf dem Bahnhof, völlig zerschmettert, er hat heute Termin in Sachen Bäumer ... Um den alten Knopp hat sich also auch keiner von euch richtig gekümmert, einschließlich meines hochverehrten Herrn Schwiegervaters. Das hätte man ihm sicher ersparen können! Na, jetzt werde ich mich wieder in die Wirtschaft knien! Und die Gendarmen? Zuchthäusler sind euch weggelaufen? Das Kommando ist aufgelöst?"

Der Rittmeister lachte herzlich, er warf sich in einen Stuhl und lachte immer mehr, je mehr er die überraschten, verlegenen Gesichter der anderen betrachtete.

"Aber, Kinder, Kinder - dafür hättet ihr mich doch nicht wegzuschicken brauchen, solche Dummheiten hätte ich auch allein fertiggebracht! Großartig! Und die Schwiegermama bibbert natürlich wieder? Und der junge Herr Pagel geht nicht mal auf die Treibjagd mit? Na, Pagel, wenn ich Ihr Chef wäre, Sie müßten mir sofort raus. Das ist Ehrensache, einer vom Gut muß doch mindestens dabeisein. Sonst heißt es gleich, wir hätten Angst ..."

"Jawohl, Herr Rittmeister!" sagte Pagel. "Ich gehe schon!" Und ging.

"Na also!" rief der Rittmeister strahlend. "Den hätten wir raus! Der junge Bursche braucht hier auch nicht ewig tatenlos herumzustehen, schließlich ist er hier in Lohn und Brot. - So, Kinder, und nun erzählt mir alles, was ihr auf dem Herzen habt. Ihr habt keine Ahnung, wie frisch und ausgeruht und erholt ich bin. Jeden Tag ein Fichtennadelbad und zehn Stunden Schlaf - das erfrischt! - Also raus, Studmann, mit dem Schlimmsten: Was macht die Pachtzahlung -?"

"Ich hole das Geld morgen aus Frankfurt", sagte Studmann, ohne jeden Blick auf die gnädige Frau.

Komisch, plötzlich war es dem Herrn von Studmann doch wieder nicht recht, daß er recht bekommen hatte mit seiner Reise.

8

Wenn gegen Abend der Milchwagen von Rittergut Neulohe wieder auf den Hof zurückkommen und der Milchkutscher die Posttasche auf dem Büro abgeben wird, dann wird Herr von Studmann in dieser Tasche auch einen Brief des Geheimrats Schröck finden, der einiges Licht auf die plötzliche Rückkunft des Rittmeisters Joachim von Prackwitz wirft.

"Sehr geehrter Herr von Studmann", liest Studmann in diesem Brief des bärbeißigen und etwas wilden Behandlers der menschlichen Nerven- und Gemütsleiden. "Gleichzeitig mit diesem Brief wird Ihr Freund Prackwitz wieder bei Ihnen eintreffen, der mein Freund nicht geworden ist. Der Besuch des Herrn von Prackwitz wird mir immer angenehm sein - als zahlender Patient. Um aber Irrtümern vorzubeugen, möchte ich Ihnen schon heute bemerken, daß so labile, zu Depressions- und Erregungszuständen neigende Psychopathen wie der Herr Rittmeister von Prackwitz, mit starkem Geltungsdrang, aber schwacher Intelligenz, nicht eigentlich heilbar sind - zumal nicht im Alter unseres Patienten. In den meisten Fällen wird es sich darum handeln, solchen Menschen den Drang zu einer harmlosen Beschäftigung beizubringen, wie etwa Briefmarken sammeln, schwarze Rosen züchten, Fremdwörterverdeutschungen erfinden - dann richten sie keinen Schaden an und werden sogar ganz erträglich.

Ich hatte Herrn von Prackwitz schon nahe beim fünfhundertsten Kaninchen und winkte sehr stark mit dem Rekord des tausendsten, als ihn - hol ihn der Teufel! - die Idee anfiel, er müsse jetzt meine Kranken heilen und ich machte alles falsch. Er ging los mit der Unternehmungslust der Ahnungslosen! Eine russische Fürstin, die seit acht Jahren bei mir weilt, die sich seit diesen acht Jahren schwanger glaubt und die seit acht Jahren einen Teich im Park umrundet, weil sie des Glaubens lebt, wenn sie zehnmal an einem Vormittage um diesen Teich herumginge, dann würde sie niederkommen - diese ausgezeichnet zahlende und völlig zufriedene Patientin von zweieinhalb Zentner Lebendgewicht hat er tatsächlich zehnmal um den Teich geschleppt, worauf sie zwar nicht nieder-, aber einen Herz- und Gemütskollaps bekam. Eine bildhübsche Schizophrene bat er um eine Locke, worauf sich das Mädchen ratzekahl geschoren hat - und der Besuch ihrer Angehörigen steht in Aussicht. Einen leider anormal veranlagten Herrn, der ihm Anträge machte, hat er mit Faustschlägen von seiner falschen Veranlagung zu heilen versucht. Dem auch Ihnen bekannten Reichsfreiherrn Baron von Bergen hat er in seiner Harmlosigkeit eine neue Flucht ermöglicht - kurz, Herr von Prackwitz hat mich Patienten gekostet, die monatlich etwa dreitausend Goldmark wert sind. So spreche ich: Bis hierher und nicht weiter! Ich habe ihm klargemacht, daß seine Anwesenheit in Neulohe zum ersten Oktober absolut notwendig ist(ich kenne natürlich alle seine Sorgen), und er hat dies auch eingesehen.

Wenn Sie, sehr verehrter Herr Studmann, Umstände durch seine Rückkunft haben sollten, so freue ich mich aufrichtig darüber. Denn ich

nehme an, daß Sie dann um so eher zu mir kommen werden. Ihr usw. usw. -"

"Na also!" sagte Herr von Studmann seufzend, zündete langsam ein Streichholz an und ließ den Brief über dem Ofenblech in Flammen aufgehen. So ist er denn also wieder hier, um uns über den ersten Oktober fortzuhelfen. Es wird schon gehen, wenigstens scheint er jetzt nicht mehr so reizbar. Wenn er nur nicht zu schlimme Dummheiten macht -! Starker Geltungsdrang, aber geringe Intelligenz - bitter, doch ich werde es schon schaffen!

Herr von Studmann sollte sich irren, Herr von Prackwitz hatte an diesem Tage einige nicht wiedergutzumachende Dummheiten bereits hinter sich.

9

Als der Rittmeister von Prackwitz am Morgen dieses Tages mit aller Hast der letzten Minute in ein Abteil des Zuges Berlin-Frankfurt/Oder gestiegen war, hatte ihn eine Stimme sehr unwirsch empfangen: "Bitte um Entschuldigung, alles besetzt."

Obwohl dieser Ausruf eine faustdicke Lüge war, denn von den acht Sitzplätzen im Abteil des nun schon in Fahrt befindlichen Zuges waren nur zwei besetzt, war der Rittmeister nicht wegen dieser Lüge so rot geworden. Sondern er starrte erkennend in das Gesicht des so unhöflichen Ausrufers, machte dann eine Handbewegung und sagte lächelnd: "O nein, mein Herr Leutnant, von überall lasse ich mich nicht so leicht fortweisen wie aus meinem eigenen Walde!"

Auch der Leutnant wurde auffallend rot, und auch er antwortete mit einer Anspielung auf das damalige Erlebnis: "Aus dem Walde Ihres Herrn Schwiegervaters, nicht wahr, Herr Rittmeister?"

Dabei lächelten sich nun beide an, beiden stand recht lebhaft die Szene im Schwarzen Grunde vor Augen, der Pfiff des Postens, dann die scharfe Zurückweisung des Leutnants. Beide Herren kamen sich recht klug und ihrem Gegenüber sehr überlegen vor, der Leutnant, weil er dem Vater das Verhältnis zur Tochter verborgen hatte, der Rittmeister, weil er trotz aller Barschheit des Leutnants das heimliche Vergraben von Waffen erfahren hatte.

Die nächsten Sätze der beiden waren bemerkenswert. Der Leutnant sagte harmlos-freundlich: "Dem Fräulein Tochter geht es gut?"

"Danke", antwortete der Rittmeister. Er dachte, mit Speck fängt man

Mäuse, und fuhr fort: "Im Schwarzen Grunde ist alles in Ordnung?"

"Danke", sagte der Leutnant trocken.

Das Gespräch war zu Ende.

Jeder der beiden Klugen glaubte erfahren zu haben, was er wissen wollte, der Leutnant, daß die Tochter nicht geschwatzt hatte, der Rittmeister, daß die Waffen noch im Walde lagen. Unwillkürlich sahen die beiden nun zu dem dritten Mann im Abteil hinüber, der schweigend, mit einer Zeitung beschäftigt, in seiner Ecke gesessen hatte. Der dritte Mann ließ die Zeitung sinken und hob den Blick.

Wenn dieser Mann auch, übrigens genau wie der Leutnant, Zivil trug, so verriet doch sein ganzes Gesicht, die Art, wie er sich hielt, einen ständig vom Uniformtragen gestrafften Körper. Trotzdem er in einem viel zu weiten Sakko steckte, sah man ihm sofort den Offizier an - es hätte gar nicht des an einem breiten schwarzen Bande hängenden Einglases und des Hohenzollern im Knopfloch bedurft. Der Herr hob einen schweren, langsamen, durch endlose Erfahrung vorsichtig gewordenen Blick zu den beiden. Das sehr weiße, dünnhäutige Gesicht schien ohne Zwischenlage von Fleisch auf den Knochen aufzusitzen. Das spärlich gewordene, aber noch immer blaßblonde Haar war in langen Strähnen vorsichtig über den Kopf gelegt, trotzdem schimmerte die weiße Haut pergamenten hindurch. Am stärksten fiel an diesem nur notdürftig verkleideten Totenkopf der Mund auf, ein Mund ohne Lippen, wie ein schmaler Strich, dem Schlitz eines Automateneinwurfs vergleichbar - ein Mund, der alle Bitterkeiten geschmeckt zu haben schien.

Den Mann muß ich schon gesehen haben! schoß es dem Rittmeister durch den Kopf, und er überschlug im Geist rasch die Bildseiten der illustrierten Blätter, die ihm in den letzten Wochen vor Augen gekommen waren.

Der verkleidete Offizier hatte mit einer dünnfingrigen, leicht zitternden Kinderhand das Einglas zum Auge geführt. Einen Moment fühlte sich der Rittmeister angesehen, er wollte sich schon vorstellen, als der Blick weiterging zu dem jungen Leutnant.

"Herr Rittergutspächter von Prackwitz-Neulohe, Rittmeister a. D"., meldete der Leutnant eilig. Man spürte, welchen Ruck ihm dieser Blick gegeben hatte.

"Angenehm", sagte der andere, nannte aber seinerseits keinen Namen, was den Rittmeister gar nicht störte. Denn er wußte ja, es war eigentlich seine Pflicht, diesen hohen Offizier zu kennen. Das Einglas fiel aus dem Auge, die Mumie sagte: "Aber setzen wir uns doch! Gute Ernte

gehabt -?"

Der Rittmeister wie der Leutnant setzten sich dem Sitzenden gegenüber; es war, als müßte man diesen kalten, leblosen Blick immer auf sich spüren, als würde er erst dann ganz unerträglich, wenn er einen ansehen konnte und man wußte es nicht.

"Doch, die Ernte ist nicht ganz schlecht", antwortete der Rittmeister mit jener unter Landwirten üblichen Vorsicht, die das Lob einer Ernte zur Herausforderung des Himmels macht. Und er setzte hinzu: "Ich war die letzten Wochen nicht in Neulohe."

"Herr von Prackwitz ist der Schwiegersohn Herrn von Teschows", erklärte der Leutnant.

"Begreiflich", sagte das Gespenst rätselhaft. Es blieb unbegreiflich, worauf sich dieses "Begreiflich" bezog, ob auf die Abwesenheit von Neulohe oder auf das verwandtschaftliche Verhältnis. Oder auch auf die Ernte.

Der Leutnant, dessen Name - dem Rittmeister fiel es eben ein - auch noch nicht genannt worden war, half wieder: "Herr von Prackwitz ist der Pächter seines Schwiegervaters."

"Tüchtiger Mann", sagte der Mann mit dem Einglas. "Hat mich die letzte Zeit ein paarmal besucht. Sie wissen davon -?"

Der Rittmeister wußte nichts davon. Er konnte sich nicht denken, was sein lodener Schwiegervater mit diesem pergamentenen Militär zu tun haben sollte.

"Ich habe keine Ahnung", sagte er verwirrt. "Wie gesagt, ich war verreist."

"Tüchtig", knarrte der andere wieder. "Gehört zu den Leuten, die immer erst zahlen wollen, wenn sie die Ware in der Hand halten - verwandtschaftliche Gefühle verletzt?"

"Aber nein!" protestierte der Rittmeister. "Ich habe auch ständig Schwierigkeiten ..."

"Wer mitfahren will", verkündete der Offizier mit einer ganz unbegreiflichen, durch kein Wort der Unterhaltung gerechtfertigten Bitterkeit, "muß Karte vorher lösen. Weiß vielleicht nicht mal, wohin die Reise geht - verstanden?"

Der Rittmeister hatte nicht verstanden, aber er nickte tiefsinnig mit dem Kopf ...

Der Fremde, auf dessen Namen er nicht kam, sah den Leutnant an. Der Leutnant erwiderte den Blick, aber ohne ein Zeichen der Bejahung ...

"Stelle mir vor", sagte der Offizier trotzdem, "Sie haben ein Auto ..."

"Ich habe keines", erklärte der Rittmeister. "Aber ich will mir eins kaufen ..."

"Heute? Morgen?"

"Jedenfalls in allernächster Zeit ..."

"Heute oder morgen, sonst hat's keinen Sinn", sagte der Offizier mit Hartnäckigkeit, griff aber schon wieder nach seiner Zeitung.

"Ich weiß nicht", meinte der Rittmeister zögernd. - Sollte dieser Einglasmann Vertreter einer Autofabrik sein? - "Eine immerhin erhebliche Summe ... Ich weiß nicht, ob das Geld ..."

"Geld -?!" rief der andere verächtlich und knitterte sehr mit der Zeitung. "Seit wann bezahlt man für Autos Geld -? Wechsel!" Und er verschwand hinter seiner Zeitung.

Diesmal half der junge Leutnant nicht wieder ein. Er saß mit einem ablehnenden Gesicht in einer Ecke und starrte so gefesselt in den Rauch der Zigarette, daß der Rittmeister sich in das andere Ende des Abteils zurückzog und auf die eigenen Zeitungen besann, mit denen er nun auch kräftig zu knittern anfing. Zu einem richtigen Lesen kam er aber nicht; er mußte immer weiter über die rätselhaften Reden des Offiziers nachdenken, über diese orakelhaften Sprüche vom tüchtigen, zu tüchtigen Schwiegervater, von der Fahrkarte, die man vorher bezahlen muß, und von dem Auto, das man nicht bezahlen soll ... Ein recht lebhafter Ärger faßte den Rittmeister schon wieder trotz seiner langwöchigen Sanatoriumsruhe; wenn er daran dachte, wie der junge Mann ihn im Walde behandelt hatte, fand er, dieser Fall war noch gar nicht bereinigt, und wenn er dazurechnete, wie ihn der pergamentene Mann heute behandelt hatte, so fand er wiederum, es mußte irgend etwas geschehen ...

Die beiden dort drüben fingen miteinander zu flüstern an; der Rittmeister fand Flüstern unfein, besonders, da sie natürlich über ihn flüsterten. Schließlich war er kein dummer Junge, sondern ein verdienter Offizier und erfolgreicher Landwirt. Wenn man vor Damen solche Dinge nicht bespricht, so flüstert man erst recht nicht vor älteren Herren! Der Rittmeister hatte gut eingeheizt, er versetzte seiner Zeitung einen kräftigen Schlag, trotzdem es die "Deutsche Tageszeitung" und kein Asphaltblatt war. Die beiden Herren sahen hoch, der Streit konnte beginnen - da fuhr der Zug langsamer. Schon waren sie in Frankfurt, der Rittmeister mußte hinaus, umsteigen - man sollte auch seinen Zorn schneller in Gang setzen.

"Sie steigen aus, Herr Rittmeister?" fragte der Leutnant höflich und angelte nach des Rittmeisters Koffer.

"Ich steige um!" rief der Rittmeister zornig. "Bitte, bemühen Sie sich nicht!"

Trotzdem turnte der Leutnant den Koffer aus dem Netz auf die Bank.

"Ich bin beauftragt, Ihnen mitzuteilen", sagte er dabei leise und sah den Rittmeister nicht an, "daß wir übermorgen, am ersten Oktober, eine Art Kameradschaftstreffen in Ostade haben. Bitte morgens sechs Uhr. In Uniform. Etwaige Waffen sind mitzubringen."

Jetzt sah er den Rittmeister an, der Rittmeister war überwältigt. Er war so überwältigt, daß er "Zu Befehl!" sagte.

"Gepäckträger!" rief der Leutnant aus dem Abteilfenster und beschäftigte sich mit des Rittmeisters Gepäck. Nun, wo es interessant wurde, mußte der Rittmeister aus dem Zug.

Er sah den Herrn in der Ecke an, der Herr in der Ecke hatte die Beine weit von sich gestreckt, das Einglas baumelte am Band, die Augen waren geschlossen, er schien zu schlafen. Unentschlossen, aber respektvoll stieg der Rittmeister über die schlafenden Beine fort, er murmelte: "Guten Morgen!"

"Aber mit 'nem Auto, verstanden?!" murmelte die Mumie und schlief schon wieder.

Der Rittmeister stand halb betäubt auf dem Bahnsteig; der Gepäckträger erkundigte sich zum dritten Male, wohin er das Gepäck denn tragen solle. Erst meinte der Rittmeister, nach Neulohe, dann, nach Ostade.

"Ach, nach Ostade wollen Sie fahren", sagte der Gepäckträger. "Da sind Sie aber falsch, da hätten Sie die Landsberger Strecke fahren müssen."

"Nein, nein!" rief der Rittmeister ungeduldig. "Ich will ein Auto haben! Gibt's hier Autos zu kaufen?"

"Hier -?" fragte der Gepäckträger und sah erst den Rittmeister und dann den Bahnsteig an. "Hier?!!"

"Ja, hier in Frankfurt!"

"Aber natürlich gibt's hier Autos zu kaufen, Herr", sagte der Gepäckträger beruhigend. "Das können Sie hier alles haben. Das machen sie meistens so, die Berliner kommen mit 'm Zug hierher und kaufen sich in Frankfurt ihre Autos ..."

Der Rittmeister ließ den Mann reden, er ging ihm sogar nach. Alles war

ihm klargeworden: Er hatte den Offizier gesehen, der ihm hundertmal beschrieben worden war, den er aber nie zu Gesicht bekommen hatte: den Major Rückert, der den großen Putsch gegen die Regierung vorhatte. Übermorgen früh um sechs sollte es losgehen, in Ostade, und der Rittmeister sollte mit dabeisein, in einem Auto!

Der Schwiegervater war ein zu tüchtiger Mann, er wollte erst den Putsch und den Erfolg des Putsches sehen, ehe er sich seine Fahrkarte kaufte. Der Rittmeister war nicht so geschäftstüchtig, er würde sich sofort das Auto kaufen, auf Wechsel! Es war nicht geschäftstüchtig, aber es war richtig!

Willenlos ließ sich der Rittmeister von seinem Gepäckträger in den Wartesaal führen, gedankenvoll setzte er sich hin, gab dem Manne Geld und bestellte sich einen Kaffee. Was ihn jetzt beschäftigte, war nicht mehr der Putsch mit dem Major Rückert und dem unhöflichen Leutnant. Diese Sache war abgemacht und erledigt; er würde übermorgen um sechs Uhr in Ostade sein. Das würde schon klappen, darüber gab es überhaupt keinen Gedanken, er war ja nicht der übervorsichtige, listenreiche Geheimrat Horst-Heinz von Teschow, er war der Rittmeister von Prackwitz! Und wenn dem ein Kamerad sagte: Mach mit!, so machte er mit, ohne Fragerei. Er hatte wenig gehört, aber er hatte genug gehört, Reichswehr und Schwarze Reichswehr machten mit, altes und junges Militär also - und es ging gegen die Regierung, die das Schweinegeld druckte, den Ruhrkampf aufgegeben hatte und sich mit den Franzosen "einigen" wollte - über alle diese Dinge brauchte man nicht nachzudenken, sie waren in Ordnung!

Worüber der Rittmeister nachdachte, während er gedankenverloren in seinem Kaffee rührte, das war sein Auto! Natürlich war es schon "sein" Auto, obwohl er noch nicht einmal wußte, wie es aussehen sollte. Aber er hatte sich schon zu lange ein Auto gewünscht! Es war nur immer kein Geld dafür dagewesen - und jetzt war ja eigentlich auch kein Geld da, im Gegenteil, er fuhr nach Neulohe, um zu dem schwierigen Pachtzahlungstermin am ersten Oktober, also übermorgen, zur Stelle zu sein. Der Rittmeister war wie ein Kind: Wenn ein Kind es zehnmal fertiggebracht hat, sich nicht die Schuhe und Strümpfe auszuziehen und im Wasser zu planschen, dann braucht beim elftenmal der Junge von nebenan nur zu sagen: "Ach, heute ist's doch warm!" - schon ist das Kind barbeinig und planscht, gegen alle Verbote. Der Major hatte gesagt, der Rittmeister müsse sich ein Auto kaufen; das Geld war noch immer knapp, es war knapper als je, das Auto sollte sofort ein gefährliches Abenteuer bestehen - aber an all das dachte der Rittmeister gar nicht. Er dachte nicht einmal mehr an den Putsch und die zu stürzende

Regierung, er dachte nur daran, daß er sich nun ein Auto kaufen durfte! Dieser Putsch war eine großartige Sache, er verschaffte ihm ein Auto!

Der Rittmeister ging in Gedanken alle Wagen seiner Freunde und Bekannten durch, er schwankte zwischen Mercedes und Horch. Die billigeren Wagen kamen nicht in Frage; wenn man schon einen Wagen hat, darf man nicht so einen haben wie irgendein Landarzt. Der Wagen muß schon nach etwas aussehen, und wenn man doch einmal auf Kredit kauft, kommt es auf ein bißchen mehr oder weniger nicht an ... Nein, auch das Auto war nicht schwierig, schwierig war nur, wo er so schnell einen Chauffeur herbekam, einen Chauffeur, der anständig fahren konnte und der hinter dem Steuer wiederum auch nach etwas aussah, sonst saß man ja doch nur mit halbem Vergnügen auf den Polstern! Schnell mußte es gehen, denn in zwei, drei Stunden spätestens wollte er im eigenen Wagen unterwegs nach Neulohe sein ... Und dann war da die Sache mit der Garage - wo richtete man in Neulohe am schlauesten eine Garage ein, recht nahe bei der Villa?

Der Rittmeister ist vollständig in seine Gedanken versponnen. Er ähnelt außerordentlich jenem Rittmeister, der vor einigen Monaten am Spieltisch eines verbotenen Klubs saß und der vor lauter Eifer, nur ja keinen Einsatz zu versäumen, nicht dazu kam, die Spielregeln zu lernen. Der Rittmeister kennt das Spiel wieder einmal nicht, aber er setzt feste, immer weiter, über seine Kräfte - man könnte ja so 'ne Wellblechgarage kaufen, aber die Dinger sehen rein nach gar nichts aus ...

"Ach, Herr Rittmeister!" sagt die flehende Stimme am Nebentisch des Wartesaals nun schon zum drittenmal.

"Nanu!" fährt der Rittmeister aus seinen Plänen und Träumen hoch und starrt den Förster Kniebusch, der da in seiner Galauniform hinter einem kleinen Hellen sitzt, überrascht an. "Was machen Sie denn hier in Frankfurt, Kniebusch?"

"Aber ich habe doch Termin, Herr Rittmeister!" sagt der Förster vorwurfsvoll. "In meiner Sache mit dem Bäumer!"

"Na also!" nickt der Rittmeister anerkennend. "Gut, daß der Lump endlich verknackt wird! Was, glauben Sie denn, wird er abkriegen?"

"Aber, Herr Rittmeister!" fleht der Förster förmlich. "Ich bin doch der Angeklagte! Mich wollen sie doch verdonnern! Ich soll ihn doch körperlich verletzt haben!"

"Ist diese Schweinerei denn noch immer nicht erledigt?!" sagt der Rittmeister verblüfft. "Darüber hat mir Herr von Studmann kein Wort

geschrieben! Setzen Sie sich an meinen Tisch und erzählen Sie mir mal die Sache. Die Karre scheint ja schön verfahren, aber vielleicht komme ich grade noch zur rechten Zeit, um sie aus dem Dreck zu ziehen!"

"Vielen, vielen tausend Dank, Herr Rittmeister!" atmet der Förster auf. "Ich habe doch immer zu meiner Frau gesagt, wenn der Herr Rittmeister nur da wäre, der würde mich schon raushauen!"

Und nachdem der Förster so nicht unwirksam den alten Soldatengeist seines Herrn angerufen hat, transportiert er vorsichtig die schale Neige seines Bierchens an den rittmeisterlichen Tisch und schüttet langsam und mit viel Wehklagen sein Herz aus. Und der Rittmeister hört zu; mit dem gleichen Elan, mit dem er sich vorher auf das Auto stürzte, stürzt er sich jetzt auf die Strafsache Kniebusch. Er läßt es nicht an bitteren Bemerkungen darüber fehlen, wie doch alles selbst bei den verläßlichsten Leuten liegenbleibt, wenn er nicht da ist; wie er eben alles selber tun muß! Er schimpft auf die Rechtsverdreher, die Wilddiebe, die scheißrotgelbe Republik, den Dollar und die Sozis - er vergißt aber auch nicht, den Förster Kniebusch recht deutlich darauf aufmerksam zu machen, daß sein Arbeitgeber ja eigentlich der Geheimrat von Teschow ist und daß ihn, den Rittmeister, die Sache eigentlich einen Dreck angeht.

"Hören Sie, Kniebusch!" sagt er schließlich. "Um halb elf haben Sie Termin? - Ich habe ja eigentlich noch viel vor - ich will mir nämlich ein Auto kaufen, und einen Chauffeur muß ich auch noch engagieren ..."

"Ein Auto!" ruft der Förster. "Da wird sich die gnädige Frau aber freuen!"

Der Rittmeister ist sich dessen nicht so sicher; er geht nicht näher auf diesen Punkt ein. "Ich gehe also jetzt mit Ihnen aufs Amtsgericht und werde den Herren mal ganz gründlich meine Meinung sagen. Die Sache ist in zehn Minuten erledigt, verlassen Sie sich darauf, Kniebusch. Man muß das alles nur im richtigen Licht darstellen, und überhaupt müssen die Verfolgungen des Großgrundbesitzes jetzt endlich aufhören! Na, übermorgen wird sich das alles ändern, Sie werden staunen, Kniebusch ..."

Der Kniebusch horcht mit gespitzten Ohren.

Aber der Rittmeister bricht kurz ab. "Und direkt danach kauf ich mir die Karre, Chauffeur her, anständiger Chauffeur ist beim Kauf Bedingung, und dann nehme ich Sie mit nach Neulohe, sparen Sie noch das Reisegeld, Kniebusch!"

Kniebusch dankt überschwenglich, er ist entzückt von diesem

Programm, und die Bedenken, die er etwa noch bei sich hegt, daß die Sache vor Gericht vielleicht trotz des rittmeisterlichen Eingreifens nicht so glatt abgehen wird, verschweigt er weise. Der Rittmeister hat es jetzt eilig, er steuert mit seinen langen Beinen so eilig durch die Stadt Frankfurt, als brächte ihn jeder Schritt seinem ersehnten Auto näher. Der Förster Kniebusch trabt prustend einen halben Schritt hinterher.

So ist es, als sie zum Amtsgericht kommen, noch eine Viertelstunde zu früh. Trotzdem dringt der Rittmeister zu dem auf der Ladung bezeichneten Sitzungszimmer vor, sie klopfen, sie lauschen, sie öffnen vorsichtig die Tür: staubig, öde, leer liegt der Raum. Sie fangen einen Gerichtsdiener ab, sie zeigen ihm die Ladung, der sieht von einem zum andern ...

"Sind Sie das -?" fragt er den Rittmeister.

Heftig protestiert der. Dies ist ihm wieder nicht recht, so gerne er sich der Sache auch annimmt.

"So - Sie sind das! Na, da warten Sie man noch ein bißchen. Das wird wohl noch ein bißchen dauern. - Die Sache wird aufgerufen."

Seufzend setzt sich der Rittmeister mit dem Förster auf eine jener Bänke, auf denen kein Mensch ruhig sitzen kann, liege es nun an ihrer Bauart, liege es am Ort ihrer Aufstellung. Der Gang ist öde und leer, er wirkt schmuddelig, obwohl er nicht schmuddelig ist. Manchmal kommen Leute, ihre Schritte hallen von den Steinwänden, dem Steinboden, den Steindecken wider, so vorsichtig sie auch gehen. Kurzsichtig beugen sie ihre Köpfe in dem grauen Tageslicht zu den Nummern an den Türen, sie entschließen sich zu klopfen, sie horchen lange, ehe sie eintreten.

Der Rittmeister starrt wütend ein Schild an der Wand gegenüber an, auf dem Schild steht untereinander: "Rauchen verboten! Spucken verboten!" Unter dem Schild steht ein Spucknapf. Der Rittmeister könnte jetzt draußen in Frankfurt herumlaufen und ein herrliches Auto erwerben, Probefahrten machen, statt dessen sitzt er hier auf diesem öden Gang, aus purer Gutmütigkeit, ihn geht diese Sache eigentlich gar nichts an!

Er sieht prüfend auf die Uhr. "Was das alles dauert!" ruft er ärgerlich. Es ist aber erst fünf Minuten vor halb elf.

Der Förster fühlt die Unruhe seines Begleiters, es kommt ihm sehr darauf an, ihn festzuhalten. Zudem hat er über das nachgedacht, was der Rittmeister angedeutet hat, so sagt er vorsichtig: "Die Waffen liegen noch immer im Schwarzen Grund."

"Pssst!" macht der Rittmeister so laut, daß ein Herr ganz am Ende des Ganges zusammenfährt und sich fragend umdreht. Der Rittmeister

wartet, bis der Herr in seinem Zimmer verschwunden ist, dann fragt er leise: "Woher wissen Sie denn das, Kniebusch?"

"Ich hab gestern nachmittag noch mal nachgesehen", flüstert der immer neugierige Förster. "Man will doch auch wissen, was im eigenen Walde los ist, Herr Rittmeister."

"So", sagt der Rittmeister überlegen. "Und wenn sie heute noch da liegen, übermorgen liegen sie nicht mehr da."

Der Förster denkt nach, das Wort "übermorgen" hat er jetzt schon zum zweitenmal vom Rittmeister gehört. Er fragt vorsichtig: "Kaufen Herr Rittmeister darum ein Auto?"

Der Rittmeister ist mit einem wichtigen Mann im D-Zug gefahren, mit dem Führer eines Putsches, er weiß eine brandneue Neuigkeit. Es kränkt ihn sehr, daß der Förster ebensoviel wissen will wie er selber. "Was wissen Sie denn von der Geschichte, Herr Kniebusch?" fragt er sehr ungnädig.

"Ach, eigentlich nichts, Herr Rittmeister", sagt der Förster entschuldigend. Er merkt, daß er etwas falsch gemacht hat, und seine volle Mitwisserschaft möchte er ja auch nicht eingestehen, solange er nicht weiß, woher der Wind weht. "Bloß, die Leute im Dorf reden so viel. Daß bald was losgehen soll, davon reden sie schon lange, aber vom Tag und von der Stunde weiß keiner was. Das weiß wohl nur der Herr Rittmeister!"

"Ich habe nichts gesagt", stellt der Rittmeister fest, der sich doch geschmeichelt fühlt! "Wie kommen denn die Leute im Dorf auf solche Ideen -?"

"Ach "..., sagt der Förster. "Man weiß ja nicht, ob man davon reden darf."

"Mit mir schon", sagt der Rittmeister.

"Da ist doch dieser Leutnant ... Herr Rittmeister kennen ihn doch auch, der so unhöflich zu Herrn Rittmeister war ... Der ist ein paarmal im Dorf gewesen und hat mit den Leuten geredet."

"So!" sagt der Rittmeister und ist sehr geärgert, daß der Leutnant mit den Leuten und wohl auch mit dem Förster geredet hat und nicht mit ihm. Aber das will er sich nicht merken lassen. "Nun, ich will Ihnen sagen, Kniebusch, daß ich eben mit diesem Leutnant von Berlin hergefahren bin ..."

"Von Berlin!" ruft der Förster.

"Sie sind auch nicht sehr helle, Kniebusch", sagt der Rittmeister herablassend. "Sie haben nicht mal gemerkt, daß diese Unhöflichkeit

eine verabredete Sache war, weil wir keine Sicherheit vor Lauschern hatten ..."

"Nein -!" ruft der Förster überwältigt.

"Ja, mein lieber Kniebusch", erklärt der Rittmeister abschließend. "Und da Sie's morgen doch erfahren werden, kann ich Ihnen ja auch verraten, daß übermorgen um sechs Uhr morgens Kameradschaftstreffen in Ostade ist. - Wir nennen so was Kameradschaftstreffen!"

"Ich sage es ja", murmelt der Förster. "Man kommt aus der Unruhe nicht heraus ..."

"Aber Sie geben mir jetzt auf der Stelle Ihr Ehrenwort, daß Sie keinem Menschen ein Wort davon sagen."

"Selbstverständlich, Herr Rittmeister, mein heiliges Ehrenwort! Wie könnte ich -?"

Die beiden schütteln sich die Hände. Schon ist es dem Rittmeister nicht recht, daß er geschwatzt hat, und grade zu Kniebusch. Aber schließlich hat er ja nichts gesagt, was der Mann nicht schon gewußt hat. Oder fast nichts. Der Förster ist doch ein Mitverschworener!

Aber ein ungemütliches Schweigen herrscht zwischen den beiden.

Grade zur rechten Zeit kommt ein junger Mann den Gang entlang, so ein richtiger Dandy mit Stöckchen und Schiebermütze, so ein Bursche, dem man auf der Stelle drei Jahre Militärdienst wünschen möchte. Er tippt mit dem Stöckchen gegen seinen Mützenschirm und sagt: "'schuldigen Sie! Wo tritt man denn hier aus der Kirche aus?"

"Was -?!" schreit der Rittmeister fast.

"Wo man austritt aus der Kirche - das muß hier sein."

"Ja, wozu wollen Sie denn aus der Kirche austreten -?" ruft der Rittmeister, empört über solche Wünsche eines kaum trocken gewordenen Jünglings. "Und Rauchen ist hier übrigens auch verboten!"

"Da haben Sie aber Schwein gehabt, Chef!" sagt der Jüngling herablassend und schlendert den Gang weiter. Er verschwindet in einer Tür, die Zigarette ganz ungeniert im Maul.

"Lümmels gibt das heute!" ruft der Rittmeister empört. "Aus der Kirche austreten! Zigaretten rauchen! Das möchten die!"

Der Rittmeister wurde immer aufgeregter, wütende Blicke schoß er auf das Verbotsschild an der Wand: Wenn es nur ihn bedrohte und solche Schnösel nicht, taugte es nichts.

"Hören Sie mal, Sie!" rief er den Gerichtsdiener an, der grade wieder einmal im Gang gespensterte. "Wann geht denn das hier los bei Ihnen

-?!"

"Ich habe Ihnen doch gesagt, es wird noch ein bißchen dauern!" sagte der Diener gekränkt.

"Aber um halb elf sollte es losgehen, und jetzt ist es bald elf!"

"Ich habe Ihnen doch gesagt, die Sache wird aufgerufen."

"Sie können die Leute hier nicht stundenlang warten lassen!" erbitterte sich der Rittmeister immer mehr. "Meine Zeit ist kostbar ..."

"Na ja, ich weiß doch nicht", sagte der Gerichtsdiener unentschlossen und rückte an seiner Dienstmütze. "Mir haben sie noch nichts Bestimmtes gesagt, vielleicht ... Zeigen Sie mir doch mal Ihre Ladung."

"Ich bin gar nicht geladen!" rief der Rittmeister gekränkt. "Ich komme doch nur so mit."

"Ach so!" sagte der Gerichtsdiener, nun seinerseits ärgerlich. "Sie sind gar nicht geladen, aber mich schreien Sie hier an. Gehen Sie doch nach Haus, wenn Sie nicht warten können! Das wird ja immer schöner!"

Und kopfschüttelnd schusselte er weiter den Gang entlang.

Die beiden sahen ihm nach.

"Wissen Sie was!" sagte der Rittmeister plötzlich und faßte den Förster sehr freundschaftlich am Arm. "Eigentlich hat der Mann ganz recht. Was soll ich hier noch länger sitzen und warten? Er sagt doch, es kann noch 'ne ganze Weile dauern."

"Aber, Herr Rittmeister!" rief der alte Mann und faßte nun seinerseits seinen Herrn flehentlich an. "Sie werden mich doch jetzt nicht im Stich lassen! Ich war ja so glücklich, daß ich den Herrn Rittmeister getroffen hatte, und der Herr Rittmeister wollten mich doch auch heraushauen -!"

"Natürlich wollte ich das, Kniebusch!" sagte der Rittmeister mit all der Herzlichkeit, die ein schlechtes Gewissen verleiht. "An mir liegt's doch nicht! Ich bin doch gleich mitgegangen und gerne!"

"Ach, Herr Rittmeister, warten Sie doch noch ein bißchen!" bettelte der Förster. "Vielleicht ist es gleich soweit, und es wäre doch so gut ..."

"Aber, Kniebusch!" rief der Rittmeister vorwurfsvoll. "Sie wissen doch, um was es geht! Ich bin hier in Frankfurt doch nicht zu meinem Vergnügen! Ich muß das Auto rechtzeitig besorgen, Sie wissen ja ..."

"Aber, Herr Rittmeister ...!"

"Nein, jetzt müssen Sie sich zusammennehmen, Kniebusch!" erklärte der Rittmeister energisch und befreite seinen Arm von des Försters Hand, die immer noch flehend darauf lag. "Mann, altgedienter Unteroffizier - und hat Angst vor ein paar klugscheißenden

Schwarzröcken. Ich sage Ihnen, Kniebusch, wenn jetzt in dieser Minute die Sache aufgerufen würde, ich ginge doch! Es ist Ihnen nur gut, der Gefahr mal wieder ins Auge zu sehen. Sie sind ja viel zu weich geworden, Mann!"

Damit nickte der Herr von Prackwitz dem Förster Kniebusch kurz, aber nicht unfreundlich zu und ging den Gang hinab. Er bog ein in die Treppenhalle und verschwand.

Kniebusch aber sank auf die Armesünderbank, barg den Kopf in den Händen und dachte verzweifelt: So sind sie alle, die großen Herren! Viel Versprechungen, und alles Wind. Ich habe ihm doch genau gesagt, um was es hier für mich geht, daß ich vielleicht sogar ins Gefängnis komme -! Aber nein, er kann es nicht abwarten, er muß sich sein Auto kaufen! Als ob er das nicht noch heute nachmittag oder morgen früh kaufen könnte! Und für solche Leute riskiert man nun alle Tage seine heilen Knochen und eine Kugel! Ich werde es ihm aber auch nicht vergessen!

"Na, ist er weg, dein langer Bullerjan?" fragte eine freche Stimme den Förster Kniebusch. Und als der ganz verdattert hochsah, stand ein kleiner Kerl vor ihm, scheußlich anzusehen, mit Kugelaugen hinter einer Eulenbrille und mit Wulstlippen. Aber herrlich angezogen in einem kurzen Sportpelz mit Knickerbockern, schottischen Strümpfen und Haferlschuhen!

"Was willst du denn hier auf dem Gericht, Meier?" fragte der Förster erstaunt. Und den kleinen ehemaligen Feldinspektor musternd, sagte er neidisch: "Gott, Meier, wie machst du das bloß?! Jedesmal, wo man dich trifft, bist du feiner in Schale, und unsereiner weiß bald nicht mehr, wo er das Geld zum Stiefelbesohlen hernehmen soll!"

"Tjaha!" grinste Meier. "Köpfchen! Köpfchen!"

Er schlug mit der flachen Hand gegen seinen Birnenschädel, daß es klatschte. "Heute liegt das Geld doch auf der Straße! Brauchst du was, Kniebusch? Ich kann dir mit ein paar Millionen oder Milliarden gerne aushelfen."

"Ach, Geld ...!" jammerte der Förster. "Hilfe hätte ich gebraucht. Ich habe doch heute meinen Termin, ich habe dir doch von meiner Sache mit Bäumer erzählt ..."

"Na, Mensch, das weiß ich doch alles!" sagte der kleine Negermeier und legte seine ringeglitzernde Hand dem Förster auf die Schulter. "Deswegen bin ich doch hier. Ich hab's doch angeschlagen gesehen, schon gestern in der Halle: Strafsache gegen Kniebusch, Privatförster aus Neulohe, Zimmer 18 ... Ich habe gedacht, vor hast du nichts, kannst

du dem alten Genossen mal in die Seite treten ... Ich hätte auch aussagen können, was du für ein tüchtiger Beamter bist ..."

"Du bist eben doch ein anständiger Kerl, Meier", meint der Förster gerührt. "Das hätte ich nie gedacht, daß du um meinetwillen aufs Gericht gehst."

"Was ist denn weiter dabei, Kniebusch?" sagt der kleine Meier selbstgefällig. "Aber jetzt bin ich natürlich abgemeldet, wo du so große Leute wie den Herrn Rittmeister von Prackwitz als Zeugen anschleifst!"

"Aber der hat mich doch sitzenlassen, Meier!" jammert der Förster. "Der hat keine Zeit, einen Augenblick zu warten, weil meine Sache noch nicht gleich drankommt. Der will sich durchaus noch in dieser Stunde ein Auto kaufen!"

"Siehste, wie das Geld auf der Straße liegt, Kniebusch!" sagt der kleine Meier und kneift die Augen ein. "Jetzt hat sogar der Rittmeister schon Geld, sich ein Auto zu kaufen ..."

"Ob er Geld hat, das weiß ich nicht, glaube ich auch nicht", sagt der Förster wieder. "Oder die haben ihm in Berlin Geld dafür gegeben, das wäre möglich ..."

"Welche in Berlin -?"

"Na, die - du weißt doch noch: damals mit dem Leutnant, wie du die Kiefernkuscheln angesteckt hast."

"Ach, die Sache -!" Meier grinst verächtlich. "Das ist doch alles Quatsch, Kniebusch, da gibt kein Mensch 'ne Papiermark dafür."

"Sag das nicht, Meier, du wirst sehen, schon in den nächsten Tagen! Aber ich sage nichts, ich habe mein Ehrenwort gegeben ... ich sage nichts!"

"Sollste auch nicht, Kniebusch! Kein Wort!" ruft Meier. "Trotzdem ich es nicht nett von dir finde, wo du weißt, daß ich auch streng deutschnational bin und lieber heute als morgen gegen die roten Brüder marschiere ..."

"Ich habe mein heiliges Ehrenwort gegeben", beharrt der Förster. "Sei nicht böse, Meier."

"I wo, Kniebusch! Was werde ich böse sein", lacht Meier. "Ich lade dich jetzt sogar zu einem Mittagessen ein, du weißt schon, wie damals: Rheinwein, Sekt, Türkenblut ... Komm, alter Knabe!"

Und er hakt den Förster unter und will ihn mit sich ziehen.

"Aber, Meier!" ruft der Förster ganz erschrocken. "Ich habe doch meine Sache ...!"

"Komm, komm!" beharrt Meier. "Deine Sache? Wegen deiner Sache kannst du dir ruhig die Nase begießen, grade wegen deiner Sache!" Er sieht den Förster triumphierend an. "Ja, du altes Sumpfhuhn, du! Da staunst du! Wenn ich nun so unkameradschaftlich wäre wie du, da hielte ich die Fresse und dächte, laß ihn doch sitzen, den Raben, aber ich bin anders. Komm, Kniebusch, einen saufen -!"

"Aber, Meier ..."

"Deine Sache fällt aus, Kniebusch, hat sich vernebelt. Deine Sache ist in die Luft gegangen, Kniebusch, deine Sache ist ausgerissen!"

"Mensch, Meier!" Der Förster schluchzt beinahe.

"Heute morgen um neun ist der Bäumer ausgerissen, Kniebusch ...!"

"Meier, Meierchen, du bist der beste Kerl von der Welt, du bist mein einziger Freund!" Die großen Tränen laufen dem Förster über die Backen in seinen Bart, er schluchzt so sehr, daß Meier ihm kräftig auf den Rücken haut. "Ist es auch wirklich wahr, Meier?!"

"Wo ich's mit eigenen Augen gesehen habe, Kniebusch! Das ist ein schlauer Hund, der Bäumer! Immer hat er den Todkranken gespielt, mit 'nem Krankenwagen wollten sie ihn zum Termin fahren, und wie sie mit der Trage aus dem Krankenhaus rauskommen - nicht mal angeschnallt hatten sie ihn, so krank war der arme Mann -, da macht er einen Satz, die Pfleger fliegen hin mit der Trage, er in den Krankenhausgarten, Geschrei, Gejachter ... Ich hab auch immer mitgejachtert, immer nach der falschen Seite, weil ich gedacht habe: Besser für meinen Freund Kniebusch, sie kriegen ihn nicht ..."

"Meier -!"

"Es ist natürlich 'ne bestellte Sache gewesen. Der Bäumer hat ja Besuch im Krankenhaus gehabt noch und noch. Ein Auto hat schon auf der andern Seite gewartet - husch die Lerche! Weg!"

"Meier, Mensch, das vergeß ich dir nicht! Von mir kannst du verlangen, was du willst."

"Gar nichts verlange ich. Mir brauchst du gar nichts zu erzählen. Nur Mittag essen sollst du mit mir."

"Alles erzähle ich dir - die andern lassen mich sitzen, nur du hilfst mir. Was willst du denn wissen?"

"Gar nichts will ich wissen. Wenn du mich um Rat fragen willst oder Sorgen hast wegen dem Putsch, dann zu! Ich helf dir immer gerne. Aber sonst - von mir aus!"

Meier unterbricht sich. Überlegen sagt der Dreikäsehoch zum

Gerichtsdiener: "Hören Sie mal, was machen Sie denn für Geschichten?! Lassen den alten Herrn hier über 'ne Stunde warten und wissen genau, der Hauptbelastungszeuge ist stiftengegangen!"

"Ja, mein Herr", sagt der Gerichtsdiener. "Das geht nicht so schnell bei uns. Offiziell ist der Termin noch, offiziell ist uns von dem Verschwinden des einen Zeugen noch nichts bekannt ..."

"Aber Sie wissen's doch?"

"Wissen tun wir das schon lange! Die Richter sind doch auch schon wieder weggegangen."

"Na, hören Sie, Männeken!" sagt der kleine Meier(und der Förster ist ganz hingerissen, wie der kleine Kerl mit einem Gerichtsbeamten umspringt). "Da könnte doch mein Freund nun auch losgehen und sich vor Freude ein bißchen die Neese begießen ..."

"Von uns aus!" sagt der Gerichtsdiener. "Wenn ich keinen Dienst hätte, ginge ich sogar mit."

"Also gehen Sie nach dem Dienst!" sagt Meier wie ein Fürst und holt aus der Tasche seines Sportpelzes eine Kugel lässig zerknitterter Scheine. Er zieht einen aus dem Ball, drückt ihn dem Gerichtsdiener in die Hand, sagt vornehm: "Mahlzeit! - Also komm, Kniebusch!" Und geht mit Kniebusch ab.

Kniebusch folgt begeistert seinem Freunde, dem einzigen Menschen, dem er hier auf der Welt wirklich vertrauen kann.

10

"Willst du das Auto nicht zurückschicken?" fragte Frau Eva, als die beiden vom Büro zur Villa hinübergingen.

Das Auto hielt auf dem Hof, der Chauffeur stand rauchend daneben.

Der Rittmeister zögerte einen Augenblick, angesichts der eigenen Frau war es nicht ganz leicht, den Kauf zu beichten. Es würde ein endloses Geschwätz geben.

"Ich behalte den Wagen hier - erst einmal ein paar Tage", setzte er lächelnd beim Zusammenfahren seiner Frau hinzu. "Übermorgen entscheidet sich allerlei - auch für uns."

"Finger!" sagte der Rittmeister zum Chauffeur. "Fahren Sie uns zur Villa. - Ich weiß noch nicht recht, wo wir den Wagen die nächsten Tage unterbringen - das wird sich schon finden. Sie wohnen erst einmal bei uns, der Diener wird Ihnen Bescheid sagen."

"Sehr wohl, Herr Rittmeister!" antwortete der Chauffeur Finger und hielt der gnädigen Frau die Tür auf.

Frau von Prackwitz sah das glänzend lackierte, weichledrige Ungeheuer mit einer Mischung von Abwehr, Angst und Ärger an. "Ich verstehe das nicht", murmelte sie und stieg ein. Sie drückte sich nicht in eine Ecke, nein, sie saß kerzengrade, obwohl die Kissen zum Anlehnen, Einsinken verlockten.

Der Wagen heulte auf und fuhr sanft wie eine Wiege zwischen den Leutehäusern durch. Da alle Mann wegen des Abzugs der Zuchthäusler, wegen des Ausrückens der Gendarmen auf den Beinen waren, sah jedermann den Wagen, den lächelnden Rittmeister, die steil aufgerichtete gnädige Frau mit einer Falte zwischen den Augenbrauen. Frau Eva hatte im Rücken das unerträgliche Gefühl, daß auch alle Fenster im Schloß besetzt waren.

Ich hätte nie in dieses Teufelsding steigen sollen! dachte sie erbittert. Achim hat wieder eine Dummheit gemacht. Nun denken die Eltern, ich bin mit ihm einverstanden.

Die Wochen der Trennung, der Umgang mit Studmann hatten gewirkt: Auch Frau von Prackwitz hatte sich gewandelt. Früher hatte sie bei jeder Übereilung ihres Mannes gedacht: Wie vertusche ich das? Heute dachte sie: Keiner soll glauben, ich bin einverstanden!

"Gefällt dir der Wagen, Eva?" fragte der Rittmeister lächelnd.

"Willst du mir nicht bitte erklären, Achim", sagte sie hitzig, "was dies heißen soll?! Ist dieser Wagen -?"

Der Rittmeister tippte dem Chauffeur mit einem Finger auf den Rücken: "Jetzt gradeaus - ja, das helle Haus, vorne rechts "... Dann: "Nachher! - Es ist ein Horchwagen, merkst du, wie sanft er fährt? Er braucht nur zwanzig Liter Brennstoff auf hundert Kilometer, nein, dreißig ... das habe ich nun doch vergessen, es ist aber auch egal ..."

Der Wagen fuhr hupend bei der Villa vor.

"Hier muß eine Auffahrt hin", sagte der Rittmeister gedankenverloren.

"Was?!" fuhr Frau Eva hoch. "Für die paar Tage! Ich denke, du hast den Wagen nur für ein paar Tage gemietet."

Aus dem Hause kam Violet gelaufen.

"Oh, Papa, Papa! Bist du wieder da?!" Sie umfing ihren Vater, er konnte gar nicht schnell genug aus dem Auto kommen. "Hast du das Auto gekauft? Ist das schneidig! Wie heißt es? Wie schnell kann man damit fahren? Hast du auch fahren gelernt? Laß mich mal sitzen, Mama ..."

"Siehst du!" sprach der Rittmeister vorwurfsvoll zu seiner Frau. "Das nenne ich Freude! - Violet, sei so gut, bringe Herrn Finger zu Hubert. Er soll vorläufig das kleine Fremdenzimmer im Giebel haben. - Der Wagen kann erst einmal hier stehenbleiben. - Bitte, Eva."

"Also, Achim", sagte Frau Eva und war wirklich erregt. "Erkläre mir nun bitte, was dies alles heißen soll "... Sie setzte sich und sah ihn unmutig an.

Je schlechter das Gewissen des Rittmeisters war, um so liebenswürdiger konnte er sein. Er, der nicht ein gereiztes, auch nur hastiges Wort in seiner Umgebung ertragen mochte, war jetzt die Sanftmut selbst bei der üblen Laune seiner Frau. Aber grade dies machte den Fall für Frau Eva um so bedenklicher.

"Was das heißen soll?" fragte er lächelnd. "Übrigens haben wir uns noch gar nicht richtig guten Tag gesagt, Eva. Im Büro starrte dich ewig der Schulmeister an."

"Herr von Studmann! Ja, er sieht mich gerne an, und er ist nie unhöflich. Er schreit auch nicht "... Frau Evas Augen funkelten gefährlich.

Der Rittmeister hielt es für besser, im Moment nicht auf einer zärtlichen Begrüßung des wiedervereinten Ehepaares zu bestehen. "Ich schreie jetzt auch gar nicht mehr", sagte er lächelnd. "Ich habe seit Wochen nicht mehr geschrien. Ich habe mich überhaupt glänzend erholt ..."

"Und warum kommst du so plötzlich?"

"Ja, siehst du, Eva", sagte der Rittmeister. "Ich ahnte ja nicht, daß ich dich hier stören würde. Mir fiel plötzlich ein, daß der erste Oktober ja immerhin ein wichtiger Tag ist; ich dachte, ihr könntet mich vielleicht hier brauchen -?"

Es klang sehr liebenswürdig und sehr bescheiden, aber grade darum mißfiel es der Frau.

"Keinerlei Ankündigung -" sagte Frau Eva. "Du hast dich sehr plötzlich auf diesen ersten Oktober besonnen -?"

"Ach, weißt du", sagte er, ein wenig ärgerlich. "Ich bin ja nie sehr für Schreiben gewesen, und dann gab es da einen kleinen Ärger ... Dieser Baron von Bergen, du erinnerst dich, der Studmann reingelegt hat, nun gut, er hat mich auch eingeseift. - Nicht schlimm, ein paar Mark. Aber er riß aus damit, und der Sanitätsrat regte sich schrecklich darüber auf ..."

"Und da besannst du dich auf den ersten Oktober, ich verstehe", sagte Frau von Prackwitz trocken.

Der Rittmeister machte eine wütende Bewegung.

Rasch stand sie auf, sie faßte ihn an den Aufschlägen seines Rockes, sie schüttelte ihn sanft. "Ach, Achim, Achim!" rief sie traurig. "Wenn du dir doch nur nicht immer selbst etwas vormachen wolltest! Das geht nun schon so viele Jahre, und immer denke ich: Jetzt hat er was gelernt, jetzt wird er anders - und ewig, ewig ist es dasselbe!"

"Was mache ich mir denn vor?" fragte er verdrießlich. "Bitte, Eva, laß meinen Rock los. Er ist ganz frisch gebügelt."

"Verzeih ... Was du dir vormachst -? Nun, Achim, du bist dort einfach weggeschickt worden, wegen irgendeiner Torheit oder Unüberlegtheit. Und weil es dir peinlich war, mir das zu gestehen, und weil dir im Zuge hierher eingefallen ist, daß am ersten Oktober die Pacht fällig wird - darum machst du dir und mir nun blauen Dunst vor ..."

"Wenn du's so auslegst", sagte er gekränkt. "Also, bitte, ich bin dort weggeschickt worden und bin nun hier. Oder soll ich nicht hiersein -?"

"Aber, Achim, wenn es nicht so ist, sage doch ein Wort! Wie denkst du dir denn deine Hilfe? Willst du das Geld beschaffen? Hast du irgendwelche Pläne? Du weißt doch, daß Papa zur Bedingung gemacht hat, daß du erst einmal längere Zeit wegbleibst, und du kommst ohne jede Ankündigung hier an - wir konnten die Eltern nicht einmal vorbereiten ..."

"An die Gefühle meines Schwiegervaters habe ich allerdings nicht gedacht. Ich dachte einfach, du würdest dich freuen ..."

"Aber, Achim!" rief sie verzweifelt. "Sei doch kein Kind! Worüber soll ich mich denn freuen? Wir sind doch keine jungverheirateten Leutchen mehr, daß ich schon strahle, wenn ich dich nur sehe -!"

"Nein, wahrhaftig, das tust du nicht!"

"Wir kämpfen doch hier um die Pachtung. Die Pachtung ist ja das einzige, das uns ein bißchen Einkommen sichert, wie wir es gewohnt sind! Was sollen wir denn anfangen, wenn wir sie verlieren? Ich habe nichts gelernt, und ich kann nichts - und du ..."

"Ich kann natürlich auch nichts!" sagte der Rittmeister bitter. "Was ist nur in dich gefahren, Eva -?! Du bist vollkommen verändert! Schön, ich bin etwas voreilig zurückgekommen, es war vielleicht unbesonnen. Nun gut, aber ist das ein Anlaß, mir zu sagen, daß ich nichts gelernt habe und nichts kann?!"

"Du vergißt das Auto vor der Tür, Achim!" rief sie. "Du weißt, wir sitzen in Geldnot bis da, aber vor der Tür steht ein funkelnagelneues Auto, das sicher zehntausend Goldmark gekostet hat -"

"Siebzehn, Eva! Siebzehntausend!"

"Gut, also siebzehntausend. Es ist so weit, daß ich sage, es ist ganz gleich, ob es zehntausend oder siebzehntausend gekostet hat. Wir können beides nicht bezahlen. Was ist also mit dem Auto, Achim?"

"Mit dem Auto ist alles in Ordnung, Eva", erklärte der Rittmeister.

Die Nähe der schlimmsten Gefahr gab ihm seine Ruhe wieder. Er wünschte nicht wieder eine Szene. Er wollte sich nicht wieder unangenehme Dinge sagen lassen, er hatte das Recht, zu tun, was er tat. Ein Ehemann, dem seine Frau zwanzig Jahre lang den Willen getan hat, wird nie begreifen, warum sie nun plötzlich nicht mehr so will wie er. Die Frau, die zwanzig Jahre geschwiegen, gelächelt, verziehen, geduldet hat, ist in seinen Augen eine Rebellin, wenn sie die Geduld verliert und im einundzwanzigsten Jahr reden, klagen, anklagen, Rechtfertigung will. Sie ist eine Empörerin, gegen die jede Kriegslist erlaubt ist. Zwanzig Jahre Duldung geben ihr nur das Recht, auch im einundzwanzigsten Jahre duldsam zu sein ...

Und dann hatte es der Rittmeister so einfach. Sein beweglicher Geist, sein grenzenloser Optimismus ließen ihn die Dinge im rosigsten Lichte sehen. Er brauchte ja nicht einmal eine unwahre Darstellung dieses Autokaufs zu geben, um seine Frau ins Unrecht zu setzen; er brauchte nur zu sagen, wie dieser Autokauf etwa zustande gekommen sein konnte. Eine Frau versteht von diesen Dingen doch nichts.

"Mit dem Auto ist alles in Ordnung, Eva", sagte er darum. "Ich darf eigentlich noch nicht davon reden, aber ich kann dir sagen, ich habe das Auto gewissermaßen auf höhere Weisung gekauft."

"Auf höhere Weisung? Was heißt das?"

"Nun, im Auftrag, für jemand anders. Kurz gesagt: für die Militärbehörde."

Frau von Prackwitz sah ihren Mann grübelnd an. Ihr untrüglicher Wirklichkeitssinn, die unbestechliche Waffe der Frau, sagte ihr, daß hier etwas nicht stimmte.

"Für die Militärbehörde?" fragte sie nachdenklich. "Warum kauft sich denn die Militärbehörde ihre Autos nicht selbst?"

"Mein liebes Kind", erklärte der Rittmeister überlegen, "das Militär ist heute durch tausend Dinge gebunden. Durch die Schwatzbude in Berlin, die ihm keine Gelder bewilligen will. Durch den Versailler Vertrag. Durch die Schnüffelkommission. Durch hundert Spione. Es muß leider heimlich tun, was es für unerläßlich hält."

Frau von Prackwitz sah ihren Mann scharf an. "So ist der Wagen also von der Militärbehörde bezahlt worden?" fragte sie.

Der Rittmeister hätte gerne ja gesagt, aber er wußte, daß eine Anzahlung von fünftausend Goldmark für den zweiten Oktober ausbedungen war. Doch wagte er einiges. "Das nicht", sagte er. "Aber ich werde das Geld zurückbekommen."

"So?" sagte sie. "Und da das Militär heimlich vorgehen muß, gibt es wahrscheinlich auch keine schriftliche Abmachung deswegen?"

Es war das Schlimme bei dem Rittmeister, daß er aller Dinge, also auch seiner Lügen, so rasch überdrüssig wurde. Es war alles so langweilig, so umständlich. "Ich habe einen dienstlichen Befehl", sagte er ärgerlich. "Und ich bin gottlob noch so weit Offizier, daß ich bedenkenlos ausführe, was mir ein Vorgesetzter sagt."

"Aber du bist kein Offizier, Achim!" rief sie verzweifelt aus. "Du bist ein Privatmann, und wenn du als Privatmann einen Wagen kaufst, stehst du mit deinem ganzen Privatvermögen dafür ein!"

"Höre zu, Eva", sprach der Rittmeister, entschlossen, dieser Fragerei endlich ein Ende zu machen. "Ich darf eigentlich nicht davon reden, aber ich will dir alles sagen. Am ersten Oktober, übermorgen, wird die jetzige Regierung gestürzt - von der Reichswehr und anderen militärischen Verbänden. Alles ist vorbereitet. Ich habe den dienstlichen Befehl bekommen, mich am ersten Oktober morgens um sechs Uhr in Ostade einzufinden - mit einem Kraftwagen, mit diesem Kraftwagen!"

"Es wäre schön", sagte sie, "eine andere Regierung! Nicht mehr dieser Dreck, in den man immer tiefer gerät. Sehr schön wäre das!" Einen Augenblick saß sie so, dann: "Aber ..."

"Nein, bitte, Eva!" sagte er entschieden. "Nun kein ›Aber‹, du weißt, um was es geht. Die Sache ist erledigt."

"Und Herr von Studmann?" fragte sie plötzlich. "Er ist doch auch Offizier! Weiß er denn nichts davon?"

"Das ist mir nicht bekannt", sagte der Rittmeister steif. "Ich weiß nicht, nach welchen Prinzipien die Herren aufgefordert wurden."

"Bestimmt weiß er nichts davon", überlegte sie. "Und Papa -? Einer der reichsten Leute im Kreise? Ist der auch nicht aufgefordert?"

"Von deinem Herrn Papa wurde geredet", berichtete der Rittmeister bissig. "Leider recht abfällig. Er ist wohl wieder mal der ganz Schlaue gewesen - er will erst den Erfolg sehen, ehe er mitmacht."

"Papa ist vorsichtig", überlegte Frau von Prackwitz nachdenklich. Und von einem plötzlichen Gedanken erfaßt: "Und wenn der Putsch mißlingt? Was wird dann? Wer bezahlt dann deinen Wagen?"

"Er wird nicht mißlingen!"

"Aber er kann doch mißlingen", beharrte sie. "Der Kapp-Putsch ist auch mißlungen. Bedenke: siebzehntausend Mark!"

"Er mißlingt aber nicht!"

"Möglich ist es doch! Wir wären ruiniert."

"Dann würde ich den Wagen zurückgeben."

"Und wenn er beschlagnahmt wird? Oder zerschossen? Siebzehntausend Mark!"

"Wenn ich ein Auto kaufe", sagte der Rittmeister gekränkt, "redest du immer von siebzehntausend Mark. Aber wenn dein lieber Vater Unsummen von uns verlangt, die uns einfach ruinieren, dann sagst du: ›Wir müssen unbedingt zahlen!‹"

"Aber, Achim! Pacht zahlen muß doch sein, ein Auto braucht nicht zu sein!"

"Es ist mir dienstlich befohlen!" Er war hartnäckig wie ein Maulesel.

"Ich verstehe das alles nicht", grübelte sie. "Du kommst doch grade erst aus dem Sanatorium. Hast doch nur an deine Kaninchenjagd gedacht. Und plötzlich, plötzlich erzählst du von Putsch und Autokauf ..."

Sie sah ihn nachdenklich an. Immer wieder warnte sie ihr Instinkt, es stimmte etwas nicht.

Er wurde rot unter ihrem Blick. Hastig beugte er sich vor, nahm eine Zigarette aus seinem Etui. Indem er sie anzündete, sagte er: "Entschuldige, davon verstehst du nichts. Die Sache ist lange vorbereitet, schon vor meiner Abreise wußte ich davon."

"Aber, Achim", bat sie, "sage das doch nicht! Du hättest mir doch unbedingt davon gesprochen!"

"Ich war zum Schweigen verpflichtet."

"Ich glaube es dir nicht!" rief sie. "Diese ganze Geschichte ist plötzlich gekommen. Hättest du keinen Streit mit Geheimrat Schröck gehabt, du säßest noch dort und schössest deine Kaninchen, und von Putsch, Autokauf und alledem wäre nicht die Rede."

"Ich möchte nicht noch einmal hören", sagte der Rittmeister drohend, "daß du mir etwas nicht glaubst, daß ich also ein Lügner bin! - Im übrigen kann ich dir beweisen, was ich sagte. Erkundige dich bei dem Förster, ob nicht ein ganz Teil Männer in Neulohe nur auf den Ruf loszubrechen warten. Frage Violet, ob nicht ein recht erhebliches Waffenlager in deines Vaters Forst verborgen liegt."

"Violet weiß auch davon?!" rief sie, tödlich verletzt. "Und das nennt ihr Vertrauen, das soll eine Familie sein?! Ich rackere mich hier ab, ich

demütige mich vor Papa, ich rechne und sorge, ich ertrage alles, ich vertusche eure Dummheiten - und ihr habt Geheimnisse vor mir?! Ihr macht Komplotte hinter meinem Rücken, macht Schulden, gefährdet alles, spielt um unsere Existenz, und ich darf nichts wissen?!"

"Eva, ich bitte dich -!" rief er, erschrocken von der Wirkung seiner Worte. Er streckte ihr die Hand hin.

Sie sah ihn mit funkelnden Augen an. "Nein, mein Freund!" rief sie zornig. "Das war nun doch zu kräftig! Kniebusch, ein greisenhafter Schwätzer; Violet, ein unmündiges, unreifes Mädchen, im Komplott mit dir - aber mir gegenüber berufst du dich auf Schweigepflicht. Ich darf nichts wissen, das Vertrauen, das du den beiden schenkst, bin ich nicht wert ..."

"Ich bitte dich, Eva!" rief er beschwörend. "Laß dir doch sagen ..."

"Nein!" zürnte sie. "Du sollst mir nichts sagen! Ich danke für deine Geständnisse - hinterher! Das kenne ich nun schon unsere ganze Ehe lang. Ich bin dieser Dinge so müde! Ich will nicht mehr! Versteh doch", rief sie zornig und stampfte mit dem Fuß auf. "Ich will nicht mehr!! Das habe ich nun hundertmal gehört, die Bitten um Verzeihung, die Schwüre, dich zusammenzunehmen, die liebenswürdigen Worte - nein, danke!"

Sie wandte sich zur Tür.

"Eva", sagte er und ging ihr schnell nach. "Ich verstehe deine Aufregung nicht". Er kämpfte mit sich. Dann, nach schwerem Entschluß: "Meinethalben - ich schicke das Auto noch diese Stunde nach Frankfurt zurück."

"Das Auto!" rief sie verächtlich. "Was geht mich das Auto an!"

"Aber du hast doch eben selber gesagt -! Sei doch bitte einmal logisch, Eva!"

"Du hast noch nicht einmal verstanden, von was wir reden! Wir reden nicht von Autos, wir reden von Vertrauen! Von Vertrauen, das du seit zwanzig Jahren als etwas ganz Selbstverständliches verlangst und das du nie zu mir hast ..."

"Also, Eva", sagte er, "bitte, sage mir jetzt präzis, was du eigentlich von mir willst. Ich habe dir schon erklärt, daß ich bereit bin, das Auto sofort nach Frankfurt zurückzuschicken, trotzdem ja eigentlich eine dienstliche Anordnung ... Ich wüßte wirklich nicht, wie ich es rechtfertigen sollte ..."

Er verwirrte sich schon wieder, wieder wurde er schwach.

Sie sah ihn mit kalten, bösen Augen an. Plötzlich, in einer, in dieser Minute sah sie den Mann, an dessen Seite sie fast ein Vierteljahrhundert

gelebt hatte, wie er wirklich war: schwach, ohne jeden Halt, unbeherrscht, töricht, jedem Einfluß preisgegeben, ein Schwätzer ... Er ist nicht immer so gewesen! klang es in ihr. Nein, er war anders gewesen, aber damals waren die Zeiten anders gewesen. Er hatte im Glück gesessen, das Leben hatte gelächelt, es hatte keine Schwierigkeiten gegeben, es war so leicht gewesen, nur die guten Seiten zu zeigen! Selbst im Kriege noch: er hatte Vorgesetzte gehabt, die ihm gesagt hatten, was er zu tun hatte, eine Dienstordnung -. Es war die Uniform mit all ihrem Drum und Dran gewesen, die ihn aufrecht gehalten hatte. - Als er die auszog, sackte er zusammen. Es erwies sich, daß er nichts in sich hatte, nichts, keinen Kern, nichts, das ihm Widerstandskraft gab, keinen Glauben, kein Ziel. - Ohne Stern ging er in einer irren Zeit sofort irre ...

Aber während all dies blitzschnell durch ihren Kopf zog, in einem Ansehen des altbekannten Gesichtes, dieses Gesichtes, in das sie häufiger geschaut hatte als in jedes andere Menschengesicht, erhob sich eine Stimme in ihr, leise, feierlich, anklagend: Dein Werk! Dein Kind! Deine Schuld!

Alle Frauen, die sich ihren Männern ganz opfern, die ihnen alles abnehmen, alles verzeihen, alles dulden - erleben einmal diese Stunde: ihr Werk kehrt sich gegen sie. Das Geschöpf wendet sich gegen den Schöpfer, sanftes Gewährenlassen und Güte werden zur Schuld.

Sie hörte ihn weitersprechen, aber sie achtete kaum noch auf seine Worte. Sie sah, wie die Lippen sich öffneten und schlossen, sie sah die Linien, die Falten des Gesichtes kommen und gehen: Es war einst glatt gewesen, da sie zum erstenmal hineingeschaut hatte; neben ihr, bei ihr, mit ihr, durch sie war es das Gesicht geworden, das es nun war.

Seine Stimme klang lauter an ihr Ohr; sie verstand wieder, was er sagte.

"Du redest immer von Vertrauen", erklärte er vorwurfsvoll. "Ich habe doch wahrhaftig Vertrauen genug bewiesen. Seit Wochen habe ich dich hier allein gelassen, ich habe dir das ganze Gut anvertraut. Schließlich bin doch ich der Pächter ..."

Plötzlich lächelte sie. "Ja, ja, du bist der Pächter, Achim!" spottete sie leise. "Du bist der Herr, und du hast deine arme, schwache Frau sich ganz allein überlassen ... Reden wir im Augenblick nicht weiter von der Sache. Laß meinethalben auch das Auto noch hier, man muß alles bedenken. Ich möchte diese Dinge noch gründlich mit Herrn von Studmann besprechen, vielleicht auch bei Papa einmal auf den Busch klopfen ..."

Wieder falsch! Immer wieder verkehrt gemacht! Sobald sie sanfter wurde, wurde er härter.

"Ich möchte keinesfalls", sagte er, schon ärgerlich, "daß Studmann von diesen Dingen erfährt. Wenn er nicht aufgefordert wurde, so wird das schon seine Ursache haben. Und was deinen Papa angeht ..."

"Nun gut", lenkte sie ein, "lassen wir den Papa. Aber Herr von Studmann muß Bescheid wissen. Er ist der einzige, der eine Übersicht über unsere Geldverhältnisse hat, der sagen kann, ob wir den Wagen vielleicht doch bezahlen können ..."

"Verstehst du mich nicht, Eva?!" rief er zornig. "Ich lehne Studmann als Begutachter meiner Maßnahmen ab. Er ist nicht mein Kindermädchen!"

"Es ist nötig, ihn zu fragen", beharrte sie. "Wenn der Putsch mißlingt ..."

"Höre!" rief der Rittmeister zornig. "Ich verbiete dir, ein Wort mit Studmann über die Sache zu sprechen! Ich verbiete es dir!"

"Und mit welchem Recht sprichst du Verbote gegen mich aus? Warum soll ich tun, was du für richtig hältst, da du doch alles, alles falsch machst? Gewiß werde ich mit Herrn von Studmann reden ..."

"Du hast bei deinem Freunde Studmann eine Hartnäckigkeit "..., sagte er argwöhnisch.

"Ist er denn nicht auch dein Freund -?"

"Ein Klugschnacker ist er, ein Besserwisser! Ein ewiges Kindermädchen!" rief er zornig. "Wenn du ein Wort mit ihm von dieser Sache sprichst, werfe ich ihn dieselbe Stunde hinaus!" Er machte sich ganz starr, er rief: "Wir wollen doch sehen, wer hier der Herr ist!"

Lange, lange sah sie ihn mit stillem, weißem Gesicht an. Wieder wurde er unsicher unter diesem Blick. "Sei doch vernünftig, Eva", bat er. "Sieh endlich ein, daß ich recht habe!"

Kein Wort von ihr. Dann plötzlich drehte sie sich rasch um, im Fortgehen sagte sie: "Gut, mein Freund, ich werde Studmann nichts sagen. Ich werde überhaupt nichts mehr sagen."

Ehe er ihr antworten konnte, war er allein. -

Er sah unzufrieden um sich. Ein Gefühl der Leere war nach diesem langen Streit in ihm geblieben, etwas Unbefriedigtes. Er hatte seinen Willen bekommen, aber das freute ihn diesmal nicht. Er wollte es abschütteln: es war nichts, ein endloser Schwall Worte, Streitigkeiten um gar nichts, warum denn -? Weil er ein Auto gekauft hatte! Wenn er über zwanzigtausend Goldmark Pacht zahlen konnte, konnte er sich auch ein

Auto leisten. Es gab Bauern, die hatten einen Wagen! In Birnbaum war ein Bauer, der hatte ein Auto und einen Motorpflug! Es gab einen Bauern, der hatte fünfundzwanzig Nähmaschinen auf der Scheunendiele stehen, bloß um sein Geld anzulegen! Sachwerte!!!

Und er hatte sich nicht einmal den Wagen um seines Vergnügens willen gekauft; hätte Major Rückert es ihm nicht befohlen, hätte er nie daran gedacht. Er hatte es um der guten Sache willen getan! Aber sie verstand das nicht. Sie wollte es nicht verstehen. Sie hatte in ihrem Toilettentisch ein Fach, mindestens einen Meter lang, vierzig Zentimeter tief, ganz voller Strümpfe! Aber alle Augenblicke kaufte sie sich neue Strümpfe! Dafür sollte immer Geld dasein! Er hatte jetzt durch Wochen kaum einen Pfennig ausgegeben - nur die paar Patronen, die er für die Karnickel gebraucht, und der tägliche Wein, den er zu Tisch gehabt hatte - aber bei seiner ersten Ausgabe erhob sie ein Geschrei!

Leise und melodisch rief vor der Tür das Auto, sein Auto, sein so glänzend lackierter Horch! Froh über die Ablenkung, fuhr der Rittmeister von Prackwitz mit seinem Kopf aus dem Fenster. Seine Tochter Violet saß am Steuer und spielte mit dem Druckknopf der Hupe. "Willst du das mal lassen, Weio!" rief er. "Du machst die Pferde scheu!"

"Der Wagen ist knorke, Papa! Du bist doch der Allerbeste. Es ist sicher der schönste Wagen im ganzen Kreis!"

"Er ist auch schön teuer!" flüsterte der Rittmeister, indem er den Kopf zum oberen Stockwerk verdrehte.

Weio kniff lachend die Augen zu. "Keine Angst, Papa! Mama ist auf den Hof gegangen. Sicher wieder mal ins Büro!"

"Ins Büro? So!" ärgerte sich der Rittmeister.

"Wie teuer, Papa -?" fragte Weio wieder.

"Schrecklich! - Siebzehn."

"Siebzehnhundert? finde ich nicht viel, für so 'nen Klassewagen!"

"Aber, Weio! Siebzehntausend!"

"Na, Papa, dafür haben wir auch den schönsten Wagen im Kreis!"

"Nicht wahr? Das sage ich auch! Wenn man was kauft, soll man auch was Anständiges kaufen!"

"Mama ist wohl nicht ganz einverstanden?"

"Noch nicht ganz! Aber warte man, wenn sie erst einmal darin spazierenfährt, wird sie auch ein anderes Gesicht machen."

"Du, Papa -"

"Ja? Was denn?"

"Wann darf ich mal drin fahren? Heute noch -?"

Ach -! Beide Kinder hatten gleich viel Lust. Die Kindermädchen waren nicht da, saßen auf dem Büro.

"Ich weiß was, Papa! Wenn wir schnell mal durch die Forst führen? Da treiben doch die Gendarmen nach den Zuchthäuslern durch. Vielleicht erwischen wir die Kerls. So leise und schnell wie unser Wagen ist! Und dann könnten wir schnell mal in Birnbaum guten Tag sagen. Onkel Egon und die Vettern platzen vor Neid."

"Ich weiß nicht", meinte der Rittmeister bedenklich. "Die Mama will vielleicht mit?"

"Ach, die Mama, die sitzt viel lieber auf dem Büro!"

"So -? Was macht der Chauffeur jetzt -?"

"Der ißt in der Küche. Aber er muß gleich fertig sein. Soll ich ihn rufen?"

"Schön! - Hör noch mal, Weio. Rate, wen ich heute in der Bahn getroffen habe?"

"Wen denn? Wie soll ich das denn raten, Papa? Der ganze Kreis kann drin gesessen haben! Onkel Egon -?"

"I wo! Den würde ich dir doch nicht zum Raten aufgeben! - Nein, unsern Leutnant!"

"Wen -??" Violet wurde dunkelrot. Sie senkte den Kopf. In der Verwirrung drückte sie auf den Hupenknopf, daß das Auto laut aufbrüllte.

"Laß, bitte, den Krach, Weio! - Du weißt doch, den Leutnant, Violet, der damals so unhöflich war "... Geflüstert: "Den mit den Waffen ..."

"Ach so, den!" flüsterte Violet. Sie hielt noch immer den Kopf gesenkt, sie spielte mit dem Steuerrad. "Ich dachte, du meintest jemand von unsern Bekannten ..."

"Nein, das Rauhbein von damals! Du weißt doch noch: ›In Gegenwart von jungen Damen spricht man nicht von solchen Sachen!‹" Der Rittmeister lachte, wurde aber sofort wieder ernst. "Alles, was recht ist, Weio, er scheint ein ziemlich wichtiges Tier zu sein, so jung er noch ist, mächtig tüchtig."

Ganz leise: "Ja, Papa -?"

"Im Grunde ist er schuld daran, daß ich den Wagen gekauft habe". Ganz leise, sehr geheimnisvoll: "Violet, die haben eine ganz große Sache vor - und dein Papa wird mitmachen ..."

Es war in zwölf Stunden erst das drittemal, daß der Rittmeister von Prackwitz das Geheimnis ausplauderte; darum machte es ihm noch

immer Spaß.

"Gegen die Sozis, Papa?"

"Die Regierung wird gestürzt, mein Kind".(Dies sehr feierlich.) "Übermorgen, am ersten Oktober, fahre ich dazu mit diesem Wagen nach Ostade!"

"Und der Leutnant -?"

"Welcher Leutnant! Ach, der Leutnant! Nun, der macht natürlich auch mit."

"Wird es denn Kämpfe geben, Papa?"

"Sehr möglich. Höchstwahrscheinlich. - Nein, Violet, du hast doch keine Angst?! Eine Offizierstochter! Ich habe den Weltkrieg überstanden, da werden mir solche kleinen Straßenkämpfe doch nichts tun!"

"Nein, Papa ..."

"Na also! Kopf hoch, Violet! Wer nichts wagt, gewinnt nichts! - Und jetzt wird der Chauffeur mit seinem Essen fertig sein. Rufe ihn. Wir wollen zurück sein, ehe es ganz dunkel ist."

Er sah seine Tochter aus dem Wagen steigen und langsam, mit gesenktem Kopf, nachdenklich in das Haus gehen. Die liebt mich wirklich, dachte er stolz. Wie sie zusammenfuhr, als sie hörte, daß es Kämpfe geben würde. Aber sie nimmt sich fabelhaft zusammen!

Der Rittmeister dachte dies nicht aus Freude über die Liebe seiner Tochter, er dachte es nur, um solche Liebe in Gedanken seiner Frau vorzuhalten, die nicht einen Augenblick an die Gefahren, in die er sich begab, gedacht hatte, sondern nur an Autokäufe, wirtschaftliche Schwierigkeiten, Pachtzahlungen, Vertrauensfragen ...

Und während der Rittmeister, stolz auf solche Liebe der Tochter, die noch seinen Wert würdigt, sich zur Fahrt zurechtmacht, steht Weio wie gelähmt auf der kleinen Diele, nur den einen Gedanken im Herzen: Übermorgen! Wir haben uns nicht wiedergesehen, und er kann fallen. Übermorgen!

11

Frau Eva von Prackwitz war nach dem Streit mit ihrem Mann zuerst ganz gedankenlos in ihr Zimmer hinaufgegangen. Ihr war gewesen, als müßte sie weinen. Sie sah sich im Spiegel, der über dem Waschbecken hing: eine nicht mehr ganz junge, aber noch recht gut aussehende Frau mit ein klein wenig vorstehenden Basedowaugen, die jetzt einen starren Ausdruck hatten. Ihr war, als sei alles Leben aus ihr gewichen, sie fror

vor Kälte, das Herz drinnen in der Brust war tot wie ein Stein ...

Dann vergaß sie, daß sie vor einem Spiegel stand und sich ansah ...

Wo ist der Wert? fragte es wieder in ihr. Es muß doch irgend etwas dagewesen sein, um dessentwillen ich ihn geliebt habe! Was habe ich denn gesehen -?! Eine so lange Zeit!

Eine endlose Zahl von Bildern schwirrte vorüber, Erinnerungen an ehemals, als sie geheiratet hatte. Der junge Leutnant; der Oberleutnant; ein Ruf aus dem Garten; sein reizend-törichtes Verhalten bei der Geburt von Violet; die erste angesäuselte Heimkehr vom Liebesmahl; ein Sommerfest in der kleinen Garnison - sie hatten Stellung und Ruf gefährdet, als ein übermächtiges, ganz plötzliches Liebesverlangen die beiden Eheleute im von Gästen durchwimmelten Park vereinte; die Entdeckung seiner ersten grauen Haare - er fing schon mit seinem dreißigsten Jahre an, grau zu werden -, ein Geheimnis, das sie allein wußte; seine Liebelei mit der Armgard von Burkhard; wie er ihr einen Korb Delikatessen von Borchardt mitbrachte, und sie wußte plötzlich, nun war endgültig vorbei, worüber sie soviel geweint hatte.

Tausend Erinnerungen, hastig vorüberschwirrend, helle und dunkle, aber alle in ein fahles, unheilvolles, graues Licht getaucht. Wenn die Liebe gegangen ist und dem Menschen sind plötzlich die Augen geöffnet ... er sieht den ehemals Geliebten so, wie ihn die andern sehen, einen Menschen wie alle, einen aus dem Dutzend, ohne sonderliche Vorzüge ... und er sieht diesen Durchschnittsmenschen dann mit dem unbarmherzigen Auge der Ehefrau, die zwei Jahrzehnte an seiner Seite gelebt hat, die jedes Wort im voraus weiß, das er sprechen wird, der jede Kleinigkeit, jede Schwäche vertraut ist - dann, ja, dann erhebt sich die ratlose Frage: Warum? Wo ist der Wert? Warum habe ich soviel ertragen, gutgemacht, verziehen - was steckt denn in ihm, daß ich solche Opfer brachte?

Keine Antwort - die Gestalt, der die Liebe allein Atem und Leben gab, ist ohne die Liebe leblos geworden, eine skurrile Figur, aus Mätzchen, Schrullen, Unarten - eine unerträgliche Marionette, alle ihre Schnüre kennen wir!

Frau Eva hört auf der Treppe das Geräusch von Schuhen; erwachend fährt sie zusammen. Sie hört zwei Männer miteinander reden; es ist wohl Hubert, der mit dem Chauffeur aus dem Giebelzimmer nach unten geht. Der Chauffeur, das kostbare Auto! Einen Augenblick überkommt es Eva, die Tochter ihres Vaters zu sein, listig und klug ...

Laß ihn doch loswirtschaften! denkt sie, er will ja der Herr sein, er wird sehen, wie weit er ohne mich und - Studmann kommt! Das Geld für das

Auto, die Pacht ... Ich werde Studmann sagen, er soll morgen nicht fahren, kein Geld beschaffen, auch wegen Leuten für die Kartoffelernte nichts veranlassen. - Er wird ja sehen, wie er sich in einer Woche rettungslos festgefahren hat! Ich bin es wirklich müde, immer wieder die Erlaubnis von ihm zu erbetteln, das Richtige tun zu dürfen ... Dieser Putsch, der ihn jetzt ganz erfüllt, der ist ja auch bloß ein Abenteuer, Papa nicht dabei, Studmann nicht dabei, mein Bruder nicht dabei - ihn haben sie im letzten Augenblick rumgeredet! Er wird ja sehen ...

Aber das kommt und geht. Sie sieht ihr Gesicht im Spiegel so nahe: Es liegt ein Zug von Rechthaberei um den Mund, den sie nicht mag. Jetzt glänzen ihre Augen, aber auch diesen Glanz mag sie nicht: So leuchten die Feuer der Schadenfreude.

Nein! sagt sie sich entschlossen, so nicht. Das will ich nicht. Ist alles wirklich zu Ende, wie es mir jetzt scheint, dann bricht es auch ohne mein Zutun zusammen. Ich will weiter alles tun, was ich kann. Viel ist es nicht mehr, es ist kein Eifer mehr darin, keine Liebe, es ist bloß Pflicht. Aber ich bin immer so anständig gewesen, wie ich konnte. Etwas Ernstes habe ich mir nicht vorzuwerfen, alle diese Jahre ...

Sie sieht sich noch einmal prüfend an. Ihr Gesicht hat einen gespannten Ausdruck, die Haut um die Augen sieht dünn aus, mit tausend Fältchen, ausgetrocknet. Sie greift entschlossen nach dem Cremetopf und fettet ihr Gesicht ein. Während sie die Haut leicht mit den Fingerspitzen massiert, denkt sie: Es ist noch nicht alles für mich vorbei. Ich bin in meinen besten Jahren. Wenn ich mich nicht so gehenlasse und mit dem Essen mehr aufpasse, kann ich leicht fünfzehn oder zwanzig Pfund abnehmen - dann habe ich gerade die richtige Figur ...

Fünf Minuten später sitzt Frau Eva von Prackwitz bei Herrn Studmann auf dem Büro. Von Studmann hat natürlich nicht die geringste Witterung dafür, wie der Gutsherrin grade zumute ist. Frau Eva, die in einer Viertelstunde entdeckt hat, daß sie ihren Mann nicht mehr liebt, die beschlossen hat, daß sie unter allen Umständen anständig bleiben will, die sich aber doch noch ein ganz hoffnungsfrohes Leben zugebilligt hat - Frau Eva muß einen langen, gründlichen Vortrag darüber anhören, wie Herr von Studmann das Geld für die Pachtzahlung übermorgen aufzubringen gedenkt.

Alter Schulmeister! denkt sie bei sich, aber sie denkt es nicht ohne Sympathie. Frau Eva ist kein junges Mädchen mehr, sie kennt die Männer(denn wenn man einen Mann "richtig" kennt, kennt man alle Männer), sie weiß, daß Männer von einer verblüffenden Ahnungslosigkeit sind. Eine Frau kann an ihrer Seite vor Verlangen nach Zärtlichkeit

umkommen, sie werden ihr lang und umständlich auseinandersetzen, daß sie einen neuen Anzug brauchen, warum sie einen neuen Anzug brauchen, welche Farbe der neue Anzug haben muß ... Und plötzlich werden sie ganz überrascht und ein bißchen gekränkt sagen: "Hörst du überhaupt zu? Was hast du bloß? Ist dir nicht wohl? Du siehst so komisch aus!"

Frau Eva hat die Beine übergeschlagen. Da die Röcke zur Zeit recht kurz sind, hat sie Gelegenheit, während des Studmannschen Vortrages ihre Beine zu betrachten. Sie findet, ihre Beine sehen noch ausgezeichnet aus; nein, wenn sie abnimmt, möchte sie an den Hüften und hintenherum abnehmen - aber natürlich nimmt man immer grade dort ab, wo es nicht so erwünscht ist.

Derartige Gedanken scheinen magnetisch zu sein: Plötzlich merken die beiden, daß keiner mehr spricht.

"Wie war das, Herr von Studmann -?" fragt Frau Eva und lacht. "Entschuldigen Sie, ich war mit meinen Gedanken ganz woanders."

Sie zieht ihre Beine soviel wie möglich unter den Rock zurück.

Herr von Studmann ist völlig bereit, zu verzeihen, da auch seine Gedanken entlaufen waren. Er nimmt hastig seinen Vortrag wieder auf. Es stellt sich nun heraus, daß in der Stadt Frankfurt an der Oder ein wahnsinniger Mensch lebt, der bereit ist, morgen den ganzen Pachtbetrag in schönsten Scheinen zur Verfügung zu stellen, wenn sich die Gutsverwaltung Neulohe verpflichtet, ihm im Dezember dafür tausend Zentner Roggen zu liefern.

"Aber der Mann ist ja wahnsinnig!" ruft Frau von Prackwitz verblüfft aus. "Er kann doch morgen dreitausend Zentner für sein Geld haben!"

Das habe er zuerst auch gemeint, gibt Herr von Studmann zu. Aber die Sache sei doch die, daß der Mann, ein reicher Fischhändler übrigens, seine dreitausend Zentner Korn morgen oder in einer Woche wieder nur in Papiergeld umtauschen könnte. Jeder aber fliehe heute das Papiergeld, suche es in einer Ware anzulegen, deren Wert beständig sei, und so sei dieser Mann wohl auf das Korn geraten.

"Aber wie kann er wissen, daß es im Dezember anders sein wird?" rief Frau von Prackwitz.

"Das kann er natürlich nicht wissen. Er hofft es, er glaubt es, er spekuliert darauf. Es hat in Berlin vor einiger Zeit Verhandlungen gegeben, eine neue Währung soll geschaffen werden. Schließlich kann es ja nicht ewig so weitergehen mit dem Abrutschen der Mark. Man streitet sich über Roggengeld oder Goldgeld. Der Mann denkt wohl, wir

haben im Dezember die neue Währung."

"Und würde das etwas für uns ändern?"

"Soweit ich voraussehen kann, nicht. Wir würden immer nur tausend Zentner Roggen zu liefern haben."

"Also tun wir es doch!" sagte Frau von Prackwitz. "Günstiger können wir von diesem Alp doch überhaupt nicht loskommen."

"Vielleicht fragen wir doch erst noch Prackwitz?" schlug Studmann vor.

"Ja, gerne. Wenn Sie es meinen? Nur - warum? Sie haben doch die Vollmacht!"

Es ist mit den Frauen des Teufels. In diesem Moment waren bestimmt keine Beine im Gespräch, es wurde von Geschäften, Pacht, Währung geredet, aber doch: wie Frau Eva die Notwendigkeit, den Gatten zu befragen, zweifelhaft machte, kam von neuem etwas Dunkles, Verhaltenes in das nüchterne Gespräch. Es klang wahrhaftig ein wenig so, als rede man, gradeheraus gesagt, von einem Sterbenden.

Leise sagte Herr von Studmann: "Ja, gewiß. Nur, Sie übernehmen beide die Verpflichtung zur Lieferung im - Dezember."

"Ja - und?" Sie verstand nicht.

"Im Dezember! Sie müssen unter allen Umständen im Dezember liefern. Tausend Zentner Korn. Unter allen Umständen, gut zwei Monate noch."

Frau von Prackwitz klopfte sich eine Zigarette auf dem Dosendeckel zurecht. Sie hatte eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Nun schlug sie die Beine in der bequemsten Weise übereinander, aber sie dachte nicht daran. Auch Herr von Studmann sah es jetzt nicht.

"Sie verstehen, gnädige Frau", erklärte Studmann nach einer Pause. "Es würde eine persönliche Verpflichtung des Ehepaars von Prackwitz sein, nicht der Gutsverwaltung Neulohe. Sie würden die tausend Zentner Korn liefern müssen, wenn - wo Sie auch wären."

Wiederum eine Pause, eine lange Pause.

Dann bewegte sich Frau von Prackwitz, sie sagte lebhaft: "Schließen Sie ab, Herr von Studmann. Schließen Sie auf diese Gefahr hin ab". Sie schloß die Augen, sie war eine schöne, volle, weiße Frau, sie zog sich in sich zusammen. Sie war wie eine Katze, eine Katze, die sich wohl fühlt, eine Katze auf der Mäusejagd. Sie sagte lächelnd: "Wenn wir bis Dezember die Pachtung verlieren, wird mein Vater mich nicht sitzenlassen. Ich werde dann die Pachtung übernehmen und die tausend Zentner liefern ..."

Studmann sitzt hölzern da. Eine unerhörte Kunde ist an sein Ohr gedrungen - diese Frauen!

Frau von Prackwitz lächelt. Sie lächelt nicht etwa Herrn von Studmann an, sondern irgend etwas Imaginäres zwischen Ofen und Gesetzregal. Sie sagt und streckt ihm die Hand hin: "Und ich rechne darauf, daß Sie mich dann auch nicht sitzenlassen, Herr von Studmann?"

Studmann starrt die Hand fassungslos an. Es ist eine volle, aber sehr weiße Frauenhand mit ein wenig zuviel Ringen. Ihm ist ganz, als habe er einen Schlag vor den Kopf bekommen. Was hat sie gesagt? Unmöglich, sie kann es nicht so gemeint haben! Er ist ein Esel ...

"Esel!" sagte sie mit einer tiefen, vollen, warmen Stimme. Einen Augenblick berührt die Hand seine Lippen. Er fühlt ihre frische Weichheit, er spürt den Duft, nicht nur von einem Parfüm, nein, von etwas Lebendigem, Blühendem, das sich immer wieder erfüllen will. Er sieht auf, sehr rot. Er müßte ja überlegen, es ist eine schwierige Lage, Prackwitz immerhin sein langjähriger Freund ...

Er begegnet ihrem Blick, der in einer Mischung von überlegenem Spott und Zärtlichkeit auf ihm liegt ...

"Liebe, gnädige Frau "..., sagt er verwirrt.

"Ja, richtig", lächelt sie, "was ich Sie schon immer fragen wollte: Wie ist eigentlich Ihr Vorname?"

"Mein Vorname? Ja, das ist so eine Sache ... ich mache eigentlich keinen Gebrauch davon. Ich heiße nämlich Etzel ..."

"Etzel -? Etzel -?! War das nicht -?"

"Richtig!" erläuterte er eilig. "Attila oder Etzel, ein Hunnenfürst, der mit seinen Mongolenscharen raubend und mordend in Europa einbrach. Etwa 450 nach Christi Geburt. Schlacht auf den Katalaunischen Gefilden. ›Wildheit war ihm ebenso eigen wie Würde und Ernst!‹ Aber, wie gesagt, ich mache keinen Gebrauch davon. Es ist so eine Familientradition."

"Nein, Etzel ist völlig unmöglich, Papa hatte ja seinen Ganter Attila genannt", sagt sie. "Und wie nannten Sie Ihre Freunde? Prackwitz sagt immer nur Studmann."

"Wie alle andern auch". Er seufzt. "Ich eigne mich wohl nicht für familiären Umgang". Er wird etwas rot. "Manchmal hieß ich noch das Kindermädchen. Und beim Regiment wurde ich Muttchen genannt."

"Studmann, Kindermädchen, Muttchen "... Sie schüttelt ärgerlich den Kopf. "Sie sind wirklich ein unmöglicher Mensch, Herr von Studmann, nein, ich muß etwas anderes finden ..."

"Aber liebe, gnädige Frau!" ruft Herr von Studmann begeistert aus. "Meinen Sie es denn wirklich? Ich bin doch so ein langweiliger Kerl, ein Pedant, ein Umstandskommissar - und Sie ..."

"Still", mahnt sie und schüttelt den Kopf. "Abwarten! Vergessen Sie nicht, Herr von Studmann, ich habe Sie vorläufig nur nach Ihrem Vornamen gefragt ... sonst nichts". Sie macht eine Pause. Sie stützt den Kopf in die Hand, leise klingeln die Armbänder. Sie seufzt. Sie macht den entzückendsten Ansatz zum Gähnen. Sie ist völlig die Katze, die sich putzt, streckt, alles tut und nur nicht den Spatz ansieht, den sie gleich verschlingen wird. "Und dann wäre da noch das Auto ..."

"Welches Auto -?" Er ist schon wieder verwirrt, ihre Übergänge sind heute für einen nüchtern denkenden Mann zu plötzlich.

Sie deutet mit dem Finger aus dem Fenster, aber draußen steht kein Auto.

Trotzdem hat er verstanden. "Ach so, das Auto! Was ist damit?"

Sie hat jetzt einen kalten, gezwungenen Ton, als sie sagt: "Er hat es gekauft."

"Ja?" Er überlegt. "Wie teuer?"

"Siebzehntausend."

Studmann macht eine Gebärde der Verzweiflung. "Völlig ausgeschlossen!" flüstert er dann.

"Und auf Stottern?"

"Auch dann!"

"Hören Sie, Herr von Studmann", sagt sie lebhafter, aber immer noch in dem kalten, ein wenig bösen Ton. "Sie fahren morgen unter allen Umständen nach Frankfurt und besorgen das Pachtgeld, aber nicht mehr."

"Jawohl."

"Was Ihnen auch gesagt wird: Sie fahren und holen nur das. Das ist ausgemacht?"

"Bestimmt!"

"Sie händigen Herrn von Prackwitz morgen abend das Geld zur Bezahlung der Pacht aus -. Verstehen Sie, Herr von Prackwitz soll das Geld meinem Vater selber geben. Sie verstehen ...?"

"Jawohl."

"Warten Sie. Prackwitz hat übermorgen eine kleine Reise vor. Nun, das ist nicht unsere Sache. Er kann das Geld morgen abend übergeben. Sie verstehen mich -?"

"Nicht ganz, aber ..."

"Schön, schön. Wenn Sie sich nur an das halten, was ich Ihnen sage ... Herr von Prackwitz bekommt rechtzeitig das Geld zur Pachtzahlung, das genügt. Sie lassen sich vielleicht eine kleine Quittung geben -?"

"Wenn Sie es wünschen", sagt Herr von Studmann zögernd. "Prackwitz und ich haben sonst nicht ..."

"Natürlich sonst nicht. Aber jetzt!" sagt sie scharf. Sie steht auf. Sie gibt ihm ihre Hand. Sie ist wieder ganz die Herrin von Neulohe. "Also dann auf Wiedersehen, Herr von Studmann. Ich sehe Sie nun wohl erst nach Ihrer Frankfurter Reise. Gute Geschäfte."

"Verbindlichsten Dank", sagt Studmann. Er sieht ihr etwas verzweifelt nach. Man müßte doch Klarheit haben, Bestimmtes besprechen, aber nein, nichts! Etzel und ein Handkuß! So macht man doch so etwas nicht!

Kopfschüttelnd setzt sich Studmann an die Abfassung eines Inserates: "Leute zum Kartoffelbuddeln sucht ..."

Draußen weht der Septemberwind. Er fängt schon an, welke Blätter abzureißen, mit sich zu tragen.

Es ist Herbst, der Winter steht vor der Türe, spricht etwas in Frau Eva. Aber sie richtet sich straffer auf. Der Wind drückt die Kleider gegen ihren Leib, sie fühlt seine frische Kühle auf der Haut, sie geht ihm entgegen. Nein, es ist nicht für alles Herbst, nur für das, das sterbend reif ist. Sie fühlt sich noch jung. Sie geht dem Wind entgegen. Sie hat eine Probe bestellt, eine Art Gericht, sie pfuscht dem Schicksal ins Handwerk. Wird Herr von Prackwitz die Pacht bezahlen? Ja oder nein? Darauf kommt es nun an!

12

Geruhsam und bester Stimmung geht Pagel dem Walde zu, in den Wald hinein, den Gendarmen nach, auf den Zuchthäuslerfang. Ein Rittmeister von Prackwitz konnte ihm die Laune lange nicht mehr verderben. Was für ein Kind, solch ein Mann, ein törichtes, unüberlegtes Kind! Da kam er von seiner Reise zurück, mit einem krachneuen Auto, und das erste war, daß er dem jungen Mann den Herrn zeigte! Der junge Mann machte sich nichts daraus, er ging gerne in den Wald; es lag ihm nichts daran, auf dem gleichen Büro mit solchem Brötchengeber zu sitzen. Es gefiel ihm sogar besser im Walde!

Eine ulkige Kruke, solch Chef! Grobste einen Mann an, der doch jeden Augenblick den Finger heben, auf das Auto zeigen und fragen konnte:

"Na - und meine zweitausend Goldmark?"

Nicht, daß man das grade täte! Studmann würde schon dafür sorgen, daß man eines Tages zu seinem Gelde kam, wenn man es brauchte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte man zum Rittmeister gesagt: "Ach, lassen Sie doch diesen Kram! Ich will das Geld ja gar nicht wiederhaben!"

Damals war der Rittmeister rot angelaufen und hatte sehr erregt von "Ehrenschulden" gesprochen. Zeit war seitdem ins Land gegangen, einiges hatte sich geändert, man hatte Briefe geschrieben und empfangen. Jetzt dachte man über Geld sehr anders, seitdem man von einem kleinen monatlichen, gnädigst vom Rittmeister bewilligten(obwohl man ja eigentlich noch gar nichts leistete), seitdem man also von einem jämmerlichen Taschengeld Briefmarken und Schuhsohlen, Wäsche, weiße Kragen und Zigaretten bezahlen mußte. Jetzt wäre einem eine kleine Abschlagszahlung manchmal ganz zupaß gekommen. Aber hätte man jetzt einen Ton davon geäußert, so wäre der Rittmeister wiederum rot angelaufen und hätte erregt gerufen: Aber, Pagel, Mensch, Sie wissen doch, wie meine Finanzen grade jetzt stehen!

Trotzdem hielt ein funkelnagelneues Auto vor der Tür! Trotzdem wurde man wie ein dummer Junge in den Wald geschickt. Wahrhaftig, putzige Kruke!

Pagel schlendert unter diesen Gedanken immer weiter durch den Wald. Er hat keine Ahnung, in welchem Jagen die Gendarmen treiben. Er war nicht dabei, als das auf dem Büro besprochen wurde. Aber wenn er sich nur auf den Kartoffelschlag zu hält, wird er sie schon finden!

Vorläufig geht er also weiter und denkt nach. Ganz gemütlich und zufrieden. Es wäre wirklich falsch, zu glauben, er habe einen Ärger auf den Rittmeister. Nicht die Spur! Die Menschen sind so, wie sie sind. Die närrischen Menschen geben einen ausgezeichneten Hintergrund für Petra ab. Je närrischer die andern sind, um so klarer hebt sich dies Mädchen von ihnen ab. Mit einem Gefühl tiefverbundener Zärtlichkeit denkt Wolfgang an seinen Peter. Dies Gefühl wird immer stärker. Es ist nicht soviel Sehnsucht und Verlangen darin wie Freude, seit er von Minna erfahren hat, daß er Vater werden wird. Es ist ein seltsames Gefühl. Es ist eine verdammte Zeit, ein Vierteljahr noch, genau vierundneunzig Tage, bis sie ihm erlaubt, zu ihr zu kommen! Mittlerweile denkt er darüber nach, was sie alles schon gemeinsam erlebt haben, wie das war und was dann geschah. Eine gute Sache! Aber auch komisch! Als er mit Petra zusammen lebte, da hat er eigentlich wenig an sie gedacht, da drehte sich alles um das Spiel. Nun er in Neulohe wohnt, lebt er

eigentlich hauptsächlich bei der Pottmadamm. Komisch! Ob wohl einmal eine Zeit im Leben kommt, wo man das Gefühl hat, Erleben und Dabeisein fallen zusammen -? Wo man spürt: Jetzt bist du so glücklich, wie du in deinem ganzen Leben nicht wieder sein kannst? In der Sekunde des Erlebens! Nicht so, daß man erst hinterher entdeckt: Damals war ich glücklich! Wie wir einst so glücklich waren -? Nicht so!

Komisch und gefährlich! Pagel flötet nachdenklich vor sich hin. Einen Augenblick lang überlegt er, ob es gut für den Fang von Zuchthäuslern im Walde ist, wenn man dabei flötet? Ob sie vor seinem Flöten ausreißen oder ob sie eine Attacke auf ihn machen werden, sein Geld, seine Kleidung, seine Pistole zu erobern?! Das Gesicht Marofkes mit den zitternden Hängebacken erscheint einen Augenblick. Aber dann denkt er trotzig: Laß die Brüder nur kommen! Er umfaßt den Kolben seiner Pistole in der Hosentasche und flötet lauter.

Jawohl, es ist komisch und gefährlich, immerzu nur an die Liebste zu denken, sie mit allen andern zu vergleichen - und nur zu ihrem Vorteil! Pagel fragt sich wieder einmal, ob das Bild, das er sich jetzt von Peter macht, überhaupt noch stimmt? So ganz in Gold, das geht doch auch nicht! Sie muß auch Fehler haben, und wenn er sucht, findet er sehr wohl welche. Da ist zum Beispiel ihre Neigung, stumm zu werden, wenn ihr etwas nicht paßt, wenn etwas sie ärgert. Er fragt sie, was ihr ist? Ihr ist nichts. Aber er sieht doch, sie hat etwas! Hat er was falsch gemacht? Nein, ihr ist bestimmt nichts. Eine Viertelstunde muß man auf sie einreden, man kann rasend dabei werden, tobsüchtig von ihrem ewigen "nichts", man sieht es doch! - Nun schön, da hätten wir einen Fehler. Übrigens wird er ihn ihr abgewöhnen. Ein Mädel wie Peter darf überhaupt keine Fehler haben. Mit ihm ist es eine andere Sache, er ist so fehlerhaft, daß es das Anfangen mit Ausbessern nicht verlohnt ...

Pagel ist in Gedanken weiter und weiter gegangen. Längst ist er über den Kartoffelschlag hinaus, er dringt in immer fernere, fremdere Bezirke des Waldes vor. Von den Zuchthäuslern hat er nichts gesehen, und von den Gendarmen hat er auch nichts gesehen. Nicht einmal einen Laut hat er von ihnen gehört. Aber er geht trotzdem weiter, er beschließt bei sich, einen netten Spaziergang zu machen, statt sich diesem albernen Treiben anzuschließen. Denn es muß albern sein, entscheidet Pagel, selbst auf die Gefahr hin, dem großen Oberlandjägermeister zu nahe zu treten, falls dieses Treiben dessen Erfindung sein sollte. Wälder über Wälder, stundenauf, stundenab, verwachsene Dickungen, Schonungen aus Tausenden von kleinen, sperrigen Fichten, anderthalb Mann hoch, einen Mann hoch, über Hunderte von Morgen hin, Tannenschluchten so dunkel, daß man am hellerlichten Tage kaum seine Hand vor Augen sehen kann -

und in dieser Wildnis soll man fünf Männer finden, gewitzte, zu allem entschlossene Männer, die ihren ganzen Witz auf den einen Punkt konzentrieren werden, sich nicht finden zu lassen! Unsinn! Barer Unsinn - hier im Walde sieht man erst, wie unmöglich die Durchführung einer solchen Aufgabe ist. Pagel wird schön allein weitergehen, statt mit denen zwischen Dornen und Wacholder herumzukriechen!

Also geht er schön allein weiter, und wie er um die nächste Ecke geht, sagt er: "Hoppla!" und ist nicht mehr allein. Denn da kommt ein kleiner Mann im Gehpelz auf ihn zugegangen, das heißt, zugegangen ist nicht ganz das richtige Wort. Das Männlein hat eine Art Triller im Gehen, ein Staccato; jetzt geht es grade und finster auf Pagel zu, und nun - hupf, mein Madel! - jodelt es ein bißchen mit den Beinen.

"Verdammte Wurzeln!" sagt es zu laut und geht finster und grade weiter. Aber da war keine Wurzel. Einen Schritt vor Pagel bleibt das Kerlchen stehen, mit einem so plötzlichen Ruck, daß es fast gefallen wäre.

Grade hält Wolfgang es noch fest. "Hoppla, Herr Meier!" sagt er freundlich. "Der Deutsche sagt nicht Kognak, er sagt Weinbrand."

Negermeier betrachtet seinen Nachfolger im Dienst mit kleinen, geröteten Augen. Plötzlich erleuchtet sie der Schein des Erkennens; mit einem breiten, frechen Grinsen kräht er: "Ach, Sie sind das! Ich dachte schon ... Na laß, ich hab 'nen Zacken ... Haben Sie nich mein Auto irgendwo gesehen?"

"Was?!" fragt Pagel, und ein Verdacht steigt in ihm auf. "Haben Sie jetzt auch ein Auto, Herr Meier? Was machen Sie denn mit einem Auto heute in unserer Forst?"

"Sagen Sie jetzt auch ›unsere‹ Forst?" lacht Meier, "das ist hier jetzt wohl so Mode! Der Förster sagt: meine Forst, der Rittmeister sagt: meine Wälder, die gnädige Frau geht mal ein bißchen in ihrem Wald spazieren, die Weio geht auf Anstand zu ihrer Jagdkanzel, und wem er wirklich gehört, der olle Geheimrat, der redet immer nur von ein paar Kiefernkuscheln!"

Meier lacht, und aus Höflichkeit lacht Pagel mit, aber die Anwesenheit dieser Leuchte der Landwirtschaft grade heute hier in der Forst bleibt ihm weiter verdächtig. "Wo haben Sie denn Ihren Wagen stehenlassen, Herr Meier?" fragt er.

"Wenn ich Hornochse das bloß noch wüßte!" ruft Meier und schlägt sich mit der Hand vor den Kopf. "Darauf zu steht er also nicht?" Pagel schüttelt den Kopf. "Na, denn wollen wir mal hierauf gehen."

Meier scheint es als selbstverständlich anzusehen, daß ihn Wolfgang begleitet, und dies zerstreut ja ein wenig den Verdacht Pagels, daß Meier ein Bundesgenosse der entsprungenen Zuchthäusler sein könnte.

Meier bummelt jetzt ganz gemütlich und auch ziemlich senkrecht neben Pagel her. Und dabei brabbelt er weiter, anscheinend froh, daß er einen Zuhörer gefunden hat.

"Wissen Sie, ich hab nämlich 'nen Zacken! Ich hab da mit 'nem Freund was gefeiert; eigentlich ein Freund is er nich, aber er denkt, er is es, na, laß das Kind die Bulette. Und dann bin ich hier raus, ich weiß nicht mehr, wie das hieß, es war hier wo, aber ich komm noch drauf. Ich hab ein wunderbares Ortsgedächtnis ..."

"Stimmt!"

"Jetzt gehen wir hier die Schneise links rauf. Ihren Namen weiß ich auch nicht mehr, man lernt zu viele Leute im Leben kennen, und nun grade die letzten Wochen, man muß sich doch erst einarbeiten, aber gut ist mein Namengedächtnis, das sagt der Oberst auch immer ..."

"Was für 'n Oberst? Sind Sie denn jetzt beim Militär?"

Ein wacher, argwöhnischer, nicht die Spur betrunkener Blick trifft Pagel. Der ist nicht so knille, wie es scheint, denkt Pagel. Achtung!

Aber es ist nur ein Augenblick, Meier lacht schon wieder und sagt schlagfertig: "Sind Sie denn beim Militär und sagen doch zu Ihrem Chef ›Rittmeister‹?! Hat sich 'nen feinen Wagen gekauft, das Aas, habe ihn heute in Frankfurt Probe brausen sehen, nobel muß die Welt zugrunde gehen. Was macht denn die kleine Weio?"

"Hier scheint Ihr Wagen auch nicht zu stehen."

"Ziehen Sie bloß kein Gesicht, dann muß ich nur lachen! Sie sind wohl auch abgehängt, ist der Leutnant immer noch der Erste? Jottedoch, so 'n Kind! Muß Liebe schön sein. Na -", in einem ganz andern Ton, drohend: "Jetzt wird der Herr Leutnant abgehängt, dem wird einiges sauer aufstoßen! Der soll sich auch lieber die Brust waschen, der wird erschossen!"

"Sie sind wohl mächtig eifersüchtig, Herr Meier?" erkundigt sich Pagel freundlich. "Das war wohl wegen des Leutnants, daß Sie damals in der Nacht so geschrien haben? Ihre Briefabschrift habe ich übrigens im Kreisblatt gefunden."

"Ach, die dußlige Briefabschrift! Die dürfen Sie sich von meinswegen sauer kochen. Mit solchen Kleinigkeiten geben wir uns jetzt nicht mehr ab. Jetzt haben wir andere Kisten! Na ja, davon versteht so 'n junger Mensch vom Lande nichts. Sie haben keine Ahnung, was ich für Geld

verdiene!"

"Aber das sieht man doch, Herr Meier!"

"Nicht wahr? Sehen Sie mal die Ringe, alle echt, schöne Steine. Ich hab einen Bekannten, da kriege ich sie zum halben Preis. Und wo ich überhaupt nur in Devisen zahle ..."

Wiederum brach er plötzlich ab, wiederum mit dem tiefen, argwöhnischen Seitenblick. Aber Pagel hatte das verräterische Wort überhört, Pagel spürte auf einer andern Spur.

"Ist das aber nicht ein bißchen gefährlich, Herr Meier?" fragt Pagel. "Hier so ganz alleine mit soviel Schmuck und Geld im Walde spazierenzugehen? Es kann Ihnen doch mal was passieren!"

"I wo!" lacht Meier verächtlich. "Was soll mir denn passieren? Mir ist noch nie was passiert! Haben Sie 'ne Ahnung, Mensch, was ich schon alles erlebt habe - und mir ist noch nie was passiert. Hier", sagt er und stampft mit dem Fuß auf den Waldboden, "hier, in diesem Wald ist mal einer hinter mir hergegangen, eine Viertelstunde lang, immer den Revolver an meiner Birne - und hat mich totschießen wollen. Na, hat er mich totgeschossen -?"

"Dolle Dinge erleben Sie!" lacht Pagel etwas ungemütlich. "Sollte man gar nicht glauben ... Er wird's wohl nicht so im Ernst gemeint haben ..."

"Der -? Der hat das ernst gemeint! Das Ding war geladen, und er hat mich nur darum immer weitergehen lassen, daß er an eine Stelle kommt, die ein bißchen versteckter ist. Daß sie nämlich meine Leiche nicht gleich finden ..."

Etwas Finsteres, Grausiges geht von diesen Worten aus. Pagel sieht den kleinen Mann von der Seite an; es braucht nicht wahr zu sein, was der sagt, aber der kleine Mann glaubt daran, daß es wahr ist ... drohend bewegt er die Lippen ...

"Aber ich kriege den Hund! Wenn ich Angst gehabt habe, der soll hundertmal soviel Angst haben! Und wenn ich weggekommen bin, der soll nicht wegkommen ..."

"Nun, Herr Meier", sagt Pagel kühl, "sollte der Herr Leutnant irgendwo tot gefunden werden, Sie dürfen sicher sein, in der ersten Stunde erfährt die Polizei von mir ..."

Meier fährt herum und starrt Pagel finster an. Plötzlich aber ändert sich sein Gesicht, seine dicken Wulstlippen verziehen sich, seine Eulenaugen lächeln höhnisch: "Und Sie glauben, ich bin so dusselig und schieß auf den Kerl?! Schieß womöglich vorbei, und der Hund schlägt mich tot? Das wär mir 'ne schöne Rache! Nein, Mensch, wer Meier sagt, sagt richtig!

Angst soll er haben, der Hund, hetzen tu ich ihn, seine Ehre nehm ich ihm, anspucken sollen ihn alle - und dann, dann, wenn es gar keinen Ausweg mehr für ihn gibt, dann soll er sich selber abknallen, der Hund! So - und nicht anders!"

Er steht triumphierend vor Pagel, fast zitternd, von Rausch ist nichts mehr zu merken, höchstens, daß der Alkohol seine Rachsucht noch stärker angefacht hat, ihn ausschwatzen läßt, was er sonst still bei sich herumträgt. Pagel sieht ihn an. Er nimmt sich in acht, den Ekel vor diesem Kerl sichtbar werden zu lassen; er hat das bestimmte Gefühl, hinter all dem Geschwätz steckt viel, was es gut wäre zu wissen. Man muß klug sein, ihn aushorchen, den Meier.

Aber dann bricht doch Wolfgangs Jugend bei ihm durch, der Abscheu der Jugend vor Krankem, vor Laster und Verbrechen. Er sagt verächtlich: "Ein schönes Stückchen Scheiße sind Sie!" Und wendet sich, um zu gehen.

"Na, und wenn?!" ruft Meier herausfordernd. "Geht Sie das was an? Hab ich mich gemacht? Haben Sie sich gemacht? Ich möcht mal wissen, wie Sie aussehen würden, wenn man Sie immer als Dreck unter den Schuhen behandelt hätte, wie man's bei mir getan hat! Sie sind doch ein feiner Mutterjunge, das sieht man, höhere Schule und alles, was dazu gehört ..."

Er beruhigt sich ein wenig.

Pagel sagt: "Wenn Sie glauben, daß die höhere Schulbildung einem den schlimmeren Schweinehund austreibt -? Aber manche fühlen sich eben im Dreck wohl."

Meier sieht ihn einen Augenblick böse an, dann aber lacht er: "Wissen Sie was, was sollen wir uns darüber streiten? Ich denk immer: Man lebt so kurz und ist so lange tot, da muß man sehen, daß man auch ein bißchen gut lebt. Und weil zum Gutleben Geld gehört und ein armes Luder auf anständige Weise nicht zu Geld kommt ..."

"So machen Sie's auf unanständige. Ich verstehe nur nicht, Herr Meier, warum Sie da so hinter dem Leutnant her sind. Wenn der hops geht, verdienen Sie doch kein Geld -?"

So harmlos Pagel das auch gesagt hat - sofort ist wieder der argwöhnische, rasche Blick da. Aber Meier antwortet diesmal nicht, er biegt in eine neue Schneise ein und murrt: "Gottverdammich, wo bloß dieses elende Auto steckt?! Rein verdreht muß ich doch sein ... Gehn wir eigentlich immerzu im Kreise?" Er sieht Pagel wieder böse an, er murmelt: "Sie können mich auch ruhig allein laufen lassen. Helfen tun

Sie mir doch nicht."

"Ich hab Angst, Ihnen könnte doch was passieren", sagt Pagel höflich. "Die schönen Ringe, das viele Geld ..."

"Mir passiert nichts, habe ich Ihnen doch schon gesagt. Wer klaut hier im Walde Ringe?"

"Zuchthäusler!" sagt Pagel ruhig und beobachtet seinen Mann scharf.

Aber Meier zuckt nicht, dem Meier ist nichts anzumerken. "Zuchthäusler? Was denn für Zuchthäusler?"

"Unsere, von unserm Arbeitskommando", sagt Pagel und ist überzeugt, daß er mit seinem Verdacht unrecht hatte.(Aber was tut der kleine Meier dann hier im Walde?) "Uns sind nämlich von unserm Arbeitskommando heute früh fünf Mann ausgerissen."

"Gottverdammich!" schreit Meier, und sein Schreck ist echt. "Und die stecken hier im Walde?! Mensch, Sie machen Witze - Sie laufen doch hier auch so rum ..."

"Gar nicht!" sagt Pagel und zieht die Pistole halb aus der Tasche. "Und außerdem suche ich die Gendarmen. Eine halbe Hundertschaft stöbert nämlich im Wald."

"Jetzt schlägt's dreizehn", sagt Meier und bleibt überwältigt stehen. "Fünf Zuchthäusler und fünfzig Laubfrösche - und ich mittendrin mit meinem Knatterkasten! Das kann ins Auge gehen ... Herr, Mensch, in drei Minuten muß ich meinen Wagen haben! Wie hieß es doch? Jetzt habe ich's! Schwarzer Grund - kennen Sie das?"

Pagel hat den Eindruck, als habe der kleine Meier immer diesen Namen gewußt, habe ihn nur nicht nennen wollen. Und auch jetzt sieht ihn Meier argwöhnisch an. Aber warum eigentlich, es ist eine Forstbezeichnung wie alle andern auch!!

"Dagewesen bin ich noch nicht", sagt er. "Aber ich hab's auf der Karte gelesen. Das liegt ganz nach Birnbaum zu, und wir suchen immer in Richtung Neulohe."

"Idiot ich!" Meier schlägt sich mit der Faust gegen den Kopf. "Also los, Mensch, wie heißen Sie doch -?"

"Pagel."

"Machen Sie auch die Augen auf, aber hier in dem Sand findet ja sogar ein Regenwurm 'ne Autospur! So lang? Schön, aber gehen wir so lang auch wirklich richtig?"

"Ja, ja", beruhigt ihn Pagel. "Aber warum sind Sie denn plötzlich so furchtbar aufgeregt? Ich denke, Ihnen passiert nichts?"

"Na, Mensch, Sie möchte ich sehen! Wenn mir das zerplatzt! Verdammt noch mal! Ich muß auch ewig Pech haben! Der elende Suff ..."

"Was denn zerplatzt?"

"Was geht denn Sie das an?!"

"Ich möchte es gerne wissen."

"Dann fragen Sie im Fragekasten von der Zeitung bei der Klugen Mathilde an!"

"Es ist nämlich noch gar nicht ausgemacht, daß wir jetzt wirklich zum Schwarzen Grund gehen."

Meier bleibt stehen, er starrt den jungen Pagel haßerfüllt an. Er möchte ihm sicher jetzt gerne etwas tun, aber er besinnt sich, er knurrt: "Was möchten Sie denn wissen?"

"Warum haben Sie es plötzlich so eilig?"

Meier überlegt, unwirsch sagt er: "Ich habe ein Geschäft in Frankfurt."

"Das haben Sie vor fünf Minuten auch gehabt, und da hatten Sie es gar nicht eilig."

"Lassen Sie sich Ihren neuen Wagen gerne von Zuchthäuslern klauen? Wenn es auch nicht so ein piekfeiner Horch wie von Ihrem Rittmeister ist, sondern bloß ein Opel-Laubfrosch."

"Sie haben auch einen Schreck gekriegt, wie ich von den Gendarmen geredet habe."

"Nein!"

"Doch!"

"Also: Ich habe noch keinen Führerschein. Und überhaupt, ich habe nicht gern mit der Polizei zu tun."

"Wegen Ihrer Geschäfte?"

"Also ja! Meinethalben - ich schiebe ein bißchen."

Pagel sieht den kleinen, häßlichen Menschen prüfend an. All das kann stimmen; aber wahrscheinlicher ist es, daß es nicht stimmt, daß der Kerl lügt.

"Und was machen Sie heute hier, in unserm Walde?" fragt er.

Aber Meier ist viel zu schlau. Diese Frage hat er längst kommen sehen. Er verflucht innerlich sein betrunkenes, rachegieriges Gefasel wegen des Leutnants. Aber seit er gesehen hat, daß Pagel bei den Worten "Schwarzer Grund" nicht zusammengezuckt ist, seit er weiß, daß Pagel nichts weiß, ist er siegesgewiß.

"Was ich hier in euerm Walde tue?" fragt er. "Sie sollten's eigentlich

nicht wissen, aber Sie werden das Maul halten. Euern Förster habe ich euch wiedergebracht, euern Kniebusch. Voll wie eine Strandkanone pennt er in meinem Wagen."

"War der Förster nicht in Frankfurt zum Termin -?"

"Richtig! Sie haben's erfaßt!" Meier ist wieder ganz obenauf. "Aber nun lassen Sie uns losgehen, richtig nach dem Schwarzen Grund. Euer Förster hat Termin gehabt in seiner Sache mit Bäumer, und euer Rittmeister, der ein großer Mann ist, hat ihm beistehen wollen, ist dann aber abgehauen, großer Mann, sich ein Auto kaufen ..."

"Und der Termin?"

"Geplatzt! Wegen Mangel an Beteiligung! Weil der Bäumer heute früh getürmt ist. Heute türmen sie anscheinend alle. Ich türme auch. Gleich. - Hurra! Und hier haben wir die Autospur - wer sagt es denn? Nun kommen Sie man die paar Schritte mit, daß Sie sich Ihren Kniebusch bekieken, damit Sie auch wissen, ich sohle Sie nicht an ..."

"Warum sind Sie denn hier hinten in den Wald gefahren, wenn Sie Kniebusch nach Hause fahren wollten? Und wie haben Sie denn Ihren Wagen verloren?"

"Sie haben 'ne Ahnung vom Dunsein, Mensch! Sie sind wohl noch nie knille gewesen? So blau konnten wir doch nicht ins Dorf fahren - so blau waren wir ja nun doch wieder nicht. Fahren wir also hintenrum. Na, und wie wir hier im Walde sind, da spür ich ein menschliches Rühren. Raus muß ich, der Kniebusch pennt, ich stolpere aus dem Wagen, in den Graben, raus, hinter einen Busch - eingepennt muß ich dann sein. Na, und wie ich aufwache, weiß ich ja erst gar nicht, was los ist ... Ick socke einfach so los, und da treffe ich Sie. - Hoppla, und hier habe ich meinen Wagen!"

Es ist freilich wirklich kein solches Prunkstück wie der Prackwitzsche Wagen, es ist ein richtiger Opel-Laubfrosch, eine Nuckelpinne ... Aber das interessiert Pagel im Augenblick nicht so sehr. Es ist ja ein sehr kleiner, niedriger Wagen, der Höhenunterschied zwischen dem Waldboden und der Grundfläche des Wagens ist nicht bedeutend. Trotzdem ist es eine recht unbequeme Lage, in der da der Förster schläft, mit dem Kopf im Walde, mit den Füßen im Auto.

Pagel hätte ja eigentlich noch einige argwöhnische Fragen an Herrn Meier zu stellen, woher er zum Beispiel auf den Namen Schwarzer Grund kommt. Aber Meier wird schon für alles eine Antwort wissen, eine wahre oder eine erlogene, wie der ganze Kerl ja ein unentwirrbares Gespinst aus Lügen und Wahrheit ist. Es wird schon ungefähr stimmen, was er

erzählt hat, und wenn es auch nicht ganz stimmt, weil ja der geheimnisvolle Leutnant in der Erzählung völlig fehlt, der nach Pagels Gefühl unbedingt hineingehört, die Wahrheit aus dem Kerl rauszukriegen, das würde zu lange dauern. Jetzt muß unbedingt erst einmal der Förster nach Haus und ins Bett. Die jetzige Lage kann für einen fast Siebzigjährigen nicht gut sein, der Kopf ist blaurot.

"Rein! Rein mit ihm!" befiehlt darum Pagel, denn Meier will den alten Mann aus dem Auto zerren.

"Wieso rein? Ich hau ab! Ich hab's eilig! Raus mit ihm!"

"Rein! sage ich. Wahrscheinlich haben Sie den Kniebusch besoffen gemacht, so werden Sie ihn auch nach Haus fahren."

"Keine Ahnung! Ich hab's eilig. - Und ich will mich in Neulohe auch nicht sehen lassen."

"Brauchen Sie gar nicht! Sie können bis an die Försterei durch den Wald fahren. Da sieht Sie keiner."

"Und wenn ich unterwegs geschnappt werde? Von den Landjägern oder den Zuchthausbrüdern? Nee, ich hau ab!"

"Herr Meier!" warnt ihn Pagel. "Machen Sie keine Dummheiten! Lieber schieße ich Ihnen die Reifen am Wagen kaputt, als daß ich Sie weglasse!"

Meier sieht wütend nach der Hand mit der Pistole.

"Also fassen Sie an!" sagt er mürrisch. "Stecken Sie das Dings nur wieder weg! Jahupp, rin in die Ecke! Ach, is ja egal, wie er sitzt, der fällt doch gleich wieder um. Hauptsache, daß wir die Tür zukriegen. Ich weiß nicht", schimpft Meier plötzlich wütend, "mit Neulohe habe ich auch immer Pech. Was ich auch mit Neulohe anfange, immer wird Dreck daraus. Aber ich revanchiere mich noch mal. Ihr Brüder werdet mich schon noch in den Magen kriegen -!"

"Haben wir schon, Herr Meier! Haben wir schon reichlich!" sagt Pagel vergnügt und setzt sich neben Meier. Er freut sich, wie wütend der Kleine über die erpreßte Fuhre ist. "Ich würde auch nicht so hupen, schließlich besinnen sich die Herren Zuchthäusler noch darauf, daß mit einem Wagen am bequemsten nach Berlin zu kommen ist. So, nun ein bißchen links halten ... Donnerwetter, was ist das?!"

Ein großer, blauweißer Wagen schreit in der Kurve dicht vor ihnen auf.

"Der Horch vom Rittmeister!" flüstert Meier und lenkt seinen Laubfrosch dicht an die Stämme.

Der große Wagen heult noch einmal auf und rast an ihnen vorbei.

"Der Rittmeister und die süße Weio!" grinst der kleine Meier, weiterfahrend. "Na, uns haben sie nicht erkannt. Ich habe die Hand gleich vors Gesicht gehalten. Fahren Probe, scheint's. Viel Spaß - lange wird die Herrlichkeit wohl nicht mehr dauern."

"Wieso denn das, Herr Meier?" fragt Pagel spöttisch. "Meinen Sie, der Rittmeister geht pleite, weil Sie nicht mehr sein Beamter sind?"

Aber Meier antwortet nicht. Er ist noch kein sehr geübter Fahrer, der holprige, sandige Waldweg nimmt all seine Aufmerksamkeit in Anspruch.

Schließlich kommen sie zur Försterei, sie laden den Förster aus, sie legen ihn auf ein Bett. Die Frau im Lehnstuhl schilt vor sich hin, daß sie den Mann betrunken nach Haus gebracht haben, daß sie ihn auf das falsche Bett gelegt haben, daß sie ihn nicht ausziehen ...

"Na also denn, Herr Meier!" sagt Pagel. Der kleine Meier sitzt schon wieder im Wagen. Pagel sieht ihn aufmerksam an, und dann streckt er ihm die Hand hin. "Also, gute Fahrt!"

Meier sieht den Pagel an, Meier sieht die Hand an.

"Wissen Sie was, Mensch", sagt er. "(Ihren Namen behalte ich auch nie!) Wissen Sie was: Ich werde Ihnen meine Hand nicht geben, und es wird auch so gehen. Sie finden ja, ich bin ein Riesenschwein ... Aber so ein Riesenschwein bin ich nun doch nicht, daß ich Ihnen jetzt die Hand gebe. Also denn!"

Meier schlägt die Wagentür krachend zu, Pagel starrt ihn verblüfft an. Meier nickt durch das Wagenfenster noch einmal, und es scheint da jetzt ein ganz anderes Meier-Gesicht zu nicken: ein trauriges, elendes. Dann fährt der Wagen los.

Pagel starrt ihm eine Weile nach. Armes Schwein, denkt er bei sich. Armes Schwein!

Und Pagel meint beides, das "arm" und das "Schwein". Dann geht er auf den Hof, ganz unsicher, ob er etwas sagen soll, was er sagen soll, wem er etwas sagen soll.

Er wird es sich überlegen - eine Kleinigkeit zu lange.

DREIZEHNTES KAPITEL. Verloren und Verlassen

1

Der dreißigste September dämmerte herauf, trübe und grämlich, der

Wind brauste über Neulohe, er leerte es aus. Nicht nur der Wind leerte Neulohe. An diesem Tage wurde viel fortgeweht: Liebe und Haß, Verrat, Eifersucht, Eigennutz. Viel wehte davon - trieb die Menschen auseinander wie Herbstblätter.

Und noch war nicht einmal der erste Oktober, der Schicksalstag!

Am frühesten war Herr von Studmann erwacht, der Wecker hatte geklingelt, es war noch dunkel, der Wind fuhr um das Haus. Herr von Studmann war der Mann, mit Selbstverständlichkeit zu tun, was er vorhatte; ohne Bedauern fuhr er aus dem warmen Bett in den grauen, frösteligen Morgen hinein. Er hatte heute vor, die Pachtsumme zu beschaffen, er würde sie beschaffen, obwohl er eigentlich ziemlich genau wußte, daß sie sehr andern Zwecken dienen würde als dem Bezahlen der Pacht.

Sorgfältig rasierte er sich. Wenn er in die Stadt fuhr, rasierte er sich stets zweimal; jetzt fiel ihm ein, er könnte sich auch für Neulohe nachrasieren, für Frau Eva ...

Aber er verwarf diesen Gedanken sofort. Er war weder ein Primaner noch ein Don Juan. Er balzte nicht wie ein Auerhahn.

Wenig später ist Studmann auf dem Büro. Auf dem Schreibtisch liegt ein Zettel: "Bitte, wecken Sie mich, ehe Sie fahren. Ich habe etwas zu melden. Pagel."

Studmann zieht erstaunt die Achseln hoch. Was könnte Pagel Wichtiges zu melden haben? Vorsichtig zieht er die Tür vom Büro zu Pagels Zimmer auf. Der Lichtschein der Lampe fällt hinein: Der Schläfer liegt auf der Seite und schläft ruhig. Eine breite Strähne Haar fällt in die Stirn, sie berührt das geschlossene Augenlid, jedes einzelne Haar schimmert wie dünnster gezogener Golddraht im Licht. Auch das Gesicht ist hell, als lächle es. Ganz überraschend kommen Studmann ein paar Worte - Verszeilen? - in den Sinn, wohl eine Reminiszenz seiner Schülerzeit: "Zum Glück geboren, zu nichts gekommen, wie alle gestorben."

Studmann entscheidet, daß die wichtige Mitteilung nicht wichtig sein kann. Er stellt fest, daß es jetzt erst vier Uhr ist und daß anderthalb Stunden Schlaf dem jungen Mann nur gut sein werden. Vorsichtig zieht er die Bürotür wieder zu. Im übrigen muß er unbedingt mit dem Frühzug nach Frankfurt, denn Frau Eva hat es so gewünscht. Auch die wichtigste Mitteilung kann daran nichts ändern, sondern nur stören.

Auf dem Büro ist jetzt die schwarze Minna aufgetaucht, recht verschlafen und noch schlampiger gekleidet als sonst. Der von ihr

servierte Kaffee sieht ebenso schlampig aus. Studmann, für sauberes Service seit seinem Hoteldienst überaus empfindlich, hat ein scharfes Wort auf der Zunge und schluckt es wieder hinunter. Wenn man die Zusammenhänge kennt, weiß man, daß der Tadel prompt an die Küche in der Villa weitergehen wird und von der Küche an die gnädige Frau - Herr von Studmann möchte nicht, daß Frau Eva jetzt noch mehr Ärger hätte.

Nun knirschen draußen die Wagenräder im Kies: Kutscher Hartig ist vorgefahren. Studmann verzichtet auf Kaffee und angetrocknetes Brot. Er brennt sich eine Zigarre an, fährt in seinen Mantel und tritt aus dem Haus.

Draußen redet der Kutscher Hartig hoch vom Bock mit dem Landjäger, der nach einer fruchtlosen Nachtwache kalt und verärgert ist. Studmann grüßt und erkundigt sich, was es Neues gibt.

Es gibt nichts Neues, die Nachtwache war ebenso vergeblich wie das Durchtreiben des Waldes gestern nachmittag. Nicht die geringste Spur von den Kerlen! Es ist alles Unsinn gewesen, man hätte natürlich alles anders anfangen müssen; der Landjäger, erfroren, verärgert, entwickelt seinen Plan ...

"Hören Sie, Herr Oberwachtmeister, ich muß jetzt zur Bahn", unterbricht Herr von Studmann. "Aber drin im Büro steht noch mein Kaffee. Er taugt nicht viel, ist aber warm. Wenn Sie den trinken mögen? Aber bitte recht leise, der junge Mann nebenan schläft ..."

Der Landjäger dankt und geht auf das Büro. Der Wagen mit dem rauchenden Studmann und dem schweigsamen, immer brummigen Hartig rollt zur Bahn. Es ist vier Uhr fünfzehn. -

"Es ist erst vier Uhr fünfzehn", sagt Frau Eva ganz überrascht und starrt ungläubig den kleinen Reisewecker auf ihrem Nachtschränkchen an.

Es war ihr, als habe jemand nach ihr gerufen - Weio? Achim? Sie ist im Bett hochgefahren und hat ganz mechanisch auf den Knopf der Nachttischlampe gedrückt. Nun sitzt sie da, aufrecht in den Kissen, und lauscht.

Leise, leise tickt das Weckerchen, die Armbanduhr daneben scheint dem Gehör nach eiliger zu ticken, ist aber auch erst vier Uhr fünfzehn. Der Wind heult um das Haus, sonst nichts. Kein Ruf. Alle schlafen, es ist so still, es ist Friede. Frau Eva ist unglaublich frisch und ausgeschlafen, irgend etwas wie eine unbestimmte Freude sitzt in ihr - aber was in aller Welt soll sie in den vier Stunden bis zu ihrer gewöhnlichen Kaffeezeit anfangen -?

Erstaunt, fast ein wenig unzufrieden betrachtet sie ihr Zimmer, das ihr keine Ablenkung, Zerstreuung bieten kann. Einen Augenblick erwägt sie, ob sie nicht aufstehen und bei Weio nachsehen soll, ob sie vielleicht im Traum gerufen hat. Aber es ist so schön warm im Bett, und überhaupt: Weio ist jetzt ein großes Mädel! Es sind die Zeiten nicht mehr, daß sie des Nachts ganz selbstverständlich fünf-, sechsmal aus dem Bette fuhr und auf Zehenspitzen zu ihrer Kleinen schlich. Schöne, verronnene Zeiten, selbstverständliche Pflichten, die so gerne erfüllt wurden, natürliche Sorgen, die das Leben mit sich brachte, weil es das Leben war ... Nicht all dieser unnötige, künstliche Sorgenkram von heute, das überflüssigste Zeug von der Welt!

Der Rücken der Frau strafft sich, auch ihr Gesicht wird straffer. Plötzlich überfällt sie wieder, was in der Schlafseligkeit der ausgeruhten Glieder versunken war, daß sie in einem zerfallenden Hause sitzt, daß sie Glied einer sich auflösenden Familie ist, daß dieser Boden, auf dem ihr Bett ruht, sich ihr entzieht, daß die Tür zum Schlafzimmer ihres Mannes verschlossen ist, nach einer bösen Szene gestern abend verschlossen wurde. Ihre Stirn hat Falten, die vollen, schönen Schultern hängen vornüber, sie ist plötzlich eine alte Frau, sie grübelt: Wie habe ich Jahre um Jahre mit ihm zusammen leben können und dies ertragen?!

Es scheint ihr unmöglich, auch nur noch eine Woche so weiter mit ihm zu leben, und sie hat es fast zwanzig Jahre ertragen! Es ist unfaßlich! Und ihr scheint, als habe sie völlig die Gabe verloren, Geduld mit ihm zu haben, Nachsicht zu üben, mit Frauenlist etwas von ihm zu erreichen; als sei mit ihrer Liebe zu ihm auch jede Fähigkeit, mit ihm fertig zu werden, geschwunden.

Mein Gott, er war schon manches Mal zuvor angesäuselt nach Haus gekommen. Eine Ehefrau lernt das ertragen, obwohl die Mischung von Alkoholgeruch und Zigarettenrauch, von Großreden und plötzlicher Zärtlichkeit immer etwas schwer zu Ertragendes bleibt. Aber daß er gerade diesen Nachmittag dazu benutzt hatte, daß er es nicht hatte abwarten können, in seiner baren Unvernunft grade ihrem Bruder den Wagen vorzuführen, daß er heimlich vor ihr ausgerissen war, daß er das unvernünftige Kind, die Violet, die natürlich für alles Neue, und gar für so etwas Neues, begeistert war, in einer fast dumm-schlauen Art auf seine Seite gebracht und gegen sie aufgehetzt hatte und daß er dann schließlich, was nun wirklich dem Faß den Boden ausgeschlagen hatte, diesem fünfzehnjährigen Ding noch ein paar Liköre erlaubt hatte - er sagte, einen, sie sagte, zwei, aber bestimmt waren es vier oder fünf gewesen! -, nein, das ging doch nun selbst über das, was eine langjährige Ehefrau zu ertragen gelernt hatte!

Sie hatte im Eßzimmer gesessen, der Abendbrottisch war gedeckt, der Diener wartete, die Mädchen in der Küche warteten. Es wurde spät, es wurde zu spät. Sie hatte nie gedacht, daß sie einmal so kleinbürgerlich dasitzen würde, Zorn im Herzen, und auf die Heimkunft ihres Mannes warten. So etwas war ihr immer als ein Gipfel des Lächerlichen, des Verächtlichen erschienen. Man ließ den Partner sein Leben leben, man legte ihn nicht an eine Kette!

Und nun saß sie doch so da, sie machte eine Rechnung gegen ihn auf: dies und das und jenes. Dies für dich getan, das um deinetwillen entbehrt, jenes durch dich verloren - und du? Dieses "Und du?" wuchs und wuchs. "Und du?" wurde zu einer ungeheuren Wolke, die ihr ganzes Leben beschattete, einer drohenden Gewitterwolke, voller Unheil.

Die beiden waren hereingekommen, mit der dümmlichen, unbefangenen Lustigkeit der Beschwipsten. Sie hatten Witzchen gemacht, sie hatten übereifrig Grüße bestellt. Oje, oje, Onkel Egon hatte den Korkenzieher nicht finden können und hatte der Flasche den Hals abgeschlagen! Oje! Oje! Wetterleuchten, murrender Donner aus der Ferne - wer warst du einst? Eine schlanke, schnelle Gestalt, keine großen Geistesgaben, gewiß nicht, aber ein Ritter ohne Furcht und Tadel ...

"Und einem Opel-Laubfrosch sind wir im Wald begegnet, Mama, und unser braver junger Herr Pagel saß darin, ich möchte schwören, mit einer jungen Dame! Sie hielt zwar die Hand vors Gesicht -."

Genug! Jawohl, genug und übergenug. Worte, Streit, Tränen des jungen Mädchens, das liebenwürdige schlechte Gewissen des Vaters verwandelt sich in ein tobendes schlechtes Gewissen ...

"Du gönnst mir bloß den Wagen nicht!"

Und Weio heulend: "Jede Freude willst du uns nehmen! Nichts erlaubst du uns! Jetzt willst du auch den Papa tyrannisieren!"

Vater und Tochter in einer Front gegen die Mutter, und hinter der Tür lauschend die Dienstboten. Das ist aus deiner Häuslichkeit geworden, Eva! Du bist doch einmal deinem Elternhaus entflohen, du hattest dir geschworen, den ersten Mann zu heiraten, der wirklich Formen hatte - du haßtest deines Vaters Formlosigkeit. Ja, sind wir denn alle wahnsinnig geworden? Sind wir denn alle krank? Ist denn diese Inflation ein Gift, das in der Luft herumfliegt? Das jedermann ansteckt?! Ist das deine Tochter, deine behütete, blutjunge Violet, dieses Mädchen mit rotfleckigem Gesicht, hemmungslosen Bewegungen, das abwechselnd heult und anklagend schreit? Ist das dein Mann, der vornehme, grade Kerl, sorgsam gepflegt, peinlich auf Sauberkeit bedacht, der jetzt polternd, schreiend mit den Händen herumfuchtelt: "Mich kriegst du nicht unter!"

Ja, bist du das selbst noch? Die das alles mit ansieht, anhört, böse darauf antwortet, zornig schilt und die dabei an einen andern Mann denkt, die schon für den Ersatz gesorgt hat, ehe noch der erste gegangen ist -?

Pfui Teufel, pfui Teufel über uns alle! Einer wie der andere - und sie geht, sie geht eilig die Treppe hinauf, sie kann gar nicht schnell genug in ihr Zimmer kommen. Sie läßt die beiden da unten, sie will allein sein. Die Fenster stehen offen, es ist angenehm kühl, frisch. Eine Spur der Zentralheizungswärme ist in der Luft, eine Spur ihrer Seifen und Parfüms dazu, grade genug, sie daran zu erinnern, daß sie bei sich zu Hause ist ... Am liebsten würde sie baden, aber sie mag ihren Leib jetzt nicht sehen. Es ist soviel Leben durch ihn hindurchgegangen, er hat zuviel erlebt, zuviel genossen, als daß sie ihn heute abend gerne noch sähe. So schlüpft sie nur schnell aus den Kleidern, im Dunkeln findet sie in der äußersten Ecke ihres Nachttisches die Rolle Veronal, das ihr der Arzt gegen den irrsinnigen Schmerz ihrer Zahnwurzelvereiterung einmal gegeben ... Sie nimmt eine Tablette, bei ihr wirkt schon das wenigste, sie lehnt sich zurück, sie wird schlafen ...

Und sie ist fast hinüber in den Schlaf, fast hat sie die Bilder von eben ausgelöscht, in ihrem Ohr ist fast Ruhe geworden von dem betäubenden Gezänk - da geht doch wahrhaftig, unglaublich, die Tür zu seinem Schlafzimmer auf. Er erscheint dort, er fragt halblaut-unsicher: "Schläfst du schon, Eva? Ich wollte gerne noch zu dir kommen!"

Dieses Leben kann wie ein ewiger Ekel wirken. Ein Lachen muß einen ja ankommen, wenn man ihn da so stehen sieht. Weiße Haare hat er, aber nichts gelernt. Wahrhaftig, er hat seinen besten Pyjama angezogen, er hat sich schön für sie gemacht, dieser ewige Schuljunge, für immer sitzengeblieben in der Klasse derer, die nie etwas verstehen werden!

"Eva! - Eva! - Eva!" In allen Tonlagen, rücksichtsvoll, bittend - und ein klein bißchen lauter, daß sie womöglich aufwacht, ohne daß er sie doch gradezu weckt. Sie kann ihn ganz gut sehen, seine Silhouette gegen das Licht, er aber kann sie nicht sehen, ihr Gesicht ist im Schatten. Und so ist es wirklich: er hat sie nie gesehen, eine lange Ehe hindurch - was er sich wohl einbildet für eine Frau zu haben -?!

Noch einmal: "Eva!"

Anklagend. Voll traurigen Vorwurfs. Siehe da, so ganz glaubte er ihr den Schlaf doch nicht. Aber er sieht wohl ein, sie will wirklich nicht, er murmelt etwas. Wenn er verlegen ist, murmelt er immer mit sich, er glaubt, er bemäntelt seine Verlegenheit dadurch.

Und nun klappt die Tür zu seinem Zimmer.

Da aber ist sie auch schon mit einem Satz aus dem Bett, nacktfüßig läuft sie - Veronalwirkung hin, Veronalwirkung her! - an die Tür; laut, ungeniert dreht sie den Schlüssel auf ihrer Seite um, und dann steht sie bei der Tür, lauschend, rasch atmend, triumphierend: Sind wir nun deutlich genug gewesen, mein Herr? Hast du nun endlich verstanden, daß es aus ist, endgültig aus?

Kein Laut von drüben, Stille, tiefe Stille - nicht einmal einer seiner jähzornigen Ausrufe. Stille. Nur Stille.

Langsam geht sie in ihr Bett zurück. Sie schläft sofort ein.

Und nun ist es vier Uhr fünfundzwanzig. Sie war so fröhlich aufgewacht. Dann war es ihr, als habe sie jemand gerufen. Sie erinnert sich: Weder Vater noch Tochter werden nach ihr rufen. Warum in aller Welt war sie fröhlich -?

Sie sitzt vornübergebeugt, aber die Glieder werden schlaff, sie geben nach. Sie legt sich wieder tief in das Bett hinein. Sie schmiegt sich ein und an wie an etwas Lebendes, das sie bergen kann. Sie will noch schlafen, sie kann noch schlafen. Es wäre ja nicht auszudenken, wie sie die vier Stunden bis zum Frühstück, umtanzt von solchen Gespenstern, hinbringen soll!

Oh, mein Gott, was für ein Gesicht soll sie bei diesem Frühstück machen? Was soll sie reden? Was anfangen? Sie könnte aufs Büro gehen, aber Herr von Studmann ist verreist, und der junge Pagel ist zu jung ... Man wird sehen, schließlich ist noch jeder Tag des Lebens irgendwie vorübergegangen ...

Gute Nacht!

2

Nach ihrem vorzeitigen Erwachen noch vor Sonnenaufgang war Frau Eva noch einmal so fest eingeschlafen, daß sie zum zweitenmal an diesem Tage ganz ungläubig auf ihren Wecker schaute: es war halb zehn. Nach einem bewährten Satz soll man seine Schlafmittel ausschlafen. Frau Eva hatte zwölf Stunden im Bett gelegen, das hätte für eine Veronaltablette genug sein müssen.

Aber als sie jetzt aus dem Bett stieg und sich an Waschen und Anziehen machte, waren die Glieder schwer, ein dumpfer Druck lag in ihrem Kopf. In ihren Augen saß ein Gefühl, als habe sie eben geweint oder müsse gleich weinen. Während sie sich hastig und immer ärgerlicher anzog, schalt sie bei sich auf das "Dreckzeug", das sie nie

wieder nehmen würde. Sie schalt aber auch auf ihren Mann, auf Weio, die Mädchen, Hubert, daß man sie so ohne Wecken in den Tag hinein hatte schlafen lassen ...

Und bei alledem hatte sie ein todestrauriges Gefühl, eine Vorahnung, daß dieser Tag, der ohne Regen naß von den Bäumen triefte, nichts taugte, daß er ihr nicht und keinem etwas Gutes bringen würde ...

Auf dem Frühstückstisch lag nur ein Gedeck - von Achim und Violet war nichts zu sehen. Sie drückte auf den Klingelknopf; aber sie mußte das ein paarmal tun, ehe statt Hubert Armgard mit dem Kaffee und den Eiern kam - Armgard mit einem Lächeln, das Frau Eva gar nicht gefallen wollte.

"Herr Rittmeister und Fräulein Violet haben schon gefrühstückt?" fragte Frau von Prackwitz, während Armgard etwas sehr umständlich den Kaffee eingoß.

"Schon um sieben Uhr, gnädige Frau", berichtete Armgard überraschend eifrig. "Herr Rittmeister und Fräulein Violet sind schon vor halb acht mit dem Automobil fortgefahren."

Die Art, wie sie das Wort Automobil voll aussprach, zeigte, daß diese Neuerwerbung ihre volle Anerkennung hatte, daß der Horch auch in die Küche der Villa Glanz und Stolz getragen hatte. Vermutlich war man dort der Ansicht, daß man erst jetzt eine wirklich "feine Herrschaft" hatte.

"Warum bin ich nicht geweckt worden?" fragte Frau Eva mit einiger Schärfe.

"Der Herr Rittmeister haben es doch ausdrücklich verboten!" antwortete Armgard ein wenig gekränkt. "Der Herr Rittmeister und Fräulein Violet haben sich doch so in acht genommen, die gnädige Frau nicht zu stören. Auf Zehenspitzen sind sie die Treppe heruntergekommen, und auch hier im Frühstückszimmer haben sie immer nur geflüstert ..."

Frau von Prackwitz konnte sich ihre beiden Helden recht gut vorstellen, die aus lauter Rücksichtnahme die Mama nicht weckten! Denn die hätte ja die Fahrt verhindern, die hätte ja vielleicht sogar mitfahren können! Diese Feiglinge -!

"Dann war ja freilich der große Lärm "..., sagte Armgard sanft, mit sehr scheinheiligem Gesicht.

Frau von Prackwitz zog vor, dies zu überhören. Sie hatte gestern alle Arten von Lärm genossen, sie wollte keinen Lärm mehr hören, sie wollte auch nichts über Lärm hören.

"Hat mein Mann etwas gesagt, wann er zurück sein wird?" fragte sie.

"Der Herr Rittmeister meinte, er würde wohl nicht zum Essen zurück sein", antwortete Armgard und sah die gnädige Frau abwartend an. Es war klar, auch dies Mädel wußte schon von dem Streit mit Achim; wahrscheinlich wußte schon das ganze Dorf, die Eltern eingeschlossen, davon. Man würde sich daran gewöhnen müssen, daß jedermann einen in der nächsten Zeit ansah, als sei man halb Witwe, halb verlassene Frau ...

"Schön, Armgard", sagte Frau Eva, gegen ihren Willen von all diesen kleinen Albernheiten etwas erheitert. "Dann können Sie das Filet vom Sonntag kalt aufschneiden, mit grünen Bohnen. Für uns paar Menschen reicht das "... Sie zählte an den Fingern ab: "Ich, Lotte, Sie, macht drei, Hubert vier - das reicht vollkommen."

Eine kleine Pause, das Mädchen Armgard sah seine Herrin wortlos an. Frau von Prackwitz erwiderte den Blick, er war wirklich eine Spur ungemütlich. Frau Eva wollte lächeln, aber dann setzte sie die Tasse ab, sie setzte die Tasse mit einem Ruck hin - so wollte sie aber keinesfalls angesehen werden!

"Nun? Was sehen Sie mich so an, Armgard?" fragte sie energisch.

"O Gott, gnädige Frau!" rief Armgard und wurde rot. "Den Hubert brauchen gnädige Frau doch nicht mitzurechnen - den Hubert hat der Herr Rittmeister doch heute früh entlassen. Deswegen war doch solcher Lärm! Wir haben es bis in die Küche gehört. Wir wollten gar nicht, aber ..."

"Wo ist Hubert?" fragte Frau von Prackwitz und winkte dem Gerede ab. "Ist er schon fort?"

"Aber nein, gnädige Frau! Er ist unten und packt seine Sachen!"

"Schicken Sie ihn zu mir. Sagen Sie ihm, ich möchte ihn sprechen."

"Gnädige Frau, aber der Hubert hat dem Herrn Rittmeister gedroht, daß er ..."

"Armgard! Ich wünsche keine Erzählungen von Ihnen, Sie sollen Hubert rufen!"

"Jawohl, gnädige Frau!"

Sehr gekränkt zieht sich Armgard zurück, wartend geht Frau Eva auf und ab. Mit dem Frühstück ist es natürlich schon wieder vorbei, sie hat gleich gewußt, als sie aufstand, daß dieser Tag nichts taugte.

Frau Eva geht auf und ab, auf und ab. Es ist wieder das Gefühl aus der Nacht, daß alles zerfällt, sich auflöst, daß man machtlos danebensteht, aber nichts dagegen tun kann. Es ist wahrhaftig nicht dieser lächerliche Hubert! Sie war nie seine Freundin, sie hatte schon zehnmal Lust gehabt,

diesen schrulligen Querkopf vor die Tür zu setzen! Außerdem hatte sie eine körperliche Abneigung gegen ihn; auch ohne das Geschwätz der Mädchen von einem "Unhold" hatte sie als gesunde Frau immer gespürt, daß dieser Bengel nicht sauber war.

Also gut, er war entlassen, wahrscheinlich wegen einer Riesensache, wegen eines zu hart gekochten Eies oder wegen eines fallen gelassenen Teelöffels - in Achims jetziger Stimmung konnte alles Anlaß zu einem Wutausbruch werden. Aber daß alles so plötzlich ging, ohne Vorbereitung, daß nichts Neues im Leben mehr dazukam, nur Altes fortging, immer fortging ...

Es war ja, als säße man auf einer Eisscholle, und Stück für Stück bröckelte von der Scholle ab, bald war nichts mehr da ... Man hatte einst Eltern gehabt, mit denen man nicht gut, aber erträglich stand - man hatte keine Eltern mehr. Man hatte einen Mann gehabt und eine Tochter - man hatte sie nicht mehr. Man hatte Verkehr im Lande gehabt - wann waren sie das letztemal ausgegangen? Man hatte ein gemütliches Heim gehabt - nun ja, jetzt saß man allein am Frühstückstisch, der Diener war entlassen, und nachts wurden die Türen zwischen den einzelnen Schlafzimmern sorgfältig verschlossen - so sah heute ein Heim aus!

Ein Gefühl verzweifelter Ohnmacht, eine verhängnisvolle, lähmende Trauer steigt aus alldem auf - hatte es je eine Zeit gegeben, in der es sich so wenig zu leben verlohnte?! Es juckte einen in allen Fingern: man mußte doch irgend etwas tun können, um aus diesem Sumpf herauszukommen! Aber alles, was man tat, führte auf geheimnisvollen Wegen nur tiefer hinein. Jede Tat kehrte sich gegen den Täter!

Das Mädchen Armgard steht wieder in der Tür. Sie meldet halb verlegen, halb trotzig: "Hubert sagt, er ist nicht mehr im Dienst. Er sagt, er hat es nicht nötig, zu kommen."

"Das wollen wir doch mal sehen!" ruft Frau von Prackwitz zornmutig und ist mit fünf Schritten auf der Diele.

"Gnädige Frau! Ach, bitte, gnädige Frau!" ruft das Mädchen hinter ihr beschwörend.

"Was ist denn noch?" fragt sie ärgerlich. "Kein Getratsch mehr, Armgard!"

"Aber gnädige Frau müssen doch wissen!" sagt Armgard und tritt ganz nahe heran, um leise reden zu können. "Hubert hat dem Herrn Rittmeister doch so gedroht! Von einem Waffenlager war die Rede. Herr Rittmeister war ganz weiß ..."

"Und das haben Sie von der Küche im Souterrain aus gesehen,

Armgard?" fragt Frau Eva spöttisch.

"Wo doch die Tür zum Speisezimmer aufstand, gnädige Frau!" Armgard ist schwer beleidigt. "Ich ging doch grade rauf, um einen Rollschinken zu holen, und die Tür stand eben auf. Ich bin nicht neugierig, gnädige Frau, ich meine es bloß gut ..."

"Schön, schön, Armgard" sagt Frau von Prackwitz und will wieder gehen.

"Aber, gnädige Frau, Sie wissen doch noch nicht "..., wird sie wiederum beschworen. "Und dann hat der Hubert noch von einem Brief geredet, von einem Brief von dem gnädigen Fräulein, und der hat auch mit dem Waffenlager zu tun ..."

"Quatsch!" sagt Frau von Prackwitz gänzlich ungeniert und steigt hinunter in das Souterrain, ohne weiter auf Armgard zu achten. Alles Quatsch und Schlüssellochguckerei und Türenhorcherei. Der Hubert hat natürlich gestern nachmittag an der Tür gelauscht, als sie mit ihrem Mann von der Autoanschaffung und dem Putsch geredet hat - und nun er hinausgeworfen ist, will er sich rächen. Sie wird ihm schon den Kopf zurechtsetzen! Daß nun aber gar Weio Briefe über Waffenlager schreiben sollte, das ist solch blühender Blödsinn, richtiges Ergebnis einer Schlüssellochlauscherei ...!

Der Diener Räder steht über einen auf dem Bett liegenden Handkoffer gebeugt, in den er mit peinlicher Pedanterie eine sorgfältig zusammengelegte Hose packt. Er berücksichtigt sozusagen jedes Millimeter. Das Bett, auf dem der Handkoffer liegt, ist bereits abgezogen. In ihre Kniffe gelegt, hängt die Bettwäsche über einem Stuhl, aber trotzdem ist unter dem Handkoffer zur Schonung des Bettes ein großer Bogen Packpapier ausgebreitet. Minutiöse Genauigkeit bis zur letzten Minute - ganz Hubert Räder!

Bei diesem Anblick und noch mehr beim Anschauen des fischigen, grauen, unbewegten Gesichts vergeht der gnädigen Frau alle Lust, zu schelten. Mit einigem Humor sagt sie: "Also Sie wollen uns verlassen, Meister Hubert?"

Hubert hat jetzt eine Weste in der Hand. Er hält sie prüfend gegen das Licht, dann legt er sie zusammen, den Stoff nach innen, das Futter nach außen, ganz wie es sich gehört. Aber daß er überhaupt nicht antwortet, das gehört sich wirklich nicht!

"Nun, Hubert?" fragt Frau Eva lächelnd. "Keine Antwort? Sind Sie auch mit mir böse?"

Hubert legt die Weste in den Koffer und macht sich an das Jackett. Ein

Herrenjackett ist sehr schwierig zusammenzulegen. Er bückt sich tief darüber und spricht kein Wort.

"Hubert!" sagt die gnädige Frau schärfer. "Seien Sie doch nicht albern! Wenn Sie auf Herrn Rittmeister ärgerlich sind, brauchen Sie doch nicht unhöflich zu mir zu sein!"

"Gnädige Frau!" erklärt Hubert feierlich und hebt sein graues, trübes Auge. "Herr Rittmeister hat mich behandelt wie einen Sklaven ..."

"Nun, und Sie werden meinem Mann auch nicht grade freundliche Dinge gesagt haben! Sie sollen ihm ja sogar gedroht haben."

"Jawohl, gnädige Frau. Es stimmt. Armgard hat gelauscht, aber es stimmt doch. Doch ich bedaure es. Wenn gnädige Frau so gütig sein wollen, Herrn Rittmeister bei seiner Rückkunft zu sagen, daß ich es bedaure. Ich habe es nur in der Leidenschaft gesagt".(Er sieht so leidenschaftlich aus wie ein Stück Holz.)

"Schön, Hubert. Ich werde es ausrichten. Und nun erzählen Sie mir einmal, was war denn eigentlich los -?"

"Und auch der Brief vom gnädigen Fräulein wird nicht benutzt werden", fährt Hubert unbeirrbar fort. "Ich verspreche das. Wenn ich ihn auch nicht verbrennen werde, noch nicht."

"Hubert!" sagt Frau von Prackwitz. "Nun seien Sie einmal nett, denken Sie daran, daß ich nicht nur eine Dienstherrschaft bin, an der Sie natürlich immer etwas auszusetzen haben, sondern auch eine Mutter, die sich manchmal sehr viel Sorgen macht. Was ist das mit einem Brief von der Violet, den Sie haben? Erzählen Sie mir einmal alles richtig, lassen Sie einmal Ihre Faxen, Hubert ..."

"Entschuldigen, gnädige Frau, es sind keine Faxen", erklärt Hubert ganz unbewegt. "Ich bin so."

"Also schön, sagen Sie es mir dann auf Ihre Art, ich werde es schon verstehen. Aber bitte sagen Sie mir, Hubert, was Sie wissen!"

Hubert sieht mit seinen kalten, toten Augen die gnädige Frau aufmerksam an. Vielleicht empfindet dieses Gespenst ein wenig Glück, da er die Frau bittend vor sich sieht, aber anzusehen ist es ihm nicht.

Nach einer langen Weile stummen Anschauens schüttelt er den Kopf und sagt: "Nein."

Er wendet sich wieder seinem Jackett zu.

"Hubert", bittet Frau von Prackwitz wieder, "aber warum denn nicht? Sie gehen doch jetzt weg von uns, es kann Ihnen keinen Schaden bringen, wenn Sie mir alles erzählen. Und vielleicht bringt es soviel

Nutzen ..."

Hubert Räder ist nur mit seinem Jackett beschäftigt, es sieht so aus, als habe er nichts gehört. Aber nach einer langen Zeit entschließt er sich dann doch, wiederum nein zu sagen.

"Aber warum nicht?" flüstert sie. "Ich verstehe das nicht! Was ist nur? Hubert, seien Sie nett, ich will Ihnen eine glänzende Empfehlung geben, ich will bei meinen Verwandten nach einer Stellung für Sie fragen ..."

"Ich gehe nicht wieder in Stellung", erklärt das Gespenst.

"Also, Hubert! Sie haben gesagt, Sie wollen den Brief noch nicht verbrennen, das heißt, Sie wollen ihn vielleicht benutzen, Sie wollen vielleicht Geld für ihn. Weio hat wohl eine Dummheit gemacht. Nun gut, Hubert, ich kaufe Ihnen den Brief ab, ich zahle Ihnen dafür, was Sie wollen ... hundert Goldmark ... fünfhundert Goldmark ... tausend Goldmark ... Hören Sie, Hubert, tausend Goldmark für den dummen Brief eines jungen Mädchens!"

Sie hat jetzt fieberhaft gesprochen, sie sieht ihn mit fieberhafter Spannung an. Kaum überlegt sie noch, was sie sagt; sie kann auch nicht mehr übersehen, was das denn eigentlich für ein Brief sein mag ... Eine geheimnisvolle, drohende Spannung hat sie gefaßt, hier in der kahlen Bude dieses entsetzlichen Kerls - wie hat sie ihn nur so lange im Hause ertragen können? Unheil! Unheil!

Hubert Räder zieht die Lippen von den Zähnen zurück, es soll dies wohl eine Art Lächeln bedeuten. Er sieht Frau von Prackwitz an - und vor diesem bösen, drohenden Blick, der doch triumphiert, vergeht ihre Erregung und macht einer dumpfen Verzweiflung Platz.

Er schüttelt langsam den Kopf, zum drittenmal sagt er nein. Dann sieht er das Jackett vor sich auf dem Bett an, als verstünde er nicht ganz, was es damit für eine Bewandtnis hat.

"Nun, Hubert", sagt die gnädige Frau in plötzlichem Zorn, "der Brief gehört Ihnen nicht. Wir haben grade Gendarmen hier in Neulohe - ich werde einen holen und Ihre Sachen durchsuchen lassen."

Aber nun ist es wieder wie zu Anfang: Der häßliche Mensch scheint nichts gehört zu haben und beschäftigt sich nur mit seinem Jackett. Unentschlossen sieht sie auf ihn; Bitten, Geld und Drohung sind vergeblich gewesen, was soll sie noch tun? Ihm schmeicheln, sagt sie sich, dieser Mensch muß krankhaft eitel sein. Aber das widerstrebt ihr so, es wird ihr schon übel bei dem Gedanken, sich vor ihm zu erniedrigen ... Aber nun denkt sie wieder an ihre Tochter, den rätselhaften Brief, daß einer, daß dieser vielleicht Gewalt über ihr Mädchen hat ...

"Sie sollten sich nicht zu solchen Dingen erniedrigen, Hubert!" versucht sie.(Sie hat auch noch "Herr Räder" sagen wollen, aber sie hat es nicht über die Lippen gebracht.) Sie fährt fort: "Ein Mensch, der so auf sich hält wie Sie ..."

Sie schaut ihn abwartend an. Langsam löst er den Blick von dem Kleidungsstück und erwidert ihren Blick. Wieder dieses Hochziehen der Lippen von den Zähnen - er hat sie durchschaut, sie kommt sich gedemütigt vor!

"Verzeihung, gnädige Frau, ich glaube, ich halte nicht mehr viel auf mich, darum brauche ich auch kein Geld mehr". Er sieht sie prüfend an, er scheint von der Wirkung seiner unverständlichen Worte befriedigt. Er denkt nach, dann erklärt er: "Am zweiten Oktober werde ich der gnädigen Frau den Brief senden, mit der Post. Gnädige Frau brauchen nichts dafür zu bezahlen."

"Übermorgen -?" fragt sie.

Sie weiß, er hat ihr nichts Gutes versprochen, eine dunkle Drohung klingt aus seinen Worten, etwas, das sie nicht abwenden kann. Sie will ihm antworten, aber er macht eine Bewegung, und die gnädige Frau schweigt sofort stille, da der Diener es wünscht.

"Gnädige Frau müssen nicht fragen. Ich sage doch nur, was ich will. Das gnädige Fräulein ist sehr schlecht zu mir gewesen, ich habe sie nie verraten, aber sie hat ihren Vater aufgehetzt, mich rauszuschmeißen ... Sie haben gesagt, ich soll mich nicht erniedrigen. Ich weiß, Sie haben es mir nur gesagt, damit ich Ihnen etwas erzähle. Wenn Sie das gnädige Fräulein Violet"(er sagt das mit abgrundtiefer Ironie), "wenn Sie das gnädige Fräulein Violet bis übermorgen früh nicht aus den Augen lassen, dann passiert nichts ..."

"Sie ist fortgefahren "... flüstert die Mutter.

Nach der Tochter die Mutter - irgendwie geraten sie beide in den Bann dieses Mannes. Was ist er? Ein Narr, ein alberner, nicht übermäßig tüchtiger Diener, nur mit Spott hat die gnädige Frau ihn ertragen. Aber jetzt denkt sie nicht daran, über ihn zu spotten, sie nimmt ihn völlig ernst. Es sind keine Schrullen mehr, kein Aberwitz - der Geruch von Gefahr, Drohung und Brand, etwas Düsteres, das er allein erst weiß ...

"Sie ist fortgefahren "..., hat sie geflüstert.

Er sieht sie an, dann nickt er kurz und bestimmt mit dem Kopf. Er sagt: "Heute abend ist sie zurück. Und dann nicht aus den Augen lassen, gnädige Frau, bis übermorgen früh ..."

Er wendet sich wieder seiner Packerei zu. Sie versteht sofort, daß diese

Bewegung endgültig ist.

"Alles Gute, Hubert", sagt sie plötzlich. "Ihre Papiere und Ihr Geld holen Sie sich vom Büro?"

Er antwortet nicht mehr. Er ist in ein peinliches Zusammenlegen seines Jacketts vertieft, ein graues, fischiges Gesicht, ohne erkennbaren Ausdruck. Es ist dieses Bild, das sie von ihm mitnimmt, sie wird es viele Male in ihrem künftigen Leben vor Augen sehen - das letzte Bild von Hubert Räder. Sie wird es nicht vergessen ...

3

Als die gnädige Frau aus der Kammer des Dieners Räder tritt, schlägt sie die Tür dem Mädchen Armgard fast an den Kopf. Armgard kreischt und will fliehen, aber Frau Eva ist sehr zornig. Sie hält das Mädchen am Arm fest und teilt ihm kurz und zornig seine Entlassung mit: aufs Büro, Papiere und Geld, sofort die Sachen packen, der Milchwagen kann sie mitnehmen!

Damit läßt Frau Eva die Köchin Armgard stehen, hört gar nicht auf ihre Flennerei. Der Gedanke, sich vor dem Diener Räder gedemütigt zu haben, ist schlimm genug, aber dabei Zuhörer gehabt zu haben, und nun gar solche Zuhörerin, das ist unerträglich. Fort - und aus den Augen! Eine grimmige Befriedigung erfüllt sie, "er" hat den Diener herausgeworfen, sie die Köchin - alles zerfällt - was soll das für ein Haushalt in den nächsten Tagen werden?! Was wird die siebzehnjährige Lotte für ein Essen zusammenkochen, wenn sie daneben sieben Zimmer besorgen muß?! Der Herr von Prackwitz wird sich wundern!

Frau von Prackwitz geht in die Küche und eröffnet Lotte die Sachlage. Sieben Zimmer, das kalte Rinderfilet, grüne Bohnen, Soße ist noch da, Spargelsuppe - und wahrhaftig, da steht noch der Abwasch von gestern abend! "Kinder, wascht ihr denn nicht jeden Abend ab, wie ich es euch gesagt habe?! Warum denn nicht?"

Worauf Lotte prompt in Tränen ausbricht. Schluchzend versichert sie, daß sie von Spargelsuppe keine Ahnung habe, daß sie es nie schaffen würde, daß sie sich nicht anschreien ließe, daß sie lieber auch gleich ginge ...

Frau Eva möchte über das nachdenken, was sie von Hubert Räder erfahren hat, was sie mit ihrer Tochter zu tun, was sie ihrem Mann zu sagen hat. Tausend Dinge, die sie beschäftigen, quälen - aber nein, Frau Eva muß die siebzehnjährige Lotte trösten, ihr das Geheimnis verraten, wie man aus getrockneten Spargelschalen unter Zuhilfenahme eines

kleinen Einmachglases mit Brechspargel eine "echte" Spargelsuppe macht. Schließlich verspricht sie der Trostlosen, sich von ihrer Mutter aus dem Schloß ein Mädchen zur Aushilfe zu erbitten ... Und hat dabei immer das Gefühl, daß diese ekelhafte Person, die Armgard, an der Küchentür lauscht und sich über die Verlegenheit ihrer Herrin freut ... Sieben ungemachte Zimmer sind eben ein Alpdruck ...

Frau Eva geht langsam den Weg zum Hof. Sie geht über den Hof nach dem Beamtenhaus, sie muß dem jungen Pagel wegen der Entlassungen Bescheid sagen. Aber die Bürotür ist versperrt, es baumelt an ihr das übliche Schild: "Büro geschlossen, eilige Anfragen in der Villa". In der Villa sitzt allein die trostlose Lotte, der junge Pagel ist natürlich auf dem Feld; wenn die Entlassenen ihre Papiere holen wollen, finden sie dieses Schild, das sie in die Villa einlädt, die Konfusion ist vollständig -!

Sie zuckt die Achseln, da hilft keine Auflehnung: dies ist so. Sie geht zum Schloß; sie sagt sich, daß dort wenigstens alles unverändert seinen Gang geht. Aber vor dem Schloß hält der Plattenwagen, auf den Koffer geladen werden, grade kommt der uralte Landauer, genannt die Zu-Bombe, mit Papas fetten Hannoveranern vorgefahren.

"Was ist denn hier los, Elias -?" fragt sie erstaunt.

"Guten Morgen, gnädige Frau. Die Herrschaften verreisen", berichtet der alte Elias und zieht sein Käppchen.

Sie läuft in das Haus, sie läuft die Treppe hinauf in das Zimmer ihrer Mutter: Frau von Teschow, schon in Mantel und Hut, sitzt auf ihrem Sessel. Hinter ihr die Kuckhoff hält ein Bündel Stöcke und Schirme unter den Arm geklemmt. Frau von Teschow kommandiert die Mädchen, die mit arbeitsroten, eifrigen, recht vergnügten Gesichtern leinene Überzüge über die Möbel ziehen.

"Da kommst du ja, Kind", sagt die alte Frau. "Wir wären natürlich nicht so abgefahren, wir hätten natürlich noch einmal zu euch reingesehen."

"Aber wohin reist ihr denn so plötzlich, Mama?" ruft Frau Eva erstaunt aus. "Gestern hat Papa doch noch kein Wort davon gesagt!"

"Liebes Kind, diese Nacht - es war unerträglich!" Sie greift sich an den Kopf und seufzt gramvoll. "Ach, daß dein Mann nun auch noch diese Zuchthäusler in unser liebes Neulohe hat bringen müssen ..."

"Aber sie sind ja nun wieder fort, Mama!"

"Ausgerissen! Ich habe kein Auge zugetan diese Nacht. Immer habe ich es schleichen hören. Die Treppen haben geknackt, einmal hat es gekichert auf der Treppe -. Ja, genauso wie du jetzt kicherst, du alberne Gans, Marta!" fährt Frau von Teschow plötzlich zornig ein Mädchen an,

das dunkelrot wird und den Kopf tief über die Polster senkt.

"Das hast du dir eingebildet, Mama. Es hat ja ein Landjäger auf der Straße Wache gehalten, und der Oberlandjägermeister hat gesagt ..."

"Liebes Kind, ich traue nur meinen Ohren! Ich fahre ab - dein Vater ist diesmal die Rücksicht selber. Wir fahren erst einmal nach Berlin. - Hotel Kaiserhof, Eva, wenn etwas sein sollte. - Wir lassen uns nicht in unsern Betten ermorden, wir nicht!"

Und auch Tante Jutta erklärt mit Nachdruck, unter Aufstoßen des Schirmpakets, daß ihr der Kaiserhof lieber als der Kirchhof sei.

Frau Eva sieht, es hat keinen Sinn, gegen diese Reise anzureden. Rätselhaft bleibt ihr nur die willige Zustimmung ihres Vaters, den sonst keine Beschwerden seiner Frau aus dem geliebten Neulohe vertreiben konnten. Aber das eine Gute hat ja diese Abreise: sie wird ohne Schwierigkeiten von der Mutter ein Mädchen bekommen können. Eilig berichtet sie von dem Weggang Räders und Armgards, kopfschüttelnd hört Frau von Teschow zu.

"Du hast doch auch immer Schwierigkeiten mit deinem Personal! Das kommt, wenn man die Leute zu sehr verwöhnt. Und in meine Abendandacht schickst du dein Personal auch nie mehr!"

Aber schließlich, nach mancher spitzigen Bemerkung, findet sich Frau von Teschow bereit: Marta wird zur Aushilfe bestimmt. Aber Marta zeigt sich widersetzlich. Nein, sie will nicht. Sie ist für das Schloß angenommen und nicht für die Villa. Frau von Teschow redet auf Marta ein, Frau von Prackwitz verspricht Marta eine Entschädigung, Fräulein von Kuckhoff ermahnt sie - Marta bleibt dabei, sie will nicht. Sie hat nichts gegen die gnädige Frau - aber sie will nicht. Kommt Trudchen - aber Trudchen will auch nicht. Trudchen hat sogar eine Entschuldigung: die Villa ist ihr zu graulich. So weit ab vom Dorf, und jetzt, wo die Zuchthäusler ausgerissen sind ...

"Ich kann es ihr ja eigentlich kaum verdenken, Eva", flüstert Frau von Teschow. "Wie du es mit Violet verantworten magst, du solltest sie uns nach Berlin mitgeben."

Einen Augenblick denkt Frau von Prackwitz, daß dies wirklich gut wäre. Aber: "Violet ist mit ihrem Vater fortgefahren."

"Ach ja, in euerm neuen Auto! Horst-Heinz hat gleich in Berlin angerufen, an die zwanzigtausend Mark kostet solch ein Wagen. Wie ihr das erschwingen könnt, und da stöhnt ihr über die Pacht ..."

"Also wie ist es mit einem Mädchen, Mama?"

"Ja, mein liebes Kind, du hörst doch selbst - ich kann sie unter diesen

Umständen doch nicht zwingen. Wenn ihnen in der Villa was passierte, ich müßte mir ja ewige Vorwürfe machen."

"Nein, das sollst du natürlich nicht, Mama, ich werde mich mit der Minna oder der Hartigen behelfen."

"Ich wäre dir ja gern gefällig gewesen, Evchen. Aber du mußt wirklich mehr auf Autorität bei deinem Personal sehen. Du sollst ja manchmal eine ganze Woche nicht in die Küche kommen!"

Kleine Sticheleien, Beteuerungen, Abschied ...

Als sie zum Wagen hinuntergehen, steht auf der Diele der Geheimrat von Teschow in seinem stadtfeinen Anzug, der den haarigen Ostelbier noch grausiger kleidet als das gewohnte Loden.

"Einen Augenblick, Eva. Ja, steig schon ein, Belinde. Ich habe mit Eva noch ein paar Worte zu reden". Er nimmt ihren Arm, er geht mit ihr ein paar Schritte abseits in den Park. "Ich möchte dir speziell eines sagen, Eva, deinem Mann würde ich es nicht sagen, der hört ja doch nicht. Du wunderst dich über diese Reise ..."

"Mama sagt, wegen der entsprungenen Zuchthäusler -"

"Unsinn! Glaubst du, ich fahre wegen ein paar dammlichen Zuchthäuslern weg?! In das elende Berlin? Hähä, so sieht der Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow aus! - Nein, hast du was von einem Putsch gehört?"

Er sieht seine Tochter musternd an, sie antwortet nicht.

"Na also, du brauchst mir auch nichts zu sagen - ich kann es mir an den fünf Fingern abzählen: plötzliche Rückkehr meines Herrn Schwiegersohns, das neue Auto ... Dein Mann will also mitmachen. Hoffentlich hat er sich wenigstens das Geld fürs Auto vorher geben lassen. Nun, so dumm wird er ja nicht sein, für die Herren noch Schulden zu machen ..."

Frau Eva schweigt.

"Also doch!" kräht Herr von Teschow erfreut. "Na ja, jeder so doof, wie er kann. Mir soll's egal sein. Ich verstehe dich bloß nicht. - Schön. Gut. Schwamm drüber! - Also für dich gesagt: der Putsch fliegt auf. Die Herren können sagen, was sie wollen: Die Reichswehr macht nicht mit. Ich bin die letzten Tage immer auf den Beinen gewesen, habe überall rumgehorcht - ein totgeborenes Kind! Hier aus dem Dorf machen auch über zwanzig Dumme mit, der Schulze Haase, der Schlauberger, vorneweg. Der zweite Schlauberger ist also mein Schwiegersohn ..."

"Papa, man müßte die Leute doch warnen!"

"I wo! Glaub einem alten Mann, Kind; jeder nimmt es dir übel, wenn du ihn seine Dummheiten nicht alleine machen läßt. Vielleicht gibt's ein bißchen Kämpfe - na schön! Sie können das Kämpfen ja immer noch nicht lassen, begreifen nicht, daß die Herren Clemenceau und Poincaré sich die Bäuche halten vor Lachen, daß wir uns hier gegenseitig totschlagen. Also, Evchen, sieh, daß du deinen Mann mit Schlauheit rumkriegst: reist auch ab! Wenn man hier ist, muß man irgendwie Stellung nehmen, man wird reingezogen in das Schlamassel. Fahrt lieber weg!"

"Er will doch mitmachen!" sagt sie leise.

"Na, Mädchen, muß ich dir noch erzählen, wie man einen Mann rumkriegt? Sag, du willst heute abend nach Frankfurt, bekomme meinethalben eine Blinddarmentzündung - nur weg!"

"Laß ihn doch, Papa!"

Der alte Herr schaut hoch. "I du Donner!" ruft er erstaunt. "Ist es nun soweit? Na, Evchen, verdammt lange hat es mit dir gedauert! Ich dachte immer, ich hätt 'ne kluge Tochter ..."

"Ach, Papa ..."

"Na, also schön, laß ihn mitmachen, laß meinethalben auch den Wagen hops gehen "... Er hält inne, erschrocken über seine eigene Großzügigkeit. "Nee, das ist ja nun wirklich nicht nötig. Du müßtest es irgendwie hinkriegen, Evchen, daß der Wagen morgen nicht fahren kann. Frag mal den Herrn von Studmann, der ist ja ein schlauer Hund."

"Ja, richtig, Papa, du fährst fort - wohin sollen wir denn morgen die Pacht bezahlen?"

"Ach, die Pacht! Habt ihr sie denn? Na, laß es, bis ich zurückkomme."

"Nein, Papa, das geht nicht. Herr von Studmann bringt das Geld heute nachmittag mit - wir können keine Entwertung riskieren."

"I du Donner!" ruft der alte Herr und sieht seine Tochter verdutzt an. "Ich hab doch nie gedacht, daß ihr das Geld morgen bereit habt - was mache ich nun?"

"Sag, an wen wir zahlen sollen, Papa. Ich lasse das Geld nicht über den ersten Oktober liegen."

"Und morgen ist der Putsch. Morgen kann die Mark fallen und fallen. Evchen, weißt du was, bezahl das Auto mit dem Geld."

"Nimmst du dann statt der Pacht das Auto, Papa? Das müßtest du mir aber schriftlich geben."

"I wo, wie wird denn das Auto vielleicht morgen schon aussehen?! In

Geldsachen hört die Verwandtschaft auf. Weißt du was, ich werde was dranwenden. Schick euern jungen Mann, Pagel heißt er ja wohl, mir nach in den Kaiserhof. - Ich zahle ihm die Fahrt, dritter natürlich, und auch 'ne Kleinigkeit für Spesen."

"Das geht auch nicht, Papa, ich will aus bestimmten Gründen, daß Achim dir das Geld selber gibt."

"Zum Donnerwetter!" ruft der alte Herr wütend. "Wäre ich doch einfach abgereist, ohne mit dir zu sprechen! Dann könntet ihr sehen, wie ihr euer Geld loswerdet. Dann muß mir also Achim nachreisen!"

"Das wird Achim nicht tun, Papa. Du weißt, was er morgen vorhat."

"Das muß er aber tun! Schulden bezahlen geht vor."

"Das wollen wir auch - aber hier!"

"Ach so, du möchtest, daß ich hierbleibe? Nee, mein Kind, dazu ist dein Vater zu schlau. Elias, komm mal her. - Hör zu, Elias, du kriegst heute abend oder morgen früh von meinem Schwiegersohn einen Haufen Papier, was sie heute Geld nennen, verstehst du?"

"Jawohl, Herr Geheimrat."

"Das tust du in meine alte braunlederne Reisetasche, und damit setzt du dich sofort auf die Bahn und fährst mit dem nächsten Zug zu mir ins Hotel Kaiserhof. Weißt du das noch, Elias?"

"Am Wilhelmplatz, Herr Geheimrat."

"Richtig, Elias. Keinem Menschen ein Wort sagen. Am Bahnhof Friedrichstraße kannst du dir eine Taxe nehmen. Aber daß du mir die Reisetasche nicht einen Augenblick losläßt!"

"Wie werd ich, Herr Geheimrat!"

"Elias, manche schneiden im Gedränge die Tasche ab, nachher kommste bloß mit 'nem Henkel im Kaiserhof an ...?"

"Ich komme mit der Tasche!"

"Na, Elias! Weißt du was, du tust 'nen Stein unten rein, daß du's am Gewicht spürst ..."

"Jawohl, Herr Geheimrat."

"Na schön. Ist nun alles in Ordnung, Evchen?"

"Nur noch die Pachtquittung, Papa!"

"Nun schlägt's aber dreizehn! So was von einer mißtrauischen Tochter! Ich kann dir doch die Quittung nicht geben, ehe ich nachgezählt habe, ob das Geld auch stimmt!"

"Und wir können Elias das Geld nicht ohne Quittung geben!"

"Hörste, Elias, die traut dir nicht! Wie oft hast du ihr den Schnuller in den Mund gesteckt, wenn sie in ihrem Wagen gebrüllt hat - und jetzt traut sie dir nicht! Also, Elias, ich schreib dir jetzt schnell eine Quittung aus. Da schreibst du genau die Summe rein, die du kriegst, Milliarden und Millionen - genau, Elias!"

"Gewiß, Herr Geheimrat!"

"Und dann die Uhrzeit, auf die Minute die Uhrzeit! Paß namentlich um zwölfe rum auf, wenn der Dollar wechselt. Warte, geht deine Bolle auch richtig?!"

Noch werden mit Genauigkeit die Uhrzeiten verglichen, Elias bekommt die Quittung. Vom Landauer ruft Frau von Teschow schon seit fünf Minuten: "Wir erreichen den Zug nicht, Horst-Heinz! - Eva, wie du deinen Vater so aufhalten kannst!"

Der Geheimrat schüttelt seiner Tochter die Hand, zögert einen Augenblick, küßt sie dann aber auf die Backe.

Frau von Prackwitz geht langsam zurück zum Hof, zur Villa. Leer, leer ... alles flieht von Neulohe, als sei es ein unheilbringender Ort.

4

Der Rittmeister von Prackwitz hatte den plötzlich auftretenden Erwerbssinn all jener, die nichts von Geschäften verstehen. Als der Schwager Egon in Birnbaum den Horchwagen zwar sehr bewundert, aber doch recht teuer gefunden hatte, war im Kopfe des Rittmeisters der Gedanke aufgetaucht, das wahr zu machen, was er seiner Frau vorgeschwindelt hatte: sich nämlich den Wagen von den Herren Putschisten in Ostade bezahlen zu lassen.

Mit einer überlegenen Miene hatte er seinem Schwager versichert, daß Wagen für rechte Schlauköpfe manchmal nicht das kosteten, was sie kosteten. Also fast gar nichts, also rein gar nichts - und mit Andeutungen, Zwinkern, vertraulichen Mitteilungen hatte er es dahin gebracht, daß auch im Kopf seines Schwagers eine Verbindung zwischen dem neuen Auto und dem bevorstehenden Putsch entstanden war. Von dem Putsch hatte Egon natürlich auch schon gehört. Von dem Putsch schienen alle längst gehört zu haben, der Rittmeister jedenfalls am spätesten. Den Putsch schien der Schwager nicht sehr hoffnungsvoll zu beurteilen. Aber als echter Sohn seines Vaters meinte der junge Teschow, daß keine Unternehmung ganz schlecht sein könne, die ein solches Auto abwürfe.

Als der Rittmeister dann sehr aufgekratzt nach Haus fuhr, die nicht minder aufgekratzte Weio an seiner Seite, war er schon fest davon überzeugt, daß die Reichswehr verpflichtet sei, ihm den Wagen zu bezahlen. Wie kam dieser kleine Major dazu, ihm das Antreten mit einem Wagen zu befehlen?! Sein Blut konnte das Vaterland jederzeit von ihm verlangen, mit seinem Gut mußte er haushälterischer umgehen. Und da von den Unkenrufen Evas und des Schwagers doch einiges in seinen Ohren haftengeblieben war, so beschloß der Rittmeister, gleich morgen, noch vor dem Putsch, einmal nach Ostade zufahren, den Kameraden von der Reichswehr auf den Zahn zu fühlen und eine kleine Abschlagszahlung herauszuschinden. Am zweiten Oktober sehr pünktlich würde die Anzahlung auf den Wagen eingefordert werden; der Rittmeister hatte nicht die geringste Vorstellung, woher er das Geld nehmen sollte. Aber es war auch überflüssig, sich darum Gedanken zu machen. Morgen in Ostade würde man schon sehen!

Er wandte sich zur Seite und erkundigte sich bei seiner vergnügt vor sich hin summenden Tochter, wie sie über eine Fahrt nach Ostade denken würde.

Violet war natürlich begeistert. Sie warf sich ihrem Vater an den Hals und küßte ihn mit solcher Wärme ab, daß der Rittmeister beinahe ein bißchen bedenklich wurde. Aber es war wohl nur der Alkohol, die lockende Autofahrt, die nun endlich überstandenen langen, eintönigen Wochen des Stubenarrestes!

Trotzdem hatte der Rittmeister einen Augenblick lang die richtige Witterung gehabt: nicht der Vater, der Geliebte war geküßt worden. Was galt das neue Auto, was die Fahrt - Ostade bedeutete den Leutnant. Es war unmöglich, nach Ostade zu fahren und den Leutnant nicht zu sehen!

Nur der Gedanke an die Mutter machte Violet einige Sorgen, darum fragte sie sehr vorsichtig: "Und die Mama?"

Richtig war der Vater sofort leicht verärgert. "Deine Mama ist nicht für diese militärischen Unternehmungen. Am besten behelligen wir sie nicht damit. Am schönsten ist es doch, wir machen unsere Sache richtig und überraschen sie nachher mit dem Erfolg."

"Aber vielleicht möchte Mama gerne mitfahren?" Violet war sehr ängstlich, die Mama konnte sie bei ihrem Wiedersehen mit dem Leutnant bestimmt nicht gebrauchen. "Oder sie erlaubt nicht, daß ich mitfahre?"

"Wenn ich es dir erlaube, Violet!"

Es klang sehr nach dem Herrn im Hause, im Innern war der Rittmeister sich seines Bestimmungsrechts über die Tochter nicht ganz so sicher. Er

verstand nicht viel von Mädchen; die Art, wie Violet ihn eben abgeküßt hatte, war direkt beängstigend gewesen. Aber wahrscheinlich verstand Eva ebensowenig davon. Der wegen nichts und wieder nichts verhängte Stubenarrest war eine rechte Blamage gewesen. Gottlob war Violet nicht nachtragend. Doch hätte Eva gut in der letzten Zeit - zur Entschädigung - etwas netter zu ihr sein können! Nein, Violet hatte diesen Ausflug nach Ostade regelrecht verdient -!

"Ich werde heute abend noch mit Mama sprechen. Aber wie gesagt, sie wird nicht mitfahren mögen. Sei zeitig unten. Um sieben trinken wir Kaffee, und um halb acht fahren wir. - Und sei leise auf der Treppe - du weißt, deine Mutter schläft gern lange."

Wieder ein Stich, wenn es auch besorgt klang. Ganz wohl war dem Rittmeister nicht dabei, wie er die Stellung der Mutter bei der Tochter untergrub. Aber Eva wollte es ja leider nicht anders! Wenn sie ihn wie einen Narren behandelte, in ein Sanatorium schickte, von der Verwaltung des Gutes ausschloß, so hatte er noch das Recht, seiner Tochter zu zeigen, was für ein Mann er war und daß die Mutter auch ihre kleinen Schwächen hatte! Er ging doch wahrhaftig mit aller Diskretion vor!

Dann war der Streit am Abend gekommen, Frau Eva war nicht aufgefordert, ja nicht einmal benachrichtigt worden. Dies wurde vergessen. Nicht vergessen wurde die Verabredung zwischen Vater und Tochter, nicht vergessen wurde das Leisesein. Weio war am zeitigsten aufgewesen, wie eine Katze war sie leichtfüßig die Treppe hinabgeschlichen.

Im Speisezimmer hatte sie den Diener Räder beim Anrichten des Frühstückstisches getroffen. Was war natürlicher, als daß sie ihn endlich zur Rede stellte?! Sie war ihm lange Zeit aus dem Wege gegangen, er war ihr so unheimlich geworden. Sie war froh gewesen, wenn sie kein Wort mit ihm reden mußte, sie hatte nie mehr vergessen, die Tür ihres Zimmers abzuschließen, tags wie nachts. Ihre Liebesgeschichte mit dem Leutnant war so aussichtslos gewesen, selbst sie mußte sich eingestehen, daß er sie aufgegeben hatte. Nicht ihretwegen, aber die Sache mit dem Brief, den der kleine Meier aufgefangen hatte, hatte ihn so verärgert!

Doch nun war alles anders geworden, sie fuhr mit dem Vater nach Ostade, heute vormittag noch würde sie ihren Fritz wiedersehen! Er stand vor großen Ereignissen, seine Sache würde siegen. Morgen schon würde er kein heimlicher Verschwörer mehr sein, der sich vor jedermann verstecken mußte. Morgen würde er ein großer Mann sein, der Vater hatte es auch gesagt, ein Held, der sich offen zu seiner Liebe, zu ihr

bekennen konnte! Dann durfte es keine Heimlichkeiten mehr geben, nichts, was sie ihm verbergen mußte - dann durfte es auch keinen Diener Räder mehr geben, der etwas von ihr wußte!

Sie verlangte ihren Brief zurück.

Er wußte von keinem Brief.

Sie sagte, sofort erregt, er solle nicht so gemein sein!

Er antwortete, er sei eben nur ein gemeiner Diener, kein feiner Leutnant.

Sie erklärte, sie fahre nach Ostade zu ihm, und sie würde ihn herschicken, er würde was erleben -!

Der Diener Räder sah sie bloß an, mit seinen trüben, toten Augen, sie erschauerte. Zu spät sah sie ein, daß sie es falsch angefangen hatte. Zu spät fing sie an zu betteln, sie machte ihm Angebote, sie versprach ihm Geld, ja, sie versprach ihm sogar die Stelle des alten Elias auf dem Schloß. Sie würde es bei den Großeltern durchsetzen!

Er lächelte bloß.

Sie dachte lange nach, sie war blaß geworden, sie mußte den Brief zurückhaben. Sie wußte, ein zweites Mal würde ihr Fritz solchen Leichtsinn nicht verzeihen. Mit halblauter Stimme, stockend, versprach sie, ihm noch einmal das zu erlauben, was er damals ... er wisse es schon ... auf ihrem Zimmer ... Sie gab ihm ihr Ehrenwort, aber den Brief müsse er ihr sofort aushändigen ...

Sie kam weiter als ihre Mutter. Sie sah ihn schwankend werden. Die Erinnerung an jene dunkle Stunde, an den höchsten Genuß seines Lebens stieg in seine dürren Wangen und zirkelte kreisrunde rote Flecken auf den Backenknochen ab. Er schluckte.

Dann besann er sich. Er hatte lange nachgedacht, Wochen und Wochen. Er hatte einen bestimmten Plan, in dem dieser Brief eine bestimmte Rolle spielen sollte. Violet genügte nicht, Violet allein war gar nichts, bloß ein Weib, ein bißchen ansehnlicher als die Armgard - nein, der Leutnant gehörte dazu. Die Schmerzen um den Leutnant gehörten dazu, ihre Liebe zu diesem Burschen, ihr Ekel vor ihm, dem Diener.

Er fragte: "Gnädiges Fräulein fahren heute nach Ostade?"

Sie war schon siegessicher. "Sie hören es doch, Hubert! Gleich geht es los. Holen Sie den Brief nur schnell - ehe Papa runterkommt!"

"Wenn gnädiges Fräulein heute nicht nach Ostade fahren und mir heute abend erlauben, was Sie mir versprochen haben, dann will ich heute abend den Brief hergeben."

Sie hätte ihm beinahe ins Gesicht gelacht. Seinetwegen auf eine Fahrt nach Ostade zum Leutnant verzichten! Er war ja ein Idiot! Dann übermannte sie der Zorn: "Wenn Sie mir nicht gleich den Brief geben, erzähle ich alles Papa, und dann fliegen Sie raus und kriegen nie wieder eine Stellung im Leben -!"

"Wie gnädiges Fräulein wünschen", sagte er ganz unerschüttert.

Dann war der Rittmeister dazugekommen. Seinem Diener hätte er nie etwas angemerkt, der war leblos wie ein Stock Holz, ganz wie immer. Aber Violet kochte. Keine drei Minuten, so kochte sie über. Vielleicht hatte Räder das sogar gewollt. Mit unbewegtem Gesicht hatte er dem gnädigen Fräulein Schmalz gereicht, wenn sie die Butter wünschte, und Zucker statt Salz. In Tränen ausbrechend, hatte Violet gerufen, sie halte es nicht mehr aus, wenn ihr Vater diesen elenden Kerl nicht auf der Stelle rausschmeiße! Seit Tagen und Wochen peinige und reize er sie! Einen Brief habe er ihr unterschlagen ...

Unbewegt, fischig bot der Diener Räder dem Rittmeister die Platte mit den Spiegeleiern an. Der Rittmeister, der nach einer sehr schlecht verbrachten Nacht schon recht verdrossen heruntergekommen war, erzürnte sich sofort. Mit der Gabel schlug er heftig gegen den Rand der Eierpfanne und schrie seine Tochter an, was denn das für ein Brief sei?! Was sie in aller Welt denn für Briefe zu schreiben habe, etwa gar an den Herrn Diener?!

Er fuhr herum und funkelte den Diener drohend an. Der Diener servierte weiter.

Violet gab eine fliegende, unzusammenhängende Erklärung. Sie habe das Waffenlager durch die Geschwätzigkeit des Försters bedroht geglaubt. Sie habe dem Leutnant ein paar warnende Zeilen durch den Diener Räder schicken wollen. Und dieser Kerl habe den Brief unterschlagen, er verweigere die Rückgabe ...

Der Rittmeister stand entflammt. Er schrie den Diener an: "Sie haben einen militärischen Brief meiner Tochter unterschlagen! Sie haben das Waffenlager in der Hand -!"

Hubert setzte die Platte mit den Spiegeleiern aus der Hand auf die Anrichte. Er sah den Rittmeister kalt an: Nichts reizt den Zorn mehr als die Gelassenheit des andern. Er sagte: "Verzeihen, Herr Rittmeister, aber es sind ungesetzliche Waffenlager ..."

Der Rittmeister faßte seinen Diener an den Aufschlägen des dunkelgrauen Rockes und schüttelte ihn. Hubert ließ sich widerstandslos schütteln. Der Rittmeister schrie, aber Hubert schrie nicht

dagegen.(Wenn das Mädchen Armgard später behauptete, der Diener habe dem Rittmeister gedroht, so war das eine Lüge. Aber Armgard hatte den hochnäsigen Räder ja nie ausstehen können.)

Der Rittmeister schrie: "Verräter gehören an die Wand!" Im Augenblick darauf sagte er: "Wenn Sie den Brief aushändigen, soll dies verziehen und vergessen sein."

Violet rief: "Wirf ihn doch raus, Papa!"

Der Rittmeister ließ den Diener los und sagte finster: "Haben Sie noch etwas zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen? Sonst sind Sie auf der Stelle entlassen!"

Violet erzitterte. Sie wußte: Hubert brauchte nur den Mund aufzutun, er brauchte dem Vater nur einiges zu erzählen, und sie war verloren. Aber sie hatte es gewagt, aus einem Gefühl heraus, daß Hubert nicht reden würde, daß er gar kein Interesse daran hatte, dem Vater ihre Geheimnisse zu erzählen.

Und sie behielt recht.

Hubert sagte nur: "Ich bin also auf der Stelle entlassen."

Er sah sich noch einmal im Speisezimmer um. Er legte seine Serviette, die er während des ganzen Streites unter dem Arm gehalten hatte, auf die Anrichte. Er entdeckte die Spiegeleier. Kühl fragte er: "Darf ich die Eier noch einmal warm setzen lassen?"

Er bekam keine Antwort.

Er ging zu der Tür, er machte eine kleine Verbeugung, er sagte unerschütterlich: "Wünsche noch angenehme Fahrt, Herr Rittmeister!"

Er ging. Ohne einen Blick auf Violet.

Der Rittmeister aß gedankenvoll weiter. Zorn verschlug ihm nicht den Appetit, er förderte ihn. Gedankenvoll sah er seine Tochter an. Dann trank er zwei Kognaks und stieg in den Wagen. Er sagte nur: "Also nach Ostade, Finger" - und schwieg weiter.

Es war nach der Veranlagung des Rittmeisters unvermeidlich, daß nach der Periode des Handelns die Periode des Nachdenkens über seine Handlungen kam. Der Rittmeister hatte seinen Diener hinausgeworfen, er fing jetzt an, darüber nachzudenken, warum er ihn eigentlich hinausgeworfen hatte. Es war gar nicht so leicht, Klarheit in diese Sache zu bekommen. Vieles schien hinterher ziemlich unverständlich zu sein, was ihm in seinem Zorn verständlich erschienen war. War dieser Kerl einfach frech geworden? Natürlich war er frech geworden, der Rittmeister entsann sich dessen genau. Aber wieso war er frech geworden? Was hatte er eigentlich gesagt -?

Violet saß schweigend neben ihrem Vater. Sie hütete sich, sein Nachdenken jetzt mit einer jener jungmädchenhaften Dalbereien zu unterbrechen, die sie sonst für ihn bereithielt und die ihn stets in die beste Laune versetzten. Ein Kind kennt die Fehler seiner Eltern besser als die Eltern die Fehler ihrer Kinder. Ein Kind sieht erbarmungslos scharf, nicht Liebe, nicht Sympathie bestechen sein Auge auf den ersten Entdeckungsreisen in die neue Welt. Violet sah, ihr Vater dachte über sie nach. Jedes ablenkende Wort würde ihn jetzt nur argwöhnisch machen. Sie mußte warten, bis er anfing zu sprechen, zu fragen. Der Papa gehörte zu den Leuten, die von einer Frage mühelos auf die andere geraten und darüber ihr ursprüngliches Ziel völlig aus den Augen verlieren.

Zudem hatte Violet noch etwas anderes getan; sie war auf den Gedanken gekommen, als sie ihren Vater die beiden Kognaks trinken sah. Sie hatte am Nachmittag vorher beim Onkel eine ganze Menge Likör getrunken, sie wußte nicht einmal, wieviel, auch der Vater hatte keine Ahnung davon gehabt. Dieser Likör hatte ihr gutgetan, er hatte ihr Mut gemacht, der Mutter zu trotzen, was sie sonst nie gewagt haben würde. Er hatte sie mit Kampfgeist und guter Laune erfüllt. - Als der Vater vom Frühstückstisch ging, seinen Mantel anzuziehen, hatte sie sich schnell, mit vorsichtigem Umblicken nach der Tür, in das Glas ihres Vater auch einen Kognak geschenkt. Sie hatte das Glas randvoll gegossen, dann hatte sie es ohne abzusetzen ausgetrunken. Und fast ohne nachzudenken hatte sie wie der Vater ein zweites Glas dem ersten folgen lassen.

Nun saß sie behaglich in eine Ecke des Wagens geschmiegt. Sie war warm zugedeckt, langsam glitt an den Fenstern die Landschaft vorüber: endlose Felderbreiten, verlassen oder mit den wenigen, in der Weite verlorenen Pflügergespannen; Kartoffelschläge, hügelan, in den Himmel hinein, mit dem nassen, unansehnlich gewordenen, fast abgewelkten Kraut; die langen Ketten der Kartoffelbuddler, die, auf den Knien rutschend, die dreizinkige Hacke in der Hand, einen Augenblick den Kopf hoben und dem vorübereilenden Wagen nachsahen. Schließlich die fast endlosen Waldungen, in denen die Bäume oft so eng an den Weg traten, daß ein Zweig klatschend die Scheiben des Wagens streifte. Man schreckte zurück, lachte über den eigenen Schreck und sah die Scheibe betaut mit vielen kleinen Wassertropfen, die der Zweig auf ihr zurückgelassen hatte, die der Fahrtwind so rasch trocknete.

Die Landwege, diese vom Regen aufgeweichten, von den Kartoffelfuhren zerfahrenen Nebenstraßen, auf denen man von Neulohe Ostade erreichte, waren schlecht, der starke Wagen konnte seine

Schnelligkeit nicht beweisen. Mit einem Tempo, das kaum an dreißig Stundenkilometer heranreichte, führte ihn der Chauffeur Finger achtsam über die Schlaglöcher und durch die Pfützen ländlicher Straßenbaukunst. Aber trotz dieses langsamen Tempos erzeugte das tiefe Brummen des Motors, das elastische Abfedern des Wagens, das mühelose Gleiten ein Gefühl wohliger, ruhiger Kraft in Violet. Es war, als übertrage der Motor einen Teil seiner ungenützten Stärke auf sie, in sie. Noch erhöht wurde dieses Gefühl durch den Alkohol, der sich langsam in dem ruhigen Körper auszubreiten schien, zuerst als Wärme, dann in der Gestalt vieler Bilder, die, kaum angedeutet, schon wieder vergingen und doch etwas wie Fröhlichkeit in ihr zurückließen.

Der junge Körper hatte das Gift gierig in sich eingetrunken. Geschmack und Gaumen hatten sich gewehrt gegen den Geruch des Alkohols, beim hastigen Hinuntertrinken hatte sie sich am ganzen Leibe geschüttelt - aber was der Zunge nicht gemundet hatte, das hatte einer anderen Instanz in ihr um so mehr zugesagt, sei es nun ihrem Hirn, sei es einem noch geheimnisvolleren Zentrum, das oft gegen unsern Willen entscheidet, was wir zu hassen, was wir zu lieben haben. Weio wäre jetzt gerne stumm an der Seite ihres Vaters weiter bis Ostade, bis zu "ihm" gefahren, wenn sie auch die kommende Auseinandersetzung nicht mehr fürchtete. So wie sie jetzt dahinfuhr, war sie vollkommen glücklich: sie ruhte in sich!

Schließlich war es dann natürlich soweit; grade in einem Moment, da Violet besonders angenehmen Gedanken über die Wiedervereinigung mit ihrem Leutnant nachhing, hob der Rittmeister den Kopf und fragte ziemlich mißmutig: "Wieso kennst du eigentlich diesen Leutnant?"

"Aber, Papa", rief Violet vorwurfsvoll, "den kennen doch alle!"

"Alle? Ich kenne ihn nicht!" widersprach der Rittmeister recht gereizt.

"Aber, Papa, du hast ihn mir doch gestern erst so gelobt!"

"Na ja!" Der Rittmeister war etwas betroffen. "Aber ich kenne ihn nicht - was wir kennen nennen. Er ist mir nicht einmal vorgestellt. Ich weiß auch seinen Namen nicht ..."

"Ich auch nicht, Papa!"

"Was? Unsinn! Schwindle nicht, Violet!"

"Aber wenn ich es dir sage, Papa! Mein Ehrenwort! Im ganzen Dorf heißt er nur der Leutnant Fritz, Papa. Das hat dir doch auch der Förster gesagt."

"Mir hast du nichts davon gesagt! Du hast kein Vertrauen zu mir, Violet!"

"Aber ja, Papa! Ich sage dir doch alles!"

"Nicht dies vom Putsch und vom Leutnant."

"Du warst doch verreist, Papa!"

"Kam er denn nicht schon früher?"

"Aber nein, Papa! Erst die letzten Wochen."

"Dann ist er nicht der Mann gewesen, der mit dir und Hubert nachts über den Hof gegangen ist?"

"Das war doch der Förster Kniebusch, Papa! Das habe ich euch schon hundertmal gesagt."

"Mama hat dir also unrecht getan -?"

"Aber ja, Papa!"

"Ich habe es der Mama immer gesagt!"

Der Rittmeister versinkt wieder in Schweigen. Aber dieses Schweigen ist schon nicht mehr so düster wie das vorhergegangene. Der Herr von Prackwitz hat das Gefühl, die Angelegenheit schon sehr befriedigend aufgeklärt zu haben. Was ihm aber vor allem guttut, ist, daß er wieder einmal seiner Frau gegenüber recht behalten hat! Da er sich ihr unterlegen fühlt, und jetzt ganz besonders, muß er sich immer wieder beweisen, daß er ihr überlegen ist. Der einzige Gedanke, der ihn in seiner Zufriedenheit noch stört, ist, daß Violet den Warnungsbrief an den Leutnant hinter seinem Rücken hat abschicken wollen. Das beweist, daß sie entweder kein Vertrauen zu ihm hat oder daß sie doch in geheimnisvollen Beziehungen zu diesem Leutnant steht.

Plötzlich überfällt ihn siedend heiß der Gedanke, daß Violet ihn doch belogen hat! Wie sie den Leutnant am Waffenlager gesehen hat, da haben die beiden so getan, als kennten sie einander nicht. Ja, der Leutnant ist direkt unhöflich gegen Violet geworden. Und doch hat ihm Weio einen Brief geschrieben! Sie haben ihn also täuschen wollen. Oder die beiden haben sich wirklich erst später kennengelernt - warum hat ihm dann Weio ihre Mahnung wegen des Försters nicht mündlich gesagt?

Es ist für den Rittmeister ein reichlich schwieriger Fall, eine wahnsinnig komplizierte Geschichte, er muß sehr intensiv nachdenken, sehr schlau sein, um hinter diese Sache zu kommen.

"Du, Weio?" fragt er mit unmutig gerunzelter Stirn.

"Ja, Papa?" Sie ist die Bereitwilligkeit selbst.

"Als wir den Leutnant bei dem Waffenlager trafen, kanntest du ihn da schon?"

"Natürlich nicht, Papa, sonst wäre er doch nicht so zu mir gewesen!"

Aber Violet spürt die Gefahr, sie ist nicht dafür, daß der Vater diesen Gedankengang zu sehr verfolgt. So geht sie zum Gegenangriff vor. "Hör mal, Papa", sagt sie energisch. "Ich glaube, du denkst wie die Mama, ich habe Männergeschichten."

"I wo!" antwortet der Rittmeister hastig. Die Zauberworte "wie die Mama" haben sofort seine Abwehr ausgelöst. Nun denkt er nach und fragt dann argwöhnisch: "Was weißt du von Männergeschichten, Violet?"

"Na, knutschen und so, Papa", sagt Violet mit jenem mädchenhaften Trotz, der ihr grade richtig erscheint.

"Knutschen ist ein widerliches Wort!" ruft der Rittmeister empört. "Von wem hörst du so was?"

"Von den Mädchen, Papa. Das sagen doch alle!"

"Unsere Mädchen auch? Armgard? Lotte?"

"Sicher, Papa, alle sagen so. Aber ich kann es nicht beschwören, daß ich es grade von Armgard oder Lotte gehört habe."

"Ich schmeiße sie raus!" murmelt der Rittmeister bei sich. Dies ist nun eben seine Art, die unangenehmen Dinge des Daseins aus der Welt zu schaffen.

Violet hat es nicht gehört. Sie ist sehr zufrieden mit dem Weg, den diese Vernehmung nimmt. Also lacht sie und erzählt: "Neulich habe ich gehört, Papa, wie ein Mädchen zum andern im Dorf gesagt hat: ›Bist du denn zum Tanzen oder zum Knutschen in den Krug gekommen?!‹ - Ich habe ja so lachen müssen, Papa!"

"Daran ist gar nichts Lächerliches, Weio!" ruft der Rittmeister empört. "So was ist einfach ekelhaft! Ich wünsche, nichts Derartiges mehr zu hören, und ich wünsche auch nicht, daß du dir je etwas Derartiges anhörst! Knutschen ist ein ganz gemeines Wort!"

"Ist es denn nicht dasselbe wie küssen, Papa?" fragt Violet sehr erstaunt.

"Violet!!" brüllt der Rittmeister fast.

Der Klang seines Zornschreis muß den Chauffeur durch die Glasscheibe hindurch erreicht haben: Er dreht sich um und macht ein fragendes Gesicht. Herr von Prackwitz zeigt ihm mit zorniger Gebärde, daß er weiterfahren soll, daß ihn die Sache nichts angeht. Der Chauffeur versteht nicht, er zieht die Bremsen, hält, öffnet die Glasscheibe und fragt: "Wie bitte? Ich hatte nicht ganz verstanden, Herr Rittmeister."

"Weiterfahren sollen Sie, Mensch!" ruft der Rittmeister ärgerlich. "Immer weiterfahren."

"Jawohl, Herr Rittmeister", antwortet der Chauffeur höflich. "In zwanzig Minuten werden wir wohl in Ostade sein."

"Also los!" sagt der Rittmeister noch einmal.

Die Glasscheibe wird wieder zugeschoben, der Wagen fährt an.

Nun erst schilt der Rittmeister zu der geschlossenen Glasscheibe ärgerlich: "Trottel!" Und dann sanfter zu seiner Tochter: "Für viele Dinge gibt es eine anständige und eine unanständige Bezeichnung. Du sagst auch nicht: ich fresse, sondern du ißt. So sagt ein anständiger Mensch nicht für küssen jenes andere unanständige Wort ..."

Violet dachte einen Augenblick nach. Dann sagte sie, ihren Vater vergnügt anfunkelnd: "Ich versteh, Papa. Das ist so: Wenn du guter Laune bist, sagst du Scheibenhonig, und wenn du schlechter Laune bist, sagst du das Wort, das ich nie sagen darf, nicht wahr, Papa?"

Der Rittmeister sprach bis Ostade kein Wort mehr. Violet wurde keiner Anrede mehr gewürdigt, sie war sehr zufrieden.

Nun fuhren sie schon längs der Oder. Etwas auflebend, gab der Rittmeister dem Chauffeur die Weisung, vor dem "Goldenen Hut" am Alten Markt zu halten. Im "Goldenen Hut" verkehrten die Offiziere. Man saß dort am Vormittag, las Zeitungen, trank ein Glas Sherry oder Portwein, die Pioniere begrüßten die Kameraden von der Artillerie, die Jünger der heiligen Barbara erfuhren das Neueste aus der Pionierkaserne -: es war, außerhalb des Kasinos, ein neutraler Boden. Der Großgrundbesitz verkehrte natürlich auch im "Goldenen Hut".

Der Rittmeister sorgte dafür, daß das neue Auto nicht auf den Hof fuhr, sondern vor dem Hotel halten blieb.

"Wir fahren doch gleich weiter", sprach er zum Chauffeur Finger.

Aber er hatte keineswegs die Absicht, gleich weiterzufahren; er wollte, daß der Glanz des neuen Wagens jeden Ankömmling sofort begrüßte.

In der Gaststube war keiner, wenigstens keiner, der in Frage kam für den Rittmeister. Bloß ein paar Zivilisten. Obwohl der Rittmeister selber Zivil trug, rechnete er sich nicht zu den Zivilisten.

Es war kurz nach elf Uhr. Um diese Zeit, vielleicht auch erst um halb zwölf, pflegten die Offiziere zu kommen. Der Rittmeister sammelte alle illustrierten Zeitschriften, alle Witzblätter um sich. Eine Unterhaltung mit seiner Tochter kam nicht in Frage, sie hatte ihn zu schwer gekränkt. Für sich bestellte er ein Glas Portwein, für Violet bestellte er eine Tasse Fleischbrühe - und versenkte sich in den Lesestoff.

Es war absolut ekelhaft, daß dieses Mädchen ihm nun auch wieder den heutigen Tag verdorben hatte. Man konnte in Neulohe seines Lebens

einfach nicht froh werden! Der Rittmeister erwog drei Minuten lang ernstlich den Gedanken, Neulohe aufzugeben und wieder zum Militär zurückzukehren. Er brauchte nur diesen Putsch abzuwarten, und alle Möglichkeiten standen ihm offen! Beruhigt, daß er erst übermorgen seine Entscheidung werde treffen müssen, vertiefte der Rittmeister sich in den "Kladderadatsch" und die neuesten Ausfälle gegen die Regierung.

Violet saß so, daß sie aus dem Fenster auf den Marktplatz sehen konnte. Für eine Stadt, die morgen einen großen Putsch zu erwarten hatte, der die Verfassung und Regierung eines Sechzigmillionenvolkes völlig ändern würde, sah der Marktplatz überraschend friedlich aus. Ein paar Bauernwagen mit Kartoffeln oder Kohl waren aufgefahren, ein paar Frauen gingen mit ihren Marktaschen ab und zu - nichts Auffälliges, nichts Verändertes, vor allem aber keine Uniformen.

"Du, Papa, man sieht ja heute überhaupt keine Uniformen", rief Violet.

"Die haben heute etwas anderes zu tun, als spazierenzulaufen", antwortete der Rittmeister scharf. "Im übrigen lese ich."

Doch ließ er nach wenigen Augenblicken seine Zeitung sinken und sah ebenfalls auf den Platz hinaus. Mit einem Blick auf die Uhr rief er den Kellner: "Wo bleiben die Herren Offiziere -?"

"Sie müßten schon hier sein", antwortete der Kellner, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte.

Von dieser klaren Auskunft vollkommen befriedigt, bestellte der Rittmeister ein zweites Glas Portwein. Violet bat auch um eines, aber der Rittmeister sprach drohend: "Bleib du bei deiner Fleischbrühe!"

Leise lächelnd ging der Kellner.

Violet fühlte sich infam blamiert. Nie wieder konnte sie in den "Goldenen Hut" kommen. Papa war direkt gemein. Mit flimmernden Augen starrte sie auf den Platz. Im Auto saß der Chauffeur Finger, sie fragte: "Wo willst du denn eigentlich noch hinfahren, Papa?"

Der Rittmeister fuhr zusammen: "Ich -? Gar nicht will ich hinfahren! Wieso -?"

"Du hast doch dem Chauffeur gesagt, wir fahren gleich weiter, Papa!"

"Kümmere dich bitte um deine Angelegenheiten!" sagte der Rittmeister gereizt. "Im übrigen ist Alkohol am Vormittag nichts für junge Mädchen."

Er verstummte. Violet blieb auch stumm. Eine lange Weile starrten beide auf den Marktplatz. Aber nichts geschah. Schließlich blieb dem Rittmeister nichts anderes übrig, als sich ein drittes Glas Portwein zu bestellen. Er fragte den Kellner sehr ärgerlich, wo denn eigentlich die

Herren Offiziere blieben?!

Der Kellner bedauerte außerordentlich, er konnte es sich auch nicht erklären!

Trostlos, immer gereizter starrten die beiden aus dem Fenster. Die Zivilisten hatten sich die Zeitschriften längst wiedererobert, nur den "Kladderadatsch" hielt der Rittmeister noch in der Hand. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick hinein, aber er fand die Witze albern: Diese Situation war wirklich nicht zum Witzemachen! Was in aller Welt sollte er hier den ganzen Tag in diesem langweiligen Ostade anfangen, wenn sich die Offiziere nicht sehen ließen! Das Mittagessen zu Haus war nun schon abbestellt, außerdem hatte er nicht die geringste Lust, jetzt schon nach Haus zu fahren! Er hörte am Abend früh genug, was seine Frau zu der Entlassung Huberts zu sagen hatte -! Am liebsten wäre er mal zu einer der beiden Kasernen gefahren und hätte sich erkundigt. Aber er hat ja leider gerade eben Violet gesagt, daß er nicht daran denkt, weiterzufahren!

Eine Bewegung seiner Tochter läßt ihn aufmerken. Sie starrt so vergessen, so hingegeben nach der Tür des Gastzimmers, daß der Rittmeister all seine guten Formen vergißt, sich auf dem Stuhle umdreht und auch starrt.

In der Tür steht ein junger Mann in grauen Knickerbockern und gelbgrüner Windjacke. Er sieht musternd in das Lokal, dann nach dem Büfett zum Kellner. Der Mann sieht so verändert aus in seinem Räuberzivil, daß der Rittmeister eine ganze Weile braucht, bis er ihn wiedererkennt. Dann springt er aber hoch, eilt auf den jungen Mann zu und begrüßt ihn in seiner Freude über diese Abwechslung sehr eifrig: "Guten Morgen, Herr Leutnant, Sie sehen, ich bin schon heute zur Stelle ..."

Der junge Mann ruft scharf zu dem Kellner hinüber: "Ober, zwanzig Zigaretten!"

Er sieht den Rittmeister kühl an und entschließt sich dann, sehr zurückhaltend "Guten Morgen" zu sagen.

"Aber Sie erinnern sich doch!" ruft der Rittmeister, sehr erstaunt über diesen Empfang. "Rittmeister von Prackwitz. Wir trafen uns gestern im D-Zug. Der Herr Major", er flüstert den Namen nur, "Rückert. Sie ... Ich "... Lauter: "Ich habe den Wagen schon gekauft. Ein ziemlich guter Wagen. Horch. Sicher haben Sie ihn vor der Tür stehen sehen ..."

"Ja, ja", flüstert der Leutnant zerstreut. Der Kellner ist herangetreten, der Leutnant nimmt seine Zigaretten in Empfang, gibt einen Schein,

dankt für das Wechselgeld und fragt: "Die Herren noch nicht da?"

Der Kellner sagt seine zwei Sätze: "Sie müßten längst hier sein, ich verstehe es auch nicht."

"So", sagt der Leutnant bloß, aber selbst der Rittmeister spürt, daß dies für den andern keine gute Nachricht ist.

Der Kellner ist gegangen, die beiden Herren sehen sich einen Augenblick schweigend an.

Der Leutnant entschließt sich: "Entschuldigen Sie mich bitte, ich bin sehr beschäftigt ..."

Er sagt es ganz gedankenlos, er geht nun nicht etwa, er bleibt stehen und sieht den Rittmeister an, als erwarte er etwas von ihm.

Der Rittmeister ist sehr gekränkt, daß seine Nachricht von dem Autokauf so wenig Eindruck gemacht hat. Trotzdem will er den Leutnant nicht gehen lassen. Der ist jetzt der einzige Mensch, mit dem er reden, von dem er etwas erfahren, dem er etwas erzählen kann. Er sagt: "Wenn Sie einen Augenblick an meinem Tisch Platz nehmen wollten, Herr Leutnant? Ich hätte Ihnen etwas zu sagen ..."

Der Leutnant ist sichtlich tief in Gedanken. Er bewegt die Hand, er sagt abwehrend: "Ich bin wirklich sehr beschäftigt."

Aber als der Rittmeister eine einladende Bewegung mit der Hand macht, geht er mit ihm zu dem Tisch. Kein Auge hat die ganze Zeit Violet von ihm gelassen.

"Meine Tochter kennen Sie ja wohl, Herr "... Der Rittmeister lacht verlegen. "Nun habe ich doch Ihren Namen vergessen, Herr Leutnant!"

Der Leutnant ist unter Violets Blick etwas wacher geworden. Sie sieht ihn so flehend, so liebevoll an, daß sofort stärkste Abwehr sich in ihm regt. Sie hat wahrhaftig noch immer nicht verstanden, daß sie für mich erledigt ist! Bei der muß man auch erst grob werden!

"Meier", stellt er sich vor. "Meier! Meier ist ein sehr angenehmer, ein sehr brauchbarer Name, nicht wahr?"

Er sieht ihren Blick, diesen Blick, der um Gnade und Verzeihung förmlich bettelt.

Noch schärfer sagt er: "Nein, ich glaube nicht, daß ich das gnädige Fräulein kenne. Oder doch -?"

"Doch - in Neulohe "..., flüstert Violet, zusammenschreckend unter diesem grausamen Blick und Wort.

"In Neulohe? Ach so! Haben wir uns da schon gesehen? Verzeihung, gnädiges Fräulein, ich wenigstens erinnere mich nicht mehr."

Und zum Rittmeister, der ganz verständnislos diese rätselhafte Szene anstarrt, denn das spürt er ja doch, daß seine Tochter im Innersten erschüttert, aufgeregt, verzweifelt ist: "Nein, für mich bitte nichts zu bestellen. Ich muß sofort weiter. Sie hatten mir etwas zu sagen, Herr Rittmeister?"

"Ich weiß doch nicht "..., zögerte der Rittmeister.

Mit einem weißen, sehr stillen Gesicht saß seine Violet am Tisch.

Der Leutnant schlug ein Bein über das andere, er trug eine infame, gelangweilte Miene zur Schau, als wüßte er schon, was nun kommen würde. Jetzt brannte er sich eine Zigarette an und sagte überlegen: "Wenn Sie es nicht wissen, Herr - Herr - der Name, entschuldigen Sie, ist mir entfallen"(rachsüchtiger Blick zu Violet), "wenn Sie es nicht wissen, bitte ich gehen zu dürfen. Ich bin, wie gesagt, sehr beschäftigt."

Und blieb herausfordernd sitzen. Es fehlte nicht viel, und er hätte dem Rittmeister und seiner Tochter ins Gesicht gegähnt.

Der Rittmeister bezwang sich. Fern seinem Heim, konnte er sich bezwingen. Er sagte: "Kurz und gut: Meine Tochter hat Ihnen einen Brief" - kurzes Stocken - "in Ihrer Sache geschrieben, der in falsche Hände geraten ist."

Es kam alles genau wie erwartet. Der Leutnant stieß seine Zigarette in die Aschenschale, flehend spürte er den Blick des Mädchens auf sich. Von dem verglühenden Tabak hob er das Auge zum Rittmeister. Er sah ihn an, er sagte: "Ich stehe Ihnen natürlich zur Verfügung, Herr Rittmeister. Ich bestreite nichts. Nur", sagte er rascher, "wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie bis zum Schluß der morgigen Aktion warten würden. Meine Freunde werden sich direkt hinterher bei Ihnen melden."

Der Rittmeister war ein sehr alter Mann, hohle Schläfen, weißes Haar, verfallenes Gesicht. Er sagte mit fast unverständlicher Stimme: "Ich - verstehe - doch - richtig -?"

"Papa -! Fritz!" rief das Mädchen beschwörend.

"Sie verstehen vollkommen richtig", belehrte ihn der Leutnant mit seiner überlegenen, unverschämt klingenden Stimme.

"Fritz, ach, Fritz! Ach, Papa "..., murmelte das Mädchen, die Augen voller Tränen.

Der Rittmeister saß wie gelähmt. Mit den Fingern hielt er den Fuß des Portweinglases, er drehte es, er schien die Farbe des Weins zu prüfen. Aber auf der Zunge schmeckte er nicht den Wein, Bitternis schmeckte er, Asche ... Bitternis und Asche eines ganzes Lebens ...

"Fritz, ach, Fritz "..., erreichte die klagende Stimme der Violet sein Ohr.

Mit einer raschen Bewegung schwenkte er den Rest seines Portweinglases in das freche, überlegene Gesicht des jungen Kerls. Mit tiefer Freude sah Joachim von Prackwitz dieses Gesicht fahl werden, das feste Kinn zitterte ...

"Habe ich Sie jetzt recht verstanden, Herr Leutnant ...?!" fragte er rachsüchtig.

Violet schrie auf, aber nur leise. Der Leutnant war jung genug, ehe er den Wein aus dem Gesicht wischte, einen angstvollen Blick in das Lokal zu werfen: Die Zivilisten saßen hinter ihren Zeitungen. Aber der Kellner am Büfett fuhr erschrocken zusammen und fing an, mit verlegener Hast das Zinkblech zu reiben.

"Dies war überflüssig", flüsterte der Leutnant voll Haß und stand auf. "Im übrigen habe ich Ihr Fräulein Tochter nie ausstehen können."

Der Rittmeister stöhnte. Er wollte hoch, er wollte hineinschlagen in dieses brutale, hassenswerte Gesicht, aber seine Beine zitterten, alles drehte sich, er hielt sich am Tisch. In den Ohren brauste das Blut wie Brandung - ferne nur hörte er seine Tochter sprechen.

Hat sie denn gar keinen Stolz? dachte er verwundert. Daß sie noch mit ihm sprechen mag!

Er verstand nicht mehr, was sie sagte.

"Ach, Fritz", rief Violet klagend, "warum hast du das nur getan?! Nun ist alles kaputt! Papa wußte doch gar nichts ..."

Er sah sie mit seinen hellen, bösen Augen an, ohne ein Wort, voller Verachtung und Ekel.

Sie kam um den Tisch herum, ihr war es gleich, daß sie in einem Lokal standen. Sie faßte seine Hand, sie flehte: "Fritz, sei doch gut ... Papa tut alles, was ich will, ich rede ihn herum ... Ich kann doch nicht ohne dich sein ... Und wenn du nur einmal die Woche, nur einmal im Monat zu mir kommst, wir können doch heiraten ..."

Er machte eine Bewegung, ihr die Hand fortzuziehen ...

Sie sieht ihn mit ihren angsterweiterten, tränenden Augen an. Sie versucht, sich zusammenzunehmen, sie sagt mit einem Versuch zu lächeln: "Papa rede ich sicher ein, daß alles ein Irrtum war, er hat doch gar nichts gewußt! Er muß sich bei dir entschuldigen, Fritz, wegen des Weins ... Das war so häßlich von ihm! Ich schwöre dir, er wird sich entschuldigen ..."

"Wieso hat dein Vater nichts gewußt?" fragt er. "Er hat doch von dem Brief gesprochen?"

Es ist das erste Wort, das er zu ihr sagt, eine kalte, argwöhnische Frage, einzige Antwort auf ihr flehendes Gestammel ...

Aber sie ist schon glücklich, daß er nur wieder mit ihr spricht, sie drückt seine Hand fester, diese knochige, grausame Hand, sie sagt eilig: "Papa hat doch von einem ganz andern Brief gesprochen! Ich habe dir doch noch einmal geschrieben, wegen des Waffenlagers, weil der Förster zugesehen hat, wie du es eingegraben hast! Und der Brief ist doch unterschlagen worden. Sieh mich nicht so schrecklich an, Fritz! Fritz! Fritz! Das Waffenlager ist noch da ... Ich habe nichts falsch gemacht, Fritz, bitte ..."

Sie hat lauter und lauter gesprochen, nun hat sich seine Hand über ihren Mund gelegt. Die Zivilisten sind hinter ihren Zeitungen emporgetaucht und betrachten entrüstet, verlegen, amüsiert diese Szene. Der Rittmeister hat sich am Tisch bewegt wie im Schlaf, er hat geflüstert: "Lassen Sie meine Tochter ..."

Er meint, er habe es geschrien. Der Kellner hat einen Schritt vom Büfett fort auf das Paar zu gemacht und steht nun wieder da, unentschlossen, ob er eingreifen soll oder nicht ...

Aber der Leutnant hat alles verstanden: das Fehlen der Offiziere heute im Lokal, die abgerissene Verbindung mit der Reichswehr ... Er begreift, daß der ganze Putsch gefährdet ist, diese durch Monate vorbereitete Aktion - und er trägt die Schuld! Nein, sie trägt sie!

Seine Hand auf ihrem Mund, flüstert er in ihr Ohr - und sein Haß entzündet sich immer stärker an diesem weichen, hingebenden, willenlosen Gesicht. Er flüstert: "Du, du hast mir nur Unglück gebracht! Du bist mir zum Ekel - ich möchte dich nicht, und wenn du in Gold eingewickelt wärst! Ich ekle mich vor dir; ich schüttle mich, wenn ich an dein Seufzen denke; ich möchte mich selber zerreißen, wenn ich daran denke, daß ich dich mal angefaßt habe! Hörst du, verstehst du mich auch", flüstert er lauter, denn sie hat die Augen geschlossen und liegt wie leblos in seinem Arm. "Alles hast du mir kaputt gemacht mit deiner verfluchten schmierigen Liebe! Höre, du!" Wieder lauter, er schüttelt sie. "Hör gut zu, wenn das Waffenlager noch da ist, dann will ich sehen, daß ich morgen falle -. Aber wenn das Waffenlager weg ist, schieße ich mich noch heute nachmittag tot - deinetwegen, hörst du, deiner großartigen Liebe wegen!" Er sieht sie an, einen Augenblick wird er irre. Aber er muß ihr doch noch eines sagen, ganz gleich, ob der Kellner ihn jetzt beschwörend an der Schulter rüttelt. Er flüstert ihr ins Ohr: "Besuch mich heute abend, verstehst du - Liebste?! Dort!! Ich werde nett aussehen - deine Lebtage sollst du an mich denken, wie ich daliege - mit

zerschossenem Kopf!"

Ihr Schrei läßt alle auffahren, hinzulaufen. Der Leutnant sieht sich um, wie erwachend.

"Da, nehmen Sie sie - ich brauch sie nicht mehr!" schreit er den Kellner an und läßt das Mädchen so plötzlich los, daß es doch auf die Erde sinkt.

"Hören Sie mal, heben Sie sie wenigstens auf!" schreit der Kellner wütend.

Aber der Leutnant läuft schon aus dem Lokal.

5

Der Leutnant war in seinen kleinen Gasthof geraten, er wußte nicht wie. Er stand in der Kammer, er sah die getünchten Wände an, er horchte hinunter nach dem Geschwätz in der Gaststube, es wurde nicht still.

"Still doch!" rief der Leutnant mit wütend verzogenem Gesicht, aber die plärrten weiter. Eine Weile lauschte er noch, eine Weile war es ihm, als höre er ihre demütige, flehende Stimme heraus: Winseln einer Sklavin - o verdammt!

Ein wenig später besann er sich. Er trank ein Glas von dem abgestandenen Wasser, sah sich um und bemerkte die paar feldgrauen Uniformstücke, die an hölzernen Kleiderhaken hingen. Er war sich unschlüssig, wie er "dorthin" fahren sollte, ob in seinem Räuberzivil oder in Uniform. Er dachte lange darüber nach, was richtiger wäre, aber er konnte es nicht herausbringen.

"Das Leben ist schwer", sagte er, setzte sich auf einen Stuhl und dachte wieder darüber nach. Aber jetzt wollten seine Gedanken nicht mehr bei der Kleiderfrage verweilen, sie gingen weiter. Ihm fiel ein, daß ihm befohlen worden war, heute abend um neun mit seinen Leuten die Waffen aus dem Schwarzen Grund zu holen. Nichts zwang ihn, vorher dort nachzusehen. Waren sie weg, so waren sie um neun Uhr abends ebenso schlimm weg wie um zwölf Uhr mittags: Er mußte es nicht gewußt haben. Dieser Rittmeister mit Tochter würde schon das Maul halten, man wäscht seine dreckige Wäsche nicht vor allen Leuten. Nun kam ihn doch ein hohnvolles Grinsen an, wie dreckig dieser Tochter Wäsche war.

"Wie gemein ich bin! O wie gemein!" stöhnte der Leutnant, aber er meinte es nicht wirklich.

Am Ende war er genau so gemein, wie er in diesem Leben hatte

werden müssen. Er sitzt da, den Kopf in den Händen, der Don Juan der Dörfer, der geheimnisvolle Leutnant Fritz, rasch in der Tat wie in der Liebe. Sein Leben ist Fleisch und Haar gewesen, Pulvergeruch und der blutige Geschmack langer Küsse, die glatten, kühlen Waffenschäfte in der Hand und die glatten, kühlen Glieder der Mädchen in ihren Kleidern, Feuer am Himmel von einem in Brand geschossenen Dorf, aber auch ewiges, verzehrendes Feuer im Leibe. Er kann kaltblütig eines Haase Hof in Brand stecken, wenn es ihm so paßt, aber er kann auch in einen brennenden Stall springen, um die Pferde herauszuholen - so ist er und nicht anders!

Und weil er so ist, wird er nicht bis zum Abend warten, um sich Gewißheit wegen des Waffenlagers zu holen. Nein, er wird sofort fahren, und ist es futsch, so ist er auch futsch, genau wie er es diesem verdammten Mädel gesagt hat! Er weiß wohl, für viele ist er ein Mann zweifelhafter Ehre, und der Major braucht ihn nur, weil er für gewisse Aufträge brauchbar ist. Aber er hat seine eigene Art von Ehre, und der beliebt es nicht, von dem Schweigen eines Fräuleins von Prackwitz abhängig zu sein.

Er steht mit einem Ruck auf, seine Unentschlossenheit ist von ihm abgefallen. Aus dem Schrank nimmt er den Handkoffer, und aus dem Handkoffer wühlt er unter der schmutzigen Wäsche seine Pistole hervor. Er steht da, die Pistole in der Hand. Sie ist gesichert, aber noch geladen von damals. Er erinnert sich sehr gut, er trieb dieses kleine Stinktier, den Meier, vor sich her, er war unentschlossen, er war feige - dann warf ihm der Kerl den Handkoffer vor die Füße!

Nein, er hatte kein Glück mit ihr gehabt, lauter schwankende Gestalten um sie: der feige Meier, der geschwätzige Kniebusch, dieser Kerl von einem Diener, der trottelhafte Vater, der glaubte, es wäre etwas, Wein in anderer Leute Gesichter zu gießen, und der dann, von der eigenen Heldentat knockout geschlagen, bekniffen am Tisch saß! Aber am meisten schwankte sie selbst, mit irgendeinem romantischen Anspruch an die Liebe: "Ich kann nicht ohne dich sein!" - wo doch jedes Mannsbild in Neulohe und in der Welt ihr geben konnte, was er ihr gegeben hatte!

Es hat geklopft, und mit einem Ruck läßt der Herr Leutnant die Pistole in die weite Tasche seiner Knickerbocker gleiten, ehe er "herein" ruft. Aber es ist nur der Hausdiener Friedrich, der meldet, daß Herr Richter vorgeschickt hat, Herr Fritz möge doch gleich mal vorbeikommen.

"Schön, schön, wird gemacht, Friedrich", sagt der Leutnant mit großer Leichtigkeit, obwohl er innerlich flucht.

Er zieht mit ruhiger Hand, mit großer Genauigkeit seinen Scheitel vor

dem Spiegel, und der Friedrich, der natürlich auch, aber bloß als kleiner Mitläufer, im Komplott ist, sieht ihm aufmerksam zu. Der Leutnant beobachtet das Gesicht seines Hintermannes im Spiegel. Es ist ein grobes Gesicht, wie aus Lehm geknetet, mit einer unförmigen Nase. Aber so grob dies Gesicht ist, jetzt liegt unverkennbar ein besorgter, unruhiger Ausdruck darauf. Der Leutnant entschließt sich. "Na, Friedrich, wo brennt es?" fragt er und lächelt.

Der Friedrich sieht den Leutnant im Spiegel an, er sagt rasch: "In den Kasernen ist Stadtverbot."

Der Leutnant lächelt überlegen: "Das wissen wir längst. Alles in Ordnung, Friedrich. Meinst du, man läßt die Leute vor so was in die Stadt, daß sie sich einen antrinken?"

Der Friedrich nickt langsam, einverstanden, mit dem unförmigen Kopf. "Das verstehe ich schon. Aber, Herr Leutnant, die erzählen ..."

"Hörst du auf das, was die Leute erzählen? Da wirst du vieles hören, Friedrich."

"Aber ..."

"Ach was, red nicht! Das ist alles Quatsch, unsereiner pariert und macht seine Sache."

"Aber", sagt Friedrich, "es soll ein Auto von der Schnüffelkommission vor der Artilleriekaserne gehalten haben, Herr Leutnant."

Der Hausdiener, dieses belanglose Etwas, einer von Hunderten, läßt den Blick nicht von dem Leutnant. Der Leutnant darf sich nicht gehenlassen, er darf auch sein Erschrecken nicht zeigen. Nur einen Augenblick schließt er die Augen, es ist nicht mehr als ein Blinzeln, und schon sieht er sich und den andern im Spiegel wieder an. Er klopft nachdenklich mit dem Kamm gegen den Waschschüsselrand, er fragt: "Nun - und weiter? Hält es noch da?"

"Nein, Herr Leutnant, es ist wieder weggefahren."

"Siehst du, Friedrich", erklärt der Leutnant und beruhigt sich gleich mit. "Siehst du, Friedrich, es hat da gehalten und ist wieder fortgefahren. So ist das. Die Brüder müssen eben überall ihre Nase hereinstecken, darum sind es ja eben die Schnüffler. Natürlich haben sie was läuten gehört; es ist unmöglich, wo so viel hundert von unserer Sache wissen, daß nicht ein bißchen geklatscht wird. Die haben horchen wollen, aber sie sind eben wieder weggefahren. Wären sie weggefahren, wenn sie wirklich was gewußt hätten?"

Jetzt hat sich der Leutnant umgedreht, er sieht seinen Mann direkt an, nicht mehr durch den Spiegel. Und sei es, daß es nun der nahe Blick

macht, sei es die Wirkung seiner Worte, er sieht, er hat den Hausdiener überzeugt.

Der sagt: "Herr Leutnant haben ganz recht: Man soll nicht auf das hören, was die Leute sagen. Man muß einfach parieren."

Der Leutnant grinst innerlich: ein Dreckgeschäft! Siehe da, ein Mann überzeugt, einer von rund dreitausend! Weiß der Henker, was sich die andern unterdes in ihre Ohren blasen lassen! Für solche Unternehmungen müßte man ein Regiment aus harthörigen Stummen haben.

Der Hausdiener hat unterdes weitergeredet: "Es ist nicht, daß ich Angst habe, Herr Leutnant. Nur, ich bin so froh, daß ich endlich wieder Arbeit habe, und der Chef hat mir gesagt, er schmeißt mich raus, wenn ich beim Putsch mitmache."

Der Leutnant macht eine Bewegung, der Friedrich sagt hastiger: "Ich mache doch mit, Herr Leutnant, ich bringe auch die beiden Jagdflinten vom Chef, wie befohlen, mit. Wenn's morgen gut geht, mag er mich rausschmeißen! Nur, Herr Leutnant, das verstehen Sie doch auch, wenn es ganz aussichtslos gewesen wäre ... Arbeitslos macht auch keinen Spaß ..."

"Nein, nein, Friedrich!" lacht der Leutnant und haut den Hausdiener auf die Schulter. "Der Laden funkt. Der Kram klappt. Dafür stehe ich dir ein - mit meinem Leben."

Er hat es gesagt, er hat es so sagen wollen, es ist alles scheißegal, nun grade! Soll er Mitleid mit diesem Affen haben?! Alle möchten sich rückversichern, feige Kerle, die!

"Ich danke auch schön, Herr Leutnant", sagt der Friedrich strahlend.

"Na siehste, Kamerad!" lacht der Leutnant gnädig. "Immer die Ohren steifhalten! Was denkst du, was dein Chef übermorgen froh sein wird, daß du für ihn mitgemacht hast?!" In einem andern Ton: "Ja, richtig, Friedrich, ist mein Rad im Lot? Ich muß gleich noch mal über Land ..."

"Selbstverständlich, Herr Leutnant. Aber Sie wollten doch erst noch mal zu Herrn Richter gehen ..."

"Stimmt!" sagt der Leutnant und geht los.

Er geht schlendernd, rauchend; auf der Toilette schiebt er schnell noch den Sicherungshebel zurück und sieht, daß eine Patrone im Lauf ist. So, die entsicherte Pistole in der Hosentasche mit der Hand umfaßt, geht er erst einmal zu Herrn Richter, der natürlich auch kein Richter ist, wie er kein Fritz ist, sondern eine Art Vorgesetzter ... Es ist eine komische Sache: Seit er das von dem Entente-Auto gehört hat, ist seine Laune um

hundert Prozent gebessert. Wenn allen zum Tode Verurteilten so komisch aufgeräumt zumute wie ihm ist, ist das Gefasel von der Todesstrafe barer Unsinn. Und unter Umständen kann in ein paar Minuten bei Herrn Richter die Bombe schon platzen. Und er mit!

Aber dann geht alles ganz friedlich zu. Beim Richter sitzen eine Menge Gestalten herum, teils in Zivil, teils in ihren abgetragenen Uniformen ohne Rangabzeichen, verabschiedete Offiziere. Der Leutnant kennt sie alle, er grüßt nur kurz und geht gleich zum Richter, der mit dem einzigen Unbekannten, einem "richtigen" Zivilisten, flüstert.

Der Herr Richter sieht eigentlich auch aus wie ein Zivilist, lang, schwarz, den "Bleistift Gottes" nannten ihn die jungen Dachse unter sich. Er schreibt ewig alles auf, er ist irgend etwas Taktisches, sicher hat der Kerl nie Pulver gerochen. Der Leutnant kann ihn nicht ausstehen, aber der Richter kann den Leutnant wohl ebensowenig ausstehen.

Darum winkt er dem Leutnant auch recht schroff, in Abstand zu warten, er flüstert weiter mit dem dicken Zivilisten. Der Leutnant dreht sich um, er besieht sich gelangweilt den Raum.

Es ist die Hinterstube einer Kneipe, sie hat etwas Ödes, Fahles, und etwas Ödes, Fahles, Angegangenes haben auch die hier wartenden Männer. Es ist eine Gemeinheit, daß er hier nun noch stehen und warten muß. Er fingert an der Pistole in der Tasche herum, er wird aus dem ersten Wort Richters hören, ob die hier etwas wissen von ihm oder nicht. Dann erreichen ein paar Worte des dicken Zivilisten sein Ohr, er hat sie nicht genau verstanden, aber das eine Wort könnte "Meier" geheißen haben und das andere "Spitzel". Nun gibt es sehr viele Meiers auf der Welt, aber im gleichen Augenblick ist der Leutnant fest davon überzeugt, daß nur dieser eine Meier gemeint sein kann. Dieses Schwein ist auf die Welt gekommen, ihm Schwierigkeiten zu machen! Hätte er ihn nur im angehenden Waldbrand schmoren lassen! Das hatte man von seinen guten Taten!

Eigentlich ist es Unsinn, länger zu warten! Schon ist alles klar und entschieden! Raus und Schluß! Wozu sich noch angrobsen lassen?!

Der Leutnant überlegt, wo in diesem Ausschank die Toilette liegt - aber davon hätten die Kameraden nur Schwierigkeiten. Er muß weiter fortgehen, irgendwo in den Wald, wo Unterholz ist - nein, am besten dahin, wohin er es ihr versprochen hat. Es soll ihr nicht vergessen und geschenkt sein -!

"Ich bitte, Herr Leutnant!"

Und er atmet auf! Eine Galgenfrist vielleicht nur, aber noch ein

Weilchen Zeit, Atem zu schöpfen, der alte zu sein, an eine Zukunft zu glauben. Aufmerksam hört er zu, wie ihm Herr Richter auseinandersetzt, daß seit dem heutigen frühen Morgen jede Verbindung mit der Reichswehr abgerissen ist. Niemand kommt in die Kasernen, niemand gelangt aus den Kasernen, auf den Straßen ist kein Offizier zu sehen, bei telefonischen Anrufen gibt es nur ausweichendes Geschwätz ...

Ach, nun zeigt es sich, wie unsicher alles Vorbereitete ist! Eine Handvoll Leute, die Reste offiziell längst aufgelöster Freikorps, dazu ein Landsturm von ein paar tausend Mann - stark, wenn die Reichswehr mitmacht, eine lächerliche Horde, wenn sie sich entgegenstemmt! Man hatte fest mit der Reichswehr gerechnet. Natürlich war nie etwas Offizielles besprochen; man hatte ja alles Verständnis für die Schwierigkeiten, mit denen die Kameraden zu kämpfen hatten! Aus den Trümmern des Heeres, aus den Ruinen der Revolution war ein neues Heer aufzubauen, unter den argwöhnischen Augen der ehemaligen Feinde, die immer noch feindlich geblieben waren. Alles Risiko wollten die Außenseiter gerne tragen. Aber der verabschiedete Offizier hatte mit dem aktiven gesprochen: Die einen hatten geredet, die andern hatten zugehört. Es war nicht ja gesagt worden, aber auch nicht nein, nicht hü und nicht hott - aber man hatte doch das Gefühl gehabt: wenn wir nur unsere Sache machen, die werden nicht dawider sein.

Und nun plötzlich, aus heiterem Himmel, am Vortage der Entscheidung dieses unbegreifliche Verstummen, eine Kälte, völlig unverdient, ein betontes Zurückziehen, fast schon eine Absage. Der Herr Richter spricht weiter, er macht es so dringlich, daß vor allem dieses Rätsel gelöst werden muß, das Dunkel gelichtet - man kann doch nicht die Leute gegen die Reichswehr führen, wenn sie Feind ist!

Der schwarze, lange Herr Richter, der Bleistift Gottes, spricht so eindringlich - der Leutnant wird doch verstehen, was gewünscht wird?

Der Leutnant hört mit ernstem, aufmerksamem Gesicht zu. An den richtigen Stellen nickt er und sagt auch ein "Ja", aber er hört gar nicht zu, er ist wieder von diesem Mädchen besessen. Der wilde, stechende Haß erfüllt ihn wieder: Kann denn eine so große, so wichtige Sache durch solch ein kleines, verliebtes Tier in Gefahr gebracht werden?! Alles soll umsonst sein, was Hunderte von Männern durch Monate vorbereitet haben, für das sie Ehre, Leben, Gut wagten, weil solch ein Weibchen nicht den Mund halten konnte? Unmöglich, es darf nicht sein - ach, er hätte ihr noch ganz andere Dinge sagen müssen, er hätte sie bei den Haaren reißen, in das von Liebe zerfließende Gesicht schlagen müssen -!

(Aber auf den Gedanken kommen weder der Leutnant noch sein

Vorgesetzter, der nun auch von Verrat spricht, daß eine Sache faul sein muß, die das Gerede eines fünfzehnjährigen Mädels umwerfen kann. Daß eine solche Sache bloß ein Abenteuer ist, ohne den lebenspendenden Funken einer Idee! Daß sie selber alle eingefangen sind von dem schillernden Sumpfzauber dieser schlimmen Zeit, daß sie nur an Tag und Stunde denken statt an die Ewigkeit danach - wie die Notenpresse in Berlin nur für Tag und Stunde arbeitet.)

Der Herr Richter ist verstummt, er hat ausgeredet. Er hofft, dieser zweifelhafte Herr Leutnant hat ihn verstanden. Aber trotz aller aufmerksamer Haltung ist der Herr Leutnant mit seinen Gedanken anderswo gewesen, er sieht den Bleistift Gottes bloß fragend an.

So muß der sich entschließen, weiter vorzugehen - eine ekelhafte Sache für einen sauberen Menschen.

"Ich habe gehört", flüstert er, mit einem vorsichtigen Blick auf den dicken Zivilisten, der, noch immer auf irgend etwas wartend, in der Nähe steht, "ich habe gehört, daß Sie die Möglichkeit haben, einige - hm - Interna zu erfahren. Sie sollen eine Art Beziehung haben ..."

Der Ekel in seiner Stimme ist so deutlich, daß ein wenig Rot in die Wangen des Leutnants steigt. Aber er sagt nichts, er sieht seinen Vorgesetzten nur aufmerksam an.

"Ja, also gut!" sagt Herr Richter ungeduldig und wird nun selber rot. "Wozu herumreden?! Im Interesse der Sache bitte ich Sie, von Ihren Beziehungen Gebrauch zu machen, damit wir wissen, woran wir sind."

"Jetzt gleich?" fragt der Leutnant.

Die Wahrheit ist, daß er jetzt gleich nur an dem Hotel vorbeiradeln möchte, sehen, ob der protzige Horchwagen dort noch steht, und dann gleich hinaus zum Schwarzen Grunde. Und ist es im Schwarzen Grunde, wie er nun fast schon erwartet, dann sofort zurück zu ihr und vor ihrem Auge das tun, was er ihr versprochen hat. Nein, er wird sie nicht anrühren, aber dies Bild soll sie - viel schlimmer als alles andere - durch ihr ganzes Leben mit sich tragen. Sie ist so weich, sie wird es nicht überwinden, Tag für Tag mit dem Bild, und in den Nächten hochfahrend aus dem Schlafe - schreiend - mit dem Bilde.

"Jetzt gleich?" fragt der Leutnant darum zögernd.

Nun wird der schwarze, hagere Mann fast zornig. "Wann denn sonst?! Glauben Sie, daß wir noch viel Zeit zu verlieren haben? Wir müssen doch wissen, was werden soll!"

"Ich glaube nicht", sagt der Leutnant und zahlt boshaft dem andern sein Erröten heim, "daß die junge Dame jetzt Zeit für mich hat. Sie ist

bloß Stubenmädchen und muß jetzt reinmachen. Und die Köchin ist mir auch nicht grün ..."

Immer zu! denkt der Leutnant, wenn ihr mich brauchen wollt, sollt ihr auch nicht fein tun, sondern meinen Dreck schlucken!

Aber Herr Richter wird ganz kalt und höflich. "Ich bin überzeugt, Herr Leutnant", sagt er, "daß Sie die Angelegenheit regeln können. Ich erwarte dann Ihre Nachricht hier - binnen einer Stunde."

Der Leutnant verbeugt sich. Herr Richter will ihn schon entlassen, als er eine Gebärde des wartenden dicken Mannes auffängt. "Richtig - noch ein paar Fragen, Herr Leutnant, in einer andern Sache, die dieser Herr bearbeitet."

Der Dicke tritt heran, er grüßt kurz. Er hat den Leutnant wohl schon während des ganzen Gespräches beobachtet, er sieht ihn jetzt kaum an. Aber der Leutnant ist betroffen von dem kalten, eisigen Blick aus den Augen dieses behäbigen Klotzes, der eher wie ein Mann als wie ein Herr aussieht.

Ohne Umschweife, hart, ohne eine Spur von Höflichkeit fragt der Dicke: "Neulohe gehört zu Ihrem Bezirk?"

"Jawohl, Herr -?"

"Das Waffenlager im Schwarzen Grunde auch -?"

Der Leutnant wirft einen ärgerlich fragenden Blick auf Herrn Richter, der ihm mit einer ungeduldigen Gebärde zu antworten befiehlt.

"Jawohl."

"Wann haben Sie das Lager zum letztenmal kontrolliert?"

"Vor drei Tagen - Dienstag."

"War alles in Ordnung?"

"Jawohl."

"Haben Sie sich geheime Merkzeichen angebracht?"

"An der Verfassung des Bodens konnte ich sehen, daß niemand nachgegraben hatte."

"Sind Sie Ihrer Leute sicher?"

"Vollkommen."

"Glauben Sie, daß Sie jemand beim Vergraben der Waffen beobachtet haben kann?"

"Das - glaube ich nicht, sonst hätte ich das Lager sofort verlegt."

"Ist jemand während des Vergrabens in die Nähe der Posten gekommen?"

Der Leutnant will nachdenken, was zu antworten ihm dienlich wäre. Aber die Fragen folgen so rasch aufeinander, der Blick liegt so eiskalt beobachtend auf ihm, daß er ohne Besinnung, ohne die Folgen abzuwägen, hastig antwortet: "Jawohl."

"Wer?"

"Herr von Prackwitz und seine Tochter."

"Kannten Sie die beiden?"

"Nur vom Ansehen."

"Was haben Sie ihnen gesagt?"

"Ich habe sie weitergeschickt."

"Sind die beiden ohne weiteres gegangen?"

"Jawohl."

"Sie haben keine Aufklärung verlangt, was auf ihrem Grund und Boden geschah?"

"Herr von Prackwitz ist alter Offizier."

"Und die Tochter -?"

Der Leutnant schwieg. Der eiskalte Blick lag weiter auf ihm. Das ist ja Polizei! dachte der Leutnant. So fragt man doch nur Verbrecher aus! Haben wir denn jetzt einen Schnüffler bei unserer Abteilung -? Ich habe mal so was gehört ...

"Und die Tochter -?" fragte der Dicke beharrlich.

"Hat kein Wort gesprochen."

"Sie kannten sie nicht näher?"

"Nur vom Sehen."

Dieser Blick, dieser verdammte, bohrende Blick! Wenn man eine Ahnung hätte, was der Kerl wirklich weiß - aber so, man tappt vollkommen im dunkeln. Mit einer einzigen Antwort kann man sich festgelogen haben - und dann! Und dann -? Nichts mehr!

"Sie sind sicher, daß keiner von den beiden Ihrem Graben später nachspioniert hat?"

"Vollkommen sicher."

"Warum?"

"Ich hätte es am Boden gesehen."

Zum erstenmal nahm wieder Herr Richter das Wort. "Ich glaube, daß man des Herrn Rittmeisters von Prackwitz und seiner Tochter sicher sein kann. - Übrigens sind die beiden jetzt in der Stadt - ich sah sie in den

›Goldenen Hut‹ gehen."

"Man könnte sie befragen", meinte der Dicke nachdenklich und ließ seinen eiskalten Blick nicht von dem Leutnant.

"Jawohl, befragen Sie sie! Ich komme sofort mit! Kommen Sie, wir gehen!" schrie der Leutnant fast. "Was ist los? Bin ich ein Verräter? Habe ich geschwatzt?! Kommen Sie doch mit, Sie, Herr Polizist! Jawohl, ich komme grade aus dem ›Goldenen Hut‹, ich habe mit dem Rittmeister und seiner Tochter an einem Tisch gesessen, ich habe ..."

Er brach ab, er sah seinen Peiniger haßerfüllt an.

"Nun, was haben Sie -?" fragte der Dicke, ganz ungerührt von diesem Ausbruch.

"Aber ich bitte Sie, meine Herren!" rief der Bleistift Gottes beschwörend. "Mißverstehen Sie die Situation doch nicht, Herr Leutnant! Niemand will Sie kränken. Wir haben Grund zu der Annahme, daß ein Waffenlager verraten worden ist. Es ist hier ein Auto der Ententekommission gesehen worden. Wir wissen noch nicht, um welches Lager es sich handelt. Wir befragen alle Herren, denen Waffenlager anvertraut sind. Es besteht doch eine Möglichkeit, daß dies der Grund zu dem seltsamen Verhalten unserer Kameraden drüben ist ..."

Der Leutnant atmete tief auf. "Also fragen Sie!" sagte er zu dem andern, und doch war ihm, als habe der andere sogar dies Aufatmen gesehen.

Völlig ungerührt sagte der Dicke: "Sie sprachen vom ›Goldenen Hut‹. ›Ich habe ...‹, sagten Sie und brachen ab."

"Aber ist das wirklich nötig?" rief Herr Richter verzweifelt aus.

"Ich habe mit Herrn Rittmeister Portwein getrunken, vielleicht habe ich das sagen wollen. Ich weiß es nicht mehr. - Warum gehen wir nicht hin?" rief er noch einmal, aber diesmal nicht verzweifelt, sondern höhnisch, weiter das Spiel mit dem Tode spielend, das doch schon entschieden war, er wußte es wohl. "Ich gehe gerne mit! Es macht mir nichts aus. Sie können Herrn von Prackwitz in meiner Gegenwart befragen!"

"Und seine Tochter "..., sagte der Dicke.

"Und seine Tochter "..., wiederholte der Leutnant, aber mit sehr leiser Stimme.

Eine Stille entstand, eine drückende, lange Stille.

Was wollen sie denn? dachte der Leutnant verzweifelt. Wollen sie mich verhaften? Sie können mich doch nicht verhaften, ich bin doch kein Verräter. Ich habe doch meine Ehre noch.

Der Dicke flüsterte in das Ohr von Herrn Richter, ohne sich zu genieren. Auf dem Gesicht von Herrn Richter lag wieder, aber nun verstärkt, der Ausdruck abwehrenden Ekels. Er schien etwas zu verneinen, abzuwehren ...

Plötzlich erinnerte sich der Leutnant eines ehemaligen Kameraden, dem der Oberst vor der Front die Achselstücke heruntergerissen hatte. Ich trage ja gar keine Achselstücke, dachte er verloren, das kann er bei mir nicht machen.

Er sah durch den Raum, es waren zehn Schritte bis zur Tür, niemand von den andern Herren stand im Wege. Er machte zögernd einen Schritt auf die Tür zu.

"Einen Augenblick noch!" befahl der Dicke herrisch. Er sah alles mit diesen eiskalten Augen, auch wenn er nicht hinsah.

"Ich stehe mit meiner Ehre für das Waffenlager ein", rief der Leutnant, fast zitternd. Die beiden Herren wandten ihm die Gesichter zu. "Und mit meinem Leben", sagte er noch, aber schwächer.

Sie sahen ihn an. Ihm war, als mache der Dicke mit dem Kopf eine leise, verneinende Bewegung, aber Herr Richter sagte lebhafter: "Gut, gut - keiner mißtraut Ihnen, Herr Leutnant."

Der Dicke schwieg. Er verzog das Gesicht nicht, aber das unverzogene Gesicht sagte: Ich mißtraue dir. Der Leutnant dachte: Nicht von dir will ich gerichtet werden, nicht auf deine Art ...

Er fragte: "Darf ich jetzt gehen?"

Herr Richter sah den Dicken an, der Dicke sagte: "Noch ein paar Fragen, Herr Leutnant ..."

Hat der Kerl denn gar kein Schamgefühl?! dachte der Leutnant verzweifelt. Wäre ich doch erst auf der Straße! Aber er blieb stehen und sagte: "Bitte", als käme es ihm nicht darauf an.

Und wieder ging es los: "Sie kennen einen Feldinspektor Meier aus Neulohe?"

"Flüchtig. Er war vorgeschlagen worden, ich habe ihn abgelehnt."

"Warum?"

"Er gefiel mir nicht, er kam mir unzuverlässig vor."

"Warum?"

"Ich weiß nicht mehr - ich hatte den Eindruck. Ich glaube, er hatte viel Weibergeschichten."

"So, Weibergeschichten ... Wegen Weibergeschichten hielten Sie ihn für unzuverlässig -?"

Der starre eiskalte Blick lag voll auf dem Leutnant.

"Jawohl."

"Kann dieser Meier das Vergraben der Waffen beobachtet haben?"

"Ausgeschlossen!" rief der Leutnant eilig. "Da war er ja längst fort aus Neulohe!"

"So - da war er fort? Warum war er denn fort?"

"Ich weiß es wirklich nicht. Man müßte eventuell Herrn von Prackwitz fragen."

"Glauben Sie, daß irgend jemand aus Neulohe noch mit diesem Meier in Verbindung steht?"

"Ich habe wirklich keine Ahnung", antwortete der Leutnant. "Vielleicht eines von seinen Mädchen."

"Sie kennen die Mädchen nicht -?"

"Ich bitte doch sehr!" sagte der Leutnant mühsam.

"Es wäre möglich gewesen, nicht wahr - daß Sie einen oder den andern Namen kennen?"

"Nein."

"Also haben Sie keinerlei Vermutung, wie dieser Meier von dem Waffenlager erfahren haben könnte?"

"Aber er kann doch nichts davon wissen!" rief der Leutnant verblüfft. "Er ist seit Wochen aus Neulohe fort!"

"Und wer kann davon wissen?"

Wiederum Schweigen, Stille.

Der Leutnant zuckt wütend die Achsel, Herr Richter sagt begütigend: "Es wird nämlich behauptet, daß dieser Herr Meier heute früh im Auto der Kontrollkommission gesessen hat. Aber es ist nicht sicher, daß er es war."

Zum erstenmal verrät der Dicke Ärger, ärgerlich sieht er den geschwätzigen Bleistift Gottes an.

Aber der sagt abschließend: "Wir wollen es jetzt genug sein lassen mit dem Fragen. Es scheint mir wenig dabei herauszukommen. Sie kennen Ihren Auftrag, Herr Leutnant. Ich erwarte Sie also in einer Stunde hier. Vielleicht können Sie erfahren, was wir hier nicht herausbekommen."

Herr Richter macht eine verabschiedende Bewegung, der Leutnant verbeugt sich leicht und geht zur Tür.

Ich gehe zur Tür, denkt er, merkwürdig erleichtert. Und dabei zittert er doch, daß der Dicke, dieser schreckliche Mensch, noch ein Wort sagen,

ihn noch einmal aufhalten könnte.

Aber kein Wort wird hinter ihm laut, das störende Frostgefühl in seinem Rücken verliert sich, als schwäche die Entfernung die Eiseskälte jenes Blickes. Er grüßt die Kameraden rechts und links. Mit einer gewaltsamen Willensanstrengung bleibt er noch einmal an der Tür stehen und brennt sich eine Zigarette an. Dann legt er die Hand auf die Klinke, er öffnet, er schließt die Tür, er geht durch das Schankzimmer - und nun endlich steht er draußen auf der freien Straße.

Es ist ihm, als sei er aus langer, quälender Kerkerhaft in die Freiheit entlassen.

6

Als der Leutnant wieder auf der Straße stand, wußte er, nie würde er in jenen Raum zu Herrn Richter zurückkehren, nie den erwarteten Bericht erstatten, nie mehr zu Kameraden Kamerad sagen. Ehre verloren, alles verloren, klang es in ihm. Jawohl, die Ehre, die ihm gemeinsam mit den andern Offizieren gehörte, die hatte er verloren. Er hatte wie ein Feigling gelogen, um sich dem Richterspruch der andern zu entziehen. Aber nicht, weil er den Tod fürchtete - den Tod hatte er sich schon zuerkannt, sondern weil er auf seine eigene Art sterben wollte - ihr zum Gedächtnis!

Der Leutnant hat die Hände in die Taschen gesteckt; die Zigarette zwischen den Lippen, schlendert er durch den grauen, staubfein nieselnden Mittag dem abseits liegenden Teile der Stadt zu, wo die Villen der Offiziere liegen. Genau überlegt, ist es ein völliger Unsinn, noch diese Demütigung auf sich zu nehmen, bei dem Mädchen Frieda zu horchen, was ihre Herrschaft geredet hat. Er wird Herrn Richter nie das Ergebnis seiner Ausforschungen übermitteln. Mögen die sehen, wie sie mit ihrem Putsch zurechtkommen, er kümmert sich nur noch um seine eigenen Angelegenheiten!

Wie der Leutnant da scheinbar sorglos und zeitlos in seinem verschlissenen Zivil durch die Straßen bummelt, auch einmal in einen Laden tritt und sich ein halbes Hundert Zigaretten von einer sehr viel besseren Sorte als gewöhnlich kauft, hat er eine senkrechte, tiefe Falte zwischen den Augenbrauen, gerade über der Nasenwurzel: - eine Grübelfalte. Es ist nicht ganz leicht für einen jungen Mann, der in seinem ganzen Leben immer lieber etwas getan als nachgedacht hat, sich klarzuwerden, was eigentlich mit ihm los ist, was er will und was er nicht will.

Tief überrascht hat ihn eben doch der Gedanke, wie gleichgültig ihm

der Putsch geworden ist, für den er Monate und Monate gearbeitet, fast ohne Geld, alles entbehrend, was junge Männer sonst lieben. Sehr überrascht hat es ihn doch, wie gleichgültig ihn das Fortgehen von den Kameraden läßt, zu denen er nun nicht mehr gehört, deren Gesellschaft ihm doch immer wichtiger war als die Liebe eines jeden Mädchens.

Er hat viel ertragen müssen an diesem Vormittag, Dinge, die er sonst nie ertragen hätte, die ihn zum Toben gebracht hätten: den Portweinguß des Rittmeisters, das argwöhnische Ausfragen des lächerlichen Friedrich, den fast unverhüllten Ekel von Herrn Richter und zum Schluß die schmachvolle Vernehmung durch den dicken Kriminalisten. Aber auch dies alles ist schon wieder abgeglitten von ihm; er, der sonst eine angetane Kränkung durch Jahre nicht vergessen konnte, der rachsüchtig ist, muß sich Zwang antun, wenn er sich dieser nahen Ereignisse überhaupt noch erinnern will.

Es ist seltsam, Mensch, aber es ist doch, als wäre ich schon gar nicht mehr recht dabei. Als ginge mich diese Welt nichts Rechtes mehr an. Wie ein Sterbender, dem alles versinkt ... Ja, jetzt fällt es mir wieder ein: wenn die Menschen sterben, so fangen ihre Hände ruhelos auf der Bettdecke herumzusuchen an. Die einen sagen, der Sterbende gräbt sich sein Grab, und die andern: er sucht etwas, an dem er sich festhalten kann auf dieser Welt. Ist es auch so bei mir? Entgleitet mir alles, und ich finde nichts mehr auf der Welt, mich daran zu halten? Aber ich bin kein Sterbender, ich bin nicht die Spur krank - wissen es denn schon die Zellen in mir, daß sie sterben müssen? Kann Tod nicht nur eine Vernichtung durch Krankheit sein, sondern auch Zerstörung des Leibes durch einen Gedanken?! Bin ich denn wirklich ein Verräter?!

Er bleibt stehen, er sieht sich um, als wachte er aus einem bösen Traum auf. Er ist auf einem weiten, öden Platz, festgestampft durch die Schuhe vieler hundert Soldaten, eine gelbliche, lehmige, trostlose Fläche, aus der kaum ein Unkraut sich hervorwagt. Am andern Ende des Platzes sind die grellen, gelben, nackten Kasernenbauten, von einer hohen, gelben Mauer umgeben, deren First mit Glasscheiben gespickt ist. Das fahlgrau gestrichene große Eisentor ist geschlossen, der Posten mit Stahlhelm, den Karabiner umgehängt, geht auf und ab, um sich ein bißchen zu erwärmen.

Der Leutnant sieht dieses Bild, wiederum trostlos wie ein schlimmer Traum; eine finstere Entschlossenheit steigt in ihm auf, etwas Böses, sehr Dunkles. Er geht quer über den Platz, er denkt: Nun will ich doch einmal sehen!

Er stellt sich mitten in den Weg des Postens und sieht ihn

herausfordernd an. "Nun, Kamerad?" sagt er.

Er kennt den Mann, und der Mann kennt ihn. Der Leutnant hat ihm und seinen Kameraden manchmal eine Lage geschmissen. Sie haben dann und wann beisammengesessen; ja, als es auf einem ländlichen Tanzboden einmal eine Holzerei gab, haben sie Seite an Seite den Saal geräumt. Sie sind also ganz gute Bekannte, aber jetzt tut der Mann so, als wüßte er von keinem Leutnant, er sagt halblaut: "Machen Sie, daß Sie weiterkommen!"

Der Leutnant aber bleibt stehen. Er ist noch finsterer geworden, er spricht den Posten von neuem an, er fragt höhnisch: "Nun, Kamerad, bist du so fein geworden, daß du mich nicht mehr kennst?"

Der Mann verzieht das Gesicht nicht, er scheint nichts gehört zu haben, er geht vorbei, ohne ein Wort. Als er aber sechs Schritte gegangen ist, muß er kehrtmachen, er geht wieder auf den Leutnant zu. Diesmal sagt der Leutnant: "Höre, Mensch, ich habe nichts zu rauchen. Schenk mir eine Zigarette, und ich gehe sofort weiter."

Der Mann wirft einen raschen Blick nach links. Die kleine Tür für Fußgänger steht offen, man sieht ein Stück Kiesweg und die Fenster des Wachtraums, dann sieht er nach rechts zu dem Leutnant hin. Das Gesicht des Leutnants trägt einen schwer zu enträtselnden Ausdruck aus Hohn, Verzweiflung, Angst. Der Posten wird aus diesem Gesicht nicht klug, aber es hat etwas Warnendes, Drohendes, sonst hätte er es vielleicht doch gewagt und dem Leutnant eine Zigarette geschenkt. So aber geht er wortlos vorüber, macht beim Schilderhaus kehrt. Eine Ahnung läßt ihn den Karabiner von der Schulter nehmen, nun geht er wieder auf den Leutnant zu.

Der Leutnant ist ganz im Banne seiner wilden, zu allem entschlossenen Verzweiflung. Es ist ihm ja nun längst klar, daß die Reichswehr nichts mehr von ihnen wissen will, daß da strengste Befehle erlassen sind, sich nicht mehr mit diesen Außenseitern abzugeben. Aber er will unter allen Umständen erreichen, daß der Mann sich mit ihm einläßt, er will Streit mit ihm bekommen, er will in die Kaserne gebracht werden, seinethalben als Festgenommener. Dann kann er den Offizier vom Wachtdienst fragen: "Was habt ihr gegen uns?" - Und wenn er dann etwas von einem Waffenlager hört ... Nun gut! Erledigt -! Er-ledigt!!!

Es ist ein vollkommen wahnsinniger Gedanke, der ihn da besessen hält. Als wenn der Offizier vom Wachtdienst geneigt wäre, einem Festgenommenen Auskünfte zu erteilen, die den freien Kameraden verweigert werden!

Aber der Leutnant ist eben nicht mehr verständig, er hat einen ganz

richtigen Gedanken gehabt, als er meinte, die Zellen in ihm seien erkrankt. Er läßt dieses Mal den Posten unangefochten an sich vorbei, während der ihm aber den Rücken dreht, brennt er sich eine Zigarette an. Qualmend blickt er dem rückkehrenden Mann entgegen; er freut sich über den verblüfften, etwas dämlichen Ausdruck auf dem Gesicht, das den Leutnant rauchen sieht, der eben noch um eine Zigarette bat. Der Leutnant streckt ihm eine zweite Zigarette hin und sagt: "Hier, Kamerad, hast du eine Zigarette von mir, weil du keine für mich hast."

Der Mann bleibt stehen, er sagt entschlossen: "Gehen Sie jetzt, oder ich rufe die Wache."

"Ich gehe erst", erklärt der Leutnant, "wenn du die Zigarette genommen hast."

Der Mann sieht ihn schweigend an, er greift nicht nach der Zigarette, aber er hebt den Karabiner etwas an. Schließlich sagt er zuredend: "Seien Sie doch vernünftig! Gehen Sie jetzt!"

Auch der Leutnant möchte den andern überreden. "Kamerad", sagt er, "nimm die Zigarette. Tu mir den Gefallen und nimm sie. Bloß, daß ich sehe, du bist noch mein Kamerad. Da!" Er hält sie ihm hin. Dann setzt er drohend hinzu: "Wenn du sie nicht nimmst, muß ich dir in die Fresse schlagen."

Der Mann sieht ihn ernst, beobachtend, abwartend an. Er macht keinerlei Anstalten, die Zigarette zu nehmen, er wartet, was der Leutnant tun wird.

In dem Leutnant entsteht plötzlich ein Gedanke, der ihn fast rasend vor Wut macht. "Ach!" ruft er. "Du denkst wohl, ich bin besoffen -?! Ich werde dir zeigen, wie besoffen ich bin ..."

Er läßt die Zigarette fallen, und im gleichen Augenblick stößt er die Faust direkt gegen das Gesicht des Soldaten.

Aber weiß es der Himmel - der Leutnant, sonst ein so geschickter Boxer, hat heute keinen guten Tag. Hölzern prallt die Faust auf das Holz des Karabinerschaftes. Ein brennender Schmerz durchzuckt Hand und Arm, dann trifft ihn der Kolben mit aller Gewalt vor die Brust, rücklings taumelnd fällt der Leutnant - es ist ihm, als könne er nie wieder atmen.

Doch wie er so daliegt, um Luft kämpfend, immer den achtsamen Blick des Postens auf sich, als sei er ein wildes Tier, eine Art reißender Wolf, den man nicht aus dem Auge lassen darf - wie er bedenkt, daß der Posten ihn nun doch nicht festgenommen hat, nicht in die Kaserne gebracht hat, nicht auf ihn geschossen hat - wie er sich weiter trübe im Hundertstel einer Sekunde der Pistole in der eigenen Tasche erinnert, mit

der er die Schmach des Schlages heimzahlen könnte -

Da durchfährt es ihn mit schneidender Schärfe, daß er nicht nur die Kameraden über den Verrat des Waffenlagers getäuscht, daß er ihnen nicht nur jetzt ganz grundlos neue Schwierigkeiten gemacht hat, sondern daß er wirklich nichts wie ein Feigling ist. Daß er alle diese Dinge nur tut, um die Fahrt in den Schwarzen Grund zu verzögern, um die Entdeckung der Wahrheit hinauszuschieben, um sich ein paar Stündchen Leben zu stehlen! Der Lack platzt, die schöne Farbe blättert ab, morsch, verfault sieht er das Holz seines Lebensschiffes; dies bist du! spricht die Stimme.

Und während er sich mühsam von der Erde hochtastet, während er mit schmerzenden Gliedern weitergeht, ohne auf den Posten zu achten, ohne auch nur an ihn zu denken - so völlig hat die neue Erkenntnis alles eben Geschehene in ihm ausgelöscht -, muß er immer wieder an jenen Sommermorgen im Walde denken, wie er den kleinen Meier mit der Pistole in der Faust vor sich her trieb, wie er den erbärmlichen Feigling verachtet hat, welch Ekel ihn überkam vor seinem Betteln - und peinigend nagt an ihm die Angst: Werde ich auch so feige sein? Werde ich überhaupt den Mut haben, loszudrücken? - Wie werde ich sterben?

Dieser Gedanke wird immer stärker in ihm, wenige Minuten, und er beherrscht alles!

Wie werde ich sterben: als Kerl oder als Feigling? Wird meine Hand vielleicht zittern, und ich werde mich blind schießen wie damals der kleine Rakow? Gott, was hat er geschrien!

Er schaudert, fester umfaßt er den kühlen, glatten Pistolenschaft in der Tasche, als könnte der ihm das Selbstbewußtsein geben, an dem es ihm sein ganzes Leben lang nie gefehlt hat und das nun, da es ans Sterben geht, ihn völlig verläßt. Ich muß schnell machen, denkt er verzweifelt. Ich muß schnell hinfahren in den Schwarzen Grund, damit ich Gewißheit habe. Wie kann ich denn leben, wenn ich nicht einmal weiß, ob ich mutig genug zum Sterben bin?!

Aber während er dies alles denkt, während doch jede Fiber in ihm zur Entscheidung zu drängen scheint, geht er mühsam, aber beharrlich immer weiter von seinem Rade fort, vom Schwarzen Grunde fort, vom Tode fort, zur Ausführung eines widerlichen Spionageauftrages, der doch längst für ihn gegenstandslos geworden ist. Er denkt nicht darüber nach, diese Inkonsequenz fällt ihm schon nicht mehr auf. Aber als er eine kleine Kneipe sieht, in der er manchmal gesessen hat, fällt ihm ein, daß er sich unmöglich mit so beschmutzten Kleidern vor dem Dienstmädchen Frieda sehen lassen kann, und er tritt ein. Er bestellt sich beim Wirt ein Glas Bier und fragt ihn, ob er nicht irgendeine Jacke hat, die er statt des

verdreckten Dings anziehen kann.

Der Wirt sieht ihn einen Augenblick schweigend an; er weiß natürlich ungefähr, was der Leutnant vorstellt. Dann verschwindet er und kommt mit einer nagelneuen Windjacke zurück.

"Ich glaube, das Ding müßte Ihnen passen", sagt er. "Was haben Sie denn mit Ihrer angefangen?"

"Hingefallen", murmelt der Leutnant.

Er hat seine Windjacke abgestreift und sieht auf der Außenseite des Unterarms einen großen, schwarz unterlaufenen Blutfleck. Gedankenverloren schiebt er das Hemd über der Brust auseinander und findet auch dort die Spuren des Kolbens. Als er das Hemd wieder zuknöpft, begegnet er dem Blick des Wirtes.

"Es geht doch nicht etwa schon los?" fragt der Wirt leise.

"Nein", antwortet der Leutnant und zieht die Windjacke über. "Paßt wie nach Maß."

"Ja, ich sah gleich, daß Sie eine Figur mit meinem Jungen haben. Ich habe meinem Jungen die Windjacke für morgen gekauft. Mein Junge geht auch mit, Herr Leutnant."

"Schön", sagt der Leutnant und trinkt einen Schluck Bier.

"Nicht wahr, Herr Leutnant?" bittet der Wirt. "Sie sorgen dafür, daß die Windjacke heute abend zurück ist? Er möchte doch auch anständig aussehen, wenn er morgen mitgeht - es ist das erstemal, daß er so was mitmacht."

"Geht in Ordnung", sagt der Leutnant nur. "Was bin ich schuldig?"

"O nichts!" antwortet der Wirt eilig. "Eine Frage, wenn Sie es nicht übelnehmen ..."

"Nun?"

"Waren Sie in der Kaserne?"

"Nein, ich war nicht in der Kaserne."

"So - dann wissen Sie also auch nichts. Es soll dicke Luft sein in den Kasernen ..."

Er sieht den Leutnant abwartend an, vielleicht denkt er jetzt an die blauschwarzen Flecke auf des Leutnants Körper. Aber der Leutnant sagt nichts. Der Wirt meint bittend: "Sie glauben doch auch nicht, Herr Leutnant, daß es morgen ernstlich was geben könnte -?"

"Ernstlich was geben könnte -?"

"Na, ich meine bloß - ernstlich. - Kämpfe, Schießen und so was - dann

würde ich nämlich meinen Jungen nicht mitgehen lassen ..."

"I wo!" lacht der Leutnant herzlich. "Was bilden Sie sich denn ein? Kämpfen, Schießen - so was gibt's doch gar nicht mehr! So ein Putsch ist eine höchst vergnügte Sache! Heldentod gibt's auch nicht mehr, Heldentod ist seit 18 abgemeldet "... Er bricht plötzlich ab, wie angeekelt.

Der Wirt erklärt ernsthaft: "Ich weiß nicht, ob Sie im Ernst reden. Aber ich frage ganz im Ernst, Herr Leutnant. Weil ich nämlich bloß den einen Jungen habe. Wer soll denn die Kneipe übernehmen, wenn dem was passiert? Man will doch auch nicht umsonst gearbeitet haben in seinem Leben! Sie hätten die Kneipe mal sehen sollen, wie ich sie vor zwanzig Jahren gekauft habe - ein Hundeloch! Und jetzt! Nein, wenn ich wüßte, es könnte was Ernstliches geben - dafür wäre mir mein Junge zu schade. Aber sonst soll er gerne mitgehen - es ist auch gut fürs Geschäft, weil wir viel Stammgäste vom Militär haben."

Der Leutnant versichert noch einmal, daß alles in Ordnung und ganz ungefährlich ist. Er verspricht noch einmal, die Windjacke am Abend rechtzeitig zurückzuschicken - und nun geht er weiter. Er weiß, er hat den Wirt belogen, aber das macht nichts. Auf ein bißchen weniger oder mehr Lüge kommt es nun auch nicht an. Aus der Nähe betrachtet, ist es zum Kotzen, aus welchen Gründen solche Leute mitmachen, aber für Herrn Richter ist es aus der Nähe betrachtet vielleicht auch zum Kotzen, aus welchen Gründen der Leutnant mitmacht. Die seltsame Erkrankung des Hirns, die Schwächung seines Selbstgefühls hat schon solche Fortschritte gemacht, daß der Leutnant dies einsieht.

Die kurze Rast in der Kneipe, die zwei Schluck Bier haben ihm gutgetan. Er schreitet nun schneller aus, er kommt bald in die kleine Villenstraße, die sein Ziel ist. Die Hecken und Bäume um die Villen sind schon durchsichtiger belaubt: der Leutnant geht rasch, er hat die Mütze deckend in die Stirn gezogen, er würde hier nicht gerne gesehen und erkannt werden, wo soviel Offiziere wohnen.

Die Villa, in die er will, bewohnt ein Oberst, ein aktiver Oberst von der Reichswehr. Nach seiner gesellschaftlichen Stellung könnte der Leutnant gut und gerne den Klingelknopf drücken, um den eine Inschrift läuft: "Nur für Herrschaften". Aber der Leutnant drückt diesen Knopf nicht, er geht zehn Schritt weiter, bis zu einer kleinen eisernen Gartentür mit dem Schild "Für Lieferanten". Er stößt die Tür auf, er geht einen fliesenbelegten Gang - der Herrschaftsweg ist schwarzweiß gekiest - um die Villa herum zu ihrer Hinterfront, dorthin, wo Teppichstange und Mülltonnen stehen. Er steigt auch nicht wie die Herrschaften fünf Stufen

hinauf in die Beletage mit den Spiegelscheiben, sondern fünf Stufen abwärts in das Souterrain mit Traljen vor den Fenstern, er geht den Küchenweg ...

Der Leutnant hat immer an den Satz geglaubt, daß der Zweck die Mittel heiligt. Er hat sich nie geschämt, aus dem früher ganz ordentlichen Mädchen Frieda eine liederliche Hausspionin zu machen, denn er hat dadurch schon manchmal Interna aus der Garnison erfahren, die zu wissen recht nützlich war. Wenn er dieses Mal den Weg sehr viel unlustiger als sonst geht, so liegt das nicht nur daran, daß ja seine ganze Gemütsverfassung nicht gerade rosig ist, sondern vor allem daran, daß er diesen Weg bisher noch nie bei Tageslicht gemacht hat. Ein anderes Gesicht tragen unsere Taten bei Tag, ein anderes bei der Nacht. Der Oberst oben in der Beletage hat zwei Töchter, der Leutnant hat sogar mit diesen Töchtern schon getanzt; es wäre ihm sehr peinlich, wenn ihn diese Töchter beim Besuch im Küchenrevier sähen. Nicht seiner Taten schämt sich der Leutnant, aber er schämt sich, bei seinen Taten gesehen zu werden!

Der Leutnant hat Glück: Als er in den Gang tritt, begegnet er niemand anderem als dem Mädchen Frieda. Sie kommt aus ihrem Zimmer, Handfeger und Kehrichtschaufel in der Hand.

"Tag, Friedel!" grüßt der Leutnant.

Die Friedel, etwa zwanzig Jahre, vollbusig, von jener etwas robusten ländlichen Schönheit, von der mit dem fünfundzwanzigsten Jahre jede Spur verschwunden ist, schreckt ein wenig zusammen. "Bist du das, Fritz?" fragt sie. "Kommst du jetzt auch am Tage? Ich habe aber keine Zeit für dich."

Dabei stellt sie doch Schaufel und Handfeger an den Rand des Ganges.

"Na, Friedel?" fragt der Leutnant etwas lahm. "Freust du dich denn gar nicht, daß ich gekommen bin -?"

Sie macht keine Anstalten, ihm näher zu kommen, ihn in die Arme zu nehmen, zu küssen wie sonst. Sonst hat sie gestrahlt, wenn sie ihren Leutnant sah. Wer weiß, was das Mädel sich alles eingebildet hat! Eine hingebende Verliebtheit, demütige Willigkeit. Und jetzt -?

Jetzt sagt die Friedel recht schnippisch: "Das habe ich schon den ganzen Morgen gewußt, daß du heute kommen würdest!"

"Nanu!" spielt der Leutnant den Verwunderten. "Hast du jetzt Ahnungen? Du hast wohl von mir geträumt, Frieda? Ja, mir war so ... Ich denke, siehst doch mal nach der Friedel ..."

Es ist zum Verzweifeln, der Leutnant kann sich keinen Schwung geben.

Er sieht das Mädchen an, er sieht es recht mit Absicht an. Jawohl, es ist ein Mädchen, es hat eine angenehme Brust, kräftige Hüften, schöne Beine mit ein wenig zu derben Knöcheln ... ach, es wird nichts, er kommt nicht in Gang! Es ist irgendein beliebiges Frauenzimmer, völlig gleichgültig - und so dumm ist die Friedel nun doch nicht, das merkt sie auch!

Spöttisch sagt sie: "So, dir war so, Fritz?! Du hast wohl auch was läuten gehört, daß ihr hinten runtergerutscht seid mit eurem Putsch, und nun willst du ein bißchen horchen bei deiner Friedel, was?"

"Hinten runtergerutscht, wieso?" fragt er und hofft, sie wird ins Sprechen kommen.

"Tu nur dumm!" ruft sie zornig. "Du weißt ganz gut Bescheid. Schiß hast du, darum bist du zu mir gekommen, ein Schisser bist du! Wie ich heute früh gehört habe, was der Oberst der gnädigen Frau erzählt hat, da habe ich mir gleich gesagt: Woll'n mal sehen, Friedel. Wenn er heute kommt, dann kommt er nicht deinetwegen, Friedel. Dann kommt er bloß, um zu horchen, dann bist du bloß sein Spion. Und siehst du, noch keine zwei Stunden, und schon bist du da. Und du willst mir einreden, dir war so!"

Sie sieht ihn zornig, verächtlich an, sie schnauft ein bißchen, ihre starke Brust bewegt sich heftig, der Leutnant sieht es.

So können wir nicht weiterreden, denkt der Leutnant verloren und betrachtet die atmende Brust. Ich muß ja erfahren, was der Oberst seiner Frau gesagt hat ...

Und ganz plötzlich geht er ohne ein Wort an dem Mädchen vorbei, er geht in ihr Zimmer, in ihre Kammer -. Das Bett ist noch nicht gemacht, aufgeschlagen liegt es dort, hier hat sie gelegen, hier hat sie geschlafen ...

"Nun will ich dir zeigen, wie mir ist", sagt er hastig und nimmt das Mädchen einfach in die Arme. Er kümmert sich nicht um ihr Sträuben, er hat nie auf die Abwehr der Mädchen geachtet, das ist alles bloß jüngferliche Zimperlichkeit, Anstellerei! Sie hat die Fäuste gegen seine Brust gestemmt, gegen die schmerzende Brust, aber er deckt ihr Gesicht mit dem seinen zu, er legt seinen Mund auf ihren, der sich fest, abweisend schließt. Aber er küßt, er küßt sie ...

Jetzt küsse ich noch, denkt er verloren. Gleich wird sie nachgeben, ihre Lippen werden sich öffnen - und dann muß ich sterben. Durch mein Küssen kommt es, daß ich sterben muß, durch mein Küssen wird sie plaudern, sie wird mir alles erzählen -. Und dann muß ich hingehen in

den Schwarzen Grund und muß tun, was ich der Violet gesagt habe - "verdammte Violet -!"

Ohne es zu wissen, hat der Leutnant den Namen der Verhaßten laut gesprochen, schon hatte er vergessen, daß er ein Mädchen küßte, er hatte sie nur noch lose im Arm gehalten.

Mit einer wilden Kraft fühlt er sich zurückgestoßen, er fällt polternd gegen den Schrank.

"Mach, daß du rauskommst!" ruft das Mädchen zornig. "Du Lügner, du! Ich soll für dich spionieren, und du denkst dabei an andere -?!" Sie atmet heftig.

Der Leutnant steht mit einem verlorenen, verlegenen Lächeln am Kleiderschrank. Er macht keinen Versuch mehr, sich zu erklären, sich zu rechtfertigen.

"Na ja, Friedel", sagt er schließlich, immer mit demselben verlegenen Gesicht. "Es ist schon eine komische Welt. Du hast ganz recht. Auf der Schule haben wir schon so was gelernt: nemo ante mortem beatus oder so ähnlich, ich weiß nicht mehr genau. Das heißt: Niemand ist vor seinem Tode glücklich zu preisen, und niemand weiß auch vor seinem Tode, was er wirklich ist. Du hast ganz recht: Ich bin ein Lügner. - Tjüs, Friedelchen, und nichts für ungut!"

Er streckt ihr die Hand hin. Sie nimmt sie zögernd, ihr Zorn ist verflogen, seine Verlegenheit hat sie angesteckt. "Gott, Fritz", sagt sie und weiß gar nicht recht, was sie zu seinen unverständlichen Sprüchen sagen soll. "Du bist so komisch. Ich war ja nur wütend, weil du dir gar nichts aus mir machst ..."

Er macht eine abwehrende Bewegung.

"Na schön, ich sage ja nichts. Aber wenn du es gerne erfahren willst, ich will dir auch erzählen, was der Herr Oberst heute früh ..."

Er läßt ihre Hand los: "Nein, danke, Friedel. Das ist nicht mehr nötig. Es ist", grübelt er schon wieder, "alles wirklich verdammt komisch. Das geht mich nun auch nichts mehr an. Na, tjüs, Friedel. Sieh, daß du bald unter die Haube kommst, es ist das beste für dich ..."

Und damit geht er. Er vergißt sogar, sie noch einmal zum Abschied anzusehen. Auch das Mädchen Frieda ist schon völlig für ihn versunken, er hört nicht, was sie ihm nachruft. Tief in Gedanken geht er den Kellergang entlang, die kleine Treppe hinauf, den fliesenbelegten Weg durch den Vorgarten auf die Straße. Er trägt seine Mütze in der Hand, es ist ihm völlig gleichgültig, ob ihn andere sehen und erkennen. Augenblicklich ist er sich der Existenz anderer auf dieser Erde nicht klar

bewußt. Er hat mit sich selbst genug zu tun.

Freilich dann, an der nächsten Straßenecke, da muß er denn doch noch einmal aus der stillen Welt seiner Gedanken auf diesen windigen, gefährlichen Stern zurückkehren; denn eine Hand legt sich auf seine Schulter, und eine Stimme sagt zu ihm: "Einen Augenblick bitte, Herr Leutnant."

Der Leutnant blickt hoch und sieht in das eisige Auge des dicken Kriminalisten.

7

Ohne den Kellner im "Goldenen Hut" wäre die hingesunkene Violet noch lange auf dem Fußboden der Gaststube liegengeblieben. Der Rittmeister von Prackwitz war zu nichts zu gebrauchen. Einmal wollte er dem Leutnant nach und sich mit ihm schießen; nun rief er die Gäste zu Zeugen auf, wie schmählich der Herr seine Tochter behandelt hätte ... Er kniete neben Violet, mit seinem Taschentuch wischte er ihr den Mund ab, er rief klagend: "Violet, nimm dich zusammen - du, eine Offizierstochter!"

Und aufspringend verlangte er Portwein für sich -: "Aber nicht aus diesem Glas, dieses Glas ist beschmutzt, es muß zerbrochen werden!" Er zerbrach es. "Wo ist meine Frau? Meine Frau ist nie da, wenn sie wirklich gebraucht wird! Ich rufe Sie zu Zeugen an, meine Herren, daß meine Frau nicht hier ist -!"

Der Kellner ließ den Chauffeur hereinrufen. Zu dreien hoben sie Violet auf, sie wollten sie aus dem Haus tragen, in den Wagen setzen, heimfahren lassen. Als Violet aufgehoben wurde, fing sie zu schreien an - sie schrie pausenlos hintereinander, kein Wort, einen irren Klagelaut, wie ein Tier. Die Männer hätten sie beinahe fallen lassen. Violet wurde auf ein Sofa gelegt, auf eines jener schrecklichen Wachstuchsofas mit weißen gerieften Nägeln, von denen alles abrutscht. Da lag sie ineinandergefallen, ein Reisender versuchte, ihr den Rock über den Knien zurechtzuziehen. Sie sah nichts, sie hörte nichts, ihre Augen waren geschlossen. Sie war kein junges Mädchen mehr, sie war nichts mehr, sie war ein Ding aus Fleisch, das schrie, das schrecklich schrie ...

Der Rittmeister saß zerfahren an einem Tisch, den fast weißen Kopf in die Hände gestützt. Er hielt sich die Ohren zu, er murmelte: "Nehmt sie weg! Laßt sie nicht mehr schreien! Ich kann es nicht anhören! Bringt sie ins Krankenhaus! Meine Frau soll kommen!"

Der letzte Wunsch war der einzig erfüllbare: Der Chauffeur Finger fuhr

los, mit dem glänzenden Horch, dem schon wieder vergessenen, neuesten Spielzeug des großen Kindes, die gnädige Frau zu holen.

Die Hoteliere erschien, ein Zimmer im zweiten Stock wurde vorbereitet, nach einem Arzt wurde telefoniert. Schließlich wurde Violet hinaufgetragen. Sie schrie immer weiter. Der Rittmeister weigerte sich, mit seiner Tochter hinaufzugehen. "Ich kann das Schreien nicht hören", sagte er. Er hatte erreicht, daß jetzt eine ganze Portweinflasche vor ihm auf dem Tisch stand. Er hatte die Rettung der Lebensuntüchtigen gefunden: den Alkohol, der Flucht vor den Sorgen ist, der Vergessenheit bringt - und ein hundertmal schwereres Erwachen am nächsten Tage.

Mit einem Stubenmädchen zusammen zog die Wirtin Violet aus, sie schrie. Sie schrie weiter, als sie im Bett lag.

"Ja, Dora", sagte die Wirtin. "Ich muß zu meinen Pötten, die Herren kommen gleich zum Mittagstisch. Bleib du hier erst mal sitzen und ruf mich, wenn der Doktor kommt."

Die Herren unten hatten sich dahin geeinigt, daß es die Wehen wären, die das Mädchen so schreien machten, obwohl man es ihm gar nicht angesehen hätte. Morgen würde der ganze Kreis wissen, was mit der Tochter des Rittmeisters von Prackwitz, einer Millionenerbin, los war. Und so ein Schnösel von Kerl!

Der Rittmeister achtete nicht auf das Geschwätz, er hatte zu trinken, er trank.

Oben schrie Violet.

Das Mädchen Dora hatte ein paarmal zu ihr gesagt: "Fräulein, schreien Sie doch nicht so! Es tut ihnen doch keiner was! - Warum schreien Sie denn so? Tut Ihnen was weh?"

Umsonst, das Ding schrie weiter. Mit einem Achselzucken: "Na, denn nicht!", mit dem Gefühl, für Freundlichkeit Undank geerntet zu haben, setzte sich das Mädchen neben das Bett, aber nicht, ehe es sein Strickzeug geholt hatte. Dora saß und strickte an ihrem Pullover; in der Gaststube unten saß Herr von Prackwitz und trank; Violet, tödlich in ihrem Lebenszentrum verletzt, schrie nur noch. Keiner ist so geborgen, daß Unheil ihn nicht erreichen könnte - dem Mädchen Violet, einem halben Kinde, verspielt, ohne jede Ahnung vom wirklichen Leben, hatte sich der Wolfsrachen dieses Lebens aufgeschlagen. Nur noch Dunkel und Dämmer gab es, und aus der Finsternis den einen, ewig wiederholten Schrei: mir ist angst.

Der Arzt ließ auf sich warten, der Rittmeister trank zuviel. Umsonst hatten ihm Kellner und Wirtin zugeredet, etwas zu essen, und sei es bloß

ein Teller Suppe. Herr von Prackwitz blieb bei seinem Portwein. Nur noch eine dämmernde Erinnerung von dem, was ihm an diesem Vormittag zugestoßen, war in den Dünsten des Alkohols verblieben. Aber diese letzte, blasseste Erinnerung, Unheil sei ihm widerfahren, sie war irgendwie mit Portwein verknüpft, und so hielt er sich an den Portwein. Allmählich, wie aus der ersten Flasche die zweite, aus der zweiten die dritte wurde, fing sein Gesicht purpurn an zu glühen, seine Haare schienen schlohweiß. Jetzt hob er den Kopf wieder straffer, er sah grade vor sich hin. Manchmal lachte er plötzlich auf, oder er schrieb mit geschwindem Zeigefinger viele Zahlen auf das Tischtuch und schien zu rechnen.

Der Kellner hatte ein wachsames Auge auf ihn. Der "Goldene Hut" war ein altrenommiertes Haus, so leicht konnte nichts seinen Ruf untergraben. Aber am Ende war es genug an einem Gast, der im Lokal gelegen hatte, nach der Tochter muß es nicht auch noch den Vater treffen. Frau Eva von Prackwitz, die so eilig in den Wagen steigt und allen Ärger und alle Scherereien mit der Ententekommission dem jungen Pagel überläßt, dem einzig übriggebliebenen Vertreter von Herrschaft und Beamtenschaft des Gutes Neulohe - Frau Eva ahnt nicht, daß weder Mann noch Tochter sie sehnlich erwarten. Nur ein Oberkellner wünscht sie herbei, daß es nicht noch eine Szene gebe. Frau Eva sagt zu dem Chauffeur: "Fahren Sie rasch!" - Der Chauffeur antwortet: "Jawohl, gnädige Frau - aber die Wege!"

Sie lehnt sich in ihre Ecke, sie überläßt sich ihren Sorgen, Gedanken, Ängsten. Unheil fällt ihr Haus an, alles löst sich auf. Zehnmal ist sie in der Versuchung, die Scheibe wieder aufzustoßen und Herrn Finger neu zu befragen. Aber sie bleibt dann doch in ihrer Ecke, es ist nutzlos, der Mann weiß nichts. Er ist erst gerufen worden, als Violet bewußtlos in der Gaststube lag. Als man sie dann in den Wagen hat tragen wollen, fing sie an zu schreien.

"Glauben Sie denn, daß sie sich was gebrochen hat?" hat Frau Eva gefragt.

"Gebrochen? Nein", hat Herr Finger geantwortet.

"Aber warum hat sie denn geschrien, Finger?" hat Frau Eva gefragt.

Doch darauf hat Finger keine Antwort gewußt. Und kein Wort, keine Botschaft von ihrem Mann. - "Ach, Achim, Achim!" seufzt Frau Eva wieder einmal und weiß noch gar nicht, wie sehr sie Ursache hat, über ihren Mann zu seufzen.

Denn jetzt erzürnt sich der Rittmeister in der Gaststube. Ein paarmal ist er aufgestanden von seinem Stuhl, er hat sich am Tisch festgehalten

und argwöhnisch auf den Marktplatz gespäht. "Was ist denn? Ist etwas nicht in Ordnung?" hat der Kellner besorgt gefragt. "Darf ich vielleicht etwas zu essen bringen? Brathuhn ist heute sehr gut."

Der Rittmeister hat den Kellner böse angestarrt mit einem wild flackernden, geröteten Blick. Er hat ihn ohne Antwort gelassen, sich aber wieder hingesetzt und ein neues Glas Portwein getrunken, während er leise und böse vor sich hin murmelt. Aber einen Augenblick später sieht der Rittmeister wieder aus dem Fenster, ein Gedanke hat von seinem Hirn Besitz ergriffen: Er hat doch ein Auto gehabt! Er hat es doch hier vorm Hotel halten lassen! Wo ist das Auto geblieben -? Sie haben es ihm gestohlen!

Der Rittmeister wirft einen vorsichtigen Blick durch das Lokal. Da sitzen sie und essen, aber zu trauen ist ihnen nicht. Er begegnet so vielen Blicken - warum starren ihn alle so an? Wissen sie vielleicht schon, daß er bestohlen ist, und warten nur darauf, daß er es merkt?

Der Rittmeister kehrt mit seinem Blick an den eigenen Tisch zurück, leise schwankt die Portweinflasche wie ein Halm im Winde. Das Glas fährt fort, und plötzlich ist es wieder ganz nahe und sehr groß. Der Rittmeister benutzt diesen Augenblick: Er neigt den Hals der Portweinflasche über das Glas, aber nur eine klägliche Neige tröpfelt heraus.

Suchend sieht er sich nach dem Kellner um, aber im Augenblick hat der Kellner die Gaststube verlassen. Der Rittmeister benutzt dies, er steht auf. Nachdenklich hält er vor dem Garderobenständer, an dem Mütze und Mantel hängen, neben Jackett und Hut von Violet.

Was ist mit Violet? fällt ihm ein.

Aber eine neue Welle von Trunkenheit schwemmt den Gedanken weg. Er hat auch schon wieder vergessen, daß er seinen Mantel anziehen wollte, er geht aus der Gaststube, vorsichtig steigt er ein paar Stufen hinunter. Noch eine Tür - und nun ist Herr von Prackwitz auf der Straße.

Ein feiner Regen fällt. Barhaupt, in einem grau in grau gemusterten Anzug steht der Rittmeister draußen und sieht die Straße auf und ab. Wohin soll er gehen? Dann meint er, am Ende der Straße den Tschako eines Schutzmanns blinken zu sehen, achtsam, sehr grade, aber mit ein wenig weichen, unsicheren Knien geht er auf den Schutzmann zu.

Am Ende der Straße angelangt, sieht er, daß der blinkende Schutzmannstschako ein blinkendes Messingbecken ist, das über einem Rasierladen hängt. Der Rittmeister streicht nachdenklich über sein Kinn: die Stoppeln knirschen. Er ist heute früh nicht zum Rasieren gekommen.

So tritt er jetzt in den Laden ein.

Der Barbierladen sieht etwas anders aus, als der Rittmeister erwartete: Es stehen ein paar Tische und Stühle darin, es gibt keine Spiegel. Aber es ist dem Rittmeister recht, er setzt sich gerne ein wenig. Er stützt den Kopf in die Hand, und sofort versinkt er wieder in den trüben See der Trunkenheit.

Nach einer Weile merkt er, daß jemand ihm die Hand auf die Schulter gelegt hat. Er sieht hoch und sagt mit schwerer Zunge in ein bleiches, junges Gesicht hinein: "Rasieren, bitte!"

Hinter ihm lacht es schallend los, der Rittmeister möchte zornig werden: Hat der etwa über ihn gelacht? Er will sich umdrehen.

Der junge Mensch sagt ganz freundlich: "Ein bißken einen gekümmelt, wat, Herr Graf? Rasieren möchten Sie sich lassen? Das können Sie nachher auch haben. Jetzt sind Sie erst mal in einer Kneipe ..."

"Wir rasieren Sie ganz gerne! Wir balbieren Sie liebend gerne über den Löffel!" schreit die freche Stimme hinter dem Rittmeister.

"Stille biste!" zischt der Bleiche. "Herr Graf, hören Sie bloß nicht auf den, der hat ja einen Zacken! Darf ich Ihnen wat zu trinken bringen?"

"Portwein", murmelt der Rittmeister.

"Jawoll, natürlich, Portwein, wird jemacht! Bloß, daß wir hier keinen Portwein haben. Aber der Korn ist erstklassig! Ick darf mir doch auch einen mitbringen? Und für meinen Freund auch? Na also! Wir sind hier so gemütlich ganz unter uns, da können wir doch mal einen schmettern! Herr Wirt, Aujust, drei große Korn, und stell die Flasche man gleich auf den Tisch. Der Herr hat uns eingeladen - nicht wahr, Sie haben uns doch eingeladen, Herr Graf -?"

Der Rittmeister sitzt halb schlafend zwischen den beiden. Manchmal fährt er hoch, Tatendrang erfaßt ihn: Er muß sein Auto suchen!

Die beiden beruhigen ihn. Gleich werden sie mit ihm suchen gehen, er soll man erst noch einen trinken. - "Der Korn ist doch knorke, was, Herr Graf?"

Der Rittmeister von Prackwitz sinkt wieder in sich zusammen.

Als der Kellner im "Goldenen Hut" das Verschwinden seines Gastes bemerkt, beunruhigt er sich nicht sofort. Er wird auf die Toilette gegangen sein, denkt er und beeilt sich, mit seinen Mittagsgästen weiterzukommen. Nachher wird er gleich einmal nachsehen; oft schlafen solche Angetrunkenen auf der Toilette ein. Schadet auch nichts, da ist er wenigstens sicher aufgehoben.

Der Kellner serviert eifrig. Er läuft, schleppt Tabletts, bringt Bier, rechnet ab - obwohl heute die Offiziere ausgeblieben sind, geht das Geschäft ausgezeichnet. Sie haben schon über sechzig Tischgäste gehabt - fast nur einzelne Herren, die wohl vom Lande ein bißchen horchen gekommen sind, was eigentlich morgen werden soll. Vielleicht muß man doch noch schnell Anschluß suchen?

Während der Kellner arbeitet, kommt der Arzt. Er wird in den zweiten Stock gewiesen, er findet dort ein junges Mädchen im Bett, das in kurzen Abständen mit einem tierischen Schmerzlaut aufschreit und dabei den Kopf mit geschlossenen Augen hin und her rollt.

Das Mädchen am Bett kann dem Arzt keine Auskunft geben, sie weiß nicht, wer die Kranke ist, was ihr fehlt - aber sie wird die Wirtin rufen.

Der Arzt steht allein am Bett der Kranken. Er wartet eine Weile, aber es bleibt alles, wie es ist: Die Kranke schreit, und niemand kommt. Um etwas zu tun, fühlt der Arzt den Puls. Dann spricht er ein paar Worte zu der Kranken, ob sie Schmerzen habe, was ihr passiert sei? Die Kranke hört nicht. Versuchshalber schreit er die Kranke auch an, sie soll still sein, aber sie reagiert nicht, sie hört ihn nicht. Er hält ihr den Kopf fest, der Kopf liegt still zwischen seinen Händen, aber sobald er ihn losläßt, fängt er wieder an zu rollen und zu schreien.

So zuckt der Arzt die Achseln und stellt sich wartend ans Fenster, das graue Wetter zu betrachten. Der Ausblick ist nicht tröstlich, die Schreie sind nicht tröstlich - außerdem hat der Doktor nach einem schweren Vormittag Hunger. Er findet, die Wirtin könnte endlich kommen.

Endlich kommt sie denn, sie hat schlecht aus ihrer Küche weggekonnt, und auch jetzt ist sie sehr in Eile.

"Gott sei Dank, Herr Doktor, daß Sie endlich da sind! Was ist denn mit der Kleinen -?"

Genau das, was der Doktor wissen möchte.

"Ja, und nun ist der Vater auch verschwunden. Rittmeister von Prackwitz-Neulohe, wissen Sie, der Schwiegersohn von dem alten Geizkragen Teschow, hat drei Flaschen Portwein getrunken und ist völlig dun in den Regen gelaufen, ohne Hut und Mantel. Ich lasse schon nach ihm suchen. Was es auch alles gibt! An manchen Tagen kommt alles zusammen! Was wollen Sie denn mit der Kleinen machen? Die Mutter ist im Auto unterwegs - in ein, zwei Stunden kann sie hiersein!"

"Was ist denn mit dem kleinen Fräulein passiert?"

Die Wirtin weiß es auch nicht recht, der Kellner wird gerufen -. "Mein ganzer Betrieb kommt durcheinander, grade heute muß das passieren,

wo wir so viel Tischgäste haben!"

Aber der Kellner weiß auch nicht mehr zu sagen, als daß es irgendeine Auseinandersetzung mit einem jungen Mann gegeben hat.

"Also eine Liebesgeschichte", sagt der Arzt. "Wahrscheinlich ein schwerer Nervenschock. Ich werde die Kleine erst mal schlafen lassen - und dann, wenn die Mutter da ist, komme ich noch mal vorbei ..."

"Ja, machen Sie nur, daß sie schläft, Herr Doktor! Das Geschrei kann man ja nicht mehr anhören, und ich kann auch nicht immer jemand an ihrem Bett sitzen lassen. Wir haben hier auch unsere Arbeit, wir sind kein Krankenhaus ..."

Der Doktor hört sich das an, ähnliches muß er am Tag hundertmal hören. Er wundert sich immer von neuem darüber, daß die Menschen nicht müde werden, dem Arzt zu erzählen, daß sie grade jetzt nicht die geringste Zeit für Krankheiten haben, daß die Krankheit kein erwünschter Gast ist. Aber die Menschen erzählen das ihren Ärzten immer wieder.

Der Arzt zieht in seiner Spritze ein leichtes Schlafmittel auf. Er sticht die Nadel in den Unterarm ein - und die Kranke zuckt zusammen, für einen Augenblick unterbricht sie ihr Geschrei!

Nachdenklich steht der Arzt da, er drückt noch nicht auf den Kolben der Spritze. Dieses Zucken, diese Unterbrechung passen nicht zu so einem schweren Nervenschock. Sie dürfte den leichten Stich gar nicht gespürt haben - sie hat ihn aber gespürt! Also ist sie bei Bewußtsein, sie simuliert nur Bewußtlosigkeit!

Es ist kein junger Arzt mehr, der da an dem Krankenbett von Violet von Prackwitz steht. Es ist ein älterer Mann, er ärgert sich nicht mehr, wenn seine Patienten schwindeln. Er hat so viel Menschen unter den Händen gehabt - ach, Menschen, Menschen -! Er hat keine lehrhaften, erzieherischen, moralischen Absichten mehr. Wenn dieses junge Mädchen so schreit, derart in Krankheit und Bewußtlosigkeit flieht, dieses blutjunge Ding aus guter Familie, so muß eine panische Angst es beherrschen vor etwas Bösem. Vielleicht nur vor einer Auseinandersetzung, vielleicht vor etwas Schlimmerem. Der Arzt weiß, wie sehr die Menschen in der Angst vor den dunklen Gaben des Lebens das Nirwana suchen, und er weiß auch, daß ein tiefer, traumloser, alles vergessen machender Schlaf die Kraft schenken kann, vorher Unerträgliches zu ertragen.

Still zieht der Arzt die Spritze aus der Nadel. Er hat der Kleinen zwei, drei Stunden Ruhe schenken wollen, er wird ihr lieber langen, tiefen

Schlaf geben. Ruhe aus, versäume die schlimme Stunde!

Er zieht eine andere, stärkere Spritze auf. Noch ehe alle Lösung in den Arm gedrungen ist, bricht das Schreien ab. Violet von Prackwitz legt den Kopf auf die Seite, ihr Körper streckt sich, einen Arm schiebt sie unter den Kopf, sie schläft ein.

"So", sagt der Arzt zur Wirtin, "jetzt wird sie zehn, zwölf Stunden fest schlafen. Also, wenn die Mutter da ist, rufen Sie mich an". Er geht.

Es ist kurz nach halb zwei.

Anderthalb Stunden später kommt Herr Finger mit Frau Eva an. Jetzt ist es drei Uhr. Die Essenszeit ist vorüber, die Wirtin hat Zeit, auch der Kellner hat ein wenig Zeit.

Mancherlei bekommt Frau Eva zu hören, von einem unbekannten jungen Mann, von einem ausgeschwenkten Portweinglas, von einer Auseinandersetzung. "Fritz, ach Fritz!" - hat die nun so fest schlafende Tochter gerufen, der Herr Gemahl hat ein bißchen getrunken, auf nüchternen Magen, und nun ist er fort und noch nicht zurück. Nein, er hat nicht hinterlassen, wohin er gegangen ist. Der Arzt meint, es ist ein Nervenschock, er wird gleich angerufen werden ... Ja, Hut und Mantel hat er hängenlassen, zwei Stunden ist er jetzt mindestens weg, ob er vielleicht zu einem Bekannten gegangen ist -?

Bruchstückweise hört Frau von Prackwitz dies, aber einen rechten Vers kann sie sich nicht darauf machen. Sie ist ein tätiger Mensch, ihre Familie ist in einer schlimmen Lage, der Mann angetrunken herumirrend im Regen, die Tochter in einer unbekannten Gefahr, doch tief schlafend -. Sie möchte etwas tun, ändern, bessern. Aber sie muß tatenlos neben dem Bett sitzen und auf einen Arzt warten, der natürlich auch nichts sagen kann.

Sie steht am Fenster, sie sieht auf den trostlosen, verregneten Hotelhof, die Teerpappendächer glänzen matt. Der Hausdiener schmiert die Räder seines Packwagens. Mit unendlicher Langsamkeit, mit Pausen zwischen jedem Handgriff, zieht er ein Rad von der Achse, lehnt es gegen die Wand. Er holt eine Blechbüchse mit Schmiere, stellt sie neben die Achse, zieht die Achse an. Er holt einen flachen Holzspan, nimmt mit dem Span etwas von der Schmiere aus der Büchse, sieht das Zeug an - und fängt langsam an, die Achse einzuschmieren ...

Und damit vertrödeln wir unser Leben! denkt Frau Eva bitter. Es war also doch eine Liebesgeschichte - Fritz, ach Fritz! - Ich habe recht gehabt! Aber was nützt es mir, daß ich recht hatte - und vor allem, was nützt es ihr?

Frau Eva dreht sich um, sie betrachtet die Schläferin. Eine stürmische Ungeduld erfüllt sie. Sie möchte die ruhende Tochter bei den Schultern packen, wachrütteln, befragen, raten, beraten, etwas tun! Aber an den matten Schläfen, an dem tiefen, ein wenig rasselnden Atem spürt sie, daß alles Rütteln umsonst wäre, genauso wie der einzige, der nun noch Auskunft geben könnte, wie Achim sich ihr entzogen hat.

Warum ist Studmann nicht hier? denkt sie zornig. Wozu ist er verläßlich, wenn er nicht da ist, sobald man seine Verläßlichkeit einmal wirklich braucht? Ich kann nicht herumlaufen in der Stadt, um nach Achim zu suchen, ich kann nicht in jede Kneipe gucken, ich kann nicht einmal die Bekannten anrufen. Vielleicht ist er gar nicht betrunken, und ich blamiere ihn bloß.

Aber nun hat sie endlich eine Idee, ihr ist ein Einfall gekommen. Rasch läuft sie die Treppen hinunter, sie gibt dem Chauffeur Finger den Auftrag, langsam durch die Straßen der Stadt zu fahren und nach dem Rittmeister auszuschauen. Vielleicht irrt sie sich, aber ihr scheint, Herr Finger hat sie ein wenig bedenklich angesehen. Sie ist sich noch immer nicht ganz klar darüber, ob Herr Finger ein richtiger Chauffeur oder mehr ein Beauftragter der Lieferfirma ist, der auf den unbezahlten Wagen zu achten hat und der plötzlich eine Rechnung präsentieren wird. Jedenfalls muß ihm das rittmeisterliche Haus seltsam vorkommen, ein wenig ungeordnet - es ist reichlich viel geschehen in den knapp zwei Tagen, die er bei ihnen ist!

Sie bleibt auf der Hoteltreppe im Regen stehen. Herr Finger nimmt würdig hinter dem Steuer Platz. Der Wagen grollt auf und fährt langsam los - Frau Eva geht zurück ins Hotel. Nun läuft sie die Treppen hinauf, sie hat das Gefühl, oben müsse unterdes etwas geschehen sein, ihr Herz klopft rascher. Ach, wenn doch etwas geschehen, wenn Violet doch aufgewacht wäre! Daß man mit ihr sprechen könnte! Jetzt könnte sie mit ihr sprechen ...

Aber Violet schläft fest.

Jetzt könnte sie mit ihr sprechen, aber es geht nicht, Weio schläft. Ihre Mutter sitzt am Bett, sie sieht das Kind an - sie müßte ihr erzählen können! Frau Eva hat plötzlich begriffen, wieviel sie falsch gemacht hat, sie begreift gar nicht mehr, wie sie zu einer so würdelosen Schnüffelei gekommen ist. Grade dadurch, daß sie ihr nachspionierte, hat sie sich die Tochter fremd und feindlich gemacht. Sie wird nie wieder in diesen Fehler verfallen. Sie hat gelernt, daß ihr Kind jetzt eigene Bezirke hat, in die der Mutter der Eintritt verboten ist. Grade der Mutter, weil sie nicht nur Mutter, sondern auch Frau ist!

Es klopft!

Nun kommt also der Arzt. Es ist ein älterer, hagerer Herr mit merkwürdig blassen Augen hinter einer unmöglichen Nickelbrille, mit recht ungeschickten Manieren, sicher ein Junggeselle. Sie wird schon ungeduldig, wie sie ihn umständlich den Puls prüfen, so zufrieden mit dem Kopf nicken sieht - als sei er der liebe Gott, der diesen Pulsschlag kräftig gemacht hat. Natürlich weiß der Mann gar nichts! Er redet etwas von einem Schock, von der Notwendigkeit, eine längere Zeit zu schlafen, eine Pause einzulegen, auch nach dem Erwachen alles Fragen zu lassen, das verletzte Gemüt des Mädchens zu schonen ...

Was weiß dieser langweilige Kasper von dem verletzten Gemüt ihrer Tochter! Er hat sie ja nur ohne Besinnung, ohne Bewußtsein gesehen! Nicht einmal mit Achim hat er gesprochen, wie sich nun herausstellt, auch über ihn kann er keinerlei Auskunft geben.

Wie lange wird Violet schlafen? Bis Mitternacht, wahrscheinlich bis zum nächsten Morgen? Wahrhaftig, dies ist das einzige, was dieser Tölpel fertiggebracht hat, ihr die Weio gerade in den Stunden, wo sie am meisten mütterliche Liebe braucht, zu entziehen!

Kann man das Mädchen wenigstens aus diesem schrecklichen Hotelzimmer heute noch nach Haus bringen? Wann -? Nun, sobald ihr Mann zurück ist! Er hat keine Bedenken? Sie wird auch auf einer Autofahrt nicht erwachen?

"Schön, schön, also wir fahren dann, sobald Herr von Prackwitz zurück ist. Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Darf ich das Honorar gleich erledigen, oder schicken Sie uns Ihre Liquidation?"

"Es kommt, gnädige Frau", sagt der Arzt und hat sich ohne Aufforderung gesetzt, "alles auf den Augenblick des Erwachens an "... Er sieht sie freundlich, aber sehr fest an.

Ja, natürlich. Das versteht Frau von Prackwitz auch. Darum will sie Violet ja aus diesem trostlosen Hotelzimmer in die gewohnte freundliche Umgebung bringen!

"Vielleicht ist grade das falsch", sagt der Arzt. "Vielleicht darf sie nichts Gewohntes sehen, wenn sie aufwacht. Nicht ihr altes Zimmer, kein bekanntes Gesicht - vielleicht nicht einmal Sie, gnädige Frau."

"Aber warum glauben Sie denn das, Herr Doktor?" ruft Frau von Prackwitz ärgerlich. "Ich weiß doch, was geschehen ist. Irgendeine kleine Liebesgeschichte, die meine Tochter tragisch genommen hat. Ich bin kein Moralfex, ich werde ihr nicht die geringsten Vorwürfe machen ..."

"Eben, eben", lächelt der Arzt. "Sie sagen, kleine Liebesgeschichte -

und das Fräulein da verliert darüber fast den Verstand. Das sind zwei Welten, gnädige Frau, zwei ganz verschiedene Welten, die sich nie verstehen können ..."

"Violet wird darüber wegkommen "..., fängt Frau von Prackwitz an.

Aber der Arzt unterbricht sie ganz formlos: "Ich habe seit heute mittag darüber nachdenken müssen, gnädige Frau, vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Ich hätte heute mittag vor der Spritze das kleine Fräulein sprechen lassen müssen. Sie war nicht bewußtlos, nein, gnädige Frau, sie war es nicht, sie hat Bewußtlosigkeit nur simuliert ... Sie hat irgend etwas Schreckliches erlebt, aber sie hat noch mehr Angst vor etwas Schrecklichem, das sie erleben soll. - Verzeihen Sie, gnädige Frau", sagt der Arzt. "Natürlich kann ich mich irren. Ich habe es mir zurechtgelegt, es kann so sein, einige Wahrscheinlichkeit spricht dafür. Sie spielt die Bewußtlose, sie denkt, das Unheil geht dann an ihr vorüber. - Vielleicht gibt es auch eine Frist für dieses Unheil, wir wissen ja nichts ..."

"Aber was soll denn jetzt noch für Unheil kommen?!" ruft Frau von Prackwitz recht ärgerlich aus. "Der Kerl hat sie sitzenlassen, das habe ich mir schon lange gedacht. Hier hat sie ihn zufällig wiedergetroffen, er hat eine Auseinandersetzung mit meinem Mann gehabt. Der Bursche hat sich als Lump erwiesen, sonst hätte ihm mein Mann den Wein nicht ins Gesicht gegossen. Das alles hat sie namenlos aufgeregt. Sie hat einen Nervenzusammenbruch gehabt - schön, oder vielmehr schlimm genug -, aber was soll denn nun noch für Unheil kommen?"

"Das ist es ja eben, was wir nicht wissen, gnädige Frau, und was wir wahrscheinlich auch nicht wissen sollen. - Sehen Sie", sagt der Arzt überredend, denn Frau Eva bleibt bei all seinen Worten ungläubig und ablehnend, "wenn es so wäre, wie Sie annehmen, so müßte das kleine Fräulein ja eigentlich erleichtert gewesen sein nach dieser Auseinandersetzung. Daß der Vater und damit die Eltern nun endlich ihr Geheimnis kannten, mußte sie doch eher erleichtern. - Warum verstellt sich denn ein so junges Ding noch, warum greift es zu so einem doch ganz fernliegenden Mittel?"

"Aber Sie nehmen doch nur an, daß Violet sich verstellt hat, Herr Doktor, Sie haben doch nicht mit ihr geredet."

"Nein, das habe ich leider nicht getan. Es ist alles bloß eine Annahme, da haben Sie recht, gnädige Frau."

"Nun gut, und was würden Sie denn raten zu tun?"

"Geben Sie Ihre Tochter in das hiesige Krankenhaus, da wäre sie gut

aufgehoben, wahrscheinlich fühlt sie sich dort sicher. Wenn sie aufwacht, wenn sie nach Ihnen verlangt, können Sie in zehn Minuten bei ihr sein. Wenn sie nach Hause will - es kann sofort geschehen."

Frau Eva von Prackwitz sah den Arzt nachdenklich an. Sie dachte nicht über den Vorschlag des Arztes nach, dafür fand sie ihn viel zu töricht. Sie kannte doch ihre Violet, ein paar Worte, und alles würde zwischen Tochter und Mutter wieder in Ordnung sein. Natürlich würde sie Violets Geheimnis achten, ganz von Frau zu Frau - sie hatte sich das schon ohne all dieses Gerede von Unheil und größerem Unheil fest vorgenommen. Nein, wenn Frau Eva jetzt nachdachte, dachte sie darüber nach, warum ihr dieser Arzt wohl solch einen Vorschlag machte, hinter dem etwas anderes stecken mußte.

Leichthin fragte sie: "Und Sie würden unsere Violet auch im hiesigen Krankenhaus behandeln?"

Ahnungslos sagte der Arzt: "Wenn Sie es wünschen, gnädige Frau, sehe ich natürlich dann und wann nach ihr."

Für Frau Eva ist die Sache klar: Dieser kleine Kassenarzt hat Geld gewittert, er warnt vor Unheil, um eine lange, kostspielige Behandlung zu rechtfertigen. Sie steht auf: "Also ich danke Ihnen sehr, Herr Doktor. Ich werde Ihren Vorschlag mit Herrn von Prackwitz besprechen. Wenn wir darauf zurückkommen sollten, geben wir Ihnen noch Nachricht ..."

Sie steht da, ganz kühle Abweisung - keiner kann aus seiner Haut. Sie ist sonst eine recht vernünftige, klarsehende Frau, aber im Augenblick ist sie nur die Tochter des reichen Mannes. Sie mißtraut den Beweggründen all derer, die gezwungen sind, um ihren Lebensunterhalt für Geld etwas zu tun. Er will ja bloß Geld verdienen, dieser törichte Satz macht aus einem weise besorgten Rat ein eigennütziges, niedriges Geschäft.

Und endlich versteht sie auch der alte Mann. Eine kleine Röte steigt in seine dünnen Backen, er macht eine hilflose Verbeugung, er tritt noch einmal an das Bett. Er kann nichts mehr tun. Er hat ihr ein bißchen Schlaf geben können, aber was nach dem Schlafe kommt, das hat er ihr nicht leichter machen dürfen. So ist es auf dieser Welt: Mit gebundenen Händen sieht der Hilfreiche die Verdammten, die Unglücklichen, die Gefährdeten ihre Wege gehen. Er kann bloß warnen. Aber seine Stimme verhallt zwischen Gelächter und Todesgeschrei, unbeachtet steht er am Wege ...

"Sehr behutsam bei dem Erwachen "..., sagt er noch einmal und geht.

Unruhig wandert Frau von Prackwitz im Zimmer auf und ab, hin und her. Wo Achim bleibt? Und keine Nachricht von dem Chauffeur Finger.

Nun ist es bald vier, fast eine Stunde sitzt sie schon in diesem elenden Hotelzimmer. Um irgend etwas zu tun, geht sie hinunter an das Telefon. Sie kann zwar nicht sprechen, wie sie möchte, denn das Telefon hängt offen an der Wand, aber es tut schon gut, die ruhige, ein wenig langsame Stimme des jungen Pagel zu hören ...

Jawohl, alles ist soweit in Ordnung. Das Auto mit den Herren ist längst abgefahren. Jawohl, Redereien - die Unterschrift der Protokolle habe er verweigert, er sei nicht bevollmächtigt, na ja! Sie hätten eben so abfahren müssen. - Übrigens noch eines, es werde die gnädige Frau amüsieren: Amanda Backs, sie wisse doch, die Geflügelmamsell, sie habe dem kleinen Meier vor versammelten Herren ein paar Ohrfeigen gelangt. Mit dem Rufe "Verräter!" Nein, nichts sei erfolgt, keiner der Herren habe für Meier die Hand gerührt. - Jawohl, ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. In ihrer Art eine famose Person, ein Stück Pöbel, aber großartig ... Wie es dem gnädigen Fräulein übrigens gehe -?

Nicht gut? Oh! - Jawohl, das werde er machen, auch heizen lassen, den Badeofen auch, jawohl. Er vergesse es nicht. - Nein, mit den Mädchen sei es diesmal kein Problem, die Weiber seien alle gerade klatschnaß vom Kartoffelbuddeln heimgekommen - hier regne es jetzt sehr stark. - Er werde sich drei oder vier von den geeignetsten aussuchen und mit ihnen persönlich die Villa saubermachen ...

Ein famoser Junge. Beinahe lächelnd hängt Frau von Prackwitz den Hörer wieder an. Sie bestellt sich, ehe sie hinaufgeht, noch einen Kaffee. Ja, bitte aufs Zimmer. Und nun wieder zurück. Aber genau wie vorhin überkommt sie auf der Treppe ein Angstgefühl, ihr Herz klopft schneller. Was ist mit Violet geschehen? Sie läuft; die Röcke schlagen gegen ihre Knie, so läuft sie.

Aber dann im Zimmer unverändert, ohne Bewegung die tief Schlafende.

Die Angst fällt ab, eine trübe Verzweiflung tritt an ihre Stelle. Als kehrte man zu einer Gestorbenen zurück, denkt sie plötzlich. Sie macht sich wieder an das qualvolle Warten.

Frau Eva weiß noch nicht, wie gut es sein kann, zu einer Gestorbenen zurückzukehren.

8

"Was soll denn das?!" ruft der Leutnant empört. "Sie sind mir wohl nachgelaufen? Sie möchten mich wohl verhaften -?"

"Reden Sie doch keinen Unsinn, Mann", sagt der Dicke ruhig. "Wie kann ich Sie denn verhaften? Wir sind doch nicht legal."

"Bin ich jetzt schon ein Mann, kein Leutnant mehr?" fragt der Leutnant höhnisch. "Was wollen Sie also von mir?"

"Zum Beispiel gerne wissen, was Sie hier ausgerichtet haben?"

"Ich werde schon Herrn Richter darüber Bericht erstatten", sagt der Leutnant höhnisch. "Alles wie befohlen."

"Ich habe mir so gedacht", entgegnet der Dicke, "daß Sie es vielleicht vergessen könnten. Darum bin ich Ihnen entgegengegangen."

"Warum soll ich das vergessen? Ich habe in meinem Dienst noch nie was vergessen."

"Ich habe es eben gedacht", meint der Dicke entschuldigend. "Weil wir nämlich jetzt die Nachricht haben, welches Waffenlager ausgehoben ist."

Er bleibt stehen, aber nur, weil der Leutnant auch stehengeblieben ist. Er richtet seinen kalten, erbarmungslosen Blick auf den Leutnant, er sagt sehr leise: "Na, Sie wissen es schon, Freundchen. Sie haben es schon drinnen gewußt beim Herrn Richter: Ihres ist es."

"Ich habe es nicht gewußt!" schreit der Leutnant fast.

"Ruhig, ruhig, Freundchen", sagt der Dicke und legt ihm die Hand auf die Schulter. Aber nicht beruhigend, sondern so, daß der Leutnant merkt, der andere hat Kräfte wie ein Ochs. "Es fragt sich nun nur, ob Sie mir erzählen wollen, wer geschwatzt hat. Ach, sagen Sie nichts", meint er überlegen, "Sie kennen ihn oder Sie kennen sie, und wir möchten nun auch gerne Bescheid wissen. Für die Zukunft, verstehen Sie?"

"Ich weiß nichts", leugnet der Leutnant hartnäckig.

"Reden Sie nicht! Der ehemalige Inspektor Meier aus Neulohe hat im Wagen von der Kontrollkommission gesessen, und der hat den Schnüfflern das Waffenlager gezeigt - das wissen wir nun auch. Machen Sie doch keine Geschichten, Mensch. Sie erzählen es mir doch nicht, damit ich einen Vorteil davon habe, sondern für Ihre früheren Kameraden, daß sie nicht noch einmal reinfallen."

Den Leutnant überläuft es, wie der da von seinen "früheren Kameraden" spricht, aber er packt den Stier bei den Hörnern, er erklärt trotzig: "Ich hab gesagt, ich steh für das Waffenlager mit meinem Leben ein. Und wenn es wirklich futsch ist, tu ich, was ich gesagt hab."

"Mein Lieber", lächelt der andere und legt ihm wiederum die Hand auf die Schulter, aber nur sachte - und doch erzittert der Leutnant. "Mein Lieber, bilden Sie sich doch nichts ein, Sie sind erledigt, so oder so. Sie

haben Mist gemacht, Sie haben gelogen - nein, Freundchen, Sie sind futsch ..."

Er sieht den Leutnant mit seinem gefrorenen Blick an. Der Leutnant bewegt die weißen, dünnen Lippen, aber er bringt kein Wort heraus.

"Nein", wiederholt der Dicke und nimmt die Hand zurück. "Um Sie handelt es sich nicht mehr, es handelt sich um die andern. Die wollen wir kennen ..."

"Sie wissen ja doch alles", sagt der Leutnant mühsam. "Sie sagen, der kleine Meier hat im Auto gesessen - da kennen Sie doch den Verräter!"

"Es gibt ein Verbindungsglied zwischen Ihnen und dem Verräter, das müssen wir kennenlernen."

"Ich bin kein Verräter!" ruft der Leutnant.

"Habe ich das gesagt?" fragt der Dicke gleichmütig. "Glauben Sie, ich hätte Sie aus der Stube beim Richter gelassen, wenn Sie ein Verräter wären? Glauben Sie, ich ginge hier mit Ihnen, wenn Sie ein Verräter wären -? Nein, Sie sind bloß ein Windhund - und eine Art von Ehre haben Sie schon noch im Leibe ... Trotzdem es ein besonderes Ding von Ehre sein muß - denn Sie haben bei Ihrer Ehre geschworen, das Waffenlager wäre sicher, und da wußten Sie schon, es war hops."

"Ich habe es nicht gewußt!" ruft der Leutnant verzweifelt.

"Sie sind feige und dumm. Sie sollten nicht soviel an sich denken, Herr. Es ist gar nicht so wichtig, ob Sie leben. Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß und sagen Sie mir alles, was Sie wissen."

Er bleibt stehen, er richtet seinen kalten Blick auf den Leutnant.

Der Leutnant scheint nachzudenken, aber dann sagt er bloß: "Warten Sie einen Augenblick. Ich gehe hier mal rein."

Er geht in die kleine Kneipe, vor der sie gerade stehen. Aber der Dicke wartet nicht, er geht ihm nach, er hört zu, wie der Leutnant sagt: "Hören Sie, Herr Wirt, hier ist Ihre Windjacke wieder. Ich habe sie schon ausgebraucht. Geben Sie mir meine Lumpen zurück."

"Aber so eilig wäre es doch nicht gewesen, Herr Leutnant. Herr Leutnant können doch nicht in der schmutzigen Jacke gehen! Warten Sie wenigstens, bis meine Frau sie ein bißchen ausgebürstet hat ..."

"Geben Sie mir meinen Lappen zurück", beharrt der Leutnant. Und während er die Windjacke wechselt, flüstert er leise: "Ich würde sie meinen Jungen morgen doch nicht anziehen lassen, nein!"

Des Wirtes Augen werden töricht vor Erstaunen.

"Wiedersehen und danke schön, Herr Wirt", sagt der Leutnant und

geht wieder aus der Kneipe.

"Immer Theater", sagt der Dicke mißbilligend. "Auf die Windjacke wäre es nun auch nicht angekommen. Sie werden in Ihrem Leben schon mehr verdorben haben als eine Windjacke. Aber edel vor sich dastehen, ja, das möchten alle. Ich habe noch keinen Mörder getroffen, der gesagt hat, er hat wegen Geld gemordet. Eigentlich hatten alle eine edle Entschuldigung ..."

"Hören Sie!" schreit der Leutnant. "Wenn Sie mir schon nachlaufen, halten Sie Ihre Schnauze! Oder ..."

"Oder was -?" sagt der andere drohend, legt seine Hand um den Oberarm des Leutnants und drückt ihn zusammen. Der Druck verstärkt sich mehr und mehr, er scheint alle Muskeln zu zerdrücken, die Adern wollen platzen. Der Leutnant muß die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu schreien.

"Ich weiß, Sie haben eine Pistole in der Hosentasche. Versuchen Sie es, holen Sie das Ding doch raus, wenn ich nicht will."

Nein, der Leutnant versucht es nicht einmal, dieser fürchterliche Griff zermürbt auch noch das Gefühl von Kampfkraft, das er immer gehabt hat.

Der Dicke läßt den Arm los, er sagt gleichmütig: "Im übrigen laufe ich Ihnen nicht nach, sondern ich bringe Sie."

"Und wohin bringen Sie mich?"

"In den ›Goldenen Hut‹. Ich nehme Ihren Vorschlag an. Wir wollen einmal Herrn von Prackwitz und seine Tochter wegen des Waffenlagers befragen. Besonders seine Tochter."

"Nein!" ruft der Leutnant und bleibt stehen.

"Warum nein?" fragt der Dicke. "Sie haben es selbst vorgeschlagen, Herr Leutnant!"

"Ich stehe nicht wie ein Angeklagter - grade vor diesen Leuten!"

"Die Sie nur vom Sehen kennen". Der Dicke lacht. "Sie sind recht aufgeregt, junger Mann, bei der Aussicht, mit mir zu Fräulein von Prackwitz zu gehen?"

"Das Fräulein von Prackwitz kann mir -", schreit der Leutnant.

"Richtig!" lacht der Kriminalist. "Genau, was ich annahm, Leutnant. Sie haben einen kleinen Privathaß auf das Fräulein - warum wohl?"

"Das Fräulein ist mir ganz gleichgültig."

"Selbst jetzt, wo Sie sich zusammennehmen, können Sie nicht von ihr sprechen, ohne daß Ihr Gesicht zuckt. - Also, wie ist es, Leutnant,

›Goldener Hut‹ oder stille Beichte?"

"›Goldener Hut‹", sagt der Leutnant entschlossen.

Sie mußten längst fortgefahren sein, wie sollten sie dort noch immer sitzen, jetzt, zwei, drei Stunden später? Nach dem Auftritt! Sie war geflohen, sie hatte ein Ansehen zu bewahren - aber selbst wenn sie nicht geflohen waren, vor die Augen von Vater und Tochter würde sich der Leutnant von diesem dicken Kriminalisten nicht führen lassen.

Er würde schon eine Gelegenheit finden zu fliehen, er würde sich nicht noch das Letzte nehmen lassen: seine Rache an ihr, aus freiem Willen. Er wollte nicht gerichtet sein - er wollte sie richten!

An etwas klammert sich der Mensch, ehe er zum Sterben geht, besonders, wenn er noch jung ist. Ehe er von dieser Erde scheidet, möchte er wissen, daß er nicht spurlos ausgewischt ist von der großen Schiefertafel des Daseins. Der Leutnant hatte keine Kinder, er hatte nichts zu vererben, an niemanden war ein Abschiedsbrief zu schreiben. Ausgelöscht würde er sein, als sei er nie gegangen über diese Erde. Lebend noch unter den Lebenden, waren schon abgefallen von ihm Ehre und Ziel, Selbstbewußtsein und Manneskraft. Aber -:

Verweile doch, du bist so schön! Noch immer so schön! Da ist das weiße, in der Lust zergehende Gesicht, das du nie hast lieben können, nun kannst du es doch hassen. Hinter der Stirn liegt ein Hirn, in das du dich einschreiben wirst, solange es denkt. In der Brust klopft ein Herz, dessen Schlag angstvoll wird beim Gedanken an dich - noch in dreißig Jahren, wenn nichts mehr von dir dasein wird auf diesem Stern. Kleine Ewigkeit des Gestorbenen in jener, die noch wandelt im Licht; Spuren des Vergangenen in der Überdauernden!

Zum ersten Male gehen die beiden schweigsam nebeneinander, der Leutnant, die Hände in den Taschen, mit einem rachsüchtigen Lächeln; der Kriminalist mit dem wachsamen Ausdruck im kalten Blick eines Hundes, der die Spur wittert.

Aber erst einmal hat der dicke Mann kein Glück. Der Kellner, der einen argwöhnischen, fast bösen Blick auf den Leutnant wirft, teilt mit, daß Herr von Prackwitz fortgegangen und daß das gnädige Fräulein erkrankt ist. Nein, nein, unmöglich, sie zu sehen. Der Arzt war schon da, das gnädige Fräulein ist bewußtlos ...

Der Kellner dreht sich um, er fragt nicht einmal nach den Wünschen dieser Gäste. Bestimmt legt er auf ihr Bleiben keinen Wert, er geht wieder an seine Arbeit.

Etwas höhnisch fragt der Leutnant: "Und was wird nun?"

Eine Spur gereizt sagt der andere: "Sie fragen ein bißchen zu höhnisch. Sie verraten damit, wie froh Sie sind, daß aus dieser Unterhaltung noch nichts geworden ist. Nun, wir werden einfach hier auf Herrn von Prackwitz warten. Kellner, ein Helles!"

Der Leutnant ist entschlossen, nicht auf den Rittmeister zu warten, er hat sich einen Plan zurechtgemacht.

"Hören Sie zu", sagt er. "Ich habe noch ein bißchen Geld in der Tasche, das mir gehört. Ich möchte das einem Mädchen schenken. Gehen wir rasch einmal dorthin, es dauert keine halbe Stunde."

"Dem Mädchen beim Obersten -? Das hätten Sie vorhin besorgen können. Was hat sie Ihnen übrigens erzählt -? Ober, ein Helles!"

"Gar nichts!" antwortet der Leutnant bereitwillig. "Sie hatte eine Wut auf mich, weil ich nur käme, wenn ich etwas hören wollte. Wir wären Schisser und unser Putsch wäre auch Scheiße, irgend so etwas hat sie gesagt. Aber ich meine jetzt ein anderes Mädchen, in der Neustadt."

"Schisser und Scheiße, das ist schon alles mögliche", meint der Dicke. "Das hat sie nicht aus sich, darum ist sie wahrscheinlich auch wütend auf Sie gewesen. Solche Weiber werden immer wütend auf ihren Kerl, wenn irgendein Idiot schlecht von ihm spricht. - Ob der Kellner mir kein Bier bringen will? Herr Ober, ein Helles!"

"Lassen Sie Ihr Bier!" bittet der Leutnant. "Lassen Sie mich jetzt zu dem Mädchen gehen. Es dauert keine halbe Stunde - hinterher treffen wir den Herrn von Prackwitz immer noch."

Der Ober setzt das Glas Bier hin. "Zwanzig Millionen!" sagt er unhöflich.

"Zwanzig Millionen!" entrüstet sich der Dicke. "Was habt ihr denn hier für Helles -?! Überall kostet es dreizehn Millionen."

"Seit heute mittag. Der Dollar kommt jetzt mit zweihundertzweiundvierzig Millionen!"

"So", knurrt der Dicke unzufrieden und zahlt. "Hätte ich das gewußt, hätte ich mir kein Bier gekauft. Zweihundertzweiundvierzig Millionen! Sie sehen, was das für einen Zweck hat, dem Mädchen Geld zu geben, davon wird sie auch nicht glücklich. Alles bloß Theater!"

"Ich habe da auch noch Briefe liegen, die ich wegholen möchte."

"Briefe! Was denn für Briefe? Sie wollen bloß weg."

"Also schön, bleiben wir sitzen. Dann trinke ich eben für mein Geld 'ne Flasche Wein. - Ober ..."

"Halt!" sagt der Dicke. "Wo ist das?"

"Was -?"

"Wo das Mädchen wohnt?"

"In der Neustadt, Festungspromenade. Keine zwanzig Minuten hin."

"Vorhin haben Sie gesagt, keine halbe Stunde hin und zurück. Was sind denn das für Briefe? Liebesbriefe?"

"Ich werde meine Liebesbriefe bei einem Mädchen aufheben, was?"

"Also gehen wir", sagte der Dicke, trank aus und stand auf. "Aber das sage ich Ihnen, wenn Sie mir Geschichten machen, wie vorhin bei der Kaserne ..."

"Das haben Sie also auch gesehen -?"

"Ich stoß Sie nicht bloß vor die Brust - ich nehme den Bauch, daß Sie nie wieder gradegehen können!"

Etwas flammt auf in dem eiskalten Blick, drohend wird der Leutnant angesehen. Aber diesmal wirkt es nicht auf ihn, er lächelt bloß.

"Ich mache schon keine Geschichten", sagt er beruhigend. "Und übrigens habe ich, scheint mir, nicht mehr viel gradezugehen, wie? Drohen hat bei so einem wie ich eigentlich wenig Zweck, was?"

Der Dicke zuckt die Achseln, aber er schweigt, und schweigend gehen die beiden nebeneinander durch die verregneten, menschenleeren Straßen der Stadt.

Der Leutnant möchte überlegen, wie er von seinem Peiniger loskommt, er weiß von keinem Mädchen, er weiß nichts von Briefen in der Neustadt. Aber er hat gedacht, hier draußen müßte es leichter sein, auszureißen, irgendwie diesen Schnüffler abzuschütteln, um das zu tun, was getan werden muß, ohne neue Demütigung, ohne quälende Aufsicht.(Werde ich denn auch wirklich Mut genug haben - dafür?)

Aber es wird nicht so leicht sein, diesen Wachhund zu täuschen. Obwohl der Mann anscheinend ganz gleichgültig neben ihm herschlendert, der Leutnant weiß wohl, was diese Hand immer in der Hosentasche bedeutet. Er weiß, warum der andere so nahe neben ihm geht, daß bei jedem Schritt Schulter die Schulter streift. Macht er nur die geringste überraschende Bewegung, die Faust des andern wird nach ihm langen, mit diesem zermürbenden, mutlos machenden Griff. Oder aber es wird ein-, zweimal knallen, hier mitten auf den Straßen der Stadt, und dann wird wieder etwas über einen "Fememord" in den Zeitungen stehen.

Nicht so! Nicht so! denkt der Leutnant fieberhaft aufgeregt, und er versucht, sich die Ortsverhältnisse aller Kneipen auf ihrem Wege

vorzustellen, wo etwa die Möglichkeit besteht, von den Toiletten über den Hof zu entkommen. Aber er kann sich nicht auf seine Aufgabe konzentrieren, sosehr er sein Hirn zwingen will, es verweigert ihm den Dienst ...

Immer wieder kommt ihm das Bild von Violet von Prackwitz dazwischen, sie liegt bewußtlos, hat der Kellner gesagt. Eine grimmige Freude erfüllt ihn -:

Jetzt liegst du schon bewußtlos - von meinen bißchen Drohungen. Aber du sollst erst sehen, wie dir dieses Leben schmecken wird, wenn ich meine Drohung wahr gemacht habe ... Ach, ich will an die Kneipen denken. Also, jetzt kommen wir gleich an der "Feuerkugel" vorbei ...

Ach, der Leutnant, der Leutnant - er ist wie getränkt von diesem Mädchen! Jetzt, knapp vor seinem Tode, bekommt der Flüchtige noch einen Lebensinhalt, dieser Mann, der hundert Weibergeschichten gehabt, der nie geliebt hat, entdeckt den Haß - ein Gefühl, für das zu leben sich lohnt! Er malt sich aus, wie es sein wird, wenn sie ihn sieht, er meint in seinen Ohren ihre Schreie zu hören. Sie muß ja dazukommen, es kann gar nicht anders sein, er wünscht es zu stark. Die Wünsche der Sterbenden gehen in Erfüllung, denkt er - und fährt zusammen.

"Was ist los?!" fragt der Dicke völlig wach.

Die Wünsche der Sterbenden gehen in Erfüllung, denkt der Leutnant wiederum, von einer starken Freude erfüllt. Und sagt laut: "Da, der Herr von Prackwitz!" Und boshaft: "Sie wollten ihn ja wohl sprechen. Bitte sehr!"

Ihr Weg nach der Neustadt hat die beiden in die alten, längst geschleiften, viel zu eng gewordenen Festungsanlagen geführt. Die Stadtväter haben aus Wall und Graben eine Promenade für die Bürger geschaffen. Da, wo sie jetzt gehen, ist Festungsgraben, steil steigen rechts und links die Wälle, mit Bäumen und Gebüsch bestanden, empor. Die beiden sind um eine Biegung gekommen, sie übersehen ein Stückchen Weg, eine einsame, abgelegene Stelle.

An dem Weg steht eine Bank, eine regentriefende Bank. Auf der Bank hockt der Rittmeister von Prackwitz. Jawohl, da hockt er, aber er wacht nicht, sein Kopf hängt tief auf die Brust, er schläft den bewußtlosen, röchelnden Schlaf des völlig Betrunkenen. Von Zeit zu Zeit, wenn der Atem zu hinderlich röchelt, gibt der Kopf sich einen Ruck, er richtet sich fast grade auf und sinkt dann langsam, stoßweise doch wieder erst auf eine Schulter, dann auf die Brust zurück ...

Es ist ein kläglicher Anblick, es ist ein beschämender Anblick, den der

Herr von Prackwitz bietet - die beiden Beschauer stehen einen Augenblick stumm, still. Der Rittmeister ist ja nicht umsonst in diesem einsamen Anlagenwinkel auf der Suche nach seinem Auto gelandet - er ist hierher verschleppt worden, er ist hier ausgeplündert worden!

"Die sind wie die Aasgeier!" ruft der Dicke wütend. "Das Gesindel wittert seine Beute immer noch schneller als wir."

Und er wirft einen raschen, argwöhnischen Blick die Wälle hoch.

Aber kein Zweig knackt in den Büschen, kein flüchtiger Fuß läßt einen Stein die Abhänge hinabrollen. Sie sind längst fort mit ihrer Beute, die Geier. Ausgeraubt, ausgezogen bis auf die Unterwäsche, eine lächerlich-beweinenswerte Figur, schläft der Rittmeister Joachim von Prackwitz-Neulohe seinen betrunkenen Schlaf im Nieselregen. Zu schwach, zu schwach - an den Widerständen, an den Widrigkeiten, die die Kraft des Starken anfachen, zerbricht er, flieht in das Nirwana, in die schmutzigen Betäubungen des Alkohols - um wie zu erwachen?!

"Sie wollten den Herrn ja wohl sprechen?!" höhnt der Leutnant noch einmal.

Und innerlich frohlockend: Die Wünsche der Sterbenden erfüllen sich! Wie wirst erst du entwürdigt werden, da es schon deinem Vater so ergeht.

"Verdammte Schweinerei!" wütet der Dicke und läßt kein Auge von dem Leutnant.

Er ist genau in der Lage jenes Fährmanns, der einen Wolf, eine Ziege und einen Kohlkopf übersetzen soll - und in seinem kleinen Nachen hat immer nur eines von den dreien Platz. Er kann auf den Leutnant aufpassen, oder er kann dem Rittmeister helfen - beides wird sich kaum vereinigen lassen.

"Lassen Sie den Herrn von Prackwitz nur sitzen", rät der Leutnant boshaft. "Es hat keiner gesehen, daß wir ihn hier gefunden haben. Und ich, ich werde ja meinen Mund halten müssen."

Der Dicke antwortet nicht, er steht nachdenklich da. "Leutnant!" sagt er dann eifrig. "Geben Sie sich einen Stoß! Sagen Sie mir, wer das Waffenlager verquatscht hat - und ich lasse Sie laufen."

Der Leutnant sagt zögernd: "Es ist allein meine Sache. Ich will nicht, daß irgend jemand anders seine Nase da reinsteckt. Aber ich gebe Ihnen mein heiliges Ehrenwort darauf, daß alles bloß blöder Weiberklatsch und Tratsch war, kein böser Wille ..."

Der Dicke steht nachdenklich da. "Ich muß die Namen wissen", sagt er dann. "Es ist nicht nur das Fräulein von Prackwitz gewesen ..."

"Es ist nicht das Fräulein von Prackwitz gewesen -!" ruft der Leutnant hastig.

Er bekommt einen fürchterlichen Schlag in die Magengrube. Der Dicke ist über ihm wie ein plötzlich losbrechendes Gewitter. Vor seinem Hagel von Schlägen kommt er überhaupt nicht zur Gegenwehr. Er ist am Boden, ehe er sich noch besonnen hat. Der andere greift in seine Tasche, er zieht die Pistole heraus. Er schimpft: "Ungesichert in der Hose - ihr seid Scheißkerle! So, mein Jungchen, nun tu, was du nicht lassen kannst, ohne Waffe! - Aber ich habe dich wieder, ehe du denkst ..."

Der Leutnant liegt am Boden, er kann nicht einmal antworten. Der ganze Leib schmerzt ihn, aber viel schlimmer ist die wütende Verzweiflung. Dieser Dicke, dieser erbarmungslose, brutale Koloß - er ist schon an der Bank, er hat schon den Rittmeister auf den Armen ...

Ich muß auf! Ich muß fort ..., denkt der Leutnant.

Im Vorüberlaufen versetzt ihm der Dicke noch einen fürchterlichen Tritt in die Seite, er meint ihn lachen, ihn kichern zu hören im Forteilen ...

Er will mich zuschanden machen, daß ich ihm nicht fortlaufen kann, denkt der Leutnant - und ist allein.

Er liegt da, er wartet auf das Wiederkommen der Kräfte, auf ein bißchen Atem, auf die Segnung eines Entschlusses ...

Es ist meine letzte Chance, denkt er. Ich muß ja fort, in den Schwarzen Grund, in den Schwarzen Grund. - Aber ich habe keine Waffe - von den Kameraden gibt mir keiner eine. Die wissen alle schon Bescheid ... Ach, ich muß ja fort ...!

Taumelnd erhebt er sich, der zweite Niederschlag an diesem Tage, aber der zweite war der schlimmere.

"Ich darf nicht so schleichen, ich muß schnell gehen, ich muß laufen", flüstert er zu sich und bleibt stehen, hält sich an einem Baum fest. Sein ganzes Gesicht brennt wie blutiges, offenes Fleisch. Ich kann doch nicht so in die Stadt, ich muß schlimm aussehen, er hat mich schrecklich zugerichtet, dieses brutale Schwein! Das hat er grade gewollt!

Er weint fast vor Mitleid mit sich, er weint fast, weil es so feige ist, zu weinen. Er stöhnt: O mein Gott, mein Gott, ich will ja gerne sterben. Warum lassen sie mich denn nicht in Ruhe sterben ...?! Hilft mir denn kein einziger, mein Gott?!

Eine Weile später merkt er, daß er wieder geht. Er ist schon aus den Anlagen heraus, er ist in den Stadtstraßen.

Aber ich muß viel schneller gehen, denkt es in ihm. Der erwischt mich bestimmt, spätestens in meinem Gasthof. Ja, glotz nur, du Affe, so sieht

einer aus, den sie vertrimmt haben!

Und laut, herausfordernd, krakeelig wie ein Betrunkener: "Glotz nur, Affe!"

"Guten Tag, Herr Leutnant", sagt eine höfliche, eine sehr höfliche Stimme zu ihm. "Herr Leutnant erinnern sich meiner vielleicht nicht mehr -?"

Durch den Nebel aus Schmerz und Betäubung versucht der Leutnant das Gesicht zu erkennen. In all seiner schmachvollen Entwürdigung berührt ihn die höfliche, kühle, leidenschaftslose Stimme angenehm. Ihm ist, als habe seit Ewigkeiten kein Mensch mehr so zu ihm gesprochen.

"Räder", hilft ihm der andere. "Mein Name ist Hubert Räder. Ich war der Diener in Neulohe - nicht beim Geheimrat, bei den jungen Leuten, dem Rittmeister ..."

"Ach, Sie sind der", ruft der Leutnant fast erfreut aus, "der mir damals nicht auf die Kastanie geholfen hat. Jawohl, ich weiß noch ..."

"Jetzt aber würde ich dem Herrn Leutnant gerne behilflich sein. Wie bereits gesagt, ich bin nicht mehr Diener in Neulohe. Herr Leutnant sehen aus, als wenn Sie Hilfe brauchten ..."

"Ja", murmelt der Leutnant. "Ich bin gefallen". Er überlegt: "Ich bin überfallen worden."

"Wenn ich Herrn Leutnant irgendwie zu Diensten sein kann -?"

"Hauen Sie ab, Mensch, belästigen Sie mich nicht!" schreit der Leutnant plötzlich. "Ich will nichts mit euch Leuten aus Neulohe zu tun haben - ihr bringt mir alle Unglück!"

Und er versucht, schneller zu gehen, um von seinem Begleiter loszukommen.

"Aber, Herr Leutnant!" sagt die ruhige, leidenschaftslose Stimme neben ihm. "Ich bin doch nicht aus Neulohe. Und wie gesagt, ich bin dort auch nicht mehr tätig, kurz gesagt, man hat mich hinausgeworfen ..."

Der Leutnant bleibt plötzlich stehen. "Wer hat Sie rausgeworfen?" fragt er.

"Der Herr Rittmeister, Herr Leutnant", sagt der andere. "Herr Rittmeister hatte mich engagiert, und Herr Rittmeister hat mich auch hinausgeworfen - sonst wäre doch niemand gesetzlich dazu berechtigt gewesen."

Er sagt dies mit einer gewissen albernen Genugtuung. Der Leutnant versucht, das Gesicht vor sich zu erkennen, eine Erinnerung kommt ihm: Violet hat ihm von diesem Diener erzählt, einem eingebildeten

Dummkopf.

"Warum sind Sie denn rausgeworfen worden?" fragt der Leutnant wieder.

"Das gnädige Fräulein hat es so gewünscht", berichtet der Diener kurz. "Ich habe dem gnädigen Fräulein von Anfang an nicht zugesagt. Es gibt eben solche Antipathien - ich habe es in einem Buche gelesen, wissenschaftlich heißen sie Idio-syn-kra-si-en!"

Wieder fährt dem Leutnant der Satz durch den Kopf: Die Wünsche der Sterbenden gehen in Erfüllung. Er möchte diese so gelegen kommende Hilfe in Anspruch nehmen. Aber irgend etwas in der eigenen Brust warnt ihn; diese Hilfe kommt gar zu gelegen, ein Argwohn ist in ihm wach.

"Hören Sie zu", sagt er zu dem Diener, "gehen Sie schnell in den ›Goldenen Hut‹. Dem Herrn Rittmeister ist ein Unfall zugestoßen. Sie werden dort empfangen werden wie der liebe Heiland - wieder angestellt werden Sie, das Gehalt wird Ihnen verdoppelt, Mensch!"

Zum ersten Male trifft den Leutnant voll der trübe, graue Blick des Fischauges.

"Nein", erklärt der Diener und schüttelt den Kopf. "Herr Leutnant verzeihen, aber wir haben schon auf der Dienerschule gelernt, man soll nie auf eine Stelle zurückgehen, von der man einmal fortgegangen ist. Es ist praktisch erprobt, daß dies nicht zweckmäßig ist."

Der Leutnant ist völlig erschöpft. "Dann hauen Sie ab, Mensch!" sagt er müde. "Ich kann keinen Diener brauchen, ich kann keinen Diener bezahlen, lassen Sie mich also in Frieden!"

Er geht weiter. Er denkt wieder an den dicken Kriminalisten. Er hat hier so viel Zeit vertrödelt, er hat kaum noch Zeit - und es ist noch so weit bis in seinen Gasthof!

"Was wollen Sie denn immer noch?!" ruft er ärgerlich zu seinem stummen Begleiter.

"Ich möchte Herrn Leutnant gerne behilflich sein", lautet die unerschütterliche Antwort. "Der Herr Leutnant brauchen Hilfe."

"Nein!" schreit der Leutnant.

"Wenn Herr Leutnant gestatten", flüstert die hartnäckige Stimme, "ich habe hier ganz nahebei ein kleines Zimmer genommen. Herr Leutnant könnten sich dort in aller Ruhe waschen. Ich würde unterdes die Kleider vom Herrn Leutnant reinigen ..."

"Ich scheiß auf die Kleider!" ruft der Leutnant ärgerlich. "Jawohl, Herr Leutnant! Und Herr Leutnant würde vielleicht einen starken Mokka mit

einem doppelten Kognak gut gebrauchen". Mit einem leicht vertraulichen Unterton: "Ich kann mir ja denken, daß der Herr Leutnant seine Kräfte heute noch nötig haben wird."

"Was können Sie sich denken, Sie Esel!" ruft der Leutnant zornig. "Was wissen Sie von meinen Kräften!"

"Nun, wegen des verratenen Waffenlagers doch!" erklärt die höfliche, kalte Stimme. "Ich kann mir doch denken, daß Herr Leutnant nicht so ohne weiteres hinnehmen wird, was ihm das gnädige Fräulein angerichtet hat ..."

Der Leutnant steht wie vom Donner gerührt. Seine geheimsten Gedanken im Hirn dieses hergelaufenen Trottels! Er begreift es nicht.

Aber dann sagt er hastig: "Also, kommen Sie her, zeigen Sie mir Ihr Zimmer. Aber wenn Sie die geringste Hinterlist vorhaben -!"

"Ich werde dem Herrn Leutnant erklären. Es ist alles ohne weiteres faßlich. Bitte, hier entlang, Herr Leutnant. Wenn ich den Arm vom Herrn Leutnant nehmen dürfte, würde es schneller gehen ..."

Eine halbe Stunde später sitzt der Leutnant schon einigermaßen erholt in der tiefen Sofaecke des Räderschen möblierten Zimmers. Er hat einen Mokka mit sehr viel Kognak getrunken, und der Diener ist grade dabei, ihm einen zweiten fertigzumachen.

Nachdenklich schaut der Leutnant dem ruhigen Hantieren des wunderlichen Menschen zu, schließlich sagt er: "Hören Sie mal her, Herr Räder!"

"Einen Augenblick bitte, Herr Leutnant. Sie werden entschuldigen, daß es nicht schneller geht, es ist alles sehr primitiv hier."

Und er mustert die Bude mit einem verächtlichen Blick.

"Warum sind Sie eigentlich nach Ostade gekommen, Mensch?" fragt der Leutnant. "Doch nicht etwa, weil Sie mich treffen wollten -?"

Und der Leutnant lacht, so unwahrscheinlich kommt ihm selber dieser Verdacht vor.

Aber der Diener antwortet ernsthaft: "Doch, Herr Leutnant. Ich hoffte, den Herrn Leutnant zu finden. Ostade ist ja kein größerer Ort."

Er stellt den Mokka vor den Leutnant, ohne der Wirkung seiner Worte irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Dann rückt er die Kognakflasche griffrecht.

"Ich würde jetzt zu etwas weniger Kognak raten, Herr Leutnant sind schon wieder ganz mobil. Und Herr Leutnant wollen doch sicher einen klaren Kopf behalten?"

Er richtet den fischigen, ausdruckslosen Blick auf den jungen Mann, den es leise schaudert.

Wenn dieser Kerl kein Dummkopf ist, dann ist er ein abgrundtiefer Schurke, denkt er plötzlich.

Und laut: "Und warum wollten Sie mich finden? Aber sagen Sie jetzt nicht, um mir behilflich zu sein!"

"Weil ich dachte, es würde den Herrn Leutnant interessieren, wie das Lager verraten wurde."

"Und wie wurde es verraten?"

"Weil der Herr Leutnant doch nicht mehr zu dem gnädigen Fräulein kamen und auch die Briefe nicht aus dem hohlen Baum nahmen, hat das gnädige Fräulein das von dem Waffenlager an den Herrn Meier geschrieben, weil das gnädige Fräulein doch wußten, daß der Herr Meier auch solche Wut auf den Herrn Leutnant hatten."

"Das lügst du!"

"Wie der Herr Leutnant meinen". Die Antwort klingt unerschüttert. "Wieviel Kognak befehlen Herr Leutnant? Der Mokka ist grade richtig heiß."

"Na, gieß schon. Die Tasse kann ruhig voll werden, das wirft mich nicht um". Der Leutnant sieht scharf in das graue, trübe Gesicht. "Selbst wenn es wahr wäre, das Fräulein würde es Ihnen nicht gesagt haben."

"Wo ich doch die Adresse von dem Herrn Meier habe für das gnädige Fräulein ermitteln müssen."

Der Leutnant trinkt langsam einen Schluck. Dann brennt er sich eine Zigarette an. "Und darum kommen Sie hierher, bloß um mir das zu erzählen? Wo ist denn Ihr Interesse?"

Das kalte, leblose Auge richtet sich wieder auf den Leutnant.

"Weil ich doch ein rachsüchtiger Mensch bin, Herr Leutnant. Es ist alles leicht faßlich, wie ich schon bemerkt habe."

"Weil sie gewollt hat, daß der Rittmeister Sie rausschmeißt?"

"Auch", sagt der Diener. "Und auch noch wegen anderem - es sind gewissermaßen diskrete Dinge, Herr Leutnant."

"Hören Sie zu, alter Freund!" ruft der Leutnant hitzig. "Spielen Sie hier nicht den Gentleman, kramen Sie aus, was Sie wissen - oder Sie erleben was! Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie ein ganz gerissener Hund sind ..."

Der Leutnant sieht mit Staunen, daß das graue Gesicht des andern sich ein wenig rötet. Ein unangenehm süßlicher, geschmeichelter Ausdruck liegt darauf.

"Ich suche mich zu bilden", sagt der Mann. "Ich lese Bücher; nein, keine Romane, wissenschaftliche Werke, oft mehrere hundert Seiten stark ..."

Wieder denkt der Leutnant: Wenn dieser Kerl kein Idiot ist, ist er ein abgrundtiefer Schurke. - Aber natürlich ist er ein Idiot, einen so gerissenen Schurken gibt es nicht!

Und laut: "Also erzählen Sie Ihre diskreten Heimlichkeiten. Haben Sie keine Angst, ich werde schon nicht rot werden."

"Es ist", berichtet der Diener wieder ganz leblos, "weil das gnädige Fräulein mich nicht wie einen Menschen behandelt hat. Es hat sich ausgezogen und angezogen in meiner Gegenwart, als sei ich ein Stück Holz. Und wenn die Herrschaften auswärts waren, die Herren Eltern meine ich, dann hat das gnädige Fräulein mich immer in das Badezimmer befohlen, daß ich es abtrockne."

"Und Sie waren natürlich verliebt in die Violet?"

"Jawohl, Herr Leutnant. Ich bin noch in das gnädige Fräulein verliebt."

"Und sie hat das gewußt, hat Sie bloß quälen wollen?"

"Jawohl, Herr Leutnant. Das war die Absicht dabei."

Stille. Schweigen.

Der Leutnant sieht von der Seite den Diener an, er denkt: Und so was, dieser Stockfisch und Dummkopf, hat also auch Gefühle. Das leidet und quält sich, genau wie ein richtiger Mensch ...

"Und warum rächen Sie sich nicht selbst -?"

"Ich bin gewissermaßen ein friedliches Temperament, Herr Leutnant. Gewalttätigkeiten liegen mir nicht."

"Sie sind also feige?"

"Jawohl, Herr Leutnant. Ich bin friedfertig."

Der Leutnant denkt nach. Dann sagt er lebhaft: "Hören Sie zu, Herr Räder. Gehen Sie in den ›Goldenen Hut‹, Sie werden da einen dicken Herrn treffen. Sie werden ihn schon erkennen, einen Kriminalisten, mit steifem schwarzem Hut. - Wenn Sie dem das von Violets Brief an den Inspektor Meier erzählen, dann wird die junge Dame nicht mehr viel frohe Stunden im Leben haben."

"Verzeihung, Herr Leutnant", sagt der Diener hartnäckig. "Ich bin nicht für die Polizei. Ich bin für den Herrn Leutnant."

Eine Weile war es still im Zimmer. Der Leutnant stocherte nachdenklich mit dem Löffel in seiner Tasse herum. Der Diener stand in einer aufmerksamen und doch indifferenten Haltung da. Dann faßte der

Leutnant über den Tisch nach der Kognakflasche, er goß die Tasse mit Kognak voll und nahm einen Schluck.

Nun sah er den Diener an und sagte leise: "Ich werde diese Sache aber vielleicht etwas anders erledigen, als Sie sich denken, Räder."

"Es wird schon recht sein, Herr Leutnant."

"Wenn Sie denken, ich werde gewalttätig gegen das Fräulein ..."

"Herr Leutnant werden schon alles überlegt haben, wie es am wirksamsten ist."

"Am wirksamsten, ja "..., antwortet der Leutnant.

Und nun sind sie lange still. Der Leutnant trinkt in kleinen Schlucken seinen Kognak, der Diener steht unter der Tür.

"Räder!" ruft endlich der Leutnant.

"Jawohl, Herr Leutnant?"

"Wann wird es jetzt eigentlich dunkel?"

Räder tritt an das Fenster, er sieht in den trüben, rieselnden Abend hinaus. "Bei so bedecktem Himmel - kurz nach sechs", entscheidet er.

"Sie müssen mir also ein Mietsauto besorgen, für Viertel sieben, hier an die Tür. Es muß mich bis an die Grenze der Neuloher Forst fahren. Vereinbaren Sie vorher den Preis."

"Jawohl, Herr Leutnant."

"Wenn Sie aus dem Haus kommen und auch auf den Straßen - sehen Sie, ob irgendwo dieser dicke Kriminalbeamte herumschnüffelt, von dem ich Ihnen sagte. So ein fetter, bartloser Mann, blasses, aufgeschwemmtes Gesicht, ein merkwürdiger Blick - wie Eis. Schwarzer Überzieher mit Samtkragen, schwarzer steifer Hut "... Ungeduldig: "Sie werden ihn schon erkennen, Mensch!"

"Jawohl, Herr Leutnant, wenn ich ihn sehen sollte, werde ich ihn erkennen. Darf ich dann jetzt gehen?"

"Ja "..., antwortet der Leutnant nachdenklich, und plötzlich lebhaft, aber doch verlegen: "Hören Sie, Räder, ich habe noch einen Auftrag für Sie ..."

"Bitte sehr -?"

"Ich brauche noch", sagt der Leutnant zögernd, "ich brauche noch eine Schußwaffe - ich habe meine verloren ..."

"Jawohl, Herr Leutnant."

"Werden Sie das erledigen können?"

"Jawohl, Herr Leutnant."

"Aber es wird nicht so einfach sein, heute hier eine Pistole zu bekommen. - Und natürlich etwas Munition, Räder!"

"Jawohl, Herr Leutnant."

"Sie sind sicher?"

"Ganz sicher, Herr Leutnant."

"Wegen der Kosten ..."

"Ich bin Herrn Leutnant gerne behilflich."

"Ich habe noch etwas Geld. Ob es freilich für Auto und Waffe reicht ..."

"Ich regle das, Herr Leutnant. - Ich werde also in einer Stunde zurück sein."

Hubert Räder ist lautlos gegangen, der Leutnant ist allein in der möblierten Stube. Eine kleine Schwarzwälder Uhr tickt laut an der Wand, in der Küche raschelt und klappert manchmal die Wirtin. Der Leutnant liegt in Unterwäsche auf dem Sofa - seine Kleider trocknen noch am Ofen.

Er sieht auf den Tisch - dort steht die leere Tasse vor der Kognakflasche, die noch dreiviertel voll ist. Die Hand des Leutnants tastet sich langsam über den Tisch zu der Flasche hin - und zieht sich wieder zurück. Herr Leutnant brauchen einen klaren Kopf, klang die unausstehliche, immer etwas belehrende Stimme des Dieners.

Wieso braucht man denn dazu einen klaren Kopf? denkt der Leutnant. Sag mir das doch, du Schafskopf!

Aber trotzdem schenkt er sich nichts mehr ein. Schon jetzt steigt die Trunkenheit wie eine Welle in ihm hoch, sinkt wieder und steigt neu und höher ... Er wirft einen Blick auf die Uhr: fünf Minuten vor halb sechs. Noch eine gute Dreiviertelstunde hat er allein für sich, beharrt er gewissermaßen noch im Leben - dann wird er immer schneller seinem Ende zueilen. Er heftet den Blick auf den Minutenzeiger. Er bewegt sich unendlich langsam, nein, er bewegt sich gar nicht, man sieht nichts davon, daß sich der kleine Zwischenraum zwischen Minuten- und Stundenzeiger verringert. - Und doch wird es urplötzlich Viertel nach sechs geworden sein, wird die letzte freie Zeit seines Lebens für ihn verstrichen sein.

Er versucht an Violet von Prackwitz zu denken, er will seinen Zorn wieder anfachen. Aber auf einer neuen Welle von Trunkenheit schwankt Räders fischiger, ledriger Kopf herauf mit den grauen, toten Augen. Der Kerl macht nie den Mund auf beim Reden, ich habe nicht einmal seine Zähne gesehen, denkt er plötzlich voller Ekel. Sicher hat er lauter verdorbene, schwarze Stummel im Maule. Darum macht er das Maul

nicht auf beim Reden - alles verschimmelt und verfault!

Der Leutnant will noch einmal nach der Uhr sehen, aber er kriegt den Kopf nicht mehr hoch von der Sofalehne. Er schläft. Er verschläft seine letzte freie Lebenszeit, schläft, schläft ...

Das Auto fährt durch die Nacht - im Lichte seiner weißen Scheinwerfer glänzen die regenfeuchten Stämme auf und sind schon wieder dunkel, schwarz, vorbei, ehe sie das müde, gequälte Auge noch recht erfaßt hat. In der Wagenecke sitzt der Leutnant, er liegt halb, er schläft noch beinahe, er kann noch immer nicht recht wach werden ...

Ein bohrender Schmerz sitzt in seinem Schädel, er hindert ihn am klaren Denken. Der Leutnant bekommt es nicht heraus, ob es richtig ist, daß da vorn, auf der andern Seite der trennenden Glasscheibe, neben dem Chauffeur der Diener Räder sitzt. Es ist ihm, als hätte er nicht gewollt, daß dieser ekelhafte Kerl mitfährt. Aber dann fällt ihm wieder ein, daß ja der Diener dies Auto bezahlt. Mag er also in seinem Auto fahren, soviel er will, die Hauptsache ist, daß er gleich wieder umkehrt.

Der Leutnant ist fast froh, daß er trotz seiner Kopfschmerzen diese Lösung gefunden hat. Nun braucht er über nichts mehr nachzudenken. Es ist alles gut und in Ordnung, auch der Dicke hat ihn nicht mehr erwischt. Von jetzt an geht alles von selbst, er wird bis an den Ort gefahren - und dann ist es nichts wie ein leichter Knips. Es ist wirklich nur ein Knips, die einfachste Sache von der Welt, man braucht sich gar keine Gedanken deswegen zu machen. Der Leutnant hat es ja schon öfters gesehen ...

Er sucht unruhig auf seinem Sitz, in seinen Taschen herum. Er versucht sich zu erinnern, ob der Diener ihm die Pistole gegeben hat oder nicht. Aber er war so verschlafen, als es losging, er weiß es nicht mehr. Der Leutnant will zornig werden, als er auf dem Sitz nur die Kognakflasche findet. Siehe da, trotz aller Verschlafenheit, die hat er nicht vergessen! Der Leutnant nimmt einen ordentlichen Schluck aus der Flasche, er spült sich den Mund mit Kognak aus.

Der Kognak spült den Schlaf fort, flammend klar wird es in des Leutnants Hirn: Ich bin auch bloß ein Feigling!

Und die Flamme sinkt zusammen. Der Rausch flüstert: Aber du wirst es ja doch tun - die Hauptsache ist, daß du es tust. Daß du dabei feige gewesen bist, erfährt keiner.

Doch, der dicke Kriminalist weiß es! sagt die flammende Klarheit.

Was der mich schon angeht! flüstert der Rausch.

Ach, laßt mich alle zufrieden! ärgert sich der Leutnant.

Jetzt wird es hell in dem Wagen, eine dämmrige, rasch immer weißer werdende Helle erfüllt das Wageninnere.

Was ist das nun wieder?! denkt der Leutnant mühsam. Kann ich denn gar nicht in Frieden gelassen werden?

Aber die Helle wird immer stärker, jetzt dreht sich auch der Diener Räder um, er steht halb auf - der Wagen brennt doch nicht etwa? Räder sagt etwas zum Chauffeur, eine Hupe ruft - eine Hupe antwortet. Und vorbei schiebt sich ein großer, rascher Wagen - vorbei, vorbei! Es ist wieder dunkel im Wagen.

Räder stößt die Scheibe vom Vordersitz her auf. "Das war der Wagen vom Rittmeister!" ruft er, und es klingt wie Triumph in seiner Stimme.

"Schön, schön", antwortet der Leutnant kaum verständlich. "Ich habe es Ihnen ja immer gesagt, Räder. Die Wünsche der Sterbenden erfüllen sich."

Der Wagen stößt und schlägt schrecklich auf den zerfahrenen Landwegen. Der Diener ruft: "Das gnädige Fräulein hat sich also wieder erholt."

"Halt deine Schnauze!" ruft der Leutnant, und der Diener schiebt die Scheibe zu.

Der Leutnant muß wieder geschlafen haben, er wacht davon auf, daß der Wagen nicht mehr fährt, sondern steht. Mühsam richtet er sich auf, er ist halb vom Sitz geglitten. Er bekommt die Türklinke zu fassen, er stolpert aus dem Wagen.

Sie halten mitten im Walde, es ist unbegreiflich still. Kein Windhauch, kein Regentropfen mehr. Vorne, zehn oder zwölf Schritte vor dem Wagen, stehen zwei Männer, sie scheinen den Waldboden zu betrachten.

"He! Ihr - was macht ihr da?!" ruft der Leutnant, und noch im Rufen dämpft er schon seine Stimme.

Der Diener macht eine Kehrtwendung, er geht langsam auf den Leutnant zu und bleibt zwei Schritte vor ihm stehen.

"Jawohl, wir sind da", sagt er halblaut. "Herr Leutnant brauchen nur den Autospuren nachzugehen ..."

"Welchen Autospuren -?" fragt der Leutnant ärgerlich.

"Von dem Auto doch, Herr Leutnant! Von dem Auto von der Kontrollkommission."

"Wie soll ich denn die in der Dunkelheit erkennen?" sagt der Leutnant ungeduldig.

"Ich habe doch eine Taschenlampe", antwortet der Diener geduldig. Er

wartet einen Augenblick, aber der Leutnant sagt nichts.

"Wollen Herr Leutnant jetzt gleich gehen?" fragt Räder schließlich.

"Jawohl, jetzt gleich", sagt der Leutnant mechanisch. "Geben Sie mir das Zeug!"

"Hier ist die Taschenlampe, Herr Leutnant, und hier - Herr Leutnant müssen entschuldigen, ich habe nur einen Trommelrevolver bekommen - er ist aber noch ganz neu."

"Geben Sie das Ding schon her. Ich werde schon damit zurechtkommen". Er steckt den Revolver unbesehen in die Tasche. "Also dann gehe ich jetzt."

"Jawohl, Herr Leutnant."

Aber der Leutnant geht nicht.

"Hören Sie", befiehlt er plötzlich heftig. "Sie fahren jetzt auf der Stelle zurück! Ich will Sie hier nicht haben, verstehen Sie? Sie sind ein Schwein! Es ist alles gelogen, was Sie mir erzählt haben! Aber - es ist mir egal! Sie kommen sich mächtig schlau vor, wie? Aber das ist auch egal - alles ist egal. Schlau oder dumm, Schwein oder anständig - alle müssen wir sterben!"

"Wenn ich noch etwas bemerken dürfte, Herr Leutnant ..."

"Was denn noch?! Sie sollen machen, daß Sie fortkommen!"

"Es ist doch immer möglich, daß noch jemand - an der Stelle ist. Es ist kaum neun. Und die Leute sind neugierig. Ich würde möglichst leise sein, Herr Leutnant ..."

"Ja, ja", sagt der Leutnant und lacht plötzlich. "Ich will gerne so leise sein, wie Sie wünschen, mein schlauer Herr Räder. Aber einmal, ein einziges Mal erlauben Sie mir doch ein bißchen Lärm, wie -?"

Er starrt den andern haßerfüllt an.

"Hauen Sie ab, Mensch, ich kann Ihre Fresse nicht mehr sehen! Oder, so wahr mir Gott helfe, ich knalle erst mal auf Sie!"

Aber dann, als die beiden schon im Wagen sitzen, macht der Leutnant doch noch einmal eine Bewegung zu warten. Er hat etwas vergessen, etwas ungeheuer Wichtiges, etwas, ohne das ein Mensch keinesfalls sterben kann. Er sucht danach im Wagen, auf dem Rücksitz, unter den auf den Boden geglittenen Decken. Dann knallt er die Wagentür zu: "Fort mit euch! Meinethalben in die Hölle!"

Der Wagen fährt an. Laut klingt das Motorengeräusch zwischen den Bäumen. Der Leutnant steht am Wege, in seiner notdürftig gereinigten, halbnassen Windjacke, die gerettete Kognakbuddel in der Hand. Die

beiden letzten Menschen, die er in diesem Leben sehen wird, sind von ihm fortgefahren - nun gut, was weiter? Aber der Kognak ist bei ihm geblieben - getreu bis in den Tod!

Der Leutnant horcht und horcht. Er möchte sich einbilden, daß dies Geräusch, das er hört, noch immer Motorengeräusch ist, daß er noch nicht ganz allein ist. Aber es ist so still, so still, und das, was er hört, das ist das eigene Herz, das in der Brust klopft - ach, so angstvoll! Ach, so feige!

Der Leutnant zuckt die Achseln, er ist nicht für seinen Herzschlag verantwortlich, er spitzt den Mund, als wolle er pfeifen, aber es kommt kein Laut. Die Lippe zittert ... Meine Lippe zittert, mein Mund ist hohl und trocken.

Er sieht gegen den Himmel, aber nichts von Himmel ist zu sehen. Schwärze, sternenlose, trostlose Schwärze. Es bleibt ihm wirklich weiter gar nichts, als in den Schwarzen Grund hinunterzusteigen ... Kein Vorwand ist zu entdecken, warum man dies noch immer weiter hinausschieben sollte ...

Der Lichtschein der Taschenlampe blitzt auf, der Leutnant fängt in ihm die Spuren des Autos - langsam und sachte geht er diesen Spuren nach. Er merkt, es ist nicht nur die Spur eines Autos, nein zwei Autos sind hier gefahren.

Nachdem der Leutnant eine Weile nachgedacht hat, nickt er befriedigt mit dem Kopf. Es ist alles in Ordnung, genau wie es sein muß: das Auto von der Kontrollkommission und das Lastauto, mit dem sie die Waffen fortgeschafft haben. Das heißt, ein richtiges Lastauto ist es nun auch wieder nicht gewesen. Das würde man an der Bereifung sehen, es war wohl mehr ein größerer Lieferwagen. Wieder nickt der Leutnant befriedigt mit dem Kopf. Jawohl, sein Gehirn arbeitet ausgezeichnet, er fährt nicht als abgewelkter Greis in die Grube, in der Vollkraft seiner Jahre - oder wie es in den Todesanzeigen heißt. Aber bei ihm wird es keine Todesanzeige geben!

Aha, hier haben die Autos gehalten, hier ging es für die Wagen nicht tiefer hinab in den Grund. Aber ein Fußgänger braucht darum nicht zu zögern, für die Fußgänger ist der Weg deutlich genug ausgetreten. Der Leutnant geht hin und her, mit seinem Laternchen prüft er alles nach. Jawohl, wiederum in bester Ordnung. Nachdem die Herren hier gehalten haben, sind sie in der Richtung Neulohe weitergefahren. Alles ist ordnungsgemäß erledigt, "faßlich", würde dieser Hund Räder gesagt haben. Ach, dieser Hund, dieses Schwein - gottlob, daß er abgehauen ist. Der Dicke ist auch weg. Es riecht im Walde nicht die Spur nach Weibern -

also kann man seine Angelegenheiten endlich mit sich alleine erledigen. Man muß keine frisierte Fresse ziehen, man hat keine Haltung zu bewahren - juckt es einen, so kratzt man sich; will man einen Schluck aus der Buddel nehmen, so tut man das, und hinterher rülpst man. Völlig ungeniert! Jawohl! Das kleine Kind, dem Leben kaum gegeben, benimmt sich ziemlich schändlich, nahe dem Tode wird es wieder so - aus dem Nichts kommend, in das Nichts gehend, führt man sich recht gewöhnlich auf - es ist alles faßlich. Sagt der Knabe Räder!

Eine gespenstische, lautlose Lustigkeit erfüllt den Leutnant. Der letzte Schluck Kognak war ziemlich kräftig, der Leutnant fällt den kleinen Fußpfad in den Waldgrund eher hinunter, als daß er ihn geht. Aber unten verfliegt diese Lustigkeit sofort wieder, aus der wirbelnden Trunkenheit wird ein zähflüssiger Brei -.

Ernsthaft schaut er sich an, wie diese Kerle hier gehaust haben, die haben sich wahrhaftig nicht geniert, diese Brüder! Tiefe Löcher im Boden, Erdhaufen, Kistendeckel - wahrhaftig, jetzt trifft der Schein der Lampe sogar eine liegengelassene Schaufel! Ich hatte alles so gut und sauber versteckt, denkt der Leutnant. Und diese Schweine machen mir alles so unordentlich! Bei mir war nichts zu sehen - und wie sieht es jetzt aus!

Tieftraurig setzt sich der Leutnant auf einen Erdhaufen, mit den Beinen baumelt er in einer Grube. Ein Sterbender kann eigentlich nicht passender sitzen - aber daran denkt er jetzt nicht. Er stellt die Flasche neben sich in die weiche Erde, er greift in die Hosentasche, er zieht den Revolver hervor. Mit der einen Hand leuchtet er ihn an, mit der andern hält er ihn ins Licht und befingert ihn. Jawohl, er hat es sich gleich gedacht: Es ist so ein Dreckdings, Fabrikschund, Massenware - ein Knalldings, um Hunde wegzuscheuchen, gut dafür, daß sich Portokassenjünglinge damit umbringen - aber doch nichts für ihn, für einen Mann, der Waffen liebt! Ach, seine schöne, präzis gearbeitete Pistole, ein Ding, sauber wie ein Flugzeugmotor - der Dicke schlug ihn gegen den Bauch und stahl ihm das herrliche Ding!

Trostlos starrt der Leutnant vor sich hin - und als er nun gar entdeckt, daß nur die sechs Patronen in der Trommel stecken, daß dieser Schurke Räder ihm keine Munition gegeben hat - und er hat es ihm doch extra aufgetragen!

Er flüstert vor sich hin: "Ich muß den Revolver doch einschießen, er ist doch noch neu, er ist doch noch gar nicht beschossen! Ich habe ihn doch erst einschießen wollen, so weiß ich ja gar nicht, ob er zu hoch oder zu tief schießt ..."

Eine Stimme möchte ihm einreden, daß es für einen auf der Schläfe aufgesetzten Schuß ganz gleichgültig ist, ob der Revolver zu tief schießt, aber er beharrt darauf: Ich habe mich doch gefreut auf das Einschießen, ein bißchen Freude muß man dem Menschen doch auch gönnen!

Der Kummer überwältigt ihn, fast hätte er geweint. "Man kann doch auch sechsmal vorbeischießen", flüstert er, "so etwas ist schon vorgekommen - und was mache ich dann?"

Da sitzt er, bleich, mit hängender Unterlippe, seine Augen irren überall umher. Sein Gesicht ist entstellt, nicht einmal so sehr von den Schlägen als von einem Ausdruck verzweifelter Angst. Er weiß, daß er mit sich theatert, daß er das Letzte nur immer wieder hinausschieben will. Aber er will es nicht wissen, er denkt gar nicht mehr an dieses Letzte, o nein, es ist noch so vieles vorzubereiten, zu bedenken. Er erinnert sich genau, er hat schon so lange nicht mehr an diese Violet gedacht; Haß, Ekel vor diesem Frauenzimmer haben ihn erfüllt - er möchte das noch einmal fühlen.

Aber in seiner Brust scheint nur noch Platz zu sein für diese elende Unruhe, ein weiches, verdammtes Gefühl -: Oh, so schwach, ich bin doch kein gottverdammter Negermeier! Nein, ich schwöre, ich will mich nicht bessern, ich will mich nicht ändern! Ich war grade so richtig, wie ich war, mit Zähnen zum Beißen, Wolf unter Wölfen -!

Der Leutnant tut einen tiefen Schluck aus der Flasche. Sie gluckert beim Trinken, sie gluckert beim Hinsetzen - aber, verdammt noch mal, es war nicht das einzige Geräusch, das er gehört hat! Der Leutnant springt mit einem Satz hoch, den Revolver in der einen, die Taschenlampe in der andern Hand, schreit er wild in den Wald hinein: "Wer ist da? Steh - oder ich schieße!"

Er lauscht, er hört nichts - aber nun schleicht es! Dort -? Wo -? Dort im Gebüsch? "Steh oder ich schieße!" Oh, ich habe es ja gehört, wie das Motorengeräusch im Walde plötzlich alle war, dies Schwein, der Räder, hat halten lassen. Er ist mir nachgeschlichen, er will sehen, ob ich mich für sein Geld auch erschieße! Dort - dort, jetzt habe ich es gehört! "Steh!" Da - es knallt!

Siehe da, dies Pistölchen schießt nicht schlecht, es pufft - hast du Angst? Haben wir dich gekitzelt?! Ach, du läufst, warte, ich laufe dir nach, steh! Knall, Bruch! - Was ist das? Auch in meinem Rücken läuft es, kommt da noch wer? Wer bist du denn? Zeigt sich auch nicht, ist auch feige - Knall! Bumm!

Natürlich, das ist der Dicke, die Herren Kameraden wollen wissen, ob ich ihren ungesprochenen Urteilsspruch vollziehe - Prost die Mahlzeit,

erst vollziehe ich einen Dicken. Knall! Das klatscht zu sehr, die Kugel hat sich an einem Stamm breitgeschlagen.

Meine Herrschaften, hier stehe ich, sehen Sie zu! Ist die Dame Violet auch da? Sehen Sie her, mein Fräulein, diesen Schluck auf ein langes Leben für Sie! Mögen Sie sich meiner recht oft und recht lange erinnern!

Weg mit der Flasche! Krach - entzwei! Schade, es war ein guter Kognak darin!

Meine Herren, meine Damen, ich hatte bedauert, daß ich nur sechs Schüsse in der Trommel hatte - sehen Sie, meinen fünften feure ich in den Himmel ab, ein Ehrensalut für meine Dame, daß es ihr ewig in den Ohren gellen möge von mir. - Und der sechste Schuß: ein Schuß reicht für mich. Sehen Sie so, über der Nasenwurzel angesetzt - sehen Sie so ... Wenn sie mich wirklich besuchen sollte, werde ich ein ausgezeichneter Anblick sein für sie!

O mein Gott, mein Gott, kommt denn keiner, geschieht denn gar nichts, sie können mich doch hier nicht verrecken lassen! Es muß doch irgendeiner kommen und sagen, daß alles ein Irrtum war. - Jetzt zähle ich bis drei, und wenn dann nichts geschehen ist, schieße ich los -: Eins! - Zwei! - Drei! -

Nichts, wirklich nichts? So ist der ganze Dreck auch nichts wert! Es war alles Dreck, was ich erlebt habe, und das Sterben ist auch Dreck, feiger, hündischer Dreck, und hinterher wird Dreck kommen, das weiß ich nun auch schon! Ich habe viel zuviel Angst gehabt, es lohnt sich nicht, um diesen Dreck Angst zu haben. Jetzt bin ich ganz ruhig. Es wäre nett gewesen von dem Posten, heute mittag, wenn er auf mich geschossen hätte. Er hätte mir wirklich was abgenommen. Aber ich kann das auch. Allein gelebt, allein gestorben - Gebt Feuer - und was nun -? Ach ...

Ja, und was nun -? Ach!

Im Schwarzen Grunde, in der Waldsenke, liegt eine Taschenlampe an der Erde, ihr kleiner Lichtkegel fällt auf ein paar Gräser, ein Stück bemoosten Stein, etwas Erde ... Es ist ganz still, ganz still ... Der kleine, weiße, einsame Schein in der stillen Nacht, die eben noch so laut war ...

Jetzt kommt ein Geräusch von den Büschen her, jemand räuspert sich, hustet ...

Stille dann, Stille, lange ...

Leise, vorsichtig kommt ein Schritt näher, zögert, hält ein. Wieder Husten.

Stille, nichts, nur Stille ...

Der Schritt kommt wieder näher, ein Fuß, ein Fuß in einem schwarzen

Lederschuh erscheint in dem weißen Lichtkegel der Taschenlampe.

Einen Augenblick später ist die Lampe aufgehoben. Ihr Schein wandert, hält inne ... Zögernd, als klebe er am Boden, geht der Schritt noch einmal weiter, der stille Besucher sieht hinunter auf das, was stiller liegt.

Lange Stille, lange Stille ...

Dann räuspert sich der Mann. Der Lichtkegel der Laterne sucht wieder, rechts davon, links davon.

Er wird doch nicht daraufgefallen sein -?!

Aber dann ist der Revolver gefunden. Der ihn fand, untersucht die Trommel, mit dem Stecher wirft er die leeren Patronenhülsen aus. Der Revolver wird neu geladen. Noch einmal richtet sich der Schein der Laterne auf den Toten. Dann entfernt er sich rasch, den Hang hinauf, die Schneise entlang, den Weg nach Neulohe.

Es ist ganz dunkel im Schwarzen Grunde.

9

Keine Stütze, keine Hausfrau hätte die Villa sorglicher vorbereiten können, als es der junge Pagel getan hatte. Die Zimmer waren aufgeräumt und warm, der Badeofen war geheizt. In der Küche wartete ein Abendessen auf die Heimkehrenden, und der junge Mann hatte es sogar fertiggebracht, aus dem von Sommerhitze ausgedörrten, im Herbstregen ersoffenen Garten ein paar Sträuße zusammenzuholen: Gladiolen, Dahlien, Astern ...

Wo Frau Eva von Prackwitz eine von Hilfskräften entblößte Wüste hinterlassen hatte, da fand sie wieder ein Heim vor, und sogar das trostlose Mädchen Lotte, das fest entschlossen gewesen war, auch zu fliehen, war so munter und aufgeräumt wie kaum je zuvor. Denn der "junge Mann" hatte das Scheuerfest zu einer Lustbarkeit gemacht: mit den räumenden Weibern war er mitgewandert, das Koffergrammophon in der Hand, und wie es sich kehren ließ, wie sich Betten machten, wenn dazu Musik erscholl wie "Puppchen, du bist mein Augenstern" oder "Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen" - das war gar nicht zu sagen! In einem halben Jahr war nicht soviel und nicht so herzlich in der Villa gelacht worden wie an diesem einen Abend.

Aber dem Lachen folgt Weinen, Regen vertreibt den Sonnenschein, und - es ist nicht alle Tage Sonntag. Dem schneidigen Horchwagen sah man es nicht an, als er vorfuhr, welche Unglücksfuhre er barg. Eher

schon dem recht betreten aussehenden Herrn Finger, der den Schlag noch vor dem herbeieilenden jungen Pagel öffnete. Als man dann in den Wagen sah ...

Das gnädige Fräulein freilich schlief noch immer, und etwas so Beängstigendes dieser starre, bleiche Schlaf auch hatte, er allein hätte die Gesichter nicht so ernst und verlegen gemacht. Aber der Rittmeister, dieser unselige Rittmeister von Prackwitz! Er war noch nicht wieder bei Besinnung, aber er hatte während der Fahrt zu brechen angefangen - kaum bekleidet, stöhnend, beschmutzt hoben sie ihn aus dem Wagen.

Die gnädige Frau mußte fürchterliche Stunden hinter sich haben, sie sah fahl und alt aus. Ihr schöner, voller Mund war fest geschlossen, traurig und bitter sah sie aus.

"Ja", nickte sie streng, "ich bringe das Unglück ins Haus."

Sie warf einen kurzen Blick auf die Gesichter um sich, geisterhafte Gesichter im spärlichen Schein der Außenlampe. Der junge Pagel, der Chauffeur Finger, Lotte, erschrocken und angstvoll, ein paar Frauen aus dem Dorf - nein, es gab kein Versteckenspielen, kein Heimlichtun mehr. Das Unglück war in die Villa eingekehrt. Aber Frau Eva trug auch das - trug es? Nein, es machte sie stark, im wirklichen Unglück vergeht die Anstellerei ...

"Herr Finger, Herr Pagel, Sie sind so freundlich und tragen meinen Mann hinauf. Am besten legen Sie ihn erst auf die Chaiselongue im Badezimmer, bis ein Bad fertig ist. Es ist fertig? Schön! Ihr Mädchen helft mir bei Fräulein Violet. Habe doch keine Angst, Lotte, sie ist nicht tot, sie ist nur betäubt. Der Arzt hat ihr ein Mittel gegeben. So - nun los!"

Brennen die Lampen plötzlich düsterer im Haus? Hat es hier eben noch gesungen, geklungen und gelacht? Was sollen die Blumen in den Vasen? Das Unglück kam heim - alle gehen auf den Zehen, alle flüstern -. Horch, was ist das? Es ist nichts, es ist nur der Rittmeister, er stöhnt wieder. Die Außenlampe an der Villa brennt weiter, für nichts werfen die Scheinwerfer des Autos ihre Lichtkegel in die Nacht.

Die beiden Männer, Pagel und Finger, haben den Rittmeister ausgezogen, in die Badewanne gelegt.

"Nein, ich habe keine Zeit für ihn. Tun Sie das. Violet ist jetzt wichtiger ..."

Und sie hat sich neben das Bett der Tochter gesetzt, sie verläßt das Zimmer nicht - denkt sie an eine Mahnung? Ist sie noch nicht geborgen - hier, in ihrem Heim? Um Neulohe steht der Wald, ferne ist die Welt, wie kann noch größeres Unheil kommen -? Noch größeres Unheil als eine

geschändete, verwirrte Tochter, ein Mann, der nun endgültig allen Halt verloren hat -? Noch größeres Unheil -?

"Lotte", sagt sie. "Gehen Sie sofort hinunter. Schließen Sie alle Türen ab, im Souterrain und im Erdgeschoß. Sehen Sie nach, daß alle Fenster wirklich zu sind. Machen Sie niemandem die Tür auf, ehe Sie mich nicht gefragt haben."

Das Mädchen geht, angstvoll, verwirrt. Die Frau sitzt neben dem Bett. Um halb eins, eins wird die Tochter erwachen. Auf diesen Moment kommt alles an, daß weiß sie vom Arzt. Die Stunde soll sie bereit finden. Keinen Schritt aus diesem Zimmer! Es ist Violets Zimmer - hier hat sie als Kind, als junges Mädchen gewohnt. Was sie damals war, ach! vor noch so kurzer Zeit, das muß ihr die Kraft geben, zu überwinden, was sie geworden ist!

Die beiden Männer arbeiten stumm an dem Rittmeister. Der junge Pagel wäscht ihn sorgfältig ab, der Chauffeur hält ihn, denn die weichen, schlafenden Glieder verlieren immer wieder den Halt in der Wanne. Trotzdem scheint es, als ob Besinnung in den Körper zurückkehren will, die Augenlider bewegen sich, zucken, der Mund flüstert.

"Bitte sehr, Herr Rittmeister?"

"Was zu trinken ..."

Jawohl, etwas wie Erinnerung regt sich in dem betäubten Hirn, die erste wieder erwachende Ahnung von dem Unheil, das diesen Mann befallen hat. Und schon verlangt er, der noch nicht wieder denken kann, nach neuer Betäubung, neuer Flucht ...

Pagel sieht den Chauffeur an. Herr Finger bewegt verneinend den Kopf: "Er bricht ja schon Galle. Der Magen nimmt nichts mehr an."

Pagel nickt.

Es ist nicht leicht, den bewußtlosen, nassen, glatten Körper aus der Wanne zu heben. Der Rittmeister widersetzt sich, er murmelt heftig. "Portwein!" murmelt er. "Ober, noch eine Flasche ..."

"Was ist -?" ruft Frau Eva aus der Tür von Violets Zimmer.

"Wir bringen Herrn Rittmeister jetzt ins Bett", berichtet Pagel. "Er möchte zu trinken haben, gnädige Frau."

"Er bekommt nichts", entscheidet sie. "Keinen Schluck Alkohol. Sehen Sie nach, Herr Pagel, in meinem Nachtschränkchen muß Veronal sein. Geben Sie ihm eine Tablette ..."

Schließlich liegt der Rittmeister im Bett, erschöpft, in einem unruhigen Halbschlaf. Das Veronal hat er bekommen, aber sofort wieder erbrochen.

Herr Finger sagt zögernd: "Ich müßte meinen Wagen aus dem Regen fahren. Es ist ein ganz neuer Wagen, es ist schade um ihn."

"Ihre Firma wird das Geld schon kriegen", sagt Pagel.

"Es ist überhaupt schade um den Wagen!" meint der Chauffeur ärgerlich. "Wie der eingesaut ist! - Und ich habe den ganzen Tag auch nichts Rechtes zu essen gekriegt, immer draußen in der Nässe und Kälte ..."

"Ich werde mit der gnädigen Frau sprechen", sagt Pagel bereitwillig. "Bleiben Sie bitte solange bei Herrn Rittmeister."

Er spricht mit Frau von Prackwitz. Dann läßt er den Chauffeur, die Frauen, auch Lotte aus dem Haus. Alle haben es eilig, aus der Villa fortzugehen, die vom Unheil heimgesucht ist.

Wolfgang Pagel selbst kehrt auf seinen Wachtposten bei dem Rittmeister von Prackwitz zurück. Der Mann ist sehr krank, das ist nicht schwer zu sehen, aber nicht nur sein Körper ist krank, vergiftet vom Alkohol, noch kränker ist seine Seele. Das Selbstbewußtsein des Mannes ist tödlich verletzt worden. Er windet sich qualvoll unter den düsteren Gedanken, die ihn heimsuchen.

Alle seine Fehler fallen ihm ein - dann möchte er die Augen schließen.

Aber das hilft nichts. Er setzt sich auf im Bett, er starrt den jungen Mann im Sessel am Bettrand an; er möchte wissen, ob der auch weiß, ob alle wissen, wie jämmerlich, wie klein, wie hohl er ist, war, sein wird ...

Aber alles verwirrt ihn, es ist eine Jagd, die Lampe brennt so trüb, es sind Bilder, Schatten von Bildern ... Warum ist die Nacht so still -? Warum atmet er allein, leidet er allein -!?

"Wo ist meine Frau? Wo ist Weio?! Kümmert sich denn keiner um mich? Soll ich denn ganz allein und verlassen sterben? O Gott!"

"Es ist tiefe Nacht, Herr Rittmeister. Die gnädige Frau und das gnädige Fräulein schlafen. Versuchen Sie auch ein bißchen zu ruhen."

Der Kranke legt sich zurück im Bett, er scheint nachzudenken, beruhigt durch die Auskunft. Dann setzt er sich wieder auf, er fragt, mit einem listigen Ton in der Stimme: "Nicht wahr, Sie sind doch der junge Pagel?"

"Jawohl, Herr Rittmeister."

"Und Sie sind doch mein Angestellter?"

"Jawohl, Herr Rittmeister."

"Und Sie haben zu tun, was ich Ihnen befehle?"

"Jawohl, Herr Rittmeister."

"Dann -", er macht nun doch eine Pause, aber dann sagt er erst recht

herrisch: "Dann holen Sie mir sofort eine Flasche Kognak herauf."

Jawohl, Pagel, Wolfgang, hier hilft keine Liebenswürdigkeit, nicht Nachgeben, noch Fortsehen - der Rittmeister sieht dich gespannt, fast haßerfüllt an. Er will seinen Kognak haben, und wenn du nicht hart bist, wird er ihn bekommen!

"Sie sind krank, Herr Rittmeister, Sie müssen erst schlafen. Morgen früh sollen Sie Kognak haben."

"Ich will ihn jetzt haben. Ich befehle es Ihnen!"

"Es ist nicht möglich, Herr Rittmeister. Die gnädige Frau hat es verboten."

"Meine Frau hat mir gar nichts zu verbieten! Holen Sie jetzt den Kognak, oder -!"

Die beiden sehen einander an.

Ah, wie die Welt nackt geworden ist, wie der Flitter der Redensarten abfiel, der holde Dunst der Phrasen sich verflüchtigte! Hinein in das Familienleben, die Schminke ist abgewischt, und der hohle Totenkopf des Egoismus grinst dich mit seinen schwarzen Augenhöhlen an. Wie ein Gespenst sieht Pagel sich plötzlich neben Peter im Zimmer der Pottmadamm liegen, die Vorhänge hängen in der stickigen Luft gelblichgrau. Wie ein Symbol scheint ihm das jetzt, nein, wie die Vorstufe einer schwereren Probe. Damals noch hatte er sein Köfferchen nehmen und sich feige drücken können, hier gab es das nicht mehr! Vorbei die holde Lüge, die uns so gut schmeckt, vorübergeweht die zärtliche Gestalt der Liebe - Mensch gegen Mensch, Wolf unter Wölfen, mußt du dich entscheiden, wenn du dich vor dir selbst behaupten willst -!

"Nein, Herr Rittmeister. Es tut mir leid, aber ..."

"Dann hole ich mir meinen Kognak alleine! Sie sind entlassen!"

Mit einem Satz ist der Rittmeister aus dem Bett. Nie hätte Wolf gedacht, daß der kranke Mann, dessen Glieder sie eben noch zu zweien nur mit Mühe aus der Wanne gehoben haben, solche Beweglichkeit, solche Kraft entwickeln könnte.

"Herr Rittmeister!" bittet Wolf.

"Sie werden es doch nicht wagen, Ihren Arbeitgeber anzurühren, wie?!" schreit der Rittmeister mit verzerrtem Gesicht und läuft im Pyjama gegen die Tür.

Es ist der entscheidende Moment. "Doch!" antwortet Pagel und faßt den Rittmeister um.

"Lassen Sie mich los!" schreit der Rittmeister. Die Wut, die nie erlebte

Entwürdigung, die Sucht nach Alkohol geben ihm Kräfte.

"Achim, Achim! Was soll das?" ruft es von der Tür her. Der Lärm des Kampfes, das Geschrei haben die gnädige Frau herübergerufen, von dem Krankenbett der Tochter, das sie doch nicht verlassen will.

"Du! Du!" schreit der Rittmeister voller Wut und strebt nur um so stärker, sich aus Pagels Armen loszureißen. "Du hast diesen jungen Bengel gegen mich aufgehetzt! Was heißt das, daß ich keinen Kognak haben soll?! Bin ich hier der Herr oder du?! Ich ..."

Er strebt aus Pagels Armen, als wollte er sich auf seine Frau stürzen.

"Bringen Sie ihn ins Bett, Herr Pagel!" befiehlt Frau Eva zornig. "Genieren Sie sich nicht, fassen Sie ordentlich zu. Achim!" mahnt sie, "Achim, drüben liegt Violet krank, nimm dich zusammen, sei einmal ein Mann! Sie ist so krank ..."

"Ich gehe ja schon", sagt der Rittmeister, plötzlich fast weinerlich. "Wenn ich krank bin, machst du gar kein Aufhebens. Ich will nur einen Kognak trinken, einen einzigen, kleinen Kognak ..."

"Geben Sie ihm noch ein Veronal. Geben Sie ihm zwei Veronal - daß er endlich Ruhe hält, Herr Pagel", ruft Frau Eva verzweifelt aus. "Ich muß zurück zu Violet."

Und von ihrer Angst getrieben, eilt sie zurück in das Zimmer der Tochter. Als sie über den Gang läuft, klopft ihr Herz so wild - was wird sie jetzt sehen -?!

Aber - und das Herz geht ruhiger - sie sieht nichts anderes, als was sie verließ: die Tochter liegt ruhig schlafend im Bett, sehr weiß, das Gesicht eine Spur gedunsen, mit einem Ausdruck, als grüble sie.

Frau Eva faßt nach dem Puls, er schlägt langsam, aber kräftig spürbar. Keine Angst - Violet wird erwachen, man wird mit ihr sprechen oder nicht sprechen, ganz wie es die Stunde verlangt. Sie wird wieder gesund werden, man wird fortgehen von Neulohe, in einem stillen Winkel leben. Der Vater wird mit sich reden lassen wegen des Geldes. Keiner braucht zu verzweifeln wegen einer Niederlage, auch Violet nicht. Eigentlich besteht das Leben, genau betrachtet, aus lauter Niederlagen. Aber der Mensch lebt doch weiter und freut sich am Leben, der Mensch, dieses zäheste, dieses widerstandsfähigste aller Geschöpfe ...

Frau Eva von Prackwitz, geborene von Teschow, sieht hoch, es ist fünf Minuten nach zwölf Uhr. Die entscheidende, die verhängnisvolle Stunde hat begonnen.

Sie fröstelt, jawohl, es herrscht eine drückende Hitze im Zimmer. Sie öffnet das Fenster, leise geht in der dunklen Nacht der Wind, leise fallen

die Tropfen von den Bäumen. Sie sieht hinaus, aber sie erkennt nichts, nur Schatten im Schatten. Und aus dieser Schattenwelt soll die Gefahr kommen, die ihre Menschwelt bedroht -?!

Sie fröstelt wieder. Was tue ich denn? denkt sie erschrocken. Ich friere, und ich mache das Fenster auf? Ich bin ja auch ganz verwirrt! Es ist alles zuviel für einen Menschen ...

Und sie legt sorgfältig die Halter zwischen die Fensterflügel, damit sie vom Winde nicht klappern.

In diesem Augenblick schlägt laut gellend unten im Haus die elektrische Klingel an.

10

Über den Flur hin, ein jedes in die Tür seines Krankenzimmers getreten, sahen sich Frau von Prackwitz und Pagel an. Der junge Mann verstand nicht die weiße Angst auf dem Gesicht der Frau ...

"Es hat geklingelt", flüsterte sie ...

"Es wird der Chauffeur sein", antwortete er beruhigend. "Er hat irgendwo im Dorf zu Abend gegessen und will jetzt ..."

"Nein! Nein!" rief sie angstvoll.

Wieder gellte die Klingel.

"Machen Sie nicht auf!" bat sie. "Bitte, Herr Pagel, es kommt Unheil ..."

"Oder es wird Lotte sein", versuchte er wieder. "Lotte ist auch noch fortgegangen. Wir können das Mädchen doch nicht aussperren. Der Herr Rittmeister ist grade ruhig, lassen Sie mich schnell aufmachen ..."

"Bitte nicht, Herr Pagel", bat sie wie ein Kind. Als könne man das Unglück aussperren, das aus einem falsch geführten Leben erwächst.

Aber er lief schon die Treppe hinunter, leicht und rasch lief er, sein Kopf dachte klar, sein Körper war für jede Gefahr bereit. Es war töricht, aber etwas wie Freude erfüllte ihn; er war nicht umsonst auf der Welt, er erfüllte eine Aufgabe, und war es nur die ganz kleine, der Frau dort oben zu beweisen, daß sie umsonst Angst hatte. Zum ersten Male begriff er innerlich, mit seinem ganzen Wesen, mit Leib und Seele, daß das Leben nur dem Freude bringt, der eine Aufgabe erfüllt, unbeirrbar, sei sie klein oder groß. Daß Lebenserfüllung nur aus dem eigenen Ich kommen kann, nicht aus der Umwelt, nicht aus einem Spielgewinn ...

Die Klingel gellte zum dritten Male.

Die gnädige Frau oben rief etwas Unverständliches.

Im Vorbeilaufen sah er in der Flurgarderobe einen dicken Eichenknüppel stehen, den der Rittmeister sonst für seine Waldwege benutzt hatte. Er ergriff ihn, wirbelte ihn einmal durch die Luft, wobei er die Flurlampe in Gefahr brachte, und den Knüppel schlagbereit in der Faust, öffnete er die Tür, gerade als es zum viertenmal klingelte.

Vor der Tür stand, mit gerötetem, etwas ärgerlichem Gesicht, Herr von Studmann, einen ersichtlich recht schweren Kupeekoffer in der Hand.

"Sie, Herr von Studmann!" rief Pagel verblüfft und ließ seine lächerliche Waffe beschämt sinken.

"Jawohl, ich!" sagte Herr von Studmann, und zwar so gereizt, wie es ihm nur immer möglich war. "Und ich weiß wirklich nicht, was heute in Neulohe los ist! Ich denke", sprach er ziemlich gekränkt, "ich werde mit Sehnsucht und Spannung erwartet, ich bringe eine immerhin nicht unbeträchtliche Summe Geldes -: und kein Wagen ist an der Bahn, das Beamtenhaus dunkel und verschlossen, das Schloß dunkel, aber voll Trara, als würden die größten Feste gefeiert, doch keiner macht auf ... Und hier darf ich zehn Minuten im Regen stehen und klingeln ..."

Herrn von Studmanns Stimme war immer vorwurfsvoller geworden, als ihm der Leidensweg, den er durch die Unzuverlässigkeit der andern hatte gehen müssen, beim Aufzählen so recht klar wurde ...

"Hören Sie zu, Herr von Studmann", flüsterte Pagel eilig, zog den Verdutzten auf die Diele und schloß sorgfältig hinter ihm ab, "hier oder vielmehr in Ostade scheint unterdes ein Unglück geschehen zu sein. Das Fräulein Violet ist schwerkrank aus Ostade zurückgekommen und der Rittmeister - nun, schwer angedunt. Näheres weiß ich auch nicht. Das schlimmste ist, daß die gnädige Frau auch ganz verwirrt ist, sie scheint noch weiteres Unglück zu fürchten, ich habe keine Ahnung, was ... Und ich bin ganz allein mit ihnen. Ja, richtig, die Schnüffelkommission war auch hier, sie hat in der Forst ein Waffenlager ausgehoben, wußten Sie davon -?"

"Ich -?!" rief Herr von Studmann voll Empörung und setzte den Handkoffer schwer nieder. "Ich sollte ..."

"Jawohl, gnädige Frau", rief Pagel nach oben. "Es ist alles in bester Ordnung. Herr von Studmann ist hier. Darf er zu Ihnen kommen?"

"Herr von Studmann!" rief Frau Eva. "Jawohl. Gleich. Sofort! Gott sei Dank, Herr von Studmann, daß Sie wieder da sind, ich brauche so nötig Hilfe ... Ich kann hier nicht weg ..."

Pagel ging still in sein Zimmer zu dem Rittmeister. Der Chef schien zu schlafen, dieses Mal hatte er das Veronal - zwei Tabletten - bei sich

behalten. Aber zu trauen war ihm nicht. Er lag mit geschlossenen Augen, ruhig atmend, aber auch ein Wachender kann mit geschlossenen Augen ruhig atmen. Pagel hatte das Gefühl, als stimmte etwas nicht. Er hatte auch das Gefühl, als sei der Rittmeister in der Zwischenzeit aus dem Bett gewesen. Er hatte keinen Anhalt dafür, aber so war sein Gefühl. Er fand auch, daß des Rittmeisters Gesicht einen verbissenen, bösartigen Ausdruck trug, und beschloß, auf seiner Hut zu sein. Oberwachtmeister Marofke sollte ihm nicht umsonst eine Lehre gegeben haben ...

Mittlerweile hörte Pagel auf die Stimmen aus dem Zimmer von Violet. Wenn er auch kein Wort verstehen konnte, zu unterscheiden waren die Stimmen gut, denn hier wie dort standen die Türen zum Flur halb offen. Es war nicht zu verkennen, daß die Stimme Herrn von Studmanns ein wenig gekränkt klang, und zu verwundern war das nicht. Da war er gelaufen und hatte gehandelt, da war er tüchtig gewesen und hatte Glück gehabt, da brachte er Geld die Menge, so sehnsüchtig erwartetes, so notwendiges Geld - und kein Wagen war an der Bahn, kein Mensch zu seinem Empfang da, das Geld ist so belanglos, was er geleistet hat, so unwichtig! Wir sind ja indessen krank geworden, wir beschäftigen uns nun mit anderen Dingen, einem Unglück zum Beispiel, einem geschehenen und einem kommenden, wichtigeren Dingen ...

Armer Herr von Studmann! Pagel sieht ihn so deutlich vor dem dunklen Beamtenhaus stehen, mit dem schweren Koffer, den er nicht einen Augenblick aus der Hand läßt. Dieses gute Kindermädchen, das die ewige Enttäuschung aller Kindermädchen erlebt: Es hat ein ersehntes Spielzeug besorgt, aber das Kind sieht es gar nicht an, es spielt längst mit etwas anderem!

In dieser stillen Nachtstunde, ein bißchen schläfrig, denn seit halb fünf Uhr morgens ist er auf den Beinen, begreift der junge Pagel, warum der freundliche, der tüchtige, der hilfsbereite Herr von Studmann allein geblieben ist, ein älterer, recht isolierter Junggeselle. Der Mensch liebt seine Retter nicht - ist er aus der Gefahr, nimmt er ihnen die Überlegenheit übel!

Die Stimmen drüben in dem Zimmer gehen hin und her. Pagel sieht auf seine Armbanduhr, es ist beinahe halb eins. Eigentlich ginge ich ganz gerne ins Bett, denkt er schläfrig. Bettreif bin ich, und der Rittmeister hat sich die letzte Viertelstunde nicht gerührt, der pennt auch. Aber ich kann die Frauen drüben nicht im Stich lassen, der Studmann wird auch nicht mehr lange bleiben, die Stimme der gnädigen Frau klingt immer gereizter ... Ach, wenn ich doch wenigstens einen Kaffee hätte, einen

schönen, dicken, schwarzen, steifen Kaffee -!

Und nun sieht er sich hinabgehen in die Küche der Villa ... sie haben da einen Tauchsieder, er hat ihn heute nachmittag gesehen, es geht ganz schnell. Er würde sich eine tüchtige Portion Kaffee mahlen, so ein halbes Lot, rein in die Tasse, kochendes Wasser darüber, drei Minuten ziehen lassen, mit kaltem Wasser abspritzen, und nun trinken das Zeug, glühend heiß, mit Salz und allem: Ach! Ich würde frisch werden wie ein Fisch im Wasser!

Aber er kann ja nicht fort, diesen herrlichen, munter machenden Kaffee, den ihm manchmal der Peter aufgebrüht hat, ehe er zum Spielen ging, er kann ihn nicht trinken, weil er hier bei diesem dammligen Rittmeister sitzen muß, der bestimmt nicht schläft. Warum hat er nur so die Hände unter der Bettdecke? Verdöst, wie Wolfgang jetzt ist, hält er es sogar für möglich, daß der Rittmeister sich ein Messer geholt hat, als er vorhin aus dem Bette war. Aber war er wirklich aus dem Bette -?

Wolfgangs immer schläfriger werdender Kopf weigert sich energisch, dieser Frage irgendwelches Interesse zu schenken. Dafür taucht das Bild der Kaffeetasse wieder auf, er sieht sie förmlich vor sich, sie dampft, die bräunlich-stumpf-silbrige Oberfläche ist feingemahlener, im siedenden Wasser gequollener Kaffee ... Ah, wie gut so etwas gegen die Müdigkeit ist -! Und mit einer tiefen Erleichterung fällt es Wolfgang Pagel plötzlich ein, daß er ja gar nicht hinunter muß, den Kaffee zu brühen, daß Lotte noch kommen muß. Auch der Chauffeur wird noch kommen, aber vor allem Lotte, die ihm den Kaffee brühen wird. Wo steckt das Mädel? Es ist gleich halb eins ... Sie muß ihm noch den Kaffee brühen, es ist gleich ...

Mit einem Ruck fährt Pagel aus seiner Döserei auf. Vielleicht war es ein Rascheln der Bettdecke, obwohl der Rittmeister jetzt still liegt - aber war es nicht so, als hätte der nackte Fuß aus dem Bett gelangt -?

Nein, er liegt ganz ruhig, auch die Stimmen drüben sind still geworden ... Ja, richtig, was hat Studmann doch gesagt? Das Schloß dunkel, aber voll Trara, und keiner macht auf ... Er hat vorhin darüberhin gehorcht, aber es ist in ihm sitzen geblieben, ein Widerhaken, der ihn jetzt plötzlich aus seiner Döserei geweckt hat. Die Lotte noch nicht da, und das Schloß dunkel, aber voller Trara ...

Es wird nichts weiter sein, der alte Elias ist vertrauenswürdig, und die Mäuse feiern eben, wenn die Katze aus dem Hause ist. Trotzdem wird man den Studmann ein bißchen anstoßen müssen deswegen! Denn ein ungemütliches Gefühl bleibt; das Erlebnis mit dem Oberwachtmeister Marofke hat Pagel etwas wacher gemacht, er schlendert nicht mehr so durch Gelände und Menschheit, er fühlt sich verantwortlich.

Verantwortlich für was? Verantwortlich für das, was er tut! Vor sich selbst! Nein, er wird nicht vergessen, Herrn von Studmann anzustoßen. -

Drei Minuten später ist es dann soweit. Es ist zehn Minuten nach halb eins, Herr von Studmann tritt in die Tür und sagt etwas kurz: "Würden Sie mich bitte aus dem Haus lassen, Pagel? Und mir den Schlüssel zum Beamtenhaus geben? Sie bleiben wohl noch hier?"

Pagel wirft einen Blick auf seinen Patienten und fragt dann flüsternd: "Haben Sie eigentlich den Eindruck, daß Herr Rittmeister schläft? Fest schläft?"

Herr von Studmann wirft einen kurzen, sehr ungnädigen Blick auf den Rittmeister und erklärt ärgerlich: "Natürlich schläft er. Wieso?"

Flüsternd sagt Pagel: "Mir kommt es vor, als ob er sich nur verstellt und nicht schläft."

Der Blick, mit dem Herr von Studmann Pagel ansieht, ist voller Mißtrauen. "Hören Sie, Pagel, haben Sie sich etwa mit der gnädigen Frau verabredet? Ich verstehe das nicht!"

"Verabredet - wieso?"

"Weil mich nämlich Frau von Prackwitz mindestens zehnmal gefragt hat, ob ich glaube, das Fräulein schläft wirklich! Sie habe den Eindruck, das Mädchen sei längst wach und verstelle sich bloß ... Genauso wie Sie jetzt ..."

Die beiden sehen sich einen Augenblick fest an.

"Also gehen wir hinunter, Studmann", lächelt Pagel plötzlich, mit all seiner liebenswürdigen Frische. "Sie sind übermüdet, und ich kann mir vorstellen, daß Sie schlechten Dank für Ihre große Mühe geerntet haben."

Das Gesicht des andern bewegt sich nicht, aber darum schiebt Pagel seinen Arm doch unter den von Studmanns.

"Kommen Sie, Studmann, ich lasse Sie jetzt hinaus. Sie müssen wirklich ins Bett."

Er geht mit dem andern langsam die Treppe hinunter.

"Ich versichere Ihnen, es ist reiner Zufall, daß die gnädige Frau und ich die gleiche Frage an Sie gestellt haben. Mein Ehrenwort, Studmann ... Es ist eine komische Atmosphäre hier im Haus ... Die Tochter ist ein bißchen krank, Töchter sind eben mal krank; und der Vater hat einen Schluck zuviel getan, nun, auch das sollen Väter manchmal tun. - Also nichts Außergewöhnliches, aber es ist eine Atmosphäre hier, als hätten alle dunklen Schicksalsgötter das Haus befallen ..."

"Verstehen Sie das denn, Pagel?" ruft Studmann plötzlich lebhaft. Er steht auf der Diele, dem jungen Pagel gegenüber, er ist jetzt nicht mehr verärgert, nur noch hilflos. "Ich werde überschwenglich empfangen, aber um das, was ich geleistet habe, und es war wirklich schwierig, kümmert man sich gar nicht. Ich frage, was eigentlich los ist, ich erfahre die Situation, ich sehe nichts Beängstigendes. Ich sage ein paar beruhigende Worte und werde kühl zurückgewiesen. Ich sei verständnislos ... Verstehen Sie denn das? Wissen Sie etwas -?"

"Ich verstehe nichts, und ich weiß nichts", sagt Pagel lächelnd. "Da es die gnädige Frau zu beruhigen scheint, sitze ich neben dem Bett des Rittmeisters und versuche, nicht einzuschlafen. Das ist alles."

Herr von Studmann sieht ihn ernst an, aber das Auge des jungen Pagel ist lächelnd und ohne Arg. "Also dann gute Nacht, Pagel", sagt Herr von Studmann. "Vielleicht klärt sich alles morgen früh ..."

"Gute Nacht, Studmann", antwortet Pagel mechanisch. Er weiß, er wollte noch etwas sagen, er sieht dem in die Nacht Hineingehenden, der schwer an seinem Handkoffer trägt, gedankenvoll nach. Plötzlich hat er es. "Herr von Studmann, einen Augenblick noch, bitte!" ruft er.

"Ja?" fragt Herr von Studmann und dreht sich noch einmal um.

Die beiden Herren gehen einander entgegen, etwa zehn Schritte von der Haustür treffen sie sich.

"Was ist noch?" fragt Herr von Studmann etwas ärgerlich.

"Ja, was mir eben noch einfiel "..., antwortet Pagel gedankenverloren. "Sagen Sie, Herr von Studmann: Sind Sie sehr müde? Müssen Sie sofort ins Bett -?"

"Wenn ich Ihnen noch einen Gefallen tun kann -", sagt Studmann, sofort wieder hilfsbereit.

"Ich muß immerzu daran denken, was Sie vorhin erzählt haben, als Sie ankamen. Sie erinnern sich doch: das Schloß dunkel, aber voller Trara, so sagten Sie doch, nicht wahr?"

Pagel macht eine kleine Pause, dann setzt er hinzu: "Sie wissen doch, daß Geheimrats verreist sind -?"

"Richtig!" ruft Herr von Studmann überrascht aus. "Daran hatte ich gar nicht gedacht."

"Es wird ja nichts Besonderes sein", meint Pagel beruhigend. "Irgendein kleines Fest der Dienstboten; der alte Elias wird schon dafür sorgen, daß es nicht zu schlimm wird ... Aber ich würde mich doch einmal überzeugen, Studmann, natürlich nur, falls Sie nicht zu müde sind ..."

"I wo, keine Spur!" erklärt Studmann fast begeistert, froh, daß er eine Aufgabe vor sich sieht. "Ich muß natürlich erst das Geld im Geldschrank verwahren ..."

"Ich würde nicht unten klingeln", schlägt Pagel nachdenklich vor. "Ich würde auch nicht rufen. Ich habe darüber nachgedacht, Studmann", sagt Pagel und erkennt verwundert, daß er wirklich darüber nachgedacht hat, ohne es zu wissen. "Vor Ihrem Fenster ist doch das Teerpappendach, und von dem Teerpappendach können Sie ohne Schwierigkeiten auf die Veranda des Schlosses. Auf der können Sie beinahe ganz rund ums Schloß gehen, in der Höhe des ersten Stocks, und in alle Fenster schauen, ohne gesehen zu werden. - Ja, so würde ich es machen", schließt Pagel mit einem gewissen Nachdruck.

Studmann starrt ihn verwundert an. "Aber warum in aller Welt?!" ruft er. "Was versprechen Sie sich davon? Was glauben Sie, das ich sehen werde ..."

"Hören Sie, Studmann", antwortet Pagel plötzlich sehr ernsthaft. "Ich kann Ihnen gar nichts sagen. Ich weiß nichts, und ich verstehe nichts, aber ich würde es so machen."

"Aber "..., protestiert von Studmann. "Solch nächtliche Spioniererei ..."

"Erinnern Sie sich noch der Nacht, als wir uns bei Lutter und Wegner trafen?" fragt Pagel lebhaft. "Damals hatte ich auch das Gefühl, es war eine besondere Nacht, eine Schicksalsnacht, wenn man so sagen darf. Warum soll es schließlich so etwas nicht geben - eine Nacht, in der sich alles entscheidet -? Heute habe ich dies Gefühl wieder. Eine schlimme Nacht, eine böse ..."

Er sieht in die Nacht hinein, als könne er gewissermaßen ihr Gesicht entdecken in der Schwärze, ihr böses, lauerndes Gesicht. Aber davon kann natürlich keine Rede sein. Er empfindet nur eine leicht durchwehte, tropfende Dunkelheit.

"Na also, Herr von Studmann", schließt Pagel plötzlich. "Machen Sie's gut. Ich muß wieder zu meinem Rittmeister. Gute Nacht."

"Gute Nacht, Pagel", antwortet Herr von Studmann und starrt dem wieder ins Haus gehenden Pagel erstaunt nach, denn derartige mystische Anwandlungen liegen Herrn von Studmann wenig. Er hört, wie die Haustür zufällt und abgeschlossen wird. Dann erlischt das Außenlicht an der Villa, und er steht im Dunkeln. Mit einem kleinen Seufzer nimmt er seinen schweren Handkoffer hoch und macht sich auf den Weg zum Beamtenhaus. Er beschließt, erst einmal fleißig um das Schloß zu horchen und zu spähen, ehe er dem Pagelschen Ratschlag folgt. Dieses

nächtliche Einsteigen in fremden Besitz scheint ihm doch recht bedenklich. -

Der junge Pagel steht auf der Diele der Villa und lauscht in das stille Haus.

Die seltsame Stimmung, die ihn seit seinem Halbschlaf am Krankenbett umfangen hält, will nicht abfallen von ihm. Ein Blick auf die Uhr zeigt, daß er kaum fünf Minuten mit Studmann zusammen war. Es ist gleich drei Viertel eins. Es kann nichts geschehen sein, er hat immer die Haustür im Auge behalten, er hat ihr ganz nahe gestanden: niemand kann sich eingeschlichen haben. Das Haus ist still.

Und doch sagt ihm sein Gefühl, daß etwas geschehen ist.

Langsam, lautlos - so langsam und lautlos, wie man sich manchmal im Traum bewegt - steigt er die Treppe hinauf. In der Tür von Violets Zimmer erscheint Frau Evas weißes, geängstigtes Gesicht. Er nickt ihr kurz zu, er sagt leise: "Alles in Ordnung."

Er geht in des Rittmeisters Zimmer.

Er sieht auf den ersten Blick: das Bett ist leer. Das Bett ist leer!

Er steht ganz still, er sucht mit den Augen das Zimmer ab, es ist niemand darin, die Fenster sind verschlossen. Was würde Marofke tun? denkt er und steht noch immer still. Aber die Antwort auf diese Frage ist nur negativ: Marofke würde nichts Übereiltes tun.

Die Tür des Badezimmers kommt in sein Blickfeld. Er stößt sie auf, macht Licht: Auch das Badezimmer ist leer. Pagel geht wieder zurück, er tritt auf den Gang hinaus.

Die Tür von Violets Zimmer steht jetzt weit offen, Frau Eva geht dort ruhelos auf und ab. Sie bemerkt ihn sofort, sie geht auf ihn zu, ihr ganzes Wesen ist fieberhafte Unruhe.

"Was ist los, Herr Pagel? Es ist etwas geschehen, ich sehe es Ihnen doch an!"

"Ich will mir einen Kaffee kochen, gnädige Frau", lügt Pagel, "ich bin todmüde."

"Und mein Mann -?"

"Alles in Ordnung, gnädige Frau."

"Ich bin so in Angst", spricht sie fieberhaft. "Lieber Herr Pagel, nach dem, was der Arzt sagte, sollte sie jetzt aufgewacht sein, und sie ist aufgewacht, ich spüre es. Aber sie rührt sich nicht, bei allem, was ich ihr sage. Sie tut weiter so, als wenn sie schläft. Oh, Herr Pagel, was soll ich nur tun? Mir ist so angst! Ich bin noch nie so gewesen ..."

Sie spricht fieberhaft erregt, ihr weißes Gesicht zuckt, sie hat seine Hand gefaßt und drückt sie, ohne es zu spüren. Sie bittet ihn: "Sehen Sie Violet einmal an, Herr Pagel! Reden Sie einmal ein Wort mit ihr. Vielleicht hört Weio auf Sie ..."

Dem jungen Pagel ist es heiß und kalt, er muß doch den Rittmeister suchen. Was kann der Rittmeister unterdes alles anrichten! Aber er läßt sich an das Bett ziehen. Unsicher schaut er auf das schlafende, stille Gesicht, unsicher sagt er: "Sie scheint mir zu schlafen ..."

"Sie irren sich! Sie irren sich bestimmt! Sagen Sie etwas zu ihr! - Violet, unsere Weio, Herr Pagel ist hier, er möchte dir guten Morgen sagen ... Sehen Sie, jetzt hat sich ihr Lid bewegt!"

Pagel war es auch beinahe so; plötzlich kommt ihm der Gedanke, die verstellt Schlafende anzurufen: Der Leutnant ist da!

Es ist nur ein Gedanke, er wird sofort wieder verworfen, denn tut man so etwas? Tut man so etwas vor der Mutter? Warum soll man sie schließlich nicht in Ruhe lassen, wenn sie durchaus Ruhe haben will? Und er muß den Rittmeister suchen ...

"Nein, sie schläft bestimmt, gnädige Frau", wiederholt er beruhigend. "Und ich würde sie auch schlafen lassen. Jetzt will ich uns einen Kaffee kochen ..."

Er lächelt Frau Eva von Prackwitz noch einmal ermutigend zu, er spielt noch ein etwas schmähliches Theater, indem er vor der nachschauenden Frau in das leere Schlafzimmer des Rittmeisters geht und kopfnickend: "Alles in Ordnung!" wieder herauskommt. Dann steigt er langsam und ohne Hast - von ihren Augen verfolgt - die Treppe in das Erdgeschoß hinab.

Sein Instinkt führt ihn sofort richtig. Von den sechs Türen, die auf die Diele gehen, wählt er die in das Herrenzimmer, denn er hat heute abend beim Reinmachen gesehen, daß in diesem Zimmer die beiden Dinge stehen, die nach des Rittmeisters Zustand in Frage zu kommen scheinen: der Gewehrschrank und der Likörschrank.

Bei dem Geräusch der sich öffnenden Tür fährt der Rittmeister mit der Gebärde eines erwischten Diebes herum. Er lehnt am Tisch, mit der einen Hand hält er sich an der Lehne eines großen, ledernen Ohrenstuhls, in der andern Hand hält er die so oft gewünschte Schnapsflasche.

Pagel zieht die Tür sachte hinter sich zu. Da es nur die Schnapsflasche, nicht der Revolver ist, glaubt er scherzhaft sein zu können. Heiter ruft er: "Hallo, Herr Rittmeister! Lassen Sie mir etwas drin. Ich bin hundemüde

und kann eine kleine Auffrischung auch gebrauchen!"

Aber der heitere Ton ist verfehlt. Wie viele Betrunkene, denen das Schmähliche ihres Tuns wohl klar ist, hält der Rittmeister jetzt besonders auf seine Würde. Er fühlt nur die freche Vertraulichkeit im Ton seines jungen Mannes, er schreit zornig: "Was wollen Sie hier?! Was schleichen Sie mir nach?! Ich verbitte mir das! Scheren Sie sich auf der Stelle fort!" Er schreit dies sehr laut, aber sehr undeutlich. Die von Alkohol und Veronal fast gelähmte Zunge weigert sich, die Worte genau zu artikulieren: Er spricht mit dicker Zunge, wie durch ein Tuch. Das erhöht seinen Zorn nur, mit geröteten Augen und unruhig zuckendem Gesicht sieht er haßerfüllt seinen Peiniger an, diesen jungen Burschen, den er aus dem Sumpf der Großstadt aufgelesen hat, der ihn nun kommandieren will.

Pagel erkennt nicht die Gefährlichkeit seines Gegners, er merkt nicht, daß er es mit einem fast Wahnsinnigen zu tun hat, der zu allem fähig ist. Achtlos geht er auf den Rittmeister zu und sagt freundlich überredend: "Kommen Sie, Herr Rittmeister, Sie müssen wieder ins Bett. Sie wissen doch, Ihre Frau will nicht, daß Sie noch etwas trinken. Seien Sie nett, geben Sie mir die Flasche."

Alles Dinge, die der Rittmeister durchaus nicht hören will, die ihn tödlich beleidigen.

Der Rittmeister streckt dem ehemaligen Fahnenjunker die Flasche hin, halb zögernd ... Aber in dem Augenblick, da Pagel zufassen will, wird die Flasche erhoben und fällt mit einem Krach, in dem die ganze Welt zu zerfallen scheint, auf seinen Schädel nieder.

"Da hast du es, Bürschlein!" schreit der Rittmeister triumphierend. "Dich will ich parieren lehren!"

Pagel, die beiden Hände zum Kopf erhoben, ist zurückgewichen. Trotz des betäubenden, fast bewußtlos machenden Schmerzes begreift er erst in dieser Sekunde ganz die Größe des Unheils, das dieses Haus heimsuchte. Er begreift, was die gnädige Frau oben schon seit vielen Stunden weiß, daß es sich nicht um einen betrunkenen, sondern um einen irren Chef handelt. Und was das junge Mädchen anlangt ...

"Nehmen Sie Haltung an, Fahnenjunker!" schreit der Rittmeister befehlend. "Stehen Sie nicht so nachlässig vor Ihrem Vorgesetzten!"

Trotz der wahnsinnigen Schmerzen, trotzdem er kaum den Kopf in den Nacken zurückbiegen kann, zwingt sich Pagel, stramm militärische Haltung anzunehmen. Um Gottes willen! Die Frau dort oben darf nicht gestört werden! Es kann sich nur um ein paar Minuten handeln, und

Schnaps und Veronal werden ihr Werk an diesem Manne getan haben. Er wird ruhig geworden sein, Pagel kann es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Alle Glieder zittern ihm noch - und dann der Lärm ...

"Stillgestanden!" schreit der Rittmeister.

Noch einmal flackert der Lebenswille in ihm auf. Noch einmal darf er kommandieren, er selbst sein. Das Wort ist in seinen Mund gelegt, das Wort der erbarmungslosen Macht, der gehorcht werden muß, ohne Wimpernzucken. Höher als Alkohol berauscht ihn ein letztes Mal die Macht.

"Stillgestanden, Fahnenjunker Pagel! Zwei Schritt - vorwärts! Kehrt! Stillgestanden! Stillgestanden, sage ich! Warum wackeln Sie, Mensch?"

"Was ist das?" sagt die Stimme der Frau von der Tür her. "Achim, kannst du denn keine Ruhe geben? Du quälst mich so ..."

Der Rittmeister hat sich blitzschnell umgewendet. "Ich dich quälen?" schreit er. "Ihr quält mich! Laßt mich doch alleine, laßt mich verrecken, laßt mich saufen - zu was bin ich denn nütze?!"

Plötzlich, ganz unvermittelt, in mildem Tone: "Sie dürfen rühren, Fahnenjunker Pagel. Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu arg geschlagen, es lag nicht in meiner Absicht."

Wieder wirrer: "Ich weiß nicht, was es ist, daß ich so etwas tue. Es ist in mir, es ist immer in mir gewesen, ich habe es untengehalten, aber nun will es heraus. Keiner kann es halten, es will heraus. Aber wenn es zu trinken bekommt, wird es ruhig, es schläft ein ..."

Er murmelt immer leiser vor sich hin. Mit dem Fuß hat er die auf dem Boden liegende, ausgelaufene Flasche angestoßen. Er hat den Kopf geschüttelt, nun wendet er sich wieder zum Likörschrank.

"Fassen Sie an, Herr Pagel!" sagt Frau Eva von Prackwitz tonlos. "Können Sie ihn noch auf einer Seite anfassen, daß wir ihn die Treppe hochkriegen? Ich sehe Ihren Kopf oben gleich nach. Ich muß zurück. - Ach, lassen Sie ihn, lassen Sie ihn doch ruhig seinen Schnaps mitnehmen, es ist jetzt ja doch alles egal. Es ist ja doch alles vorbei - oh, Pagel, wenn die Violet nicht wäre, wozu sollte ich dann noch leben -?! Ich tät's ja am liebsten auch wie die beiden, mich ins Bett legen und schlafen und von nichts mehr etwas wissen. - Ach, sagen Sie doch, Herr Pagel, was hat das denn für einen Sinn, wozu hat man geheiratet und einen Mann gerne gehabt und ein Kind gekriegt - und nun wird einem alles zerschlagen, Dreck zu Dreck, Mann und Kind, Dreck zu Dreck ... Sagen Sie doch, Herr Pagel -?"

Aber Pagel antwortet nicht.

Die kleine, jammervolle Prozession tastet, stolpert jetzt die Treppe in den ersten Stock hinauf. Der Rittmeister ist kaum noch bei Bewußtsein, aber seine Flasche Wodka hält er fest. Die Frau ist so fieberhaft erregt, daß sie immer wieder stehenbleibt, daß sie den Transport des Rittmeisters völlig vergißt und nur auf Pagel einredet, eine Antwort von ihm haben will ...

Und der noch halb betäubte Pagel hört dieses Gerede, aber er hört auch etwas anderes, und in seinem gequälten Hirn taucht langsam der Gedanke auf, daß er etwas Schreckliches hört, etwas Grauenhaftes ...

Nein, das Haus ist nicht mehr ganz still. Zwischen den Redefetzen der gnädigen Frau hört er aus dem ersten Stock ein Geräusch, das er in dieser Nacht noch nicht gehört hat, ein grausiges, schreckliches Geräusch, trocken, hölzern, seelenlos:

Klapp - klapp!

Und wieder:

Klapp - klapp - klapp ...

Und mitten in das Gerede der gnädigen Frau hinein hebt Pagel den Finger(er läßt den Rittmeister einfach auf den Treppenabsatz niedergleiten), sieht sie starr an und flüstert: "Da!"

Und sofort verstummt Frau Eva, und sie hebt den Kopf und sieht Pagel an, und sie lauscht dabei nach oben, und es ist ganz still ...

Klapp - klapp ...

Und das Kinn der gnädigen Frau fängt an zu zittern, ihr weißes Gesicht wird ganz gelb, wie von einer plötzlichen Krankheit verwüstet, ihre Augen füllen sich langsam mit Tränen -

Und da kommt es wieder: Klapp ...

In demselben Augenblick ist der Bann gebrochen, und gleichzeitig stürmen sie die Treppe hinauf. Sie laufen über den kurzen Gang, sie treten in Violets Zimmer ...

Ruhig liegt das Zimmer im Licht der Deckenlampe, weiß schimmert das Bett. Aber das Bett ist leer. Die unbefestigten Fenster klappern im Nachtwinde, langsam, seelenlos, hölzern: Klapp, klapp ...

Und nun kommt das, was Pagel die ganze Zeit fürchtete, vor dem er gebebt hat und das er doch erwartet hat ... Es kommt der Schrei der Frau, der schreckliche, nicht enden wollende Schrei der Frau, der in hundert, in tausend kleine Schreie zerbricht, wie ein höllisches Gelächter, nicht wieder aufhörend: die Kreatur, zerbrechend von ihrer Qual.

Immer von neuem sagt sich Pagel, während er Frau Eva auf das Sofa legt, während er ihre Hände streichelt, auf sie einredet, um ihr Ohr wieder den Klang einer befreundeten, menschlichen Stimme hören zu lassen - immer von neuem sagt er sich, daß dies kein bewußter Schrei ist, daß die Frau fast völlig betäubt von dem irrsinnigen Schmerz ist, den sie fühlt ... Aber dann ist ihm doch wieder, als schrien in dieser einen Stimme alle Mütter, die ihre Kinder verlieren müssen - alle Mütter alle Kinder, langsam oder schnell. Denn wir verweilen hier nicht.

Zwischendurch geht er zum Fenster und schließt es, um das unerträgliche, hölzern klappernde Geräusch abzustellen. Er wirft dabei eilig einen Blick auf das Wandspalier, er meint, eine zertretene Ranke zu sehen - und er schließt das Fenster. Er weiß ja doch genug: der Schluß Waffenlager - Leutnant - Violet ist für ihn so leicht! Vor einer halben Stunde war er in der Versuchung, der verstellt schlafenden Violet zuzurufen: Der Leutnant kommt! Er hat es nicht getan, aber nun ist der Leutnant wirklich gekommen, meint er; er versteht alles, denkt er. Aber was soll er davon der sinnlosen Frau sagen ...?

Und er redet ihr zu, er sagt immer wieder, daß das Mädchen im Fieber in den Wald gelaufen sei, daß die gnädige Frau doch nur einen Augenblick mit ihm hinunter ans Telefon kommen möge, damit er Herrn von Studmann benachrichtigen kann. Dann werden sie Fräulein Violet suchen und finden ...

Aber Frau Eva von Prackwitz erreicht kein gütiges, kein überredendes Wort. Sie liegt da und stöhnt und weint. Er darf nicht weg von ihr, und er ist allein im Haus, der Rittmeister aber verschläft den Verlust der Tochter auf dem Treppenabsatz ...

Bis das Telefon unten im Hause schrillt und lärmt. Was die menschliche Stimme nicht vermocht hat, vermag diese Klingel: Frau von Prackwitz fährt hoch aus ihrer Betäubung und ruft: "Laufen Sie ans Telefon! Sie haben meine Weio gefunden!"

Sie läuft mit ihm, sie steht hinter ihm, sie nimmt den zweiten Hörer. Sie stehen sich so nahe, die Augen brennen, sie sind wie Gespenster, die nicht leben noch sterben ... sie lauschen ...

Aber es kommt nur die Stimme Herrn von Studmanns, der aufgeregt berichtet, im Schloß feierten die Mädchen eine Orgie mit den entflohenen Zuchthäuslern: "Und alle sind toll und voll besoffen, und, Pagel, es ist eine großartige Gelegenheit ..."

Mit einem Ruck hängt die gnädige Frau ihren Hörer wieder an; Pagel sieht sie langsam, wie ohne Bewußtsein, die Treppe wieder hinaufsteigen. - Und leise sagt er mit eiligen Worten dem Herrn von

Studmann, daß Fräulein Violet aus dem Hause verschwunden sei. Man brauche sofort Polizei auf Motorrädern und Suchhunde, und auch zwei, drei zuverlässige Frauen hier in der Villa ... Die Tür sei offen ...

Und er hängt an und schließt die Tür weit auf, er läßt sie einfach offen stehen, hinaus in die Nacht des Unglücks: Mehr Unglück kann dies Haus nicht befallen. Er eilt die Treppe hinauf, er steigt achtlos über den schlafenden Rittmeister fort, und er findet Frau Eva von Prackwitz, kniend vor dem Bett der entflohenen Tochter. Sie hat die Hände unter die Decke geschoben, sie spürt vielleicht das letzte, was ihr von ihrem Kind verblieben ist, das bißchen Lebenswärme, das vom Bett festgehalten ist ...

Wolfgang Pagel sitzt still neben der stillen Frau, er stützt den Kopf in die Hand. Und hier, angesichts des größten Schmerzes, den er je gesehen, verfällt er in Gedanken an eine andere, eine Ferne, eine so Geliebte ... Vielleicht denkt er daran, was Menschen den Menschen in Liebe, Gleichgültigkeit und Haß antun können ... Er faßt wohl kaum einen Entschluß, mit den ausgedachten Entschlüssen ist es nicht so weit her - aber er läßt etwas wachsen in sich, was sachte schon immer in ihm war. Er gibt ihm allen Raum, einer sehr einfachen Sache: so gut und so anständig zu sein, wie nur immer möglich.(Denn wir sind alle nur aus Fleisch gemacht ...)

Dann hört er die Stimmen und Schritte der Leute unten. Und nun wird sofort alles undeutlich, wie immer, wenn man unter die Leute gerät. Er steht auf und läßt den Rittmeister ins Bett bringen. Er ruft den Arzt an, und die gnädige Frau wird auch schlafen gelegt, und er hat überhaupt sehr viel zu tun.

Aber das macht die wesentlichen Dinge nur unklarer. So gut und so anständig, wie nur immer möglich. Darin liegt es. Das hält für ein Leben vor.

11

Nacht ist es - der Wind ist um die dritte Morgenstunde stärker geworden. Er wirft sich brausend in den Wald, aus den Kronen bricht er das morsche, das tote Holz. Krachend fällt es zur Erde. Es ist Herbst, es geht auf den Winter zu! Manchmal jagen die eilig ziehenden Wolken einen raschen Schauer herab, aber der Hund, ein einziger Spürhund, bleibt gut auf der Fährte.

Wieviel Menschen, wieviel Menschen sind unterwegs! Ganz Neulohe ist auf den Beinen, in keinem Haus schlafen die Menschen, überall brennen

die Lampen!

Eine große Sache, eine ungeheuerliche Sache: Die entflohenen Zuchthäusler, sie hatten im Schloß gesteckt! Sie waren überhaupt nicht fort gewesen, in den Kammern der Mädchen verborgen, hatten sie der Liebe und dem guten Essen gelebt. Dann, als die Herrschaft abgereist war, hatte man ein großes Fest gegeben. Der Übermut war ihnen zu Kopf gestiegen, die Tollheit - sie hatten sogar den alten würdigen Elias bei ihrem Bacchanal zusehen lassen, in einen Teppich gewickelt, ein Tuch vor dem Munde! Diese Mädchen - sie waren ja ohne jede Scham und allen Anstand gewesen, sie hatten mit den Zuchthäuslern Freundschaft geschlossen. Von ihren Mädchenkammern war in die Schnitterkaserne zu schauen gewesen, es waren Zeichen getauscht worden, Neckereien zuerst nur, aber dann hatten sie sich sehr gut verstanden. Der alte Marofke hatte die richtige Witterung gehabt!

Ja, es war etwas faul gewesen, hüben wie drüben, in der Villa wie im Schlosse. Im Schloß hatten sie viel gebetet, aber Beten allein tut es freilich nicht - die alte gnädige Frau, wie würde sie über diese schlimme Nachricht hinwegkommen? Ihr Haus mußte ihr ja geschändet vorkommen!

Die Gendarmen hatten leichte Arbeit gehabt. Sie hatten überhaupt keine Arbeit gehabt, als sie mit Herrn von Studmann unter "Hände hoch!" in den großen Speisesaal eindrangen! Die Verbrecher hatten gelacht, sie hielten es für einen guten Witz! Sie hatten eine köstliche Zeit gehabt, saftige Dinge hatten sie zu erzählen, sie würden die Helden des Zuchthauses werden - und was konnte ihnen viel passieren?! Oben in den Kammern der Mädchen lag fein zusammengelegt ihre Zuchthauskluft, kein Stück fehlte. Unterschlagung kam nicht in Frage, Einbruch kam nicht in Frage - mit einem halben Jahr, mit drei Monaten würde die Sache für sie abgemacht sein. Und das war sie ihnen wert!

Die Mädchen freilich weinten. Oh, was die dicke Mamsell heulte, als man ihrem Liebsten, dem Verbrecher Matzke, die Handschellen anlegte! Sie zog den Rock ganz über ihren Kopf, sie heulte darunter wie ein Hündlein, sie schämte sich so -!

Wolfgang Pagel, der hereinsah, um die Gendarmen zur Eile anzutreiben, denn wichtiger als diese Zuchthäusler schien ihm jetzt das gnädige Fräulein - Wolfgang Pagel also sah Amanda Backs an einem Saalfenster stehen, dieses große, stramme, derbe Mädchen, das jetzt einen merkwürdig gespannten Zug im Gesicht hatte. Grimmig leuchtend beobachteten ihre Augen das betrunkene, heulende, lachende, schimpfende Treiben im Saal.(Da nicht genug Gendarmen zur

Absperrung da waren, hatten sich viel zuviel Neugierige eingedrängt.)

Mit einem Gefühl der Enttäuschung sah Pagel das Mädchen dastehen, er hatte sie gestern nachmittag noch so großartig gefunden, als sie den Verräter Meier vor der Ententekommission geohrfeigt hatte.

"Sie auch -?" fragte er betrübt.

Amanda Backs wandte ihm das Gesicht voll zu und sah ihn an. "Bei Ihnen piept's wohl?" sagte sie verächtlich. "Mit schlechten Kerlen habe ich genug zu tun gehabt. Nee, danke, davon bin ich kuriert. Wenn kein Anständiger, dann lieber gar nicht!" Pagel nickte, und die Backs sagte erklärend: "Ich wohn doch wegen der Hühner unten, weil ich immer so früh raus muß und die Gnädige nicht stören sollte. Und die wohnen alle oben. - Aber jewußt habe ich es natürlich - das sind doch bloß alles Jänse, und Jänse ohne Schnattern gibt es nich."

Sie sah wieder in das Getümmel und fragte nachdenklich: "Ob sie's nun schon gemerkt haben? Ich verstehe es nicht. Es waren doch immer fünfe, und viere haben sie bloß gekappt! Ob der fünfte getürmt ist oder ob er gar nicht hier im Schloß war - ich weiß es nicht."

Pagel sieht das Mädchen mit aufleuchtenden Augen an. "Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt und Holdrian", sagt er wie aus der Pistole geschossen her. "Und welcher fehlt, Amanda?"

"Liebschner", sagt sie. "Der Kerl mit dem unruhigen, schwarzen Blick, so 'n Schleicher, Sie wissen doch, Herr Pagel!"

Pagel nickt ihr kurz zu und geht zu den Gendarmen, um sich zu erkundigen. Aber dort hat man das Fehlen des fünften auch schon gemerkt - wie hätte es anders sein können? Selbst wenn die Gendarmen nicht daran gedacht hätten, das treffliche Gedächtnis des Herrn von Studmann sagte ebenso fehlerlos wie das Pagelsche her: "Holdrian, Wendt, Matzke, Kosegarten, Liebschner ..."

Ja, eine Weile sah es so aus, als sollte die Suche nach dem gnädigen Fräulein über diesem fehlenden fünften Mann vertrödelt werden, trotz alles Drängens von Wolfgang Pagel. Aber dann, gegen die dritte Stunde, kamen rasch neue Mannschaften. Die Neugierigen wurden aus dem Saal getrieben, schnelle Vernehmungen kamen in Gang, sehr gefördert durch einen plötzlich aus der Nacht aufgetauchten Kriminalbeamten oder ehemaligen Kriminalbeamten, den aber die Gendarmen zu kennen schienen, einen dicken, völlig verschmutzten und durchnäßten Mann mit einem merkwürdig gefrorenen Blick.

Zwei Minuten - und es war klar, dieser Liebschner war bei der Orgie im Saale nicht anwesend gewesen.

Weitere drei Minuten - und es war erwiesen, er war auch nie im Schloß gewesen. Ach, die dicke, heulende Mamsell - jetzt fuhr sie doch wirklich aus ihrem Rock heraus, dieser weinende, seufzende Fleischberg. Sie rief: "Wir haben doch nur zu vieren oben geschlafen - was hätten wir wohl mit fünf Kerlen machen sollen?! Nein, pfui, was solche Männer alles von uns denken!"

Und verschwand flennend wieder unter ihrem Rock.

Nochmals zwei Minuten - und sie wußten: Der Liebschner war den andern vieren schon im Walde verlorengegangen, gleich nach der Flucht ...

"Was ist er? Hochstapler? Halten wir uns nicht auf", sprach der dicke Kriminalist. "Der Junge ist längst in Berlin - für so einen feinen Herrn ist Neulohe kein Pflaster. Der hat gewußt, was er wollte. Mit dem bekommen unsere Kollegen vom Alex zu tun - hoffentlich recht bald. - Ab mit den Leuten! Sie, bitte, Herr von Studmann, gehen mal rüber in die Villa. Sagen Sie dem Arzt, er soll mitkommen. Es ist schon besser, das Fräulein ist im Hemd losgelaufen - oder im Pyjama, bei dieser Witterung dasselbe."

"Frau von Prackwitz -", wandte Studmann ein.

"Die gnädige Frau schläft, hat eine Spritzeken gekriegt. Der gnädige Herr schläft - hat auch genug. Der Arzt hat Zeit, sage ich Ihnen. Halt, bringen Sie irgendein Kleidungsstück von dem gnädigen Fräulein mit, damit der Hund immer wieder Witterung nehmen kann, irgend etwas, das sie direkt auf dem Leib getragen hat. - Noch eins! Hier soll es einen Förster geben, ollen Krachstiebel, Kniebusch oder so was. Raus mit dem aus dem Bett - der Mann wird ja seinen Wald kennen ..."

"Ich werde den Förster holen", sagte Pagel.

"Halt! Junger Mann, Herr Pagel, nicht wahr? Mit Ihnen wollte ich grade sprechen."

Der große Saal hatte sich geleert, zwei oder drei der für die "Orgie" verhängten Birnen brannten nur noch, die Luft war eisig und wie voller Schmutz. Von einem Fenster hing halb heruntergerissen der Vorhang und zeigte die nachtblinde Scheibe.

Der Dicke hatte sich neben Pagel gestellt, er nahm ihn leicht am Arm, er zwang ihn zum Hinundhergehen. - "Eine verdammte Kälte. Ich bin Eis bis aufs Mark. Was das kleine Fräulein frieren muß! Jetzt ist sie beinahe zwei Stunden draußen! Nun los, erzählen Sie mir alles, was Sie von der jungen Dame wissen. Sie sind doch Beamter hier auf dem Gut, junge Männer interessieren sich für junge Damen, also los!"

Und die eisigen Augen sahen Pagel durchdringend an.

Aber Pagel hatte manches gesehen und beobachtet, er war nicht mehr der junge, ahnungslose Mann, der sich jedem mit Autorität auftretenden Anspruch beugte. Er hatte wohl gehört, wie ein Gendarm unmutig gerufen hatte: "Was will der dicke Speckjäger schon wieder bei uns?!" Er hatte beobachtet, wie der dicke Mann wohl jedem Zivilisten Weisungen gab, nie aber einem Gendarmen. Und wie die Gendarmen taten, als sei der Dicke eigentlich gar nicht da, nie mit ihm sprachen ...

So sagte er denn langsam unter dem durchdringenden Blick dieser Augen: "Erst einmal müßte ich wissen, im Auftrage welcher Behörde Sie hier sprechen!"

"Wollen Sie ein Blechschild sehen?" rief der andere. "Ich könnte Ihnen eines zeigen, bloß, es gilt nichts mehr. Ich bin ein rausgeschmissener Beamter. In den Zeitungen heißt so was: ›Wegen nationaler Gesinnung gemaßregelt‹."

Rascher sagte Wolfgang: "Sie sind der einzige Mann hier, der wegen der Nachsuche von Fräulein von Prackwitz gedrängt hat. Welches Interesse haben Sie an ihr?"

"Keines!" sprach der Mann eisig. Er beugte sich nahe zu Pagel, er faßte ihn am Rock, er sagte eilig: "Sie haben Glück, junger Mann, Sie haben ein angenehmes Gesicht, nicht solche Bulldoggenfresse wie ich. Die Menschen werden immer Vertrauen zu Ihnen haben - mißbrauchen Sie es nicht! Nun, ich habe auch Vertrauen zu Ihnen; ich will Ihnen was verraten: Ich habe großes Interesse an allem, was mit ausgenommenen Waffenlagern zusammenhängt."

Wolfgang sah vor sich hin; er sah wieder auf, er sagte: "Violet von Prackwitz war fünfzehn Jahre. Ich glaube nicht, daß sie ..."

Der Kriminalist sah ihn eisig an. "Herr Pagel", sagte er, "überall, wo Verrat geschehen ist, war eine Frau im Spiel, als Antrieb oder als Werkzeug. Oft als blindes Werkzeug. Immer! - Erzählen Sie!"

Da erzählte Pagel, was er wußte.

Der Dicke ging neben ihm her, er schnaufte, er räusperte sich, er sah verächtlich die Wände an, er riß wütend an einer Vorhangschnur, er spuckte aus, er rief: "Dummheiten, elende Dummheiten! Kotz!" Er wurde leiser, schließlich sagte er: "Danke schön, Herr Pagel, jetzt ist es schon ein bißchen heiler."

"Werden wir das Fräulein finden -?" rief Pagel. "Der Leutnant ..."

"Blind!" sagte der dicke Mann. "Blind hineingeboren in eine Welt von Blinden. Sie denken an den Leutnant. Nun, Herr Pagel", flüsterte er, "Sie

werden diesem Herrn Leutnant in einer Stunde guten Morgen sagen können - ich fürchte, es wird Ihnen nicht gefallen."

Es war so still im Saal. Die Lampen glimmten nur noch. Das dicke, weiße Gesicht sah Pagel groß an. Ihm war, wie durch einen Schleier, als nicke es, als nicke es ihm zu, dieses böse Gesicht der Menschheit, das alle Gemeinheit, alle nackte Brutalität, alle Sünde des Menschenherzens kennt und das doch weiter lebt, ja sagend. Er sah hinein, sah hinein, ich war auch auf dem Wege, sagte er, hatte er es gesagt?

Plötzlich hörte er wieder den Wind vor den Scheiben, ein Hund jaulte laut auf, ein anderer antwortete. Der Dicke faßte ihn bei der Schulter. "Los, junger Mann, wir haben keine Zeit mehr."

Sie gingen in den Wald ...

Der Wind ging, in den unsichtbaren Kronen rauschte es, Holz brach krachend von oben, Stimmen schienen zu schreien, kurzer Regen stäubte - stumm gingen die Männer. Manchmal leise hechelnd, zog der Hund unentwegt an der Leine; ihm zusprechend, sanft ihn lobend, ging sein Herr ihm nach. Gleich darauf folgten Pagel und der Kriminalbeamte, dann der Arzt mit Herrn von Studmann, dann zwei Gendarmen ... Der Förster fehlte, der Förster war nicht zu erreichen gewesen, der Förster sollte außerhalb sein. - "Den lange ich mir noch!" hatte der Kriminalist in einem Ton gesagt, den Pagel nicht gerne hörte.

Aber dann ging er ganz still neben dem jungen Mann. Einmal ließ er den Schein seiner Taschenlampe aufblinken, er blieb stehen, er sagte gleichmütig: "Bitte hier nicht herzutreten!" und ließ die andern vorübergehen. "Sehen Sie", sagte er zu Pagel und wies auf irgend etwas am Boden, das Pagel nicht unterscheiden konnte. "Er hat an alles gedacht. Hier hat sie schon Schuhe an, und einen Mantel oder so etwas wird er ihr auch mitgebracht haben."

"Wer hat an alles gedacht?" fragte Pagel müde. Er fragte nur so, es interessierte ihn nicht, er war unerträglich müde, und sein Kopf schmerzte immer stärker. Er würde den Arzt nachher fragen, was denn eigentlich mit ihm los war.

"Wissen Sie es denn noch immer nicht?" fragte der Kriminalist. "Sie haben es mir doch selber gesagt."

"Ich weiß es wirklich nicht, wenn es nicht der Leutnant ist", sagte Pagel verdrossen. "Und ich bekomme es heute nacht auch nicht mehr heraus, wenn Sie es mir nicht sagen."

"Wenn das Blut zu fein wird", erklärte der Dicke rätselhaft, "dann verliert es an Kraft. Es will wieder hinunter. - Aber jetzt wollen wir

schneller gehen. Meine Kollegen sind weit genug voraus, damit sie den Ruhm des Fundes haben ..."

"Wissen Sie denn schon, was wir finden werden?" fragte Pagel, immer mit der gleichen müden Verdrossenheit.

"Was wir jetzt finden werden, ja, das weiß ich. Aber was wir dann finden werden, nein, das weiß ich nicht, das kann ich mir nicht einmal vorstellen."

Nun gingen sie wieder schweigend weiter. Sie gingen immer rascher, die vorne schienen auch rascher gegangen zu sein. Sie kamen zwei Minuten zu spät, die andern waren schon alle um ihn herum.

Es war ein Murmeln, und oben ging der Wind. Aber im Schwarzen Grunde, hier war es still, der Kreis schob sich hin und her - der weiße Lichtkegel von der Taschenlampe des Arztes lag unerträglich grell auf dem, was einmal ein Gesicht gewesen war.

"Hat sich noch sein Grab gegraben, völlig verdreht."

"Aber wo ist das Fräulein?"

Gemurmel. Stille.

Ja, es war wohl kein Zweifel, dieses war der Leutnant, von dem Pagel so oft hatte reden hören, dem er so gerne einmal begegnet wäre. Hier lag er, eine sehr stille, eine sehr fragwürdige Figur - geradezu gesagt: ein ziemlich besudelter Haufen Lumpen, unverständlich, daß es je um dies Haß und Liebe gegeben haben sollte. Mit einem unerklärlichen Gefühl von Kälte, fast von Abneigung, sah er auf dieses Etwas hinab, gänzlich unerschüttert -: Warst du denn so großer Dinge wert? hätte er fragen mögen.

Der Arzt richtete sich auf. "Unzweifelhaft Selbstmord", stellte er fest.

"Kennt einer der Herren aus Neulohe den Mann?" fragte ein Gendarm.

Über den Kreis weg sahen sich Pagel und von Studmann an. "Nie gesehen", antwortete Studmann.

"Nein", sagte Pagel und sah sich nach dem dicken Kriminalisten um. Aber wie er schon erwartet hatte, war der nirgends zu sehen.

"Dies ist doch wohl der Platz, wo -?"

"Ja", sagte Pagel. "Ich habe heute nachmittag, gestern nachmittag zu einem Protokoll hierher gemußt. Dies ist der Platz, wo die Ententekommission ein Waffenlager beschlagnahmt hat."

"Toter also unbekannt", sprach eine Stimme im Hintergrund abschließend.

"Aber unzweifelhaft Selbstmord!" rief der Arzt eilig, als stellte er etwas

richtig.

Eine lange Stille entstand. Die Gesichter der Männer in dem kleinen Lampenschein waren fast mürrisch, sie standen so unentschlossen herum ...

"Und wo ist die Waffe -?" fragte schließlich der Hundeführer doch.

Eine kleine Bewegung entstand.

"Nein, hier ist sie nicht. Wir haben schon alles abgesucht. Weit hätte sie nicht wegfallen können."

Wieder diese lange verdrossene Stille. Das ist ja wie eine Gespensterversammlung, dachte Pagel, unerträglich gepeinigt, und versuchte, näher an den Hund zu kommen, um dessen schönen Kopf streicheln zu können. Denkt denn keiner mehr an das Mädchen -?

Da sagte es schon einer: "Und wo ist das Fräulein?"

Wieder eine Stille, aber belebter, nachdenklicher.

Dann meinte ein Gendarm: "Vielleicht - es ist doch ganz einfach. Er hat sich zuerst erschossen, und das Fräulein hat die Waffe genommen und hat es auch tun wollen. Aber dann hat sie es nicht gekonnt und ist mit der Waffe weitergelaufen ..."

Wieder Nachdenken.

Darauf ein anderer: "Ja, so kann es gewesen sein, du hast recht."

"Dann wollen wir also erst mal rasch weitersuchen."

"Das kann die ganze Nacht durch gehen - Neulohe bringt uns kein Glück."

"Los! Jetzt nicht trödeln!"

Eine Hand legte sich von hinten fest auf Pagels Schulter, eine Stimme flüsterte in Pagels Ohr: "Drehen Sie den Kopf nicht um. Ich bin nicht da. Fragen Sie den Arzt, wie lange der Tote schon tot ist."

"Einen Augenblick bitte!" rief Pagel in die Bewegung des Aufbruchs hinein. Seine Stimme klang so, daß jeder sofort stillstand. "Können Sie uns wohl sagen, Herr Doktor, wie lange dieser Mann hier schon tot ist?"

Der Arzt, ein vierschrötiger, untersetzter Landarzt mit einem merkwürdig schütteren, schwarzen Bart um das Kinn, sah zögernd auf den Toten, dann in Wolfgang Pagels Gesicht. Seine Miene erhellte sich ein wenig, er sagte langsam: "Ich habe hierin nicht die Erfahrung meiner Herren Kollegen von der Polizei. Darf ich fragen, warum Sie diese Frage stellen?"

"Weil ich das Fräulein von Prackwitz noch um halb eins schlafend in

ihrem Bett gesehen habe."

Der Arzt sah auf die Uhr. "Wir haben gleich halb vier", sagte er rasch. "Um halb eins war dieser Mann schon Stunden tot."

"Also muß ein anderer Mann das Fräulein von Prackwitz aus ihrem Zimmer hierhergeholt haben", schloß Pagel.

Die Hand, die schwere Hand, die all diese Zeit über auf seiner Schulter wie eine Last gelegen hatte, wurde fortgenommen, ein leises Geräusch im Rücken verriet ihm, daß der Dicke sich entfernte.

"Es ist also nichts mir deiner Erklärung, Albert!" sagte einer der Gendarmen laut und ärgerlich.

"Wieso? Warum nicht?!" verteidigte sich der andere. "Sie kann ja allein hierhergelaufen sein, den Toten gefunden haben. Nimmt den Revolver, läuft weiter ..."

"Unsinn!" sagte der Hundeführer hart. "Wir haben ja immer die zwei Spuren vor Augen gehabt, Mann und Frau - bist du denn blind? - Dies ist eine böse Sache, sie geht weit über unsere Zuständigkeit ... Wir müssen die Mordkommission benachrichtigen ..."

"Dies hier ist ein Selbstmord", widersprach der Arzt.

"Wir müssen nur das Fräulein suchen", mahnte Pagel. "Schnellstens!"

"Junger Herr", sagte der Hundeführer. "Sie wissen etwas - oder Sie haben einen Verdacht, da Sie eben den Arzt so gefragt haben. Sagen Sie uns doch, was Sie glauben. Lassen Sie uns nicht im Dunkeln herumlaufen ..."

Alle Gesichter sahen auf Pagel. Er schaute hinunter auf den Toten, er dachte an jene Unterredung mit Violet im Park, als sie ihn küßte, später bedrängte sie ihn. Er hätte jetzt gern die feste Hand auf der Schulter gespürt, eine Stimme im Ohr - aber wenn wir uns entscheiden müssen, sind wir allein, und wir müssen es sein.

Ich weiß ja nichts, klang es verzweifelt in ihm. Er horchte den Worten nach. Dann hörte er die rauhe Stimme wieder, den bösen und doch traurigen Klang, mit dem sie gesprochen hatte: Das Blut will hinab ... - Das Blut will hinab ...

Er sah auf von dem Toten, er sah in die Gesichter der Männer. Er sagte: "Ich weiß gar nichts ... Aber vielleicht habe ich etwas erraten ... Heute früh hat der Herr Rittmeister von Prackwitz seinen Diener entlassen, nach einem schweren Streit. Das Mädchen im Haus hat mir heute abend erzählt, es sei um einen Brief gegangen, den das Fräulein geschrieben ... Das Fräulein war sehr jung, und dieser Diener war nach allem, was ich von ihm weiß, ein sehr schlechter Mensch. Ich könnte mir denken ..."

Er sah fragend in die Gesichter.

"Also irgend etwas wie eine Erpressung - das hört sich schon anders an!" rief ein Gendarm. "Bloß nicht solche verfluchten Geschichten mit Waffenlagern, Verrätern, Feme -!"

Sein Kollege räusperte sich laut, fast drohend.

"Los mit dem Hund! Laß ihn am Hemd riechen. Bleibt alle stehen. Geh mit der Minka einen Kreis um den Kessel ab, hier ist alles zertrampelt ..."

Keine fünf Minuten, und der Hund schoß einen kleinen Pfad hinauf, die Leine spannend. Eilig folgten die Männer. Aus dem Kessel heraus, oben ging es klar eine Schneise entlang, immer weiter fort von Neulohe ...

Plötzlich war der Dicke wieder neben Pagel. "Das haben Sie ganz gut gemacht", sagte er anerkennend. "Haben Sie es also endlich doch erraten?"

"Ist es denn wirklich wahr?!" rief Pagel erschrocken und blieb stehen. "Es kann doch nicht sein!"

"Weiter, junger Mann!" mahnte der Dicke. "Jetzt haben wir Eile, obwohl ich überzeugt bin, wir kommen zu spät. - Natürlich ist es wahr - wer soll es denn sonst sein?"

"Ich glaube es nicht. Dieses graue, fischige Vieh ..."

"Ich muß ihn gestern auf den Straßen von Ostade gesehen haben", sagte der Dicke. "Ich habe so eine Ahnung von dem Gesicht ... Aber man sieht zuviel Gesichter heute, die nach Verbrechern aussehen, gewesenen und zukünftigen. - Gnade Gott dem Burschen, wenn ich ihn finde -!"

"Wenn wir sie nur finden!"

"Halt! Vielleicht ist Ihr Wunsch jetzt in Erfüllung gegangen ..."

Es gab einen Aufenthalt, quer ab von der Schneise zerrte der Hund in eine dicht bestandene Tannendickung. Mühsam, mit den Zweigen kämpfend, mit den Lämpchen leuchtend, drangen die Männer vor. Keiner sprach ein Wort. Es war so still, daß man das laute, ungeduldige Hecheln des Hundes hörte wie die Stöße einer Dampfmaschine.

"Die Spur ist ganz frisch!" flüsterte der Dicke in Pagels Ohr und brach rascher durch die Zweige.

Aber die kleine Lichtung, auf die sie traten, kaum größer als ein Zimmerchen, war leer. Mit einem leisen Aufheulen stürzte der Hund auf etwas, was auf der Lichtung lag - der Hundeführer griff danach. "Ein Damenschuh!" rief er.

"Und noch einer!" rief der dicke Kriminalist. "Hier hat er -"

Er brach ab. "Los, meine Herren!" rief er, "wir sind direkt hinter ihm. Er

kann nicht mehr schnell vorwärts, mit dem Mädchen in Strümpfen. Loben Sie Ihren Hund, Mensch, vorwärts!"

Und sie liefen!

Kreuz und quer ging die wilde Jagd, durch Tannen und Wacholder, der Hund jammerte lauter, immer wieder prallten die Männer im Dunkel gegen Stämme, Rufe wurden laut: "Ich höre sie!" - "Seid doch still!" - "Schrie da nicht eine Frau?"

Der Wald wurde lichter, noch rascher kamen sie vorwärts, und plötzlich, fünfzig, vierzig Meter vor ihnen, wurde es hell zwischen den Zweigen, ein weißer, strahlender Schein ...

Einen Augenblick standen sie Atem holend, ohne Verständnis ...

"Ein Auto! Er hat ein Auto!" schrie plötzlich einer.

Sie stürmten vorwärts. Laut klang das Tacken des Motors zwischen den Stämmen. Dann brauste er auf, der Lichtschein schwankte, wurde schwächer, sie liefen im Dunkeln ...

Auf der Schneise standen sie, in der Ferne leuchtete es noch, der Schein wanderte weiter. Ein Gendarm stand, die Pistole in der Hand, er ließ sie wieder sinken: unmöglich, die Reifen noch zu treffen!

Rasch wurde vereinbart, nach Neulohe zurückzueilen. Es sollte telefoniert werden, mit dem Prackwitzschen Auto wollte man die Spuren des entflohenen Autos verfolgen ...

Alles brach auf, von Studmann rief ungeduldig: "Pagel, kommen Sie noch nicht?"

Pagel sagte: "Einen Augenblick. - Ich komme dann sofort nach."

Der Dicke hielt ihn am Arm. "Hören Sie zu, junger Mann", flüsterte er. "Ich gehe nicht mit euch, ich gehe zurück nach Ostade. Die da sind voll Optimismus, weil sie den Feind aufgespürt haben und weil es nicht nach Fememord riecht. Verfolgung von Fememördern - das mögen die nicht und müssen es doch. - Aber, junger Mann, Sie sind das einzig vernünftige Gesicht auf dem Hofe - machen Sie sich keine Hoffnung, und machen Sie den andern auch keine Hoffnung. Vor allem der Mutter nicht, bringen Sie es ihr langsam bei ..."

"Was? Was soll ich ihr beibringen?"

"Wie wir da in die Tannendickung eindrangen, da dachte ich auch: Er hat's getan. Aber als wir nur die Schuhe fanden ..."

"Wir haben ihn gestört."

"Vielleicht! Aber der hat seine Zeit auf die Minute berechnet! Pagel, ich sage Ihnen, so einen Kerl wie den, den können Sie nicht einmal in Ihrem

schlimmsten Traum träumen. Es ist ja möglich, daß er es noch tut, aber ich glaube es nicht. Es ist viel schlimmer ..."

Pagel stand still, er fragte nicht.

"Es gibt solche", sagte der Dicke. "Meistens, in gesunden Zeiten, lassen die andern sie nicht hochkommen, aber in einer kranken, verfaulten Zeit, da wird es geil, solch Gewächs ... Glauben Sie doch nicht, Pagel, daß das ein Mensch ist, daß der fühlt und denkt wie ein Mensch. - Das ist ein Scheusal, ein Wolf, der mordet, nicht um zu fressen, sondern um zu morden!"

"Aber Sie sagen doch: Er wird es nicht tun?"

"Wissen Sie, was das ist: hörig -? Können Sie sich das überhaupt vorstellen: hörig? Von dem Atemzug, dem Blick solch eines Scheusals abhängig zu sein, nichts tun zu können ohne seinen Wunsch und Willen? Das ist Ihr kleines Fräulein! Und, da er nun fort ist, wird er das Schlimmste tun, was er tun kann: Er wird sie immer beinah ermorden, und dann wird er sie wieder ein bißchen leben lassen. Was er so leben nennt, grade noch, daß der Lebensfunke Todesangst empfinden kann ..."

Sie schwiegen beide, der Wind ging und ging, es war völlig dunkel ...

"Pagel", sagte der Dicke plötzlich. "Ich gehe jetzt. Wir werden uns kaum wieder begegnen. Aber es hat mich, wie man so sagt, gefreut. - Pagel!" sagte er noch einmal dringlich. "Beten Sie zu Gott, daß diese Mutter ihre Tochter nie wiederfindet - es wäre keine Tochter mehr ..."

Er war lautlos fort. Wolfgang Pagel stand allein im dunkeln, windigen Walde.

VIERZEHNTES KAPITEL. Das Leben geht weiter

1

Es war Oktober geworden, es wurde immer nässer, immer windiger, stets kälter in Neulohe. Immer mehr Schwierigkeiten hatte Wolfgang Pagel, die notwendigen Leute zum Kartoffelbuddeln zusammenzubringen. Hatten sie im September noch drei Leiterwagen in die Kreisstadt zum Leuteholen senden können, die voll auf den Schlägen angerasselt kamen, so war's im Oktober schließlich nur noch einer, auf dem verdrießlich ein paar Weiblein, in Säcke und Wolltücher verpackt, saßen.

Schimpfend und jammernd quälten sie sich durch das triefnasse Kraut über die Schläge, die immer größer zu werden schienen. Zweimal schon hatte Pagel den Lohn erhöhen müssen. Hätte er ihn nicht in natura, hätte er ihn nicht in Kartoffeln gegeben, diesem notwendigen Lebensbedarf, der den Bauch füllt und sogar das liebe Brot ersetzen kann - es wäre keiner mehr gekommen. Aber der Dollar stieg in diesen Oktobertagen von zweihundertzweiundvierzig Millionen Mark auf dreiundsiebzig Milliarden; durch das ganze deutsche Land kroch der Hunger, die Grippe folgte ihm, eine unerhörte Verzweiflung erfüllte die Leute - jedes Pfund Kartoffeln war ein Zaun zwischen ihnen und dem Tode.

Wolfgang Pagel ist nun Alleinherrscher auf Rittergut Neulohe, über Gut und Forst. Er hat viel zu tun, er kann nicht mehr auf dem Kartoffelacker stehen und eine Blechmarke für jeden gebuddelten Korb ausgeben. Der Roggen für das nächste Jahr muß gesät, die Äcker müssen gepflügt werden. In der Forst fängt der Brennholzeinschlag an, und wenn man dem alten Kniebusch nicht alle Tage den Rücken steift, legte der sich am liebsten ins Bett und stürbe so langsam vor sich hin. Aber wenn Wolfgang auf seinem Rade beim Kartoffelschlag ankommt und der alte Kowalewski tritt ihm immer hohläugiger und verfallener entgegen und jammert: "Wir schaffen es nicht und wir schaffen es nicht, junger Herr! Auf diese Art buddeln wir noch im Januar bei Schnee und Eis!"

Dann sagt Wolfgang lachend: "Wir werden es schon schaffen, Kowalewski! Weil wir es nämlich schaffen müssen. Weil nämlich in der Stadt Kartoffeln bitter nötig gebraucht werden!"

Und bei sich denkt er: Und weil das Gut das Geld für die Kartoffeln bitter nötig braucht!

"Aber wir müßten mehr Leute haben!" jammert Kowalewski.

"Woher soll ich sie denn nehmen?" fragt Pagel ein bißchen ungeduldig. "Soll ich etwa wieder ein Zuchthauskommando kommen lassen?"

"Ach Gott, nein!" ruft der alte Kowalewski erschrocken aus, viel zu erschrocken, findet Pagel.

Er sieht nachdenklich auf die buddelnden Leute und sagt unmutig: "Das sind ja auch alles bloß Städter, das schafft nicht bei denen. Es ist zu ungewohnte Arbeit für sie. Wenn wir nur die Altloher dazu kriegten -!"

"Die kriegen wir nie!" sagt Kowalewski ärgerlich. "Die stehlen sich nachts ihren Kartoffelvorrat aus unsern Mieten."

"Freilich tun sie das!" seufzt Pagel. "Ich sehe ja jeden Tag die Löcher in den Mieten und darf sie wieder zumachen lassen. - Ich nehme mir auch immer vor, in der Nacht hinauszugehen und zu sehen, daß ich einen

erwische, Kowalewski", gesteht Wolf. "Aber ich schlafe immer schon über dem Abendessen ein."

"Es ist auch zuviel, was der junge Herr hat", stimmt Kowalewski zu. "Das ganze Gut und die ganze Forst und alle Schreiberei, das hat noch keiner gemacht. Da müßte Hilfe her."

"Ach, Hilfe", antwortet Pagel abweisend. "Es weiß doch noch keiner, was hier werden wird."

Sie schweigen beide einen Augenblick. Dann sagt Kowalewski hartnäckig: "Aber die elenden Altloher Kartoffeldiebe - das ist Sache der Gendarmerie. Die müßte der junge Herr mal anrufen."

"Die Gendarmerie", antwortet Pagel. "Nein, lieber nicht. Bei denen sind wir nicht sehr beliebt mehr, Kowalewski, wir haben ihnen im letzten halben Jahr zuviel Arbeit gemacht."

Nun schweigen sie beide. Aus dem Dunkel kommt mit jedem Karstschlag der gelbliche, bräunliche Kartoffelsegen ans Himmelslicht. Pagel könnte nun wieder gehen, er hat sich überzeugt, wie weit die Arbeit vorwärtsgeruckt ist. Aber er hat dem alten Kowalewski noch etwas zu sagen, und so weich ist der junge Pagel nicht mehr, daß er sich scheut, einem andern etwas zu sagen, auch wenn es etwas Unangenehmes ist.

Wenn es gesagt werden muß, sagt er es.

"Hören Sie, Kowalewski", sagt er. "Ich habe heute früh Ihre Sophie im Dorf gesehen. Sie ist also noch immer zu Haus."

Der alte Mann wird sehr verlegen. Er stottert: "Sie muß ihre Mutter pflegen - meine Frau ist krank."

"Das letztemal haben Sie mir gesagt, sie geht zum ersten Oktober in Stellung. Jetzt sagen Sie mir, sie muß ihre Mutter pflegen. Sie sagen mir nicht die Wahrheit, Kowalewski. So geht das nicht. Wenn sie hier in unserer Werkwohnung wohnt, so muß sie auch arbeiten."

Kowalewski ist sehr blaß geworden. "Ich habe keine Gewalt über das Mädel, junger Herr", entschuldigt er sich. "Sie hört nicht, wenn ich ihr etwas sage."

"Kowalewski, alter Kerl!" ruft Pagel. "Seien Sie doch nicht so schlapp! Sie wissen doch selbst, wie nötig wir jede Hand brauchen, und Sie wissen auch, wenn die Tochter vom Leutevogt faul ist, wollen's die Töchter von den Arbeitern erst recht sein."

"Ich werde es ihr ausrichten, junger Herr", sagt Kowalewski kummervoll.

"Ja, tun Sie das, und sagen Sie ihr, daß ich sonst noch eine Familie in das Haus setze, dann habt ihr nur noch Stube, Kammer und Küche. Mahlzeit, Kowalewski, mir knurrt der Magen."

Der junge Pagel setzt sich auf sein Rad und fährt nach Haus zum Mittagessen. Er ist zufrieden, daß er die Sache mit der Sophie Kowalewski endlich in Ordnung gebracht hat: so oder so. Er hat sie ein bißchen verbummelt, er hat ein wenig viel um die Ohren gehabt in letzter Zeit. Aber immer, wenn er das Mädchen einmal wieder im Dorf sah, fiel ihm ein, daß es unmöglich war, ein solches Exempel von Faulheit zu dulden. Es war schon schwer genug, die Leute in diesen Zeiten bei der Arbeit zu halten, sie fanden immer, das Geld war kein Entgelt für ihre Arbeit; aber sie bekamen ja nicht nur dies Dreckgeld, in der Hauptsache erhielten sie Naturalien. Es war nicht nötig, daß jemand im Dorf dahinlebte wie eine Lilie auf dem Felde - und unser Herrgott nähret sie doch! Im Gegenteil, ganz im Gegenteil, meine verehrte Sophie, dies sind nicht die Zeiten, sich auf seinen Gott im Himmel zu verlassen! Dies sind die Zeiten, zu arbeiten, daß die Schwarte knackt!

Wolfgang Pagel kann nicht leugnen, daß er eine richtige Wut auf die Sophie hat. Früher hatte er einmal Sympathien für sie, dunkel erinnert er sich einer gewissen Szene an den Krebsteichen - sie verteidigte mutig die Kleider der Herren gegen den kriegerischen Kniebusch. Aber entweder hatte er sich in seinen Sympathien getäuscht, oder das Mädchen hatte sich geändert.

Sie hatte so eine verfluchte nachlässige Art, im Dorf herumzuschlendern; sie stellte sich neben die Leute, die arbeiteten, und sah ihnen überlegen zu. Ja, sie hatte einmal die Frechheit gehabt, ihm, als er auf dem Rade vorbeiflitzte, nachzurufen: "Immer fleißig, Herr Pagel?!"

Was über die Hutschnur ging, sollte man nicht dulden, und wenn sie morgen nicht Kartoffeln buddelte, setzte er Kowalewski übermorgen die schwarze Minna mit allem schreienden, streitenden, Krach machenden Anhang ins Dachgeschoß! -

Er ist auf dem Hof angekommen, er geht noch einmal rasch durch die Ställe. Der Großspänner spricht ihn an, er behauptet, es ist zu naß zum Roggendrillen, die Schare schmieren. So etwas ist schlimm für Pagel, denn er versteht ja nichts von Ackerbau und Viehzucht, und doch muß er anordnen und entscheiden. Aber im allgemeinen helfen ihm die älteren Leute gerne; wäre er hier als vielerfahrener Inspektor aufgetreten, sie hätten ihm mit Vergnügen Streiche über Streiche gespielt. Aber da er nie so tat, als wenn er etwas wüßte, wo er gar nichts wußte, waren sie

hilfreich. Man ahnte gar nicht, was an Erfahrung und Beobachtung in diesen alten Leuten steckte; Pagel hörte ihnen gerne zu, aber über den dicken Lehrbüchern schlief er ein.

So fragte er dieses Mal auch nur: "Was machen wir dann?", und der Großspänner meinte, daß auf den leichteren Außenschlägen das Pflügen noch ginge. "Gut", sagte Pagel. "Also pflügen wir."

Und ging zum Mittagessen.

Das Mittagessen nimmt er auf dem Büro ein - das Büro ist überhaupt Wohn-, Eß-, Arbeits-, Rauch- und Lesezimmer für ihn, und nebenan schläft er noch immer. Aber obwohl Herr von Studmann nicht mehr in Neulohe weilt, nimmt er seine Mahlzeiten nicht allein ein. Er hat eine Tischgefährtin, ein Gegenüber an diesem säuberlich weiß gedeckten Schreibtisch: Amanda Backs.

Ja, Amanda Backs steht schon wartend da, sie sagt zufrieden: "Gott sei Dank, daß Sie mal pünktlich sind, Herr Pagel. Ziehen Sie sich nur schnell trocken an, ich hole sofort das Essen."

"Schön", meint Pagel und geht in sein Schlafzimmer, um sich umzuziehen und zu waschen.

Es ist sehr möglich, ja, es ist sogar fast sicher, daß die bekannten Mäuler im Dorf diese Tischgemeinschaft Pagel - Backs auch in eine Bettgemeinschaft umlügen, zumal bei dem bekannten Vorleben der Backs. Aber im Grunde hatte sich alles ganz von selbst und höchst natürlich ergeben. Als an jenem ersten Oktober, nach der Verhaftung der Zuchthäusler, die Mädchen aus dem Schloß ohne Kündigung, Gehalt und Zeugnis in alle Welt flüchteten, in einer hühnerhaften Angst vor einem Strafverfahren wegen Begünstigung entflohener Gefangener, gar nicht zu erwähnen das gefürchtete Gespött der Dorfleute - da blieb die öffentlich in einer Abendandacht bescholtene Amanda Backs als einzige unbescholtene Person auf dem Schlosse zurück. Mit dem alten Diener Elias natürlich, aber der fuhr dann auch am zweiten Oktober ab, zu seiner Herrschaft, zur Berichterstattung vermutlich, denn Pachtgeld hatte er nicht zu überbringen. Und kam nicht wieder.

In den ersten Oktobertagen hatte Wolfgang Pagel den Kopf viel zu voll mit tausenderlei Dingen, um sich besonders lebhafte Sorgen um die alte Fachwerkscheune, das Schloß, zu machen. Aber dann lief er der Amanda eines Tages in den Weg, und sie stellte ihn und fragte ihn auf den Kopf zu, was er sich denn eigentlich denke, was er sich einbilde? Sie graule sich ja nicht gradezu in dem großen, alten Kasten als einzige Bewohnerin, aber angenehm sei es auch wieder nicht. Und es müsse unbedingt etwas geschehen oben, ehe die alte Herrschaft wiederkomme,

es liege von der Sauferei herum wie Kraut und Rüben, und im Saal seien auch zwei Fenster zerbrochen. Jetzt regne es hinein, und die Pfützen ständen auf dem Parkett seit Tagen!

Pagel, der abgehetzte, ein wenig niedergeschlagene Pagel, der in drei Tagen keine zehn Stunden Schlaf bekommen hatte, sah die rotbäckige, derbe Amanda nachdenklich an, rieb sich das reichlich unrasierte Kinn und fragte: "Ja, wollen Sie denn nicht auch rücken, Amanda?"

"Und wer soll mein Geflügel besorgen?!" hatte sie recht empört dagegen gefragt. "Jetzt grade, wo es in den Winter geht, wo die Enten und Gänse fett werden sollen und wo man gar nicht genug zufüttern kann? Ich und rücken -? Keine Ahnung!"

"In der Villa suchen sie händeringend nach einem vernünftigen Mädchen", hatte Pagel vorgeschlagen. "Sie werden es ja gehört haben, die Lotte ist jetzt auch fortgelaufen. In die Villa möchten Sie wohl nicht?"

"Nein", hatte Amanda Backs mit aller Deutlichkeit geantwortet. "In die Villa will ich nicht. An die Doofheit von meinem Federvieh bin ich gewöhnt, aber an die Doofheit von meinen Mitmenschen werde ich mich nie gewöhnen. Die macht mich immer fuchsteufelswild, und dann tauge ich zu nichts."

"Schönschön", hatte Pagel eilig gesagt. "Ich gebe Ihnen dann heute abend Bescheid". Und war fortgegangen.

Er hatte vorgehabt, mit der gnädigen Frau über diesen gar nicht in seinem Geschäftsbereich liegenden Fall zu sprechen. Aber die gnädige Frau war wieder mit dem Wagen fortgefahren, und es war ungewiß, wann sie zurückkommen würde. Der Rittmeister schied für alle Rückfragen aus; der lag noch immer recht unruhig zu Bett, und der vom Arzt bestellte Krankenpfleger saß bei ihm und hatte mit dem oft aufgeregten Manne mehr zu tun, als ihm lieb war. Und sonst gab es in dem großen, volkreichen Neulohe keinen Menschen, den er um Rat fragen konnte.

So ließ sich denn, nach einigem Nachdenken, der junge Wolfgang Pagel am Telefon das Hotel Kaiserhof in Berlin geben und verlangte den Herrn Geheimrat von Teschow-Neulohe zu sprechen.

"Bedaure sehr, die Herrschaften sind abgereist."

"Abgereist?" Es gab ihm doch einen Stoß. "Wann bitte?"

"Am dritten Oktober."

Also direkt nach der Ankunft des alten Elias, nach seinem Bericht.

"Wollen Sie mir bitte seine Adresse geben!"

"Bedauern sehr - es ist uns ausdrücklich untersagt, die Adresse weiterzugeben!"

"Hier spricht die Gutsverwaltung Neulohe - die Gutsverwaltung des Herrn Geheimrats selbst", sagte Pagel mit all seiner Selbstbeherrschung. "Ich brauche seine Adresse unbedingt für eine sehr wichtige Entscheidung. Ich müßte Sie für allen aus der Verweigerung entstehenden Schaden haftbar machen!"

"Einen Augenblick bitte. Ich will mal nachfragen. Bleiben Sie am Apparat."

Nach einigem Hin und Her bekam Wolfgang dann doch die Adresse. Er brauchte sie nicht, aber es interessierte ihn, wo diese Leute hinfuhren, wenn ihre Tochter verzweifelt, ihre Enkelin verloren war.

Die Adresse lautete: "Nizza, Frankreich, Azurküste, Hotel Imperial."

"Ich danke verbindlichst", sagte Wolfgang und legte den Hörer auf.

Eine Weile saß er still, mit einem aufmerksamen Gesicht. Sein Auge sah nichts auf dem Büro. Sondern es sah etwas anderes. Es sah die kleine vertrocknete Frau mit dem scharfen Vogelgesicht und den eiligen Augen. Sie hetzte die Dienstboten von einer Arbeit zur andern, sie war hohl wie eine taube Nuß, aber sie füllte sich mit dem Leben der andern, mit jedem Leben, ganz egal welchem! Sie hatte aus der Religion eine Beschäftigung gemacht, sie benützte sie, um in die andern hineinzukriechen. Sie war wie eine Made, sie lebte von den verwesten Lebensabfällen ihrer Mitmenschen.

Er sah den grimmigen Rauschebart mit seiner falschen Fröhlichkeit, kräftig schwitzend, in Loden gekleidet. Dort unten, an Frankreichs Azurküste, würde er ja nun keinen Loden tragen, aber damit war nichts geändert. Er saß und rechnete, er setzte listige Verträge auf und schrieb Geschäftsbriefe mit Widerhaken -: Alles, was er sah, setzte sich ihm in Erwerb, Geld, Verdienst um. Jawohl, es hieß, er liebe seinen Wald - und das tat er auch. Aber er liebte ihn wiederum auf seine eigene Weise, er liebte nicht etwas Lebendiges, Wachsendes, Ewiges - er liebte mit dem Erwerbssinn, er liebte soundso viel Festmeter schlagbares Holz. Eine Fichtendickung war für ihn kein grüngoldenes Geheimnis, sie bedeutete ihm, daß man bei der Durchforstung soundso viel hundert Bohnenstangen herausschlagen konnte.

Er tot, sie tot - aber hatte man nicht doch gedacht, sie liebten sich wenigstens in ihrer Tochter, ihrer Enkelin? Da sah man, wie diese Liebe aussah - aus Furcht, in eine schmähliche Geschichte hineingezogen zu werden, fliehen sie ohne Hilfe, ohne Güte, ohne Gnade in die andere

Ecke Europas, nebenbei in jenes Frankreich, das, die Ruhr noch immer besetzt haltend, sich weiter feindselig weigert, mit einer deutschen Regierung zu verhandeln.

So sahen sie aus, alte Leute, zur Ruhe gesetzte Leute, wie man so sagt. Aber die Frau ließ die eigene Hohlheit nicht zur Ruhe kommen und den Mann nicht das Geld, das er doch nicht anzuwenden wußte ...

Der junge Pagel, der noch immer am Telefon sitzt, tut etwas Merkwürdiges, als er so weit mit seinen Gedanken ist: Er nimmt aus seiner Brieftasche einen Geldschein. Er brennt ein Streichholz an und verbrennt den Schein. Es ist wirklich der junge Pagel, der dies tut, der noch sehr junge Pagel. Es ist eine symbolhafte Handlung: Ach Himmel, laß mich nie das Geld so lieben, daß ich mich nicht von ihm trennen kann!

Und nebenbei ist es eine Entbehrung, die er sich auferlegt. Es ist Sonnabendabend, die Löhnung hat die Gutskasse völlig entleert, es ist sein letzter Schein gewesen, er wollte sich dafür Zigaretten holen. Nun kann er bis Montag nicht rauchen. Jawohl, so jungenhaft ist er auch noch, trotz aller Erlebnisse der letzten Zeit. Aber doch auch wieder so stark! Er pfeift, wenn er daran denkt, daß er nur noch drei oder vier Zigaretten hat.

So pfeifend, trommelt er einen Haufen Frauen zusammen, holt sich den Stellmacher. Noch am Sonnabendabend läßt er das Schloß notdürftig instand setzen, die Fenster werden frisch verglast, die Türen abgeschlossen! "Fertig sind wir mit den Teschows!! Und Sie, Amanda, ziehen also mit Sack und Pack in Herrn von Studmanns Zimmer. Wenn Sie nämlich keine Bedenken haben."

"Von wegen dem Geschwatze von den Leuten, Herr Pagel? Was ich mir dafür kaufe! Immer reden und reden lassen, das sage ich."

"Richtig. Und wenn Sie sich nebenbei meines Essens und meiner Wäsche erbarmen wollen - damit sah es in der letzten Zeit etwas kummervoll aus."

"Die schwarze Minna - - -"

"Die schwarze Minna muß in der Küche der Villa aushelfen, und außerdem ist sie die einzige von allen Weibern, die vor dem Rittmeister keine Angst hat. Der Pfleger muß ja auch mal an die frische Luft, da vertritt sie ihn."

"So ist's richtig!" sagte Amanda tief befriedigt. "Dafür paßt sie! Die und vor Männern Angst, Herr Pagel -? Die hat immer viel zuwenig Angst vor den Männern gehabt, und das Gequake, das von zuwenig Angst

kommt, das können Sie sich ja alle Tage anhören, wenn Sie am Armenhaus vorbeikommen, Herr Pagel."

"Sie haben ein ganz schändliches Maulwerk, Amanda", hatte Pagel halb lachend gesagt. "Der schwerkranke Herr Rittmeister und die schwarze Minna - nein, ich weiß doch nicht, ob es mit uns beiden lange gut gehen wird."

"Ich lasse Sie reden, und Sie lassen mich reden", hatte Amanda sehr zufrieden geantwortet. "Das ist doch alles ganz einfach. Warum soll es da nicht gut gehen mit uns, Herr Pagel?"

2

Die Frau, die dicke, verfettete Frau, deren ganzer Lebensinhalt nur noch Essen war, saß schon am Tisch und löffelte aus einer Terrine, als der Leutevogt Kowalewski müde und naßgeregnet heimkam. Kowalewski warf einen Blick in die Suppenschüssel, er runzelte die Stirn, aber bezwang sich. Er schnitt sich einen Kanten Brot ab, strich Schmalz darauf und fing auch an zu essen, aber nicht von der Suppe.

Die kauende Frau warf aus kleinen Augen einen bösen Blick auf ihn, auch sie wollte etwas sagen, aber ihre Gier war zu groß, bei ihr war es die Gefräßigkeit, die sie nicht zum Sprechen kommen ließ.

So saßen die beiden alten Leute schweigend am Tisch, beide essend, er das Brot, sie die Hühnersuppe.

Erst als der schlimmste Hunger der Frau gestillt war, tat sie den Mund auf. Sie schalt: "Schön dumm bist du! Die gute Hühnersuppe! Davon wird es auch nicht anders, daß du keinen Bissen anrührst!" Sie kellte in der Suppe herum, sie fand wirklich noch eine Keule. Über dem Anblick der Keule vergaß sie fast ihren Zorn auf den Mann, sie rühmte: "So ein fettes Huhn, wie das war! Ja, Haases füttern gut. Über fünf Pfund hat es gewogen, und was es für Fett hatte. Schönes, schieres, gelbes Fett, das gibt aus für die Suppe!" Sie schmatzte.

"Ist die Sophie oben?" fragte der alte Mann mutlos.

Kauend: "Wo soll sie denn sonst sein? Die schlafen doch noch!" Sie aß langsam weiter, obwohl sie eigentlich nicht mehr essen konnte. Zum Übermaß gesättigt, schwelgte sie schon in der Hoffnung auf neue Mahlzeiten: "Heute nacht sollen wir eine Rehkeule kriegen, Rehkeule mag ich gerne, wenn sie richtig durch ist! Und wenn es erst gefroren hat, will er uns auch ein Fettschwein bringen ...!"

"Ich brauche kein Schwein, ich will das Schwein nicht!" rief der alte

Kowalewski verzweifelt, gepeinigt aus. "Wir sind immer ehrlich gewesen - und nun? Diebe und Diebsgenossen! Keinen kann man mehr grade ansehen -!"

"Reg dich bloß nicht auf!" sagte die Frau gleichgültig. "Du weißt, er läßt sich nichts gefallen von dir. Diebe -! Diebstahl ist es doch erst, wenn man gefaßt wird, aber dafür ist er viel zu schlau! Er ist zehnmal schlauer als du! Hundertmal!"

"Er muß endlich aus dem Haus "..., murmelte Kowalewski.

"Ja, das sieht dir ähnlich!" schrie die Fresserin wütend. "Endlich mal einer, der für uns sorgt - und da soll er aus dem Hause! Aber ich sage dir, wenn du Stunk mit ihm anfängst, ich sage dir "... Sie schwenkte den Löffel, sie wußte nicht, mit was sie ihm drohen sollte. Ihre kleinen, im Fett ertrinkenden Augen irrten von dem Mann ab, suchten in der Stube umher ... "Ich esse dir alles weg, verhungern sollst du!" schrie sie die schlimmste Drohung aus, die sie sich ausdenken konnte.

Ihr Mann sah sie einen Augenblick trübe an. Wie die Mutter, so die Tochter, dachte er. Eigensüchtig, gierig, gierig -! Er drehte sich um und ging aus der Stube zur Treppe.

"Wenn du raufgehst zu ihm! Wenn du Stunk mit ihm anfängst!" schrie sie ihm nach.

Kowalewski stieg schon die Treppe hinauf. Einen Augenblick stand er rasch atmend vor der Tür zum Zimmer der Tochter, fast verlor er wieder den Mut. Dann klopfte er.

"Wer ist denn da?" fragte nach einer Weile die Stimme Sophies ärgerlich.

"Ich - Vater", antwortete er halblaut.

Es gab ein Tuscheln drinnen, aber dann wurde doch der Schlüssel im Schloß umgedreht. Sophie stand in der Tür. Sie sah böse in ihres Vaters Gesicht, sie schalt: "Was willst du denn?! Du weißt doch, daß Hans seinen Schlaf braucht. Erst macht ihr solchen Krach unten, daß man kein Auge zutun kann, und jetzt kommst du auch noch rauf. Was ist denn los?"

"Treten Sie näher, Schwiegervater!" rief die freundliche, falsche Stimme drinnen. "Freut mich ungeheuer. Sophie, schwatz nicht, rede nicht, das ist hoher Besuch. Der Herr Schwiegervater! Platzen Sie bitte, alter Herr! Gib ihm doch 'nen Stuhl, Sophie, daß er platzen kann! Entschuldigen Sie bloß, Schwiegervater, daß wir noch im Bette liegen. Hätte ich von dem hohen Besuch gewußt, ich hätte meinen Frack angezogen ..."

Er sah den verängstigten alten Mann grinsend an. "Das heißt, genaugenommen ist es nicht mein Frack. Aber er paßt mir ausgezeichnet, der Frack vom Herrn Rittmeister. Herr von Prackwitz war so freundlich, mir auszuhelfen. Ich war etwas knapp mit Garderobe!"

Der Leutevogt Kowalewski war so viel und so gründlich verspottet und gescholten worden in seinem Leben, er ließ sich nichts anmerken, wenn es ihm vielleicht auch immer wieder weh tat. Er stand hinter dem Stuhl, er sah nicht nach dem Bett mit Hans Liebschner, er sah auf die Erde, als er leise sagte: "Du, Sophie ..."

"Na, was denn, Vater? Erzähl schon! Sicher wieder so 'ne Meckerei, weil was weggekommen ist! Schreit der Schulze Haase wegen der paar Hühner so laut, daß du nicht mehr schlafen kannst?! Der kann noch was ganz anderes erleben -!"

"Treibriemen!" grinste Liebschner. "Schöne Treibriemen, ausgezeichnet als Sohlenleder. Lebhafte Nachfrage - guter Preis! - Ist Ihnen was, Schwiegervater? Ich beteilige Sie gerne, zehn Prozent vom Erlös - ich habe was über für meine Verwandtschaft, was, Sophiechen?"

Wieder ließ der alte Mann Schelten und Spott wortlos über sich ergehen. Nun, da sie stille geworden waren, fing er noch einmal an: "Sophie, der Herr Pagel hat wieder gefragt, warum du nicht arbeitest ..."

"Der Kerl soll ..."

"Laß ihn doch fragen! Wer viel fragt, kriegt viel Antwort! Ich werd ihm schon antworten, wenn er zu mir kommt!"

"Er sagt aber, wenn du morgen nicht beim Buddeln bist, setzt er am Abend die schwarze Minna hierher ins Dachgeschoß!"

"Der Kerl soll ..."

"Ja, Hans, das solltest du! Gib ihm was auf die freche Schnauze, daß er sie sechs Wochen nicht aufmachen kann! Was der Affe sich einbildet -!"

"Richtig, Sophie! Das heißt, ich nicht. Ich danke. Ich bin nicht für so was, das schlägt nicht in meine Branche. Aber das ist was für den Bäumer! Der erledigt den Jungen mit Vergnügen, der Junge braucht keine Decke mehr, der Junge weiß bis an sein Lebensende nicht ..."

Schweigend hatte der alte Mann zugehört. Jetzt hob er den Kopf, er sagte leise: "Wenn dem Herrn Pagel was passiert, zeige ich euch an ..."

"Was geht denn dich der Pagel an, Vater?!" fing Sophie an. "Du bist ja verrückt geworden ..."

Aber Kowalewski sagte: "Ich habe das Maul gehalten, weil du meine einzige Tochter bist und weil ihr immer wieder versprochen habt, ihr

fahrt nun bald ab. Es hat mir fast das Herz abgedrückt, dich hier mit so einem ..."

"Quatschen Sie sich ruhig aus, alter Herr!" rief der im Bett. "Genieren Sie sich bloß nicht unter Verwandten! Zuchthäusler, wie -?"

"Jawohl, Zuchthäusler!" wiederholte der alte Mann trotzig. "Aber ich glaub doch nicht, daß alle im Zuchthaus so gemein sind wie Sie! Und dann das Stehlen! Immer nur stehlen ... Tut denn das ein Mensch, bloß aus Lust am Schadenstiften?! Ihr habt ja gar nichts davon, das Geld, das ihr in Frankfurt und Ostade für das Gestohlene kriegt, ist ja nichts wert ..."

"Gedulden Sie sich nur, alter Herr, es kommen auch wieder andere Zeiten. Sobald ich Reisegeld und Betriebskapital zusammen habe, schmettern wir ab. Meinen Sie, mir gefällt Ihre Kate hier so? Oder ich kann mich nicht von Ihrer Jammervisage trennen?"

Er pfiff durch die Zähne: "Du bist verrückt, mein Kind!"

"Ja", rief der alte Mann eifrig. "Fahren Sie ab! Fahren Sie nach Berlin!"

"Schwiegervater! Sie haben mir doch eben erst erzählt, daß wir kein Geld haben! Oder wollen Sie mir die Aussteuer für Ihr Fräulein Tochter in bar geben?! Nee, mein Lieber, ohne Geld nach Berlin - und gleich wieder verschüttgehen?! Danke! Jetzt haben wir so lange gewartet, nun muß es auch noch die paar Tage oder Wochen gehen, bis wir ..."

"Aber was soll werden, wenn er uns wirklich die Minna reinsetzt?!" rief Sophie zornig. "Das hast du uns sicher eingebrockt, du willst uns bloß weghaben, Vater!"

Herr Liebschner pfiff, er wechselte einen Blick mit Sophie. Sophie verstummte.

Kowalewski hatte den Blick gesehen. "So wahr ich hier stehe!" rief er zitternd, "so wahr ich hoffe, daß mir Gott meine Schwachheit vergeben wird - wenn dem Herrn Pagel was passiert, ich bringe selbst die Gendarmen hierher!"

Einen Augenblick schwiegen sie alle drei. In dem Ausruf des alten Mannes hatte eine solche Kraft gelegen, daß auch die beiden andern überzeugt waren, er werde es tun.

"Und du tust immer so, als wenn du was für 'n Vater wärst!" sagte Sophie schließlich verächtlich.

"Da kannst du nischt bei machen, Sophiechen!" sagte Liebschner ergeben. "Der Alte hat eben einen Narren an dem Bengel gefressen. So was gibt es. - Hör zu, Sophie, hören Sie auch zu, alter Herr! Erst einmal wirst du jetzt gleich dem jungen Mann auf die Bude rücken. Jetzt um die

Mittagsstunde wird er ja allein sein. Sei ein bißchen nett zu ihm, Sophiechen, du weißt ja, ich bin nicht eifersüchtig. Da wird er schon nachgeben ... Das bringste doch fertig, was, Sophie?"

"So ein Stiesel!" sagte sie verächtlich. "Wenn ich will, rutscht der auf Knien. Aber die Backs wird bei ihm sein, er hat doch die Backs!"

"Die Dicke von den Hühnern -? Wenn du den Trampel nicht ausstechen kannst, bist du auch bei mir abgemeldet, Sophie!"

"Fahren Sie ab! Fahren Sie doch lieber bitte ab, ehe alles rauskommt!" bat Kowalewski.

"Bei Ihnen muß der Pastor wohl auch dreimal am Sonntag predigen, ehe Sie was kapiert haben, he? Geld, sage ich, eher werden Sie uns nicht los! - Also, Schwiegervater, seien Sie beruhigt, wir schaukeln das Kind, wir behalten die Wohnung, sie gefällt uns noch. - Und Ihrem guten Jungen wird nichts getan - einverstanden?"

"Sie sollten abreisen!" wiederholte der alte Mann hartnäckig.

"Zeig ihm die Tür, Sophie! Laß erst mal ihn abreisen! Wäre ich nicht zu faul, ich ließe Sie die Treppe runterreisen. Guten Morgen, Schwiegervater, hat mich sehr gefreut. Empfehlen Sie mich Ihrem Freunde, Herrn Pagel!"

"Ach, Sophie!" flüsterte der alte Mann auf der Treppe trostlos. "Und du warst früher so ein braves Kind ..."

3

Amanda hatte recht behalten, es ging wirklich gut mit den beiden. Nein, es ging nicht nur gut, es ging ganz ausgezeichnet.

Zu seinem Erstaunen entdeckte Pagel, daß dieses Weibsbild Amanda Backs, von dem er geglaubt hatte, sie würde ihm schon nach einer Woche auf die Nerven fallen, ihm im Gegenteil guttat, daß ihr Wesen ihm über viele schwierige Dinge hinweghalf. Daß sie sauber, fleißig, rasch, anstellig war, das hatte er schließlich schon so halb und halb gewußt. Daß aber dieses junge Ding mit dem Maul eines alten Schandweibes sehr wohl zu schweigen verstand, daß sie zuhören konnte, daß sie lernen wollte, daß sie andere Ansichten gelten ließ, das überraschte ihn höchlichst. Dieses im Elend herumgestoßene uneheliche Kind, das in einem Jahr seines Lebens mehr böse Worte und Schläge bekommen hatte als ein anderer Mensch in seinem ganzen Leben, das von einem grimmigen Pessimismus dem ganzen Dasein, allen Menschen und den Männern zumal gegenüber erfüllt war, diese Elends- und Kellerpflanze

war von einer Empfänglichkeit für jedes gute Wort, jeden leisen Hinweis, die ihn immer wieder bewegte.

"Mein Gott!" rief er den dritten Tag verblüfft, als er den Schreibtisch weiß gedeckt sah, mit anständigem Porzellan und Bestecken, die sie sich aus dem Schloß geholt haben mußte. Aber er sagte dies "Mein Gott!" halb gerührt, weil sie aus sich erraten hatte, wie sehr ihm das abgestoßene Steingutgeschirr und die schwärzlichen Blechbestecke widerstanden hatten.

"Na ja", sagte sie herausfordernd. "Wat is denn nu wieder los? Jeder, wie er's gewöhnt ist! Ich sage ja immer, die Verpackung is mir Wurscht, der Inhalt macht's - aber wenn's Ihnen anders Spaß macht, bitte schön!"

Diese beiden jungen Menschen lebten wie auf einer Insel, ohne jeden Umgang, ohne einen andern befreundeten Menschen, ohne ein freundliches Wort. Sie waren ganz aufeinander angewiesen. Wenn Pagel außer dem Gerenne und Gehaste des täglichen Betriebes, in dem alle von ihm zehrten, ein bißchen Eigenleben führen wollte, so mußte er es "daheim", nämlich auf dem Büro, finden. Und wenn Amanda, diese vielverlästerte Liebste des Verräters Meier, diese letzte Angestellte des verhaßten Geheimrats, bei einem Menschen ein gutes, persönliches Wort finden wollte, so mußte es bei Pagel sein.

So wurde eines der Retter des andern. Ohne diese knallbackige Amanda Backs hätte Pagel in jenen schweren Tagen vielleicht doch noch schlappgemacht und wäre vor seiner Aufgabe ausgerissen, ganz wie ein Geheimrat von Teschow, ein Herr von Studmann oder gar ein Rittmeister. Aber daß der Fahnenjunker seine Fahne hochhielt, daran hatte Amanda Backs kein geringes Verdienst.

Und wer weiß, ob Amanda Backs heil über ihr Meiersches Erlebnis hinweggekommen wäre, wenn sie nicht immer den Wolfgang Pagel vor Augen gehabt hätte. Es gab eben doch andere Männer, saubere Männer, Männer, die nicht jeder Schürze nachliefen und auf jeden Weiberbusen losglotzten. Es war unvernünftig, auf alle Welt wütend zu sein, weil der Meier ein Lump gewesen war. Sie hatte auf sich allein wütend zu sein, weil sie nicht besser gewählt hatte. Denn im Anfang hat es doch fast jeder Mensch ein bißchen in der Hand, wen er liebhaben will - später freilich ist es meistens zu spät. Später hatte sie ihr Hänseken richtig liebgehabt.

Und da nun jedes von diesen beiden sein Gutes vom andern hatte, so gab es sich ganz von selbst, daß sie auch gut zueinander waren. Als Wolfgang frisch gewaschen und trocken angezogen wieder in das Büro kam, sah er, daß das Essen wohl geholt, die Suppe aber noch nicht

aufgefüllt war.

"Nun?" fragte er lächelnd. "Fangen wir noch nicht an?"

"Sie haben auch Post, Herr Pagel", sagte sie und hielt ihm zwei Briefe hin.

Er nahm sie hastig, und Amanda ging ohne ein weiteres Wort in das Schlafzimmer hinüber, um das nasse Zeug fortzulegen und den Waschtisch aufzuräumen.

Das war es, was man das Gutsein zueinander nennen konnte. Pagel dachte nicht weiter darüber nach, aber er empfand es. Er lehnte sich gegen den angenehm warmen Ofen, den Brief Herrn von Studmanns steckte er erst einmal ungelesen in die Tasche, dann riß er eilig den Brief seiner Mutter auf. Aber ehe er mit dem Lesen begann, brannte er sich doch noch eine Zigarette an. Er wußte, er würde in Ruhe und in aller Behaglichkeit lesen können, kein Ruf "Die Suppe wird kalt" würde ihn stören.

Amanda empfing den Briefträger, sie machte Haufen aus der Post auf dem Tisch: Gutsverwaltung, Forstverwaltung, die Herrschaft in der Villa, der Gutsvorsteher(der auch von Herrn Pagel dargestellt wurde) - und zum Schluß, manchmal, etwas für Herrn Pagel persönlich. Aber das legte sie nicht mit auf den Tisch. Sie hielt es irgendwie im Verborgenen, sie wartete, bis er sich wieder sauber, trocken und ein bißchen erfrischt fühlte, dann sagte sie: "Sie haben auch Post, Herr Pagel" und verschwand.

Nun war es aber keineswegs so, daß dies eine verabredete Sache zwischen den beiden war. Amanda hatte sich das ganz allein ausgedacht. Es war ein Wunder, daß solch grobes Frauenzimmer auch feinfühlig sein konnte. Und es war auch keineswegs so, daß Pagel Amanda Geständnisse gemacht hatte; er hatte ihr nie von seinem Daheim oder gar von seiner Liebsten erzählt, das lag nicht in seiner Art. Aber es war wiederum ein Wunder, wie dieses Mädchen ohne ein Wort erriet, wie es um den jungen Pagel stand. Sie hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, es gab keinen häufigen, dickleibigen Briefwechsel mit einer jungen Dame. Es gab überhaupt keinen Briefwechsel mit einer jungen Dame, sondern bloß mit einer Frau Pagel, die nach Handschrift und Absender nur die Mutter sein konnte. Aber Amanda hätte jeden Eid darauf geschworen, daß Herr Pagel, mit ihren Worten zu reden, "in festen Händen" war. Und daß, so fest diese Hände auch hielten, bei dieser Sache irgend etwas nicht ganz im Lote war(weil eben alle Briefe von einer "sie" fehlten).

Das Mädchen räumt den Waschtisch auf, sie sieht sich noch einmal

um: Es ist alles wieder in Ordnung. Wenn er will, kann er hier einen Nachmittagsschlaf halten. Hoffentlich entschließt er sich dazu, nötig täte es ihm. Sie horcht hinüber in das andere Zimmer, aber dort ist noch alles still. Sie ist nicht ganz zufrieden mit dieser Stille: Wenn Pagel sich freut, fängt er an zu pfeifen. Aber noch ist es still ...

Amanda setzt sich auf einen Stuhl. Es wohnt kein betrübtes oder neidisches oder verliebtes Gefühl für den jungen Pagel in ihr. Im Gegenteil: Was sie sieht und erfährt, das tut ihr nur gut. Es bestätigt etwas, das stark ist in ihr: den Lebenswillen.

Sieh da, denkt sie etwa, das ist nun ein sauberer und anständiger Kerl, und bei den beiden ist auch nicht alles glatt gegangen. Warum soll ich da den Mut aufgeben und verzweifeln, wo ich erst seit zwei, drei Jahren aus dem schlimmsten Dreck herausgekrabbelt bin ...?

So etwa gehen Amandas Gedanken. Aber nun werden sie unterbrochen, denn nebenan, auf dem Büro, wird ein durchdringendes, gelles Pfeifen laut - nicht das melodische Gesäusel eines behaglich Zufriedenen, sondern ein wildes, kriegerisches Gegell, etwas, das sogar Amandas unmilitärischer Geist wie ein Angriffssignal empfindet: Zur Attacke, marsch, marsch! - Ran an den Feind! Und nun: Sieg, Ruhm und Gloria!

Im gleichen Augenblick, Amanda ist eben vom Stuhl hochgefahren, wird die Tür aufgerissen. Pagel steckt den Kopf ins Schlafzimmer und schreit: "Amanda, Mensch, Mädchen, wo bleiben Sie denn? Hunger, Kohldampf, Suppe - los, los!"

Mit all jener Entrüstung, die Menschen aus dem Volk für jede exaltierte Gefühlsregung haben, schaut Amanda in das gerötete, in das völlig veränderte Gesicht Pagels. Unnahbar sagt sie: "Bei Ihnen piept's ja wohl!" und geht an ihm vorbei, die Suppe aufzufüllen.

Neugierig schaut Pagel in die Teller, neugierig fragt er: "Was gibt's denn, Amanda?" Aber sichtlich ist ihm die Antwort auf seine neugierige Frage ganz egal.

"Gänseklein mit Graupen", erklärt Amanda.

"Ach, Amanda! Ausgerechnet heute wieder Gänseklein. Es müßte heute ... Ach, ich habe bestimmt keine Ruhe, Gänseflügel abzuknabbern!"

"Wenn Sie nicht bald dafür sorgen", antwortet die Backs mit gefährlicher Ruhe, "daß die Dorfbengels mir meine Gänse nicht ewig mit Steinen lahm schmeißen, werden Sie noch alle Tage Gänseklein essen müssen, Herr Pagel."

"Ach, Amanda", bittet Pagel kläglich, "können Sie mich heute mittag nicht mal mit aller Meckerei in Frieden lassen? Ich bin seit sehr langer Zeit zum erstenmal gewissermaßen glücklich ..."

"Wenn meinen Gänsen darum weiter die Knochen zerschmissen werden sollen, weil Sie glücklich sind, Herr Pagel", meint Amanda, "dann ist es besser, Sie laufen unglücklich rum und tun was für die Wirtschaft. Denn dafür sind Sie hier, nicht für Glücklichsein."

Pagel schaut hoch und sieht Amanda mit vergnügt funkelnden Augen in das zornige Gesicht. "Verstellen Sie sich bloß nicht weiter. Denn daß Sie nicht die Spur wütend sind, das merke ich schon daran, daß Sie mir nichts zum Knabbern auf den Teller gepackt haben, sondern nur Magen und Herz. Was ich ja denn auch tatsächlich am liebsten esse. - Und was das andere angeht, so will ich Sie wirklich nicht länger ärgern, Amanda. Ich habe nämlich eben die Nachricht bekommen, daß ich demnächst Vater werde ..."

"So", sagte Amanda, und ihr Ton klang keineswegs besänftigt. "Das habe ich ja bisher noch gar nicht gewußt, daß der Herr Pagel verheiratet ist."

Diese weibliche Antwort kam dem jungen Pagel so überraschend, daß er den Löffel nachdrücklich in die Gänsegraupen legte, seinen Stuhl zurückschob und Amanda mit großen Augen anstarrte. "Verheiratet - ich verheiratet?" fragte er erstaunt. "Wie kommen Sie denn auf diese wahnsinnige Idee, Amanda?"

"Weil Sie nämlich demnächst Vater werden, Herr Pagel", antwortete Amanda boshaft. "Väter sind meistens verheiratet - oder sollten es wenigstens sein."

"Sie sind eine Gans, Amanda", sagte Wolfgang vergnügt und machte sich wieder an seine Suppe. "Sie wollen mich bloß aushorchen - aber jetzt esse ich."

Eine Weile herrschte Stille, beide aßen.

Dann sagte Amanda hartnäckig: "Ich stelle mir das so vor, ob die junge Dame auch so fürchterlich gepfiffen und ob sie auch die Leute veralbert hat, als sie gemerkt hat, daß sie Mutter werden würde."

"Sie stellen sich das ganz richtig vor, Amanda", antwortete Pagel. "Die junge Dame war damals sicher nicht sehr vergnügt - obwohl sie sich vielleicht doch auch ein ganz klein bißchen gefreut hat."

"Dann", sagte Amanda entschieden, "würde ich auf der Stelle hinfahren und heiraten."

"Das würde ich auch gerne tun, Amanda", antwortete der junge Pagel.

"Aber leider hat sie streng verboten, daß ich ihr vor die Augen komme."

"Sie hat verboten, daß Sie -?" schrie Amanda fast. "Und sie erwartet ein Kind von Ihnen?!"

"Richtig!" nickte Pagel ernst. "Sie haben vollständig erfaßt, was ich sagen wollte."

"Dann -", sie wurde puterrot.

"Dann -", sie wagte es nicht zu sagen.

"Dann würde ich "..., sie verstummte. "Was würden Sie, bitte?" fragte Pagel sehr ernst.

Sie sah ihn prüfend an. Sie war wütend auf sich, daß sie sich auf diese neugierige Fragerei eingelassen und nun etwas erfahren hatte, was sie gar nicht wissen wollte, und sie war wütend auf ihn, weil er genauso leichtfertig und dumm wie alle Männer von diesen Dingen redete, und sie hatte ihn doch sehr anders eingeschätzt.

Also sah sie ihn prüfend und ungnädig an.

Aber da waren ja nun seine Augen, seine sehr hellen Augen, in denen es blinkerte, und in den Winkeln, nach den Wangen zu, saßen viele kleine Fältchen. Und in demselben Augenblick, da sie diese Fältchen sah, begriff sie, daß er trotz seines ernsten Gesichtes voll von Freude war, daß er sie nur veralberte, sie und ihre dumme Neugierde, und daß er genau so war, wie sie ihn eingeschätzt hatte. Und wie es immer ist, von dem Glück, das einen Menschen ganz erfüllt, weht es hinüber zu den anderen. Glück ist etwas Ansteckendes ... Und so empfand auch sie etwas von seinem Glück, sie schluckte einmal rasch.

Aber dann sagte sie ganz als Amanda Backs: "Ich würde mich jetzt mal ein halbes Stündchen hinlegen, wenn Sie nämlich genug in meinem Gänseklein rumgestochert haben. Warm ist es drüben, und die Wolldecke habe ich Ihnen auch aufs Sofa gelegt."

Pagel sah Amanda einen Augenblick verblüfft an, dann aber sagte er ganz folgsam: "Schön, das will ich heute ausnahmsweise mal tun. Aber in einer halben Stunde wecken."

Doch in der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: "Ich denke, so zu Weihnachten, das Heiraten nämlich, Amanda. Der Sohn trifft schon drei Wochen früher ein."

Und damit schloß er nachdrücklich die Tür, als Zeichen, daß er auf eine Antwort keinen Wert mehr legte, ja, daß dies Thema nun überhaupt erledigt war. Und da Amanda nun auch alles wußte, was ihr zu wissen not tat, fühlte sie auch kein Bedürfnis, weiterzureden. Leise räumte sie

den Tisch ab, brachte das Geschirr fort und setzte sich an den Ofen, damit er die halbe Stunde nun auch wirklich einmal Ruhe hatte.

Aber er wird ja doch nicht schlafen, sondern wieder seinen Brief lesen!

4

Pagel hatte wirklich seinen Brief erst noch einmal lesen wollen, aber kaum lag er da, kam die Müdigkeit wie eine große, angenehm warme, angenehm dunkle Welle über ihn. Die Sätze, daß er Anfang Dezember Vater werden und daß Petra ihm bald einmal selbst schreiben werde, nahm er mit in seinen Traum. Eine heitere Leichtigkeit ging von ihnen aus, und lächelnd schlief er ein.

Sein Traum aber war von einem Kinde, und er selbst sah dieses Kind, das er auch war. Mit einem leichten Verwundern erblickte er sich, wie er in einem weißen Matrosenanzug mit blauem Kragen und gesticktem Anker auf einem Grasplatz stand, und über ihn breitete ein Mirabellenbäumchen seine Zweige aus, die über und über voll saßen von kleinen buttergelben Früchten.

Er sah sich, wie er sich hochreckte nach den Zweigen, er sah seine nackten Knie zwischen Wadenstrümpfen und Hose und sah, daß sein eines Knie aufgeschlagen, aber schon wieder verschorft war. Das muß ich schon einmal als Kind geträumt haben, sprach er zu sich im Traum und sah sich doch als Kind nach den Zweigen langen. Auf die Zehenspitzen stellte er sich und erreichte die Zweige doch nicht.

Da rief ihn eine Stimme an, und es mußte ja wohl der Mama Stimme von der Veranda her sein, aber nein, die Stimme kam mitten aus der dichten Krone des Bäumchens, und es war Peters Stimme:

"Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich -

Wirf alle Pfläumchen über mich!"

Da rüttelte sich das Mirabellenbäumchen und schüttelte einen goldenen Regen seiner kleinen Pflaumen über ihn, und sie fielen, immer mehr, immer dichter, immer goldener. Der grüne Rasen wurde ganz gelb von ihnen, als blühten hunderttausend Dotterblumen, und das Kind, das er war, bückte sich jauchzend und schreiend danach ...

Das Kind blickte lächelnd auf das Kind. Aber langsam ward ihm klar, im Traum, daß er ein Mann war, dem keine Früchte geschüttelt wurden von keiner Petra. Darüber zerrann der schöne Traum in ein mildes, weites Dunkel, in das gut einzugehen war. Der Schläfer ging gerne darin ein, er ging ein darin mit dem Gedanken: Wenn mich nur nicht gleich wieder

einer stört ...!

"Nein, jetzt kann ich ihn nicht stören", erklärte Amanda auf dem Büro. "Da müssen Sie eben später noch einmal kommen."

Sie sah kriegerisch die Sophie Kowalewski an. Aber Sophie tat gar nicht kriegerisch. Sie bat höflich: "Vielleicht darf ich hier auf ihn warten?"

"Wenn er aufwacht, muß er gleich aufs Feld, da hat er keine Zeit für Sie", sagte Amanda abweisend.

"Wo er mich doch durch meinen Vater herbestellt hat", erklärte Sophie nicht ganz der Wahrheit gemäß. "Herr Pagel möchte nämlich, daß ich Kartoffeln buddle!" Sie lachte bitter.

"Kartoffeln buddeln", wiederholte Amanda. Die beiden standen noch immer, die eine am Ofen, die andere am Fenster. "Das hat Herr Pagel richtig gemacht. Kartoffelbuddeln ist immer noch besser als ..."

Sie brach wirkungsvoll ab.

"Als was, Fräulein? Als den Ofen festhalten, daß er nicht umfällt? Da haben Sie sicher recht!"

"Manche denkt", erklärte die Backs abweisend, "sie ist alleine schlau. Aber zuviel Schlauheit macht dumm, hat Fräulein von Kuckhoff immer gesagt. Und so ist es."

"Sind Sie da nun auch schlau, oder sind Sie dumm?" fragte die Kowalewski lieblich. Sie setzte sich in den Schreibtischstuhl.

"Das ist kein Platz für Sie, Fräulein!" rief Amanda zornig und rüttelte an der Lehne des Stuhls. "Für Sie wird woanders ein Platz frei gehalten ..."

Sophie wurde hellhörig. Aber so schnell war sie nicht zu bremsen, erst einmal blieb sie sitzen. "Wenn ich gehen muß, wird es mir der Herr Pagel schon sagen", erklärte sie kühl. "Sie machen hier doch nur die Betten, Fräulein."

"Aber ich lege mich nicht rein, ich nicht!" rief Amanda und riß an dem Stuhl, daß die Lehne knackte.

"Es wird nicht an Ihnen liegen, Fräulein. Der Herr hat vielleicht einen besseren Geschmack als sein Vorgänger."

"Das sagen Sie mir, Fräulein?" rief Amanda und trat mit schneeweißem Gesicht zurück.

Das Gefecht war jetzt auf dem Höhepunkt, die Pfeile waren verschossen, und mancher hatte getroffen. Es stand nun der Nahkampf bevor - ein Wunder war es, daß der junge Pagel von dem Kampfgetöse nicht aufgewacht war.

"Warum soll ich Ihnen das nicht sagen?" fragte Sophie trotzig, aber

doch schwächer. Denn der Ausdruck im Gesicht der Gegnerin beunruhigte sie. "Sie haben es ja selber vor allen Leuten in der Andacht gesagt!"

"Fräulein!" sagte Amanda drohend, "wenn andere nicht bis fünf zählen können, ich kann es! Und wenn die Fünf gar nicht stimmen will, so kann man sich ja nachts unter ein Fenster stellen und hört sie reden."

Jetzt war es Sophie, die weiß wurde. Ein ganze Weile stand sie, als hätte sie ein Schlag getroffen. Aber dann besann sie sich.

"Wenn man anständig ist", sagte sie in einem ganz andern Ton, "braucht man nicht alles gehört zu haben, was man hört."

"Und so eine redet von Betten und besserem Geschmack!" rief Amanda zornig. "Auf der Stelle müßte ich zu ihm gehen und es ihm erzählen". Sie besann sich. "Ich glaube, ich muß es wirklich tun". Sie sah zweifelnd die Tür zu Pagels Zimmer an.

"Warum soll er das denn wissen?" fragte Sophie vorsichtig. "Ihm geschieht doch kein Schade darum!"

Amanda sah die andere zweifelnd, unentschlossen an.

"Sie hätten einen Freund haben können", flüsterte Sophie, "ganz gleich wie ... Ich verstehe das, wenn man zu seinem Freund hält!"

"Der ist mein Freund nicht mehr", sagte Amanda abweisend. "Ich bin nicht die Freundin von einem Lumpen."

"Die andern wissen nie, wie einer richtig sein kann", erklärte ihr die Sophie. "Die sehen nur aufs Äußere. Es kann einer auch Unglück gehabt haben im Leben."

"Ich hab gehört, daß einer aus dem Zuchthaus immer schlecht ist. In das Zuchthaus kommen nur die ganz Schlechten."

"Es kann sich einer bessern wollen. Und falsche Urteile gibt es auch."

"Ist er denn falsch verurteilt, Fräulein?"

Die Sophie überlegte. "Nein", sagte sie dann zögernd.

"Das ist gut, daß Sie das gesagt haben", nickte Amanda. "Sonst hätt ich gedacht, Sie wollen mich nur beschmusen."

"Aber zu hart war das Urteil. Er ist bloß leichtsinnig, nicht schlecht."

Amanda dachte nach. Sie konnte nicht nachdenken, wie sie wollte, immer kam ihr das Bild des Hänseken dazwischen. Zu dem hatte sie auch noch gehalten, als sie schon wußte, er war nicht bloß leichtsinnig, er war auch schlecht. Aber schließlich fand sie, was sie fragen wollte. "Warum sitzt er denn immer noch da oben?" fragte sie. "Wenn er sich wirklich ändern will, muß er doch arbeiten. Er ist wohl faul?"

"Das sagen Sie nicht!" rief Sophie eilig. "Er sitzt da oben "... Sie überlegte. "Wir haben noch immer nicht das Reisegeld zusammen, und dann, er hat doch damals bei der Flucht eine Kugel gekriegt ..."

Sie sah Amanda an.

"Eine Kugel? Die Wachtmeister haben doch niemanden getroffen!"

"Das denken die! Aber er hat einen Schuß im Bein gehabt, hier im Oberschenkel. Und nun liegt er da oben, all die Wochen schon, ohne Arzt und richtigen Verband. Ich habe ihn gepflegt, aber jetzt soll ich ja Kartoffeln buddeln."

Amanda sah zweifelnd in das Gesicht der andern. "Es wird jetzt soviel geklaut hier in der Gegend", meinte sie. "Ich habe mir gedacht, das ist Ihrer, Fräulein!"

"Wo er doch immer im Bett liegen muß, Fräulein Backs, und vielleicht muß er sogar sein Lebtag hinken!" Sie dachte nach. "Mein Vater hat gesagt, es ist wieder der Bäumer, der sein Unwesen treibt."

"Ich denke, der Bäumer ist bloß ein Wilddieb?" fragte Amanda.

"Da haben Sie eine Ahnung!" rief Sophie eifrig. "Der Bäumer macht alles! Jetzt, wo er gesucht wird, und seine Verwandtschaft in Altlohe will ihn auch nicht aufnehmen, jetzt macht er alles, hat er gesagt, wo er nicht weiß, wo er bleiben soll ..."

"Woher wissen Sie denn das, Fräulein?" fragte Amanda leise. "Sie wissen ja sehr gut über den Bäumer Bescheid. Sie haben ja sogar mit ihm gesprochen!"

"Ich "..., stammelte Sophie. Aber gleich hatte sie sich wieder. "Jawohl!" flüsterte sie erregt. "Ich hab gelogen, er hat gar keinen Schuß im Bein, und er geht anschaffen, damit wir das Geld zusammenkriegen für die Fahrt! Was sollen wir denn machen, wo er gesucht wird? - Sie sind in der Andacht für Ihren aufgestanden und haben sich auch nicht geschämt. Zu seinem Freund muß man halten, grade wenn's ihm schlecht geht! Und ich glaube nie, daß Sie uns verraten werden - Sie haben ihn ja sogar gebackpfeift, weil er ein Verräter ist!"

"Ja, meinen Freund habe ich gebackpfeift, weil er ein Verräter ist", antwortete Amanda leise. "Ihr Freund ..."

Aber Sophie unterbrach sie. "Und da wollen Sie ein Verräter sein?!" rief sie.

Die beiden Mädchen sahen sich an. Sophie flüsterte eilig: "Sie müssen doch wissen, wie einer zumute ist, wenn sie einen gerne hat, und daß man sich einen Dreck darum kümmert, wenn die andern sagen, er ist ein schlechter Kerl. Zu allen ist so einer vielleicht schlecht, aber zu mir ist er

gut - und da soll grade ich ihn sitzenlassen!?! Nein, das wollen Sie nicht, und verraten wollen Sie auch nicht!"

Amanda Backs stand schweigend.

"Ich will dafür sorgen, daß er hier nichts mehr anfaßt in Neulohe und daß wir so schnell wie möglich reisen, sobald wir ein bißchen Geld haben - aber Sie verraten uns nicht, wie, Fräulein?"

"Was soll denn die Amanda nicht verraten?" fragte Wolfgang Pagel und stand zwischen den beiden Mädchen, einer roten, ziemlich erregten Amanda und einer Sophie Kowalewski, die sich für diese Visite doch wahrhaftig mit Lippenstift und Puder stadtfein gemacht hatte, so daß bei ihr von Erregung nicht viel zu merken war, obwohl auch sie bestimmt nicht ruhig war.

Sophie antwortete nicht auf seine Frage. Statt dessen sagte Amanda: "Ich will Ihnen schnell Ihren Kaffee machen, Herr Pagel."

Und sie ging aus dem Büro, ehe er noch antworten konnte.

"Was hat sie denn?" fragte Pagel verblüfft. "Haben Sie sich gezankt?"

"Keine Spur!" antwortete Sophie eilig. "Ich habe sie bloß gebeten, daß sie ein Wort für mich einlegt bei Ihnen, Herr Inspektor. Sie sollten aber nicht merken, daß es von mir ausgeht". Sie zuckte mit den Achseln, sie sah zur Tür, dann sagte sie eilig: "Herr Inspektor, mein Vater sagt, Sie verlangen, ich soll Kartoffeln buddeln. Aber das muß Vater doch falsch verstanden haben. Sehen Sie bloß meine Hände an, mit solchen Händen kann man doch nicht Kartoffeln buddeln."

Und sie streckte ihm ihre Hände hin, und diese Hände waren wunderbar manikürt und die Nägel glänzend poliert. Aber daß es freilich trotzdem einmal recht derbe Landmädchenhände gewesen waren, das hatten Maniküre und Politur nicht auslöschen können.

Pagel sah die ihm fast bittend entgegengestreckten Hände recht interessiert an, er gab ihnen sogar einen kleinen wohlwollenden Klaps und meinte: "Sehr hübsch!" Dann aber sagte er: "Also, Sophie, setzen Sie sich einmal dorthin, und nun wollen wir vernünftig miteinander reden."

Sophie Kowalewski setzte sich gehorsam ihm gegenüber, aber ihre plötzlich abweisende Miene verriet, daß sie nicht gesonnen war, auf vernünftiges Reden einzugehen.

"Sehen Sie, Sophie", sagte Pagel freundlich. "Als Sie vor ein paar Jahren von Neulohe in die Stadt gingen, da haben diese netten Hände auch ein bißchen anders ausgesehen, nicht wahr? Und sie sind doch so nett geworden! Nun werden sie wieder eine Weile nicht ganz so hübsch

aussehen, dafür aber helfen Sie Ihrem Vater ein bißchen verdienen. Was meinen Sie? Wenn Sie wieder nach Berlin gehen, dann werden die Hände schnell genug wieder blank und sauber."

Sophie Kowalewski zog ihre Hände zurück, als sehe sie dies Gesprächsthema für erledigt an. Sie sagte fast weinerlich: "Aber, Herr Inspektor, ich muß doch meine Mutter pflegen! Sie hat doch soviel Wasser in den Beinen, sie kann gar nicht mehr gehen und stehen."

"Ja, Sophie, wenn das so ist", antwortete Pagel betrübt, "dann werde ich den Doktor morgen bei Ihrer Mutter vorbeischicken. Der Doktor wird dann ja sagen, ob Ihre Mutter eine ständige Pflege braucht."

Er sah aufmerksam in das hübsche Gesicht, das jetzt vom Ärger so entstellt war, und sagte lebhafter: "Ach, Sophie, warum wollen Sie mich denn anschwindeln? Erst sagen Sie, Sie können wegen der Hände nicht arbeiten, und dann ist es wegen der kranken Mutter, und neulich auf dem Felde hat mir Ihr Vater gesagt, Sie wollten wieder in Stellung. Das ist doch alles nicht wahr! Ich will gar nicht vom Kontrakt reden, nach dem ledige, erwachsene Kinder mitarbeiten müssen, aber ist es denn anständig, daß Sie faul herumlaufen, wenn alle schuften? Ist es anständig, daß ein junges, kräftiges Mädchen ihrem alten, verbrauchten Vater noch auf der Tasche liegt -?"

"Ich liege ihm nicht auf der Tasche!" rief sie hastig, und langsamer: "Ich habe mir Geld aus Berlin mitgebracht."

"Lüge, Sophie!" sagte Pagel. "Wieder geschwindelt. Wir sind doch am selben Tag hier in Neulohe angekommen, wissen Sie das nicht mehr? Damals stand der Dollar auf soundso viel tausend Mark, und heute steht er auf soundso viel Milliarden Mark - was ist denn da noch von Ihrem Gelde da?"

Sophie machte eine Bewegung zu sprechen.

"Ja, nun erzählen Sie mir noch, daß Sie Ihren Schmuck verkaufen oder daß Sie als Stütze, oder was Sie da in Berlin waren, mit Devisen bezahlt wurden - alles gelogen! Nein, Sophie", sagte er entschlossen, "es ist ausgemacht: Entweder kommen Sie morgen zur Arbeit, oder ich setze die schwarze Minna mit all ihren Kindern in Ihres Vaters Haus hinein!"

Das Gesicht Sophies veränderte sich. Ungeduld kam hinein, Ärger, dann Zorn. Pagel sah aufmerksam in dies Gesicht, es war ein hübsches Gesicht. Aber ihm stimmte etwas darin nicht, es schien, als sitze die Hübschheit nur hauchdünn obenauf, als könne jeden Augenblick ein anderes darunter hervorkommen - das nicht gut sein konnte und nicht hübsch.

Aber diesmal bezwang sich Sophie noch, ja, sie lächelte ihn sogar an, als sie bettelte: "Ach, Herr Inspektor, lassen Sie mich doch laufen! Was kann ich denn schon für Kartoffeln buddeln?! Tun Sie mir doch die Liebe -!"

Und sie lächelte wieder, von der Seite her, daß er stutzig wurde.

"Wieviel Sie leisten werden, Sophie, das ist eine andere Sache", sagte er hölzern und kam sich vor wie ein Herr von Studmann. "Vor allem ist es das Beispiel!"

"Aber ich bin viel zu schwach für solche Arbeit", klagte sie. "Darum bin ich ja in die Stadt gegangen, weil ich zu schwächlich bin für die Landarbeit. Fühlen Sie mal, Herr Pagel, ich habe gar keine Muskeln, bei mir ist alles weich ..."

Sie war aufgestanden und war dicht vor ihm, sie streifte ihn. Sie war kleiner als er. Ein Duft ging von ihr aus - sie bewegte den Arm vor ihm, zu zeigen, daß kein Bizeps sich im Oberarm spannte. Und sie sah ihm dabei in die Augen, demütig, schelmisch, bittend.

"Muskeln müssen die haben, die auf dem Felde die Kartoffelsäcke tragen", erklärte Pagel abweisend. "Sie sollen nur sammeln, Sophie - das können ja sogar die Kinder!"

"Und meine Knie!" klagte sie. "Ich rutsche mir ja am ersten Tag schon meine Knie durch! Sehen Sie, Herr Inspektor, wie weich sie sind!"

Ihr Rock war sehr kurz, aber sie hob ihn noch. Sie streifte am Strumpfband, er sah es weiß leuchten ...

Da ging die Tür. "Machen Sie den Rock runter!" befahl er heftig.

Ihr Gesicht hatte sich verändert. Jawohl, nun war unter dem hübschen das andere Gesicht hervorgekommen - und gemein sah es aus!

"Lassen Sie mich zufrieden! Das also wollen Sie! Nein! Nein!" rief sie laut und war schon aus der Tür, an Amanda Backs vorbei.

Mit unbewegtem Gesicht stellte Amanda Backs das Kaffeegeschirr auf den Tisch. "Ihr Kaffee, Herr Pagel!"

"So ein verfluchtes Frauenzimmer!" rief Pagel, noch hastig atmend. "Amanda, ich sollte hier eben verführt werden!" Amanda sah ihn stumm an. "Oder", fuhr er nachdenklich fort, "es sollte für Sie so aussehen, als verführte ich - das wird die Absicht gewesen sein!" Er stand da, noch immer mit einem ganz überraschten, ungläubigen Lächeln. "Und alles wegen ein bißchen Kartoffelbuddeln, ich verstehe es nicht!"

"Ich würde sie laufenlassen, Herr Pagel", sagte Amanda kurz.

"Ja, ja, Amanda, ich habe schon gehört, daß Sie ein gutes Wort für

Sophie Kowalewski einlegen wollen. Aber warum eigentlich? Soll sie mit ihrer Faulheit durchkommen?"

"Ich lege kein Wort für die ein, Herr Pagel. Ich kümmere mich nicht um die. Und am besten ist es, Sie kümmern sich auch nicht um sie, Herr Pagel". Sie sah ihn wieder kurz und rasch an. Dann sagte sie: "Ihr Kaffee wird kalt" und ging aus dem Büro.

Pagel sah ihr nach. Manches schien ihm rätselhaft, aber er hatte eigentlich zuviel zu tun, um solche Rätsel zu raten. Lieber setzte er sich hinter seinen Kaffee und las endlich den Brief Herrn von Studmanns!

5

Eine Viertelstunde später ist Wolfgang Pagel auf seinem Rade unterwegs in die Forst. Er muß sich eilen, denn gegen fünf wird es dunkel, und sobald es dämmerig wird, hält den Förster Kniebusch nichts mehr im Walde. Er gibt darüber keine Aufklärung, er läßt sich auch nicht halten, sobald es nur in die Nähe der Abenddämmerung kommt, läßt der Förster Kniebusch seine Leute stehen und geht nach Haus, aus dem Walde heraus.

"Jetzt ist er ganz wunderlich geworden", sagen die einen.

"Er hat einfach Schiß im dunklen Walde", sagen die andern.

Kniebusch läßt die Leute reden, er selbst redet kaum etwas. Er hört nicht mehr zu, wenn etwas erzählt wird. Er will nichts mehr erfahren, und er selbst erzählt auch nichts mehr. Diese bei einem so alten Mann erstaunliche Veränderung, dieses völlige Aufgeben einer Schwäche, die er in einem ganzen Leben nicht überwinden konnte, datiert seit jenem ersten Oktober, da der Förster Kniebusch still, aber kriegerisch mit einer ganzen Schar von Neuloher Bauernsöhnen nach der Festung Ostade marschiert war, um die Rote Regierung in einem großen Putsch zu stürzen.

Als Pagel die Verwandlung des geschwätzigen in den stummen Förster merkte, hatte er geglaubt, daß die Kränkung über den so schmählich mißlungenen Putsch es gewesen sei, die den Förster so verbissen und stumm machte.

Der Förster zwar erzählte nichts von der militärischen Unternehmung, aber das hätte einen in dieser Ansicht nur bestärken können. In den Zeitungen hatte man auch ohne mündliche Nachricht genug gelesen, wie einige Abteilungen nicht aufgelöster Kampfverbände mit viel bewaffnetem Landvolk vor die Kasernen der Reichswehr gerückt waren

und sie aufgefordert hatten, sich dem Kampf gegen die Regierung anzuschließen.

Von der Reichswehr war kühl mit Nein geantwortet worden.

Wahrscheinlich hatte man dieses Nein auf seiten der Putschisten für eine Art von Ziererei gehalten, für die Absicht, das Gesicht zu wahren. Und man war nach kurzem Zögern, aber immer mit viel Unentschlossenheit zu etwas wie einem Angriff vorgegangen - wiederum anscheinend nur, um das Gesicht zu wahren.

Ein halbes oder auch ein Dutzend Schüsse waren gefallen - die Masse der Putschisten war regellos zurückgeflutet, und so endete in Verwirrung, Auseinanderlaufen, mit einem Dutzend Verhaftungen, leider auch mit zwei oder drei Toten, eine Unternehmung, der viele tüchtige und auch abenteuerliche Männer monatelang all ihre Kraft, ihr Denken, ihren Mut, ihre Opferwilligkeit geliehen hatten. Aber es war ein Zeichen dieser Zeit: in dieser Zeit schien alles sich aufzulösen, schon im Werden zu zerfallen, der beste Wille blieb machtlos, Opfermut schien etwas Lachhaftes - jeder für sich, aber alle gegen einen!

(Jener Windjacke aber, die ein Leutnant von einem Gastwirt entliehen und die in einem Anfall skrupulöser Bedenklichkeit sofort wieder abgeliefert worden war, damit sie nicht beschmutzt wurde, jener Windjacke geschah es nun doch, daß sie an jenem ersten Oktober beschmutzt wurde, von Erde wie von Blut ... Umsonst hatte der Vater aus einer kleinen Budike eine anständige Kneipe gemacht. Wenn aber der Leutnant die neue Windjacke nicht abgeliefert hätte, wäre dann der Wirtssohn nicht mitgegangen -?)

Nun also, so oder ähnlich war dieser Putsch verlaufen, ein schöner, strahlender Traum, an den viele Leute ihr Herz gehängt hatten - und dann war es mit ihm vorbei. Man konnte es schon verstehen, daß ein Mensch darüber verbissen und stumm wurde. Aber als dann Pagel öfter mit dem Förster Kniebusch zusammenkam, als er außer der Stummheit diesen toten und doch immer geängstigten Blick sah, den Bart, der immer schütterer zu werden schien, die ewig zitternden Hände - als er über den Putsch und den Mann ein wenig genauer nachdachte, da sagte er sich: Es ist alles falsch, es ist wieder einmal alles ganz anders.

Man kann gut eine halbe Stunde durch die Forst fahren und an nichts weiter denken als an den Förster Kniebusch. Eine gewisse sachte Beharrlichkeit im Denken war dem jungen Wolfgang Pagel nie ganz abzusprechen gewesen, und wenn die überstürzten Geschehnisse der letzten Zeit diese Eigenschaft etwas zurückgedrängt und ein fast unbedenkliches Handeln von ihm gefordert hatten, so war der

Rückschlag jetzt um so stärker, da er wieder weite Wege von einem Feld zum andern Wald auf dem Rade, immer mit sich allein, zurücklegte. Pagel fühlte sich nicht wohl, wenn er nur in der Welt mittat, er wollte auch seine Welt verstehen. Es genügte ihm nicht, zu sehen, daß der Förster Kniebusch jetzt stumm und verängstigt war, er wollte auch wissen, warum er sich so geändert hatte.

Und wenn er da so in seinen Erinnerungen kramte, so mußte ihm natürlich ein Herbsttag einfallen, an dem auf einem Waldweg ein betrunkenes Kerlchen auf ihn zugetaumelt war, und in dem Auto des betrunkenen Männleins hatte der noch sehr viel betrunkenere Förster Kniebusch gelegen. Daß dieser Lump von einem Meier die Hauptschuld an der Aufdeckung des Waffenlagers und damit am Ende des Leutnants gehabt hatte, das hatte Pagel stets gewußt, seit jenen Ohrfeigen der Amanda Backs.

Aber komisch - an den Förster Kniebusch hatte er damals noch nicht gedacht.

Da er aber jetzt wieder an ihn dachte, verstand er natürlich, daß Kniebusch der Nachrichtenträger Meiers gewesen war, der willentliche oder, wahrscheinlicher, der unwillentliche.

Und nun fällt dem jungen Pagel noch etwas anderes ein. Er sieht den verwüsteten Saal im Schloß, wo diese Orgie der Zuchthäusler stattgefunden hatte, er sieht die unter ihrem Rock heulende Mamsell - und nun steht der dicke Kriminalist im Saal und schickt jemanden, um den Förster zu holen. Der Förster aber ist nicht da.

Ja, sagt sich plötzlich Pagel, wozu schickt denn der Kriminalbeamte jemanden zum Förster, da er doch schon weiß, wo und was im Walde zu finden ist! Nur weil er den Förster sehen will. Weil er den Förster vernehmen will! Weil er auf den Förster einen Verdacht hat! - Und warum ist der Förster mitten in der Nacht nicht zu Haus? Warum macht der zahme, ängstliche Mann einen Putsch mit? Weil die Angst vor dem Putsch geringer ist als die Angst vor der Nachfrage wegen des Waffenlagers, weil er abwesend sein wollte!

Und nun sieht sich Pagel wieder mitten im Walde stehen. Die andern sind voraufgegangen, der dicke Kriminalist sagt ihm noch ein paar Worte. Dann geht er weiter und geht durchnäßt und hundemüde nach Ostade. Da wird der Förster Kniebusch grade den Frager getroffen haben, vor dem er weglaufen wollte, und was das für ein unbarmherziger Frager sein konnte, das wußte Wolfgang Pagel auch! Das wird eine schlimme Stunde für den Förster Kniebusch gewesen sein, sie hat ihm endgültig den Mund verschlossen. Vielleicht ist er nur um eines

Haares Breite davongekommen, aber er ist doch davongekommen! Er ist wieder heimgegangen. Wovor hat er denn jetzt noch Angst? Warum kann er nicht im Dämmern im Walde sein?

Pagel ist einen großen Schritt weitergekommen mit seinem Nachdenken, aber er ist noch immer nicht zufrieden mit dem Ergebnis dieses Nachdenkens, ein ungelöster Rest bleibt. Er selbst hat ja auch in den ersten Tagen nach der Nacht nicht im dunkel werdenden Wald sein können. Alle seine Nerven fingen an zu zittern, wenn nur die erste Dämmerung sank. Er setzte sich auf sein Rad und fuhr, was die Beine hergaben, ins freie Land. Aber er ist gegen dieses Gefühl, gegen diese panische Angst angegangen, immer wieder hat er sich mit dem Verstand gesagt, daß dies kein anderer Wald ist als vor dem dreißigsten September, daß die Toten nicht umgehen, sondern daß wir nur die Lebendigen zu fürchten haben. Und allmählich hat der Verstand die Angst besiegt.

Nun kann es ja sehr wohl sein, überlegt sich Pagel, daß der Förster an jenem verhängnisvollen Abend, als ihn die Nachricht von der Schnüffelkommission irgendwo im Dorf oder Walde erreichte, von seinem schlechten Gewissen getrieben, sich in den Schwarzen Grund geschlichen hat und dort auch den Leutnant fand. Und daß auch er eine panische Angst von diesem Funde mit nach Hause nahm. Jawohl, so kann es sein!

Und doch sagt ihm eine Stimme, daß es anders ist, daß der Förster vor etwas viel Greifbarerem, Tatsächlicherem Angst hat als vor einem toten Mann, der nun schon längst irgendwo eingegraben worden ist. Nein, der tote Leutnant ist es nicht, und der dicke Kriminalist ist es auch nicht. Denn der ist wohl der Mann, sofort zuzuschlagen, aber ein Opfer wochen- oder monatelang zu quälen, dazu ist er nicht der Mann.

Vorläufig ist die Aufgabe, die Pagel sich gestellt hat, unlösbar. Er kann grübeln, soviel er will. Der Gedanke an den kleinen Meier taucht einmal auf, aber den weist er sofort zurück. Den kleinen Meier wird man bestimmt in dieser Gegend nicht wiedersehen. Der kleine Meier wird es nie wagen, sich wieder an den Förster heranzumachen. So schlapp der alte Mann ist, gegen diesen Peiniger würde er sich doch wohl zur Wehr setzen.

Wenn also das Grübeln und Nachdenken Pagels fast ergebnislos verlaufen ist, so hat es ihn doch in seinem Vorhaben bestärkt, besonders nett gegen den alten Mann zu sein. Er mag ja gewiß kein Muster noch Vorbild sein, aber zu sehr sollte sich ein so alter Mann doch auch nicht quälen müssen, die letzte Erdenzeit, ehe er in die Grube fährt. Man

könnte es ja wirklich einmal versuchen, dahinterzukommen, wovor sich der Förster eigentlich ängstigt, vor etwas Faßbarem, das man ihm vielleicht ausreden kann, oder vor etwas Unfaßlichem, das in ihm selber sitzt.

Nun kommt Pagel an bei dem Jagen, in dem jetzt der Förster mit seinen beiden Regimentern arbeitet. Es ist natürlich noch nicht Schlagzeit, die großen, alten Buchen, die hier stehen, haben kaum erst ihr Laub verloren. Sie haben noch zuviel Saft, um geschlagen zu werden. Aber der Förster geht mit seinen beiden Vorarbeitern, die später das Regiment über die Holzfäller führen werden und die darum Regimenter heißen, von morgens bis abends durch den Wald. Er bezeichnet den Baum, der geschlagen werden soll: Die Axt des Regimenters blitzt auf, ein breiter Streif der silbergrauen Buchenrinde fliegt zu Boden, gelblich, mit rasch rötlich werdenden Wundrändern leuchtet das weiße Holz. So, nun richte dich ein für den Winter, den Frühling wirst du nicht mehr erleben, die Holzarbeiter werden dich an deinem Mal schon erkennen.

Es ist eigentlich eine sehr epische Tätigkeit, die der alte Förster Kniebusch da als Stellvertreter des Schnitters, der heißt Tod, ausübt. Leben und Tod verteilt er, und daß der Tod den Gezeichneten nicht gleich ereilt, daß ihm noch eine gewisse Gnadenfrist eingeräumt ist, ihm, der von dem Urteil, das eben gesprochen wurde, nichts weiß - das macht diese Tätigkeit fast ein wenig unheimlich. Aber wenn Pagel den Förster da so zwischen den Stämmen herumlaufen sieht, brummelnd und hohl hustend, eigentlich nur noch ein Männchen, zusammengeschnurrt und zusammengetrocknet von Alter, Sorgen und einer nie überwundenen Lebensangst - wenn er ihn mit einem knochigen Zeigefinger, der schon zittert, auf den Stamm deuten sieht - dann wird das Epische grotesk. Denn dieser Schnitter Tod ist sichtbar schon selber vom Tode gezeichnet, übt seine Statthalterschaft nur in einer ungewissen Gnadenfrist, und er, er weiß dies vielleicht sogar! Die Regimenter gehen von Stamm zu Stamm, der zitternde Finger deutet, die Axt klingt silbern hell, und sie gehen weiter, langsam weiter, hinter sich die weißlichrötlich leuchtenden Wundmale.

Pagel sagt dem Förster Kniebusch ein höfliches "Guten Tag", der Förster wirft von der Seite einen musternden Blick aus seinen kugligen Seehundsaugen auf den jungen Mann. Er brummelt etwas zur Antwort, dann geht er weiter und deutet weiter. Neben ihm her geht jetzt wortlos der junge Pagel, er hat die Hände in den Taschen und raucht eine Zigarette. Er geht so recht bequem, damit in dem alten Mann nicht das Gefühl aufkommt, er werde beaufsichtigt. Aber Pagel muß doch merken, wie selten die Äxte der Regimenter heute etwas zu tun bekommen, wie

selten der Finger deutet - und es ist doch fast alles schlagbares, ja, fast überständiges Holz! An den andern Tagen, da ging es ganz anders zu!

Nach einer Weile fragt Pagel darum doch: "Sie zeichnen heute mächtig wenig an, Herr Kniebusch?"

Der Förster wendet das Gesicht zur Seite, er brummt etwas, aber er antwortet nicht. Dann macht er doch ein Zugeständnis, er weist mit dem Finger auf einen Stamm. Aber als sich die Axt des Regimenters schon hebt, ruft er eilig: "Nein! Lieber nicht!"

Doch die Axt wird trotzdem nicht wieder gesenkt, sie schlägt zu, und der Stamm ist gezeichnet.

"Der Stamm fängt ja schon an, hohl zu werden, Herr Förster", ruft der Regimenter.

Der Förster murmelt etwas wie eine Verwünschung, er wirft einen zornigen Blick auf Pagel. Dann geht er langsam weiter, den Kopf gesenkt, ohne sich um die Stämme zu kümmern, als habe er seine Arbeit vergessen.

"Sie haben nur zu tun, was der Förster Ihnen sagt", ruft Pagel dem Regimenter zu.

"Herr Pagel", antwortet der Mann in gar keinem schlimmen Ton, "es ist doch die reine Unvernunft, was wir heute hier machen. Die Tage vorher, heute vormittag noch, hat er uns anzeichnen lassen noch und noch, aber seit heute mittag, wie abgerissen! Krankes Holz, überständiges Holz, Anbruch, wir zeigen es ihm, er schüttelt den Kopf und geht weiter. Das ist doch Kinderei, was er jetzt macht; für so was läuft man doch nicht im Walde herum und bekommt sechzig Milliarden Tagelohn ..."

"Ach, red doch nicht lange, Karl!" meint der andere Regimenter. "Der Herr Pagel weiß doch auch, was mit dem Ollen los ist. Zu seinem Vergnügen kommt er doch nicht alle Tage in den Wald geradelt! Der Olle spinnt ja, und seit heute mittag ist er ganz verrückt geworden ..."

"Halten Sie 's Maul, Mensch!" schreit Pagel.

Der Förster hat zwei Schritt von den dreien gestanden und muß jedes Wort verstanden haben. Er hält den Kopf gesenkt, es ist ihm nicht anzumerken, ob ihn die rohen Worte verletzt haben. Alle drei sehen zu ihm hin, und wie von diesem Blick aufmerksam gemacht, hebt er den Kopf, sagt: "Feierabend!" und geht rasch, den Flintenriemen mit der einen Hand haltend, aus dem Bestand heraus der Schneise zu.

"Es ist kaum halb vier", sagt der vernünftige Regimenter, nach seiner Uhr greifend, "und bis drei Viertel fünf kann man noch die Hand vor Augen sehen. Es ist doch eine Unvernunft, Herr Pagel, daß er uns jetzt

schon nach Hause schickt!"

"Ach, red doch nicht, Karl!" sagt der andere wieder, der lieber selbst redet. "Er wird schon wissen, warum er im dunkeln Wald Angst hat. Die Leute sagen ja, der Tote aus dem Schwarzen Grund geht um, und wer von dem gesucht wird, der weiß das auch und macht, daß er vor Dunkelwerden aus dem Walde kommt."

Pagel bezwingt den aufsteigenden Zorn, er sieht den Regimenter scharf an und sagt: "Hören Sie, mein Lieber, der Förster ist Ihr Vorgesetzter, und was er Ihnen sagt, das tun Sie, verstanden?"

"Wenn einer verrückt ist, dann denke ich gar nicht daran, zu tun, was er mir sagt", antwortet der Mann. "Und der Förster ist verrückt, und das sage ich ihm so lange, bis er aus dem Walde abhaut."

"Hören Sie "..., sagt Pagel heftiger.

Aber der Regimenter unterbricht ihn. "Daß der ein schlechtes Gewissen hat", erklärt er, "das sieht man doch. Den Revolver von dem Toten hat keiner gefunden, und viele sagen, es war überhaupt ein Büchsenschuß ..."

"So!" ruft Pagel heftig. "So, Sie Waschweib!" Und mit plötzlich ausbrechendem Zorn: "Gott, Mann, schämen Sie sich denn gar nicht, solch dummes Gewäsch nachzuerzählen!?! Das ist ein alter anständiger Mann, dem macht man das Leben nicht noch schwerer, als es schon so ist!"

"Da haben Sie recht, Herr Pagel", sagt der andere Regimenter. "Ich sage auch immer ..."

"Red nicht, Karl", unterbricht ihn der andere wieder. "Das weiß man ja, Beamter hält zu Beamten. Aber ich rede, wenn was stinkt, und bei dem Förster stinkt was ..."

"Sie sind entlassen!" ruft Pagel heftig. "Sie sind auf der Stelle fristlos entlassen! Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit, die Wohnung zu räumen. Guten Abend."

Damit macht er kehrt und geht durch das raschelnde Blaubeerkraut zu seinem Rade. Er hat kein gutes Gefühl in der Brust - aber was soll man tun? Der arme Kerl kann auch nichts dafür, daß er roh und dumm ist. Aber der Förster kann auch nichts dafür, daß er verbraucht und krank ist. Der junge Regimenter findet jetzt zur Schlagzeit überall Arbeit, der alte Förster kaum je wieder im Leben.

Er tritt kräftig auf die Pedale und versucht, einen Augenblick an den Brief seiner Mutter zu denken. Es ist kaum ein paar Stunden her, daß er fast glücklich war! Aber der Brief bleibt trotz aller Bemühungen etwas

sehr Fernes, wie ein kleines Licht, das man in der Nacht durch viele Waldbäume sieht und das man doch nicht erreicht, weil sich immer wieder nächtiges Gebüsch und dunkles Gezweige dazwischenschieben und den kleinen, strahlenden Punkt auslöschen.

Nach einer Weile erreicht er den Förster, der mit gesenktem Kopf seinen Weg entlangzottelt, genau wie ein Hund, der den Herrn verloren hat. Er hebt auch nicht den Kopf, als der junge Mann neben ihm vom Rade springt, er zottelt weiter, als sei er ganz allein.

Eine kurze Zeit gehen sie schweigend nebeneinanderher, dann sagt Pagel: "Den Schmidt hab ich eben entlassen, Herr Kniebusch. Er kommt morgen schon nicht mehr zur Arbeit."

Der Förster schweigt lange. Dann seufzt er und sagt: "Das hilft auch nichts, Herr Pagel."

"Warum hilft das nichts, Herr Kniebusch? Ein Stänkerer weniger ist auch eine Sorge weniger."

"Ach", sagt der alte Mann. "Für jede Sorge, die weggeht, kommen zehn neue dazu."

"Und welche sind heute dazugekommen?" fragt Pagel. "Hängt es damit zusammen, daß Sie kein Holz mehr anzeichnen?"

Aber das war für den veränderten Kniebusch zu aufdringlich gefragt, er kniff die Lippen zusammen und antwortete nicht.

Nach einer Weile fing Pagel wieder an: "Ich habe mir gedacht, Herr Kniebusch, ich rufe heute abend den Doktor an und spreche mit ihm. Und morgen gehen Sie zu ihm und werden krank geschrieben und ruhen sich richtig einmal aus. Dafür stehe ich Ihnen. Sie wissen doch, sechsundzwanzig Wochen haben Sie Anrecht auf Krankengeld."

"Ach, wer soll denn von dem Krankengeld leben?" sagte der alte Mann mutlos, aber doch nicht mehr völlig verzweifelt.

"Sie haben doch Ihr Deputat, Kniebusch. Das würden wir Ihnen weiter geben. Verhungern würden wir Sie schon nicht lassen."

"Und wer soll meine Arbeit im Walde tun?" ruft der Förster.

"Kein Holz kann ich auch anzeichnen, Herr Kniebusch", meint Pagel freundlich. "Und Ihre paar Holzarbeiter kann ich gut eine Weile auf dem Hofe beschäftigen."

"Damit wird der Herr Geheimrat nie im Leben einverstanden sein!" ruft wieder der Förster.

"Ach, der Geheimrat!" sagt Pagel wegwerfend, um dem Förster begreiflich zu machen, wie wenig man auf den Geheimrat geben kann.

"Der hat jetzt seit einem Monat nichts von sich hören lassen, da muß er es sich auch gefallen lassen, daß wir hier seine Geschäfte so erledigen, wie wir es für richtig halten."

"Aber er hat von sich hören lassen", widerspricht der Förster leise. "Er hat mir einen Brief geschrieben."

"Ach nee!" ruft Pagel verblüfft. "Nun auf einmal! Und was will der Herr Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow? Will er vielleicht sogar zurückkommen und nach seiner Enkelin suchen helfen?"

Aber der Förster Kniebusch reagiert nicht auf diesen Spott. Auch das Fräulein Violet interessiert ihn nicht mehr, sosehr er früher einmal Wert darauf legte, mit ihr auf guten Fuß zu kommen. Er interessiert sich nur noch für sich allein. Darum antwortet er auch nicht auf Pagels Frage, sondern sagt nach einer langen Weile nachdenklich: "Glauben Sie denn wirklich, daß der Arzt mich krank schreiben würde?"

"Natürlich! Sie sind doch krank, Kniebusch!"

"Und Sie würden mir mein Deputat trotz des Krankengeldes weiter geben? Das ist aber verboten, Herr Pagel!"

"Solange ich hier bin, kriegen Sie Ihr Deputat weiter, Herr Kniebusch."

"Dann gehe ich morgen zum Arzt und lasse mich krank schreiben", erklärte der Förster, und seine Stimme hatte einen ganz andern Klang.

Pagel wartete geduldig, aber es kam nichts weiter. Der Förster ging schweigend neben ihm her, wahrscheinlich in hoffnungsvollen Gedanken verloren an ein ruhiges Leben ohne Sorgen, Ärger, Angst.

"Und was hat nun der Herr Geheimrat geschrieben?" fragte Pagel schließlich.

Der Förster fuhr hoch aus seinen Träumen. "Wenn ich krank bin, brauche ich auch nicht zu tun, was er mir schreibt", sagte er abweisend.

"Vielleicht könnte ich tun, was er getan haben will", schlug Pagel friedlich vor.

Der Förster sah Pagel verblüfft an, und dann fing wirklich und wahrhaftig ein dünnes Lächeln über sein Gesicht zu kriechen an. Es sah nicht hübsch aus, eher so, als lächele ein Toter. Aber ein Lächeln sollte es sein. - "Sie wären's imstande "..., sagte er, noch lächelnd.

"Was imstande -?"

Das Lächeln verging. Der Förster wurde wieder mürrisch. "Ach, Sie erzählen es ja doch nur weiter", sagte er abweisend.

"Ich halte den Mund, das wissen Sie doch, Herr Kniebusch."

"Aber der gnädigen Frau würden Sie es sagen!"

"Die gnädige Frau ist augenblicklich nicht in der Stimmung, irgend etwas zu hören. Außerdem verspreche ich Ihnen, auch ihr nichts zu sagen."

Der Förster dachte eine Weile nach. "Ich will es doch lieber nicht tun", sagte er dann. "Je weniger man sagt, um so besser ist es, das habe ich nun endlich gelernt."

"Das haben Sie in Ostade von dem dicken Kriminalbeamten gelernt, nicht wahr?" fragte Pagel.

Und bedauerte sofort, daß er es gesagt hatte. Es war roher gewesen als das, was der grobe Regimenter gespottet hatte. Der alte Mann wurde schneeweiß, er legte seine zitternde Hand auf Pagels Schulter und brachte sein Gesicht nahe an das von Pagel. "Das wissen Sie?" fragte er zitternd. "Woher wissen Sie das? Hat er es Ihnen gesagt?"

Pagel ließ sein Rad fallen und hielt den Förster fest in seinem Arm. "Ich hätte das nicht sagen sollen, Herr Kniebusch", sagte er betrübt. "Sehen Sie, auch mir läuft der Mund einmal weg. Nein, Sie brauchen keine Angst zu haben: Ich habe nichts gewußt, und keiner hat mir was gesagt. Ich habe es mir nur ausgedacht, weil Sie so verändert waren, seit Sie aus Ostade kamen."

"Ist das wirklich wahr?" flüsterte der Förster, noch immer krampfhaft zitternd. "Er hat es Ihnen nicht gesagt?"

"Nein", sagte Pagel, "auf mein Ehrenwort nicht!"

"Aber wenn Sie es sich gedacht haben, kann es sich auch ein anderer denken", rief Kniebusch verzweifelt. "Alle werden auf mich zeigen, daß ich ein Landesverräter bin, daß ich mich an die Franzosen verkauft habe ..."

"Und das haben Sie nicht getan, Kniebusch?" fragte Pagel ernst. "Der kleine Meier ..."

"Der kleine Meier hat mich besoffen gemacht und hat mich ausgehorcht!" rief der andere. "Er wußte ja, ich war schwatzhaft wie ein altes Weib. Das hat er ausgenützt. Sie müssen's mir glauben, Herr Pagel; der Dicke hat es mir schließlich auch geglaubt. ›Lauf heim, du alter Trottel‹, hat er schließlich gesagt. ›Und mach deinen Mund nie wieder im Leben auf!‹"

"Das hat er gesagt?" fragte Pagel. "Aber dann brauchen Sie ja keine Angst mehr zu haben, Kniebusch!"

"Oh, er war schrecklich!" rief der alte Mann zitternd aus. Sich nun doch noch einmal die Bergeslast von der Seele reden zu können versetzte ihn fast in einen Rausch. "Hätte er mich gleich niedergeknallt, er wäre

barmherziger gewesen! ›Der Staub von dem Manne, den Sie totgeschwätzt haben, muß Ihnen ja zwischen den Zähnen knirschen, wenn Sie das Maul bewegen!‹ hat er gesagt."

"Still! Still!" sagte Pagel und legte die Hand sanft über den Mund des andern. "Das ist ein unbarmherziger Mann, und auch ein ungerechter. Andere sind schuldiger an dem Toten als Sie. - Kommen Sie, Kniebusch, ich schmeiße hier mein Rad ins Blaubeerkraut, ich hole es mir morgen früh. Ich bringe Sie nach Haus und ins Bett. Und dann rufe ich gleich den Arzt an, und er kommt heute abend noch zu Ihnen heraus, und Sie haben Ruhe ..."

Der Mann ging wie ein Schwerkranker an seinem Arm. Nun er einen Menschen gefunden hatte, dem er vertrauen konnte, wich der letzte Rest von Widerstand aus ihm. Was ihn noch aufrecht gehalten hatte, das war seine Vereinsamung gewesen. Willenlos ließ er sich jetzt in Schwäche und Krankheit hineingleiten, in der Gewißheit, daß ein Stärkerer für ihn sorgte.

Hemmungslos schwatzte er alles durcheinander, von der Angst, daß die Leute seine Schande erfahren könnten; von der Angst vor dem entwichenen Wilddieb Bäumer, von dem er Spuren im Walde gefunden zu haben meinte; von der Angst, daß doch noch alles herauskommen könnte, wenn das Fräulein Violet oder der Diener Räder gefunden würde; von der Angst, ob der Schulze Haase auch die Zinsen weiterzahlen würde, nun der Leutnant tot war; von der Angst vor dem Wiederauftauchen des kleinen Meier; von der Angst vor dem Geheimrat, der ihn von heute auf morgen aus der Försterei heraussetzen würde, wenn er erfuhr, sein Förster tat nicht, was im Briefe stand ...

Angst, Angst ... Das ganze Leben dieses Mannes war Angst gewesen. So viel konnte man sich also um das bißchen Leben, das keine starke Freude, keinen großen Gedanken gekannt hatte, ängstigen. Und nun es zur Neige ging, da es ganz schal und glücklos geworden war, wurde es noch schlimmer mit der Angst. Von allen Seiten drang sie auf ihn ein, nicht der Lebenwille hielt ihn noch am Leben, nein, die Lebensangst.

Schnell gab es Wolfgang Pagel auf, dem alten Mann begütigend, tröstend zuzureden, er wollte ja keinen Trost. Er saß mitten in seinen Ängsten, und sie kamen wie Wellen von allen Seiten und hoben ihn hoch, und wenn sie ihn fast ertränkt hatten -:

"Ja, Herr Pagel, ich lese es ja jetzt Tag für Tag in der Zeitung von den Selbstmorden. Und daß jetzt so viele alte Leute dabei sind, Siebzig- und Achtzigjährige. Aber ich kann es doch nicht, ich kann doch nicht einmal das, ich hab doch die kranke Frau, und immer habe ich die Angst: Was

wird mit der, wenn ich vor ihr sterbe?! Da ist doch keiner, der sich um sie kümmert, die lassen sie doch einfach eingehen wie ein Tier. Darum ist mir so angst ..."

"Ach, reden Sie doch nicht, Kniebusch", sagte Pagel müde. "Jetzt legen Sie sich hier in Ihr Bett, und heute abend noch kommt der Doktor, und wenn Sie erst einmal geschlafen haben, so sieht auch alles anders aus. Und jetzt, während Sie sich ausziehen, geben Sie mir den Brief vom Geheimrat zum Durchlesen."

Der alte Förster Kniebusch klabasterte ein wenig brummend, ein wenig klagend an seinen Kleidern. Pagel stand unter der niederkerzigen Lampe und überflog den Brief, den der Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow seinem Förster geschrieben hatte. Am Fenster in einem großen Stuhl saß die Frau Försterin, von der die Leute im Dorfe sagten, sie würde immer wunderlicher. Die dicke, unförmige Frau hatte den Kopf abgewandt und sah bewegungslos in die Nacht hinaus. Auf den Knien lag ihr ein Buch, mit einem goldenen Kreuz auf dem Deckel, wohl ein Gesangbuch.

"Wer bringt denn Ihre Frau ins Bett?" fragte Pagel und unterbrach seine Lektüre.

"Ach, heute geht sie wohl nicht mehr ins Bett", antwortete der Förster. "Manchmal sitzt sie so alle Nächte und singt. Aber wenn sie ins Bett will - sie kommt schon mit sich allein zurecht."

Der junge Mann warf einen raschen, prüfenden Blick auf die Försterin, die unverwandt in die Nacht hinaussah, und las weiter. Der Förster kroch in sein Hemd und dann in sein Bett, und nun lag er still da, mit geschlossenen Augen, und sein Kopf, mit dem von Sonne und Wind rotgegerbten Gesicht, mit dem weißgelblichen Bart, lag seltsam bunt auf den weißen Kissen.

Grade aber, als der junge Pagel bei der Briefstelle war, die dem Förster aufgab, jedem vom Neuloher Gut, auch der Familie seines Schwiegersohnes, und ebenso von der Gutsverwaltung Neulohe, auch diesem jungen Schnösel, dem Pagel, das Betreten der geheimrätlichen Waldungen ein für allemal zu verbieten, grade, als der junge Wolfgang Pagel so weit in der Lektüre dieses Brand-, Fehde- und Absagebriefes war, da fing die alte Frau an zu singen.

Sie hatte einen Finger in das Gesangbuch geschoben, aber sie sah nicht hinein. Sie sah weiter in die Nacht hinaus, und mit einer schrillen, brüchigen Stimme sang sie leise vor sich hin das alte Lied: "Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und

Bahn, der wird auch Wege finden, die dein Fuß gehen kann."

Pagel schielte nach dem Förster hin, aber der alte Mann rührte sich nicht. Still lag der Kopf auf den Kissen.

"Ich gehe jetzt, Herr Kniebusch", sagte er. "Hier haben Sie den Brief wieder. Danke schön, und wie gesagt, ich werde schweigen."

"Schließen Sie die Tür von außen zu", antwortete der Förster. "Der Schlüssel steckt im Schloß. Ich habe noch einen, wenn der Doktor kommt. Ich höre ihn schon kommen, ich schlafe nicht."

"Das Singen stört Sie wohl?" fragte Pagel.

"Das Singen? Welches Singen -? Ach, das von meiner Frau? Nein, das stört mich nicht, das hör ich gar nicht. Ich denke immerzu nach. - Wenn Sie rausgehen, schalten Sie bitte das Licht aus, wir brauchen kein Licht."

"Worüber denken Sie denn nach, Herr Kniebusch?" fragte Pagel und sah auf den Förster, der regungslos, die Augen geschlossen, im Bett lag.

"Ach, ich hab mir so was ausgedacht", sagte der Förster ganz behaglich. "Ich denke mir so, wenn ich irgendwas in meinem Leben nicht getan hätte oder irgendwen nicht getroffen hätte - wie dann wohl alles gekommen wäre? Aber es ist eine schwierige Sache ..."

"Ja, schwierig ist das wohl ..."

"Ich denk mir zum Beispiel, wenn der Lump, der Bäumer, mich im Hohlweg nicht über den Haufen geradelt hätte, wie dann alles gekommen wäre? Es hätte doch ganz leicht so sein können, nicht wahr, Herr Pagel, ich hätte nur ein bißchen schneller zugehen müssen. Es war ja bloß im Hohlweg so dunkel, wäre ich schon aus dem Hohlweg heraus gewesen, hätte er mich von weitem kommen sehen und wäre mir ausgewichen."

"Und was wäre dann anders gekommen, Herr Kniebusch?"

"Aber alles, einfach alles!" rief der Förster. "Dann, wenn mich der Bäumer nicht umgeradelt hätte, dann hätte ich seinetwegen keinen Termin in Frankfurt gehabt. Und hätte ich keinen Termin in Frankfurt gehabt, dann hätte ich den Meier nicht getroffen. Und hätte ich den Meier nicht wiedergetroffen, dann hätte er das Waffenlager nicht verraten ..."

Pagel legte nachdrücklich seine Hände über die trocknen, knochigen, altersfleckigen des Försters.

"Ich würde mir etwas anderes zum Nachdenken aussuchen, Herr Kniebusch", schlug er vor. "Ich würde mir ausdenken, wie's ist, wenn Sie nun pensioniert werden und Sie haben Ihre Rente von der

Angestelltenversicherung. Denn vielleicht kommt nun wirklich eine andere Zeit mit dem Geld, der Geheimrat schreibt ja auch in seinem Brief davon, Sie haben's wohl gelesen. Und ich würde mir nun ausdenken, wie ich mir mein Leben einrichten würde; irgendeine Liebhaberei werden Sie wohl auch haben ..."

"Bienen "..., sagte der Förster mit leiser Stimme.

"Na also, schön, Bienen sollen ja eine großartige Sache sein, über Bienen soll man ganze Bücher schreiben können. Wenn Sie's mit so was mal versuchten -?"

"Das ginge auch", meinte der Förster. Dann aber schlug er zum erstenmal die Augen voll auf und sagte: "Aber Sie verstehen ja noch nicht, warum ich das andere tue, Herr Pagel. Denn wenn es nur daran gelegen hat, daß mich der Bäumer umgeradelt hat, und ich kann hundert solche Sachen in meinem Leben finden, dann bin ich doch auch nicht an dem andern schuld. Dann muß ich mir doch auch keine Gewissensbisse machen, nicht wahr?"

Pagel sah nachdenklich auf den alten Mann, der nun wieder still mit geschlossenen Augen lag. In ihrem Fensterwinkel, das Gesicht in die Nacht hinaus, die alte Frau sang weiter mit schriller, leiser Stimme Kirchenlied um Kirchenlied, als sei sie ganz allein.

"Also ruhen Sie sich ein bißchen aus, bis der Doktor kommt", sagte Pagel dann plötzlich. "Ich rufe ihn nun gleich an."

"Aber warum antworten Sie mir denn nicht, Herr Pagel?" rief der alte Mann kläglich, richtete sich halb auf im Bett und starrte ihn mit den kugeligen, hellen Augen an. "Ist es denn nicht so, wie ich sage? Wenn der Bäumer mich nicht umgeradelt hätte, wäre doch alles anders gekommen!"

"Sie haben Gewissensbisse und wollen sich selbst freisprechen, nicht wahr, Herr Kniebusch?" fragte Pagel nachdenklich. "Aber ein Freispruch gilt nur, wenn man sich ganz unschuldig fühlt. Ich würde es doch lieber mal mit den Bienen versuchen. - Gute Nacht."

Und damit ging Pagel rasch aus dem Zimmer, er löschte das Licht, schloß die Außentür ab, und nun stand er draußen. Es war schon recht dunkel, aber vielleicht traf er doch noch die Leute bei den Kartoffelmieten.

6

Der Mietenplatz lag etwa fünf Minuten vom Gutshof entfernt, an einer

Stelle, wo drei Feldwege zusammenliefen, an zwei Seiten begrenzt vom Walde. Diese Lage, die für die Anfuhr bequem war und die zugleich durch den Wald die Mieten vor den eisigen Ost- und Nordwinden schützte, war aus früheren Jahren beibehalten worden. Aber schon jetzt, Ausgang des Herbstes, erwies sie sich als gefährlich. Die Abgelegenheit des Ortes erlaubte den Kartoffeldieben ungesehene Annäherung, die Nähe des Waldes leichteste Flucht.

Pagel hatte ständig Ärger mit diesen Mieten. Alle Morgen war hier oder dort ein Loch in die Erddecke gebuddelt, die auf den Kartoffeln als Schutz vor dem Winterfrost lag. Schon jetzt lagerten über zehntausend Zentner hier - der Diebstahl von drei oder fünf Zentnern fiel lange nicht so ins Gewicht wie die Arbeit, die das Verschließen der offenen Stellen machte, wie die Gefahr, in die eine Miete von fünfhundert Zentnern kam, wegen eines solchen Loches zu erfrieren. Hundertmal hatte Pagel sich schon geärgert, daß seine Unbedachtsamkeit ihn dem Vorschlag der Leute hatte zustimmen lassen, die Kartoffelmieten auf dem altgewohnten Platz anzulegen. Ein erfahrener Beamter hätte all die Schwierigkeiten, die sich in diesem Jahre aus der Lebensmittelknappheit ergaben, vorausgesehen. Pagel war überzeugt, daß ganz Altlohe bei ihm zur Kartoffelernte angetreten wäre, wenn die Mieten direkt beim Hof unter ständiger Aufsicht gelegen hätten. Aber so war es ja viel einfacher, sich nachts ohne Risiko das zu holen, was man sonst erst in vielen Tagen harter, eisiger Arbeit erworben hätte. Und man konnte es den Leuten nicht einmal übelnehmen: Ihnen fehlte das Nötigste, sie litten oft Hunger, sie nahmen eine Kleinigkeit vom Überfluß - wem konnte das weh tun -?!

Sorgenvoll, nachdenklich strich Pagel in der wachsenden Dunkelheit zwischen den langen, fast mannshohen Dämmen der Mieten herum. Die Leute waren natürlich schon fort und die Diebe noch nicht da: Er hatte sich wieder einmal einen Weg umsonst gemacht.

Doch nicht ganz umsonst: Denn nun stieß er mit dem Fuß gegen eine vergessene Schaufel, der ein nasser Nachtaufenthalt auch nicht grade guttun würde. Er sammelte sie auf, um sie in die Gerätekammer mitzunehmen. Aber einen Augenblick später stieß er auf zwei steckengebliebene Spaten. Auch sie nahm er mit. Doch gleich fand er zwei Forken, wieder Schaufeln - es war unmöglich, er konnte das nicht allein auf den Hof schleppen!

Entmutigt setzte er sich auf einen Strohballen, plötzlich völlig, grenzenlos entmutigt. Es ist oft so, daß ein Mensch viele harte Dinge eine lange Zeit hindurch mutig erträgt, plötzlich wirft ihn dann eine

Kleinigkeit um. Pagel hatte mit unveränderter Freundlichkeit viel Schwereres in den letzten Wochen ertragen, aber der Gedanke, daß er vom Morgengrauen bis in die Nacht hinein herumlief, tätig war und daß doch Nachlässigkeit, Liederlichkeit, Faulheit zunahmen, der Gedanke, daß fünfzehn Schaufeln, Spaten und Forken in dieser Nacht Rost ansetzen würden, warf ihn um.

Er saß auf seinem Strohballen, den Kopf in die Hand gestützt, es wurde immer dunkler. Hinter ihm der Wald rauschte geheimnisvoll, es tropfte ständig von den Bäumen. Ein wenig fror er. Wäre er nur etwas frischer, aktiver, unternehmungslustiger gewesen, er ging jetzt auf den Hof, pfiff die Verantwortlichen an und jagte sie auf den Mietenplatz hinaus, ihr Gerät allein heimzuholen. Aber er hatte heute nicht mehr die geringste Kraft, jemanden anzupfeifen, bei dem Gedanken, mürrische und gehässige Widerworte anhören zu müssen, hätte er weinen können: Er fühlte sich ausgepumpt, leer. Er saß ganz still da, eine Weile war nichts wie eine graue, weite Öde in ihm, er hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich eine Zigarette anzuzünden.

So saß er lange still. Dann fingen die Gedanken an, wieder in seinem Hirn zu kriechen, aber es waren keine guten Gedanken, es waren Sorgen. Er dachte an den Brief des Geheimrats, den er eben gelesen hatte - das ist der Anfang vom Ende, dachte er. Nein, es ist das Ende, ganz und gar.

Der Geheimrat, der vor den Nöten der Tochter geflohen war, hatte sich jetzt auf sich selbst besonnen. Er selbst, das war sein Geld; er hatte sich an die noch nicht bezahlte Pacht erinnert, er wollte sein Geld. Aber da er sicher war, sein Geld nicht zu bekommen, wollte er den Pächter loswerden. Nicht nur verbot er allen, die zu seinem Schwiegersohn gehörten, die für seine Tochter arbeiteten, das Betreten der Forst, nicht nur verbot er den Fuhrwerken der Gutsverwaltung die Benutzung der Wege durch die Forst, wodurch stundenlange Umwege zu den Außenschlägen notwendig wurden, nein, er gab dem Förster auch den Auftrag, ein wachsames Auge auf die Verkäufe der Gutsverwaltung zu haben. Wurde Korn, wurden Kartoffeln, wurde Vieh abgeliefert - der Förster sollte es sofort telefonisch dem Anwalt des alten Herrn melden, der dann die eingehenden Gelder sofort beschlagnahmen würde.

Jetzt zeigte es sich: Vom kaufmännischen Standpunkt aus hatte Herr von Studmann recht gehabt, als er darauf bestanden hatte, dem alten Elias am zweiten Oktober den Pachtbetrag nach Berlin mitzugeben - der alte Herr hätte dann Ruhe halten müssen!

"In meiner jetzigen Lage sollte mir mein Vater Schwierigkeiten

machen?!" hatte Frau Eva gerufen. "Nein, Herr von Studmann. Die Pacht hat Zeit - aber einen Wagen brauche ich sofort, brauche ich immerzu. Nein, ich bezahle das Auto."

Zwischen dem fernen Vater und dem nahen Chauffeur Finger, der die Rechnung über den Wagen vorgelegt hatte, mit der Drohung, sofort nach Frankfurt zurückzukehren, würde sie nicht beglichen, hatte sich Frau Eva von Prackwitz für den Wagen entschieden.

"Wir könnten es vielleicht mit einem Mietswagen versuchen?" hatte Herr von Studmann vorgeschlagen.

"Der immer dann nicht frei ist, wenn ich ihn brauche", hatte die gnädige Frau gereizt geantwortet. "Nein, Herr von Studmann, Sie sind ein sehr besorgter, sehr gründlicher Kaufmann - aber Sie vergessen immer wieder, daß ich meine Tochter suchen muß ..."

Herr von Studmann war blaß geworden, er hatte sich auf die Lippe gebissen - er hatte auch kein Wort mehr davon gesagt, was er von diesen Suchfahrten durch das Land dachte. Er hatte sich gefügt.

"Wie gnädige Frau wünschen", hatte er gesagt. "Ich leiste also die vereinbarte Anzahlung. Der Rest des Geldes reicht noch für reichlich Dreiviertel der Pacht ..."

"Sie sollen mir nicht mehr von dieser Pacht reden! Ich habe Ihnen doch gesagt, daß mein Vater ... in meiner jetzigen Lage ... Verstehen Sie denn nicht?" hatte Frau von Prackwitz fast geschrien. Oh, sie war so unbeherrscht in diesen Tagen, so wahnsinnig gereizt! Pagel war auch schon ein paarmal angeschrien worden, weil er nicht sofort alles stehen- und liegengelassen hatte, wenn sie ihn rief. Aber so feindselig wie zu Herrn von Studmann war sie zu ihm nicht gewesen. Es schien unerklärlich - hatte sie nicht einmal fast eine Schwäche für Herrn von Studmann gehabt -? Aber vielleicht war sie gerade wegen dieser Schwäche so feindselig zu ihm? Jetzt war sie nur noch Mutter - und eine Mutter, die wegen ihrer eigenen Liebesgeschichten die Tochter vernachlässigt, ist doch verächtlich, wie?

Ruhiger sagte sie dann: "Ich möchte, daß Sie den Wagen sofort ganz bezahlen, Herr von Studmann. Ich will frei über ihn verfügen können. Regeln Sie das mit Herrn Finger und seiner Firma. Und entlassen Sie ihn. Ich kann ihn nicht als Chauffeur brauchen, ich weiß jemand anders, der besser auf meine Wünsche eingeht ..."

Herr von Studmann verbeugte sich nur, weiß bis unters Haar.

"Entschuldigen Sie, daß ich etwas heftig wurde, Herr von Studmann", sagte sie und hielt ihm die Hand hin. "Es geht mir nicht sehr gut - aber

das müßte ich ja eigentlich gar nicht sagen müssen."

Herr von Studmann verstand die Überwindung nicht, die sie schon dieses kleine Nachgeben kostete. Er nahm mechanisch die Hand, er sagte stockend: "Wenn ich mir noch eine Frage erlauben dürfte?"

"Bitte, Herr von Studmann."

"Ich müßte ungefähr wissen, was mit Herrn Finger vereinbart ist, wenn ich mit ihm abrechnen soll."

"Ich weiß es nicht", sagte sie tonlos und zog ihre Hand aus der seinen. "Regeln Sie das ganz, wie Sie es für richtig halten, ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen. - Ach, Herr von Studmann", rief sie plötzlich fast weinend, "müssen auch Sie mich quälen?! Haben Sie denn gar kein Gefühl?!"

Sie lief fast aus dem Büro. Herr von Studmann machte eine heftige Bewegung zu dem jungen Pagel, aber er schwieg dann doch. Einen Augenblick ging er hin und her auf dem Büro, dann setzte er sich an den Schreibtisch, nestelte die Uhr von der Kette und legte sie vor sich hin. Pagel fing wieder an zu tippen, er hatte während dieses Streites nicht aus dem Büro gekonnt, die gnädige Frau hatte immer unter der Tür gestanden, als wollte sie so rasch wie nur möglich gehen.

Studmann saß still am Schreibtisch, er blickte unverwandt auf die Uhr. Nach sehr kurzer Zeit, er mußte sie sich ausgerechnet haben, stellte er das Telefon nach der Villa durch, er nahm den Hörer vom Apparat, drehte die Kurbel - dann machte er eine heftige Bewegung zu Pagel: Pagel hörte mit Tippen auf.

Herr von Studmann sah erschreckend elend und verfallen aus. Wer ihn so sitzen sah, den Hörer in der Hand, auf die Antwort aus der Villa wartend, hätte nicht gesagt, daß dieser Mann ohne Gefühl war. Er war vielleicht verzwickt und vertrackt, er hatte seinem eigenen Gefühl in einem frauenlosen Leben so viel Hindernisse in den Weg gebaut, daß er sich allein nicht mehr befreien konnte. Aber Pagel sah doch, wie dieser Mann zitterte, vor Aufregung fast nicht sprechen konnte, als er am Apparat Frau Eva um eine dringende, um eine sofortige, um eine ganz private Unterredung bat.

Pagel stand mit einem Ruck auf und ging in sein Zimmer. Dieser unselige Studmann - er hatte natürlich vorhin Hemmungen gehabt, zu sagen, was er auf dem Herzen hatte. Nun die Schlacht geschlagen und fast verloren war, nun wußte er, was er hätte tun müssen: als Mensch mit ihr reden, nicht als Kaufmann.

Überraschend schnell klopfte Herr von Studmann. Er bat Pagel, sofort

zur Villa zu gehen und mit dem Chauffeur Finger abzurechnen. - "Frau von Prackwitz möchte sofort fahren. Wahrscheinlich müssen Sie mit. Zu der Firma in Frankfurt. Nein, bitte, Pagel, ich möchte es nicht selbst ... Frau von Prackwitz will mich um sechs Uhr sprechen."

Pagel hatte wirklich nach Frankfurt mitfahren müssen, den Handkoffer mit dem Gelde bei sich; der Chauffeur Finger war nicht bevollmächtigt gewesen, die ganze Kaufsumme in Empfang zu nehmen.

Pagel hatte seinen Platz neben dem Chauffeur gehabt, im Fond des Wagens saß allein die gnädige Frau. Aber sie hatte sich nicht behaglich in den geräumigen Ledersitz zurückgelehnt, aufrecht saß sie da, auf einer Kante des Sitzes, das weiße Gesicht unverwandt gegen die Scheiben gepreßt. Von Zeit zu Zeit hatte sie gerufen: "Halt!"

Dann war sie ausgestiegen, irgendwo, an einer beliebigen Stelle der Landstraße, sie hatte ein paar Schritte in einen Querweg hinein gemacht, sie hatte den Boden aufmerksam angesehen, dann war sie wieder zurückgekehrt.

"Langsam weiter!"

Wieder war sie dann ausgestiegen. Sie hatte ein Stück Papier im Chausseegraben gesehen, sie lief danach, entfaltete es, sah es nachdenklich an. Schon an der hoffnungslosen Art, wie sie es auseinanderfaltete, sah man, daß sie nicht wirklich eine Botschaft ihrer Tochter darauf zu finden erwartete. Dann stieg sie wieder ein.

"Langsam weiter!"

Immer wieder kam ihr Ruf: "Langsamer! Langsamer! Ich will jedes Gesicht erkennen können."

Der Motor brummte ungeduldig, im Zwanzigkilometertempo kroch der starke Wagen über die Straßen.

"Langsamer doch!"

Fünfzehn Kilometer ...

"So macht sie es jetzt immer", flüsterte der Chauffeur. "Es ist ihr egal, wohin ich fahre, nur aussteigen, rumlaufen, nachsehen muß sie können. Als wenn der Kerl noch hier in der Gegend wäre!"

"Passen Sie doch auf - Sie sollen hier halten!"

Sie steigt aus, sie geht in ein Chausseewärterhaus. Sie bleibt eine Weile. Der Chauffeur erzählt: "Nur durch Ortschaften und Städte darf ich schnell fahren, da sieht sie nicht aus dem Fenster. Sie denkt wohl, die beiden sind immer allein. - Nun, ich bin froh, daß ich heute Schluß machen kann."

"Tut sie Ihnen denn gar nicht leid?" fragte Pagel den korrekten Musterchauffeur.

"Leid ... Natürlich tut sie mir leid", antwortete der. "Aber schließlich fahre ich einen sechzigpferdigen Horch und keinen Kinderwagen. Glauben Sie, das macht einem Chauffeur Spaß, so nuddlig rumzuleiern?"

Frau von Prackwitz kam aus dem Chausseewärterhaus. "Langsam weiter!" sagte sie.

Pagel hätte den Chauffeur treiben mögen. Sie mußten bis zwölf Uhr den Wagen in Frankfurt bezahlt haben, Studmann hatte es ihm eingeschärft, um zwölf würde der neue Dollarkurs herauskommen ... Aber Pagel sagte kein Wort, nicht dem Chauffeur, nicht der gnädigen Frau ...

Es wurde drei Uhr, bis sie in der Stadt waren, abrechnen konnten. Der Dollar war mit dreihundertzwanzig Millionen gegen zweihundertzweiundvierzig am Vortage gekommen - die ganze Pachtsumme ging drauf. Es blieb sogar noch eine kleine Restschuld stehen ...

"Das macht nichts", sagten die Herren höflich. "Sie erledigen diese Kleinigkeit nach Ihrem Belieben."

Pagel wußte, daß es Herrn von Studmann viel machen würde. Er hatte gehofft, Pagel würde noch eine große Summe zur Lohnzahlung zurückbringen. Noch mehr würde es freilich Herrn von Studmann ausmachen, daß aus der erbetenen Unterredung um sechs Uhr nichts wurde. Frau von Prackwitz hatte Pagel in einem Lokal sitzenlassen, sie war fortgegangen, den neuen Chauffeur zu holen. Stunden vergingen, ehe sie wiederkam; der große, schöne Wagen stand führerlos auf der Straße.

Schließlich, es war schon fast dunkel, kam sie mit dem neuen Chauffeur. "Das ist Oskar, Herr Pagel", sagte sie und setzte sich müde hin. "Oskar ist der Sohn einer Hausdame von Papa. Ich dachte an ihn, er hat Autoschlosser gelernt ..."

"Ich habe auch den Führerschein", sagte Oskar und setzte sich mit an den Tisch.

Oskar war ein Bengel, Anfang der Zwanzig, mit ungeheuer großen Händen und einem Gesicht, wie roh aus einem Teigkloß geformt; aber er sah gutmütig und ein wenig einfältig aus.

Frau von Prackwitz trank eilig eine Tasse Kaffee nach der andern. Aber sie aß nichts.

"Iß nur ordentlich, Oskar. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns."

"Sie sollten auch ein wenig essen, gnädige Frau."

"Nein, danke, Herr Pagel. - Oskar hat Violet noch gekannt, er wird mir helfen, sie zu finden. Wie alt war Violet, Oskar, als du von Neulohe in die Lehre kamst?"

"Acht Jahre."

"Wenigstens wird er so fahren, wie ich es haben möchte, nicht wahr, Oskar?"

"Natürlich, Frau von Prackwitz. Immer ganz langsam und alle ansehen - ich habe es schon verstanden. Ich habe doch davon in der Zeitung gelesen ..."

Frau von Prackwitz schloß einen Augenblick die Augen. Dann sagte sie mit Nachdruck zu Pagel: "Ich habe wohl gemerkt, wie widerwillig dieser Finger so gefahren ist, wie ich wollte. Ihr alle tut jetzt oft nur widerwillig, was ich möchte - Sie auch, Herr Pagel!"

Er machte eine Bewegung.

Sie sagte: "Laßt mich doch tun, was ich will. Ich habe doch meine Tochter verloren, nicht wahr? Wenn einer von euch vorher klug gewesen wäre - aber jetzt! Was soll das?"

Pagel schwieg.

Endlich fuhren sie, es war nach sechs, es war schon ganz dunkel. Warum sie nicht den direkten Weg nach Neulohe fuhren, sondern einen meilenweiten Umweg, warum sie trotz der Dunkelheit kaum je schneller als zwanzig Stundenkilometer fuhren, warum sie auch in der Nacht noch halten mußten, und die gnädige Frau ging ein paar Schritte in einen unbekannten Wald hinein - Wolfgang verstand das alles nicht.

Vielleicht wollte sie nur allein sein, vielleicht stand sie nur da in der dunklen Nacht und wartete, bis das Motorengeräusch in ihrem Körper verstummt war, bis das Klopfen des eigenen Herzens wieder laut wurde in ihr. Meinte sie, daß sie, wenn sie das eigene Ich fühlte, auch die Tochter mitspürte, die einmal ein Teil dieses Ichs gewesen war?

Oder stand sie nur da in der Nacht, mit geschlossenen Augen in dem enggeschlossenen Behältnis der Nacht, und erwartete eine Helle, in der sie durch den Wald gegangen kämen - er und sie? Wie dachte sie an diese Verlorenen? Sah sie ihn vorausgehen, den häßlichen, trocknen, grauen Kopf gesenkt, zugekniffen der dünnlippige Mund - und die Tochter geht einen halben Schritt hinter ihm, auch sie mit geschlossenen Augen, immer noch im Schlaf, wie die Mutter sie zuletzt sah? Sieht sie die beiden heimatlos über eine fremde, kalte Erde wandeln - keine gastliche Tür schlägt sich ihnen auf, kein freundliches Wort erreicht sie je

-?

Es ist doch erst so kurze Zeit her, daß der Pagel ihr berichtete, daß alles anders war, als sie es befürchtet hatte, daß kein heimlicher Liebhaber mehr zu suchen war, daß die halb närrische, halb verächtliche Fratze des Dieners der Feind gewesen war, der sie so beraubt hatte. "Aber das ist unmöglich! Ich glaube das nie!" hatte sie gerufen.

So wenig Zeit war seitdem verflossen, schon glaubte sie es. Schon wußte sie es, schon sah sie die beiden - und ihr war, als müßten sie immer wortlos beieinander sein, beide stumm aneinandergefesselt von der gleichen höllischen Qual. Sah sie denn die beiden nicht so deutlich, daß sie meinte, er müsse graue Turnschuhe aus Zeug tragen mit geriefelten Gummisohlen, so deutlich, daß sie jeden Nebenweg nach der Spur dieser Sohlen absuchte? Sah sie Violet nicht so deutlich, daß sie wußte, sie trug einen verschossenen, grauen Herrenüberzieher, über einem Kleid, das nicht recht saß, weil er es der Schlafenden angezogen hatte?

Ach, diese Männer - diese Polizei, diese Staatsanwaltschaft, die sich wichtig taten, die immerzu anklingelten, Boten schickten, dies wissen, jene Schuhgröße messen wollten! Sie würden Violet nie finden, sie wußte es genau. Sie war überzeugt, sie allein würde Violet begegnen, irgendwann einmal, es war ganz gleich, wo sie solange wartete, nur draußen mußte es sein - irgendwann, wenn die Stunde kam, würde sie schon auf dem richtigen Fleck stehen.

Hatten diese Leute nicht sogar in Violets Zimmer eine Art Haussuchung abhalten wollen, Fingerabdrücke auf der Fensterbank, Nachsuche nach Briefen?! Sie hatte es nicht zugelassen, sie hatte das Zimmer einfach abgeschlossen. Wozu jetzt noch Erhebungen? Es war ja alles sonnenklar! Violets Zimmer gehörte ihr allein: Wenn sie heimkam, völlig erschöpft von ihren Fahrten, zu müde sogar, um zu weinen, wenn sie schnell nach Achim gesehen hatte - dann ging sie in Violets Zimmer. Sie schloß die Tür ab, sie setzte sich neben das Bett, sie schloß die Augen.

Jawohl, zu Anfang warf sie noch einen argwöhnischen Blick auf das Fenster. Aber das Fenster war fest verschlossen, sie war nicht mehr unachtsam. Die Tochter konnte ruhig schlafen, sie lag in ihrem Bett. Allmählich schlief auch die Mutter ein, so in dem Korbstuhl neben dem leeren Bett sitzend, aus Wunsch wurde Traum. Schließlich schlief sie fest, erst am Morgen, wenn sie erwachte, zog sie sich um, wusch sich, rüstete sich für den neuen Tag.

Diese Morgen, bei denen das ganze Zimmer von einem fahlen,

trostlosen Grau erfüllt war, wenn das kindische, zänkische Geplärr des Rittmeisters mit seinem Pfleger durch die Stille so peinvoll deutlich zu ihr herüberklang, wenn nach dem toten Nichts des Schlafes in das langsam erwachende Gehirn das Gefühl ihres Verlustes wie ein fressendes Feuer fiel - diese Morgen waren schrecklich. Aber dann stand der Wagen vor der Tür, gleich würde sie losfahren, eigentlich mußte sie sich eilen, vielleicht war das Wiedersehen mit ihrer Tochter schon ganz nahe.

Dieser törichte Pedant Studmann, der keine Ahnung davon hatte, was dieser Wagen für sie bedeutete! Daß er ihre Brücke in die Zukunft war, ihre einzige Hoffnung. Jawohl, er hatte eine höchst dringende, sehr eilige, private Unterredung von ihr verlangt, aber hier stand sie im Walde, es war neun Uhr oder zehn - er begriff nicht, daß man keinen verläßt, der vom Unglück geschlagen ist -! Vielleicht stand sie nur noch darum hier, weil er dort auf sie wartete!

Schließlich steigt sie wieder in den Wagen, sie läßt weiterfahren. Neulohe kommt näher, es ist nun wirklich zehn Uhr geworden. Aber als sie durch das Städtchen Meienburg kommen, läßt sie wieder halten. Sie kommt um vor Hunger! Es gibt hier ein gutes Hotel, den "Prinzen von Preußen", als junges Mädchen hat sie hier oft mit den Eltern gesessen!

Sie läßt sich die Speisenkarte bringen, sie wählt sehr lange, ehe sie bestellt. Es gibt nicht ganz das Richtige auf der Karte für ihren Hunger, aber schließlich findet sie doch das eine und das andere. Sie nimmt die Weinkarte in die Hand, die Speisenkarte reicht sie dem jungen Herrn Pagel. Sie bestellt Wein, und immer beobachtet sie dabei den jungen Pagel aus den Augenwinkeln. Er sagt, er habe keinen Hunger, er ist fast mürrisch - oh, wie die Menschen Glas für sie geworden sind, sie kann völlig in ihn hineinsehen.

Sie sieht, wie er vor Ungeduld umkommt, sie sieht, er weiß von der Unterredung, die sie Herrn von Studmann versprochen hat. Vielleicht weiß er noch von viel mehr, von Blicken, gewissen Worten, von Hoffnungen ... Eine Frau ahnt nie, wie weit Männer mit Geständnissen untereinander gehen, sie bringen das Unglaublichste fertig. Jawohl, der junge Herr Pagel, er kommt vor Ungeduld, vor Mitgefühl mit seinem Freund um, denkt er denn nicht auch einmal an sie -?! Daß sie vielleicht Gründe hat, zu zögern, zu warten -?! Er denkt überhaupt nicht an sie!

Frau von Prackwitz trinkt ein paar Glas Wein, sie ißt auch ein wenig von den bestellten Speisen. Dann läßt sie sich von dem Kellner die winterlich unbenützte Veranda aufschließen. Sie steht da eine Weile - die Tische sind übereinandergestapelt, vor den Fenstern ist Nacht, man sieht den kleinen Garten nicht, nicht die Weiden und Pappeln am Ufer des

Flüßchens.

Sie steht eine ganze Weile auf der Veranda, der junge Pagel steht höflich und vielleicht eine Spur verdrossen daneben. Er begreift nicht, warum sie hierhergehen muß. Dann sagt sie halblaut im Hinausgehen: "Hier war ich mit Achim auf unserm ersten Ausflug zu zweien, grade als wir uns verlobt hatten."

Sie dreht sich noch einmal um, noch einmal betrachtet sie die Veranda. Nein, man sieht ihr nichts an von den fast zwanzig Jahren, die dazwischenliegen; es scheint dieselbe Glasveranda. Eine ganze Ehe ist seitdem vergangen, ein Kind wurde geboren, es ging noch mehr verloren als ein Krieg. - Ade! Erloschene Lebensfeuer, die nichts wieder zum Brennen bringen kann - entschwundene Jugend, verschollenes Lachen - vorbei!

Still geworden sitzt sie wieder an dem Gasttisch des Hotels, nachdenklich dreht sie den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern. An der Haltung des jungen Pagel merkt sie, daß er nicht mehr ungeduldig, nicht mehr mürrisch ist, daß er nicht mehr drängt - er hat verstanden. Es ist gar nicht wahr, daß Jugend unduldsam ist - ein echtes Gefühl versteht echte Jugend sofort.

Etwas später kommt irgendein Herr an ihren Tisch, einer dieser Leute, mit denen sie früher verkehrt haben, irgendein Rittergutsbesitzer aus der Gegend ... Er hat wohl einiges gehört, er hat wohl einiges gelesen, er hat wohl auch einiges getrunken. Jetzt kommt er, Abgesandter einer ganzen Runde, Teilnahme heuchelnd, um zu horchen. Er hat sie ja da sitzen sehen, mit einem jungen Burschen Wein trinken, diese beiden sind sogar in der Veranda verschwunden - vor nichts macht die Phantasie dieser Männer halt!

Sie richtet sich auf, weiß vor Erbitterung. Der Herr hat sich an ihren Tisch gesetzt, seinem listigen Fragespiel mit aller Hartnäckigkeit eines Betrunkenen hingegeben, merkt er gar nicht, daß sie schon aufgestanden ist.

Weiß und böse sagt sie in das rote Gesicht: "Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme, Herr von ... Den Kranz schicken Sie wohl erst, wenn meine Tochter gestorben ist -?"

Von dem jungen Pagel gefolgt, geht sie aus dem Lokal, ein tödliches Schweigen herrscht. Es dauert lange, bis der völlig verwirrte Kellner sich am Wagen einfindet, um sein Geld in Empfang zu nehmen.

Es ist nach Mitternacht, als sie in Neulohe ankommen. "Sagen Sie bitte Ihrem Freund", sagt Frau von Prackwitz, als sie ins Haus geht, "daß ich

ihn morgen früh sofort anrufe, wenn ich ihn sprechen kann."

Still sitzt Herr von Studmann im Büro, still hört er sich den Bericht an. "Ich habe immer gedacht, Pagel", sagt er, ein wenig kümmerlich lächelnd, "daß Zuverlässigkeit eine wünschenswerte Eigenschaft auf dieser Welt sei. Aber seien Sie alles, nur nicht zuverlässig!"

Er geht einen Augenblick hin und her auf dem Büro. Er sieht alt und müde aus. "Ich habe Frau von Prackwitz heute abend noch einen Brief geschrieben", sagt er schließlich. "Sie findet ihn drüben vor. Nun gut, ich werde bis morgen warten."

Aber er geht nicht auf sein Zimmer. Er bleibt auf dem Büro. Er wandert auf und ab. Sein Blick, der gegen seinen Willen dann und wann auf das Telefon fällt, verrät, an was er denkt: Vielleicht ruft sie doch noch an?

Pagel legt sich schlafen, er hört den andern auf und ab gehen, immer auf und ab. Er schläft darüber ein.

Es kommt der andere Morgen. Von der Frühstücksstunde an sitzt Herr von Studmann auf dem Büro, er kümmert sich nicht um die Wirtschaft. Pagel rennt hierhin, dorthin. Aber immer, wenn er zum Büro zurückkommt, sitzt Herr von Studmann noch da. Zuerst sucht er noch den Eindruck aufrechtzuerhalten, als arbeite er etwas, schreibe einen Brief - aber dann gibt er das alles auf. Er sitzt nur so da, ein elender, unglücklicher Mensch, der auf sein Urteil wartet ...

Um halb elf sieht Pagel den großen Wagen durch Neulohe fahren. Er läuft auf das Büro. "Frau von Prackwitz war nicht hier? Hat sie nicht angerufen?"

"Nein. Warum?"

"Eben ist der Wagen fortgefahren."

Herr von Studmann greift zum Telefon. Diesmal zittert seine Hand nicht, seine Stimme versagt nicht, als er fragt: "Hier Studmann - könnte ich bitte Frau von Prackwitz sprechen? - Sie ist eben fortgefahren? - Gut - hat sie etwas hinterlassen? - Ja, bitte, erkundigen Sie sich, ich warte am Apparat."

Er sitzt da, den Hörer in der Hand, das Gesicht gesenkt, im Schatten - im - Schatten. Dann: "Ja, ich bin noch hier. - Nur, daß sie heute nicht zurückkommt? Sonst nichts? - Danke schön."

Er legt den Hörer auf, er sagt zu Pagel hinüber, ohne ihn anzusehen: "Was sagte Ihnen Frau von Prackwitz gestern abend?"

"Daß sie heute sofort anruft, sobald sie Sie sprechen kann ..."

Herr von Studmann reckt sich, er lächelt fast: "Ich bin wieder einmal

die Treppe hinuntergefallen, mein lieber Pagel, nur etwas schmerzhafter als damals im Hotel. - Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, daß es irgendwo auf der Welt einen Fleck gibt, wo man unbedingte Zuverlässigkeit schätzt. Ich habe mich entschlossen, eine mir seit langem angebotene Stellung anzunehmen. Ich werde in dem Sanatorium des Geheimrats Schröck arbeiten. Ich bin sicher, daß die dort befindlichen Kranken vollkommene Zuverlässigkeit, Gleichmäßigkeit des Temperaments, eine nicht zu erschöpfende Geduld zu schätzen wissen."

Pagel starrte Herrn von Studmann an, Herrn von Studmann, der jetzt das Kindermädchen der Nerven- und Gemütskranken werden wollte - ob er ironisch sprach oder ernst? Aber er sprach ganz ernst, nie war er ernster gewesen. Er war nicht geneigt, die Tollheiten dieser tollen Zeit mitzumachen, selber toll zu werden. Unermüdet, nicht verzweifelt, ging er weiter. Gewiß, er hatte einen Schlag bekommen, eine Hoffnung war ihm zergangen. Aber er trug es.

"Ich bin kein Mensch für Frauen", sagte er und sah Pagel an. "Nein, ich eigne mich nicht für den Umgang mit Frauen. Ich bin ihnen zu regelmäßig, zu korrekt - irgendwie bringe ich sie zur Verzweiflung. Früher einmal, es ist lange her" - er machte eine vage Handbewegung, um anzudeuten, in welch nebelhaften Fernen es lag -, "früher einmal war auch ich verlobt, ich war jünger, vielleicht beweglicher. Nun, jedenfalls löste sie die Verlobung, urplötzlich, eines Tages. Es kam mir sehr überraschend. ›Es ist mir so‹, sagte sie zu mir, ›als müßte ich eine Weckuhr heiraten - sie tickt, sie tickt, du bist absolut zuverlässig, du gehst nicht vor noch nach, du klingelst genau zur richtigen Zeit - du bist einfach zum Verzweifeln!‹ Verstehen Sie das, Pagel?"

Pagel hörte mit einer höflichen, interessierten, eine Spur ablehnenden Miene zu. Dies war immerhin derselbe Studmann, der, als es Pagel schlecht ging, jede vertrauliche Offenheit schroff zurückgewiesen hatte. Der Schlag mußte ihn hart getroffen haben, wahrscheinlich war ihm auch diesmal die Lösung völlig überraschend gekommen.

"Nun, Sie sind ein anderer Typ, Pagel", sagte der veränderte, schwatzhafte Studmann. "Sie leben gewissermaßen nicht in einer graden Linie - mehr hin und her, auf und ab. Sie überraschen sich gerne selbst - ich, ich hasse die Überraschungen!"

Seine Stimme bekam etwas Eisiges, Ablehnendes. Pagel dachte, daß Herr von Studmann Überraschungen vor allem unfein und darum verächtlich fand.

Aber weiter war Herr von Studmann auch in dieser erregten Stunde

nicht mit seinen vertraulichen Eröffnungen gegangen. Gleich wurde er wieder sorgender Freund.

"Sie bleiben nun allein hier, Pagel", sagte er. "Sie werden es schwer haben. Aber ich fürchte, es wird nicht lange dauern. Ich nehme an, Frau von Prackwitz irrt sich in der Beurteilung ihres Vaters. Die Pacht hätte unbedingt bezahlt werden müssen. Aus rechtlichen und aus persönlichen Gründen. Nun, Sie werden das alles noch erleben und mir, wie ich hoffe, brieflich berichten. Mein Interesse bleibt unverändert. Und sollte einmal eine Änderung - drüben in der Villa - eintreten und ich werde wirklich gebraucht -", er zögerte einen Augenblick, dann rasch: "Nun, Sie würden es mir schreiben, nicht wahr?"

"Natürlich", sagte Pagel. "Aber wann wollen Sie denn fort, Herr von Studmann? Doch noch nicht bald?"

"Gleich, sofort. Das heißt, ich denke, mit dem Nachmittagszuge. Mit Herrn Geheimrat Schröck setze ich mich dann von Berlin aus in Verbindung."

"Was? Heute schon! Und Sie wollen sich nicht von Frau von Prackwitz verabschieden?!"

"Ich werde nachher den Rittmeister aufsuchen. Vielleicht erkennt er mich, gestern schien es nicht so. Für Frau von Prackwitz werde ich ein paar Zeilen hinterlassen. Ja, richtig, lieber Pagel, auch Ihre Sache werde ich bei dieser Gelegenheit in Ordnung bringen."

"Welche Sache?" rief Pagel. "Ich weiß nichts Unerledigtes."

"Nun, es wird Ihnen schon einfallen. Und wenn nicht, ich bin, wie gesagt, für zuverlässige Erledigungen ..."

So reiste Herr von Studmann ab, ein Mann von Meriten, ein zuverlässiger Freund, aber ein bißchen vertrocknet. Ein Unglückshuhn, das sich für einen Eckstein des Weltgebäudes hielt.

Und natürlich hatte er mit jener Sache, die er für Pagel noch rasch in Ordnung bringen wollte, dem guten Wolfgang eine recht schwierig auszuessende Suppe eingebrockt.

"Was höre ich da?" hatte die gnädige Frau am nächsten Morgen erbittert gesagt, "mein Mann hat an Sie eine Ehrenschuld von zweitausend Mark in Devisen? Was heißt das?!"

Dies war dem jungen Pagel wirklich peinlich. Innerlich verfluchte er den Freund Studmann, der es nicht hatte über sich gewinnen können, in einem Abschiedsbrief an die Frau seines Herzens von dieser Sache zu schweigen.(In diesen schwierigen Tagen zu einer erregten, verzweifelten Frau von dieser Sache zu sprechen!)

Pagel ließ Herrn von Studmann glatt im Stich. Die Sache sei längst zwischen ihm und dem Herrn Rittmeister erledigt. Es habe sich übrigens nie um zweitausend Mark gehandelt. Eine höchst zweifelhafte Sache - gewissermaßen halb eine Zechschuld, Reisekosten, er wüßte nicht mehr, was alles ... Aber wie gesagt, längst erledigt!

Frau von Prackwitz sah ihn unverwandt an mit ihren traurigen Augen. "Warum wollen Sie mich denn anlügen, Herr Pagel?!" sagte sie schließlich. "Herr von Studmann, ein großer Psychologe, wenigstens in geschäftlichen Dingen, hat ja bereits vorausgesehen, daß Sie sich wegen dieser Geldgeschichte genieren würden. Es handelt sich doch um zweitausend Goldmark, die Sie Herrn von Prackwitz beim Roulettspiel geliehen haben, nicht wahr?"

"Den Studmann soll der Teufel holen!" rief Pagel, nun wirklich ärgerlich. "Ich ordne meine Sachen alleine. Übrigens hat die Polizei sämtliche Spielgelder beschlagnahmt - es war ja doch alles verloren!"

Sie sah ihn ruhig an. "Warum genieren Sie sich in Gelddingen?" fragte sie. "Das müssen Sie nicht tun. Vielleicht habe ich in dieser Hinsicht meines Vaters praktischen Sinn geerbt."

"Ich bin hier nicht wegen Geld", sagte Pagel verbissen. "Nun sieht es wahrhaftig so aus ..."

"Es freut mich", sprach sie mit leiser Stimme, "wenn Neulohe wenigstens einem Menschen gutgetan hat". Abschließend: "Das Geld, Sie wissen es ja, kann ich Ihnen jetzt nicht geben, aber ich denke daran. Ich vergesse es nicht. Dann ist noch Ihre Gehaltsfrage zu regeln, schreibt mir Herr von Studmann ..."

Pagel tobte innerlich.

"Sie erhielten bisher nur eine Art Taschengeld. Das ist natürlich unmöglich. Ich habe es mir überlegt, die Beamten meines Vaters bekamen immer ungefähr zehn Zentner Roggen Monatsgehalt. Sie werden sich von jetzt an wöchentlich, wenn Sie die Leute löhnen, den Wert von zweieinhalb Zentner Roggen auszahlen."

"Ich bin kein gelernter Landwirt. Hier müßte ein Inspektor her."

"Ich will jetzt keine neuen Gesichter. Machen Sie es mir nicht auch schwer, Herr Pagel. Tun Sie das, was ich Ihnen gesagt habe, nicht wahr?"

Er nahm ihre Hand.

"Und das Geschäftliche erledigen Sie vorläufig ganz, wie Sie denken, ohne mich viel zu fragen. Vielleicht erholt sich mein Mann rascher, als wir jetzt glauben."

Sie nickte ihm noch einmal freundlich zu.

Er sagte bedenklich: "Ich fürchte doch, es wird nicht gehen. Es ist zuviel, und ich habe keinerlei Erfahrung."

"Doch, es wird gehen", nickte sie. "Wenn Sie erst eingearbeitet sind, wird uns Herr von Studmann kaum noch fehlen."

Armer Herr von Studmann - dieses war sein Lebewohl von Frau Eva von Prackwitz, einer Frau, die er verehrt und vielleicht sogar geliebt hatte. Aber es ist wohl anzunehmen, daß in jenem Abschiedsbrief Studmanns nicht nur geschäftliche Dinge, wie Gehaltsfragen und Spielschulden, standen, sondern auch einer jener pathetischen Sätze, die eher das verletzte Ehrgefühl als die verschmähte Liebe der Männer zu finden scheint und die von den Frauen stets so beleidigend und so lächerlich gefunden werden.

Wenn Frau von Prackwitz den überstürzten Abgang Studmanns von ihrem Standpunkt aus betrachtete, so konnte sie sagen, daß der Freund sie in der Stunde ihrer schlimmsten Not verlassen hatte, weil sie darauf bestand, daß zwei Zahlungen in einer andern Reihenfolge geleistet wurden, als er es wünschte. Sie konnte auch sagen, daß dieser Freund taktlos eine Unterredung in Liebesdingen erzwingen wollte, zu einer Stunde, da ihre Tochter in Lebensgefahr, ihr Mann in schwerer Krankheit sich befand.

Nein, sah man die Dinge vom Standpunkt der Frau, jeder Frau, so war Herr von Studmann völlig im Unrecht. Freilich vom kaufmännischen Standpunkt aus fing er an, recht zu behalten.

Heute mittag hatte Wolfgang einen Brief von ihm bekommen -:

"Also, lieber alter Freund, nein, lieber junger Freund, sollte ich richtiger sagen, mir geht es hier bei dem Geheimrat Schröck ausgezeichnet. Eine putzige Kruke, der alte Knabe, aber ein Betrieb, der abschnurrt wie eine Uhr ... Sie sollten einmal hier die Diätküche sehen, mein lieber Pagel, gegen eine solche Exaktheit im Zuwiegen, Einteilen, Zubereiten, Anrichten kommt das bestgeleitete Berliner Hotel nicht auf. Nebenbei bemerkt: Ich habe mich zu einer rein vegetarischen Kost entschlossen, dazu kein Tabak mehr, kein Alkohol. - Irgendwie scheint dies meiner ganzen Veranlagung besser zu entsprechen, ich wundere mich, daß ich nicht früher daraufgekommen bin. Denken Sie einmal darüber nach: Der Tabak kam zu uns aus Südamerika, Mittelamerika, einem tropischen Lande, und der Alkohol, der Wein nämlich, der Bibel nach aus Palästina - kann also unserer nördlichen Natur nicht entsprechen. Aber ich will Sie beileibe nicht bekehren! Immerhin muß ich doch sagen, daß das Fleischessen "... Und so weiter und so weiter über vier Seiten des Briefes hin, bis zu dem denkwürdigen Nachsatz: "Hat der Geheimrat sich noch

immer nicht wegen seiner Pacht gerührt? Es sollte mich doch sehr wundern."

Wolfgang Pagel, immer feuchter auf seinem Strohballen, seufzt. Nun sucht er doch in der Tasche, er findet eine Zigarette, er brennt sie an. Also: Herr von Studmann braucht sich nicht mehr zu wundern, Herr von Studmann behält recht: Der Geheimrat hat sich gerührt wegen seiner Pacht. Er hat sich sogar höchst bösartig gerührt. Den ersten Maßnahmen werden andere folgen. Die Sache wird sich zuspitzen: Aus! Schluß!! Dein treuer Vater!!!

Es liegt in der Natur eines jeden Mannes, und eines jungen dazu, daß er nicht gerne für eine Sache tätig ist, die nichts taugt, die zum Untergang verurteilt ist. Die tiefe Mutlosigkeit, die den jungen Pagel angesichts einiger verrostender Schaufeln ergriffen hatte, stammte wohl vor allem hieraus. Wenn der Geheimrat doch in zwei oder drei Wochen den Betrieb lahmlegen würde, so machte ihm seine ganze Rennerei und Wirtschafterei keinen Spaß mehr. Dann dankte er dafür. Dann rührte er kein Bein mehr. Dann machte er sich keine Sorgen mehr - ausgerechnet auf diesem zugrunde gehenden Fleck des Deutschen Reiches, bestehend aus soundso viel Ländern und vierundfünfzig Parteien! Gute Nacht!

Nahm man den alten Geheimrat als eine unbekannte Größe, also nicht als das bekannte Geschöpf in Loden, mit Knollennase und listig funkelnden Augen, sondern als Besitzer, als den Verpächter schlechthin, so konnte man ganz und gar nicht sagen, daß er im Unrecht war.(Es blieb eine verfluchte Sache, dachte der junge Pagel, schon wieder lebhafter geworden, daß die meisten Menschen bei den meisten Dingen gleichzeitig im Recht und im Unrecht waren!) Der Pächter hatte zweifellos seine geldlichen Verpflichtungen nicht erfüllt. Er erlaubte sich kostspielige Privatneigungen zu Lasten der Wirtschaft, er wirtschaftete schlecht mit unausgebildeten Kräften, außerdem war der Pächter kein geschäftsfähiger Mann mehr! Zum Teufel, welchem Verpächter mußte nicht himmelangst werden, wenn er solchen Pächter in seinem Eigentum schalten und walten sah!

Wenn man auf der andern Seite allerdings bedachte, daß der alte Verpächter ein schwerreicher Mann war, daß der eigentliche Pächter seine Tochter war und daß es dieser Tochter zur Zeit ziemlich dreckig ging, so war der Verpächter wieder verdammt im Unrecht. Aber, dachte Pagel, es sieht dem schlimmen alten Knaben auch gar nicht ähnlich, daß er diese Sache mit dem Förster so ganz ohne weiteres anfängt. Er weiß doch auch, er ist gesellschaftlich, er ist menschlich in der ganzen Gegend erledigt, wenn er jetzt seiner Tochter die Weiterführung der

Wirtschaft unmöglich macht, sie gewissermaßen auf die Straße setzt ...

Nein, denkt der junge Pagel, aus heiterem Himmel kann dieser Blitzschlag nicht gekommen sein. Es muß etwas vorgegangen sein, von dem ich nichts weiß. Es ist verdammt, denkt der junge Pagel immer tatkräftiger, daß ich dem Förster versprochen habe, mit der gnädigen Frau nicht von diesem Brief zu sprechen. Ich bin ein Schafskopf gewesen, denkt er und steht jetzt von seinem Strohballen auf, ich hätte stets die persönliche Post durchsehen müssen, die Amanda nach der Villa gebracht hat. Vielleicht, fast sicher, ist ein Brief vom Geheimrat an seine Tochter dabeigewesen, und vielleicht, fast sicher, hat sie ihn weder gelesen noch beantwortet. Sie fährt ja fast nur noch im Auto durch die Welt. - Ich müßte, denkt er, in der Villa wieder einmal einen Besuch machen beim Rittmeister. Jetzt ist sie noch unterwegs. Ich habe es ja gesehen, ein ganz hübsches Päckchen Briefe liegt ungeöffnet auf ihrem Schreibtisch. Ich müßte sie einmal durch die Hand laufen lassen, an Poststempel und Handschrift sähe ich, ob der alte Knabe dazwischen ist. Dann könnte man von dieser Seite her die Sache irgendwie starten!

Er geht hin und her, er versetzt einem Spaten, der ihm das Leben schwer machen will, einen Tritt, daß er aus dem Wege fliegt.

Gott, o mein Gott! Ich will doch hier, verdammt noch mal, nicht ganz umsonst gearbeitet haben, bis der Peter mich wieder zu sich ruft! Ich will doch auch für die hier was geleistet haben -: irgendein Steinchen im Weltgebäude aufgelegt, das liegenbleibt, das der alte Knabe nicht gleich wieder runterschmeißt!

Ein anderer, ein vergnügter Gedanke kommt ihm. Die Zigarette fliegt in einem Bogen über die nächste Kartoffelmiete und erlischt in der Nacht. Schluß mit dem lasterhaften, aus tropischen Ländern stammenden Nikotin! Aber ich habe doch schon was sehr Schönes geschafft! Ich habe unsern geheimen Aufseher für die nächsten sechsundzwanzig Wochen ins Bett gepackt. Mit den Wegeverboten, mit der Verkaufskontrolle ist es erst einmal nichts, mein lieber Geheimrat. Du wolltest so schlau sein, die Forstarbeiten, das Holzschlagen hast du ihm erst einmal abgenommen, mit einem geheimnisvollen Wink auf bald geänderte Geldzustände; ich bin noch schlauer gewesen, ich habe ihm alles abgenommen: die Forst mit der Spionage - Donnerwetter ja, ich muß doch den Doktor anrufen! Volldampf aufs Büro!!

Die kurze mutlose Stunde ist vorüber. Er ist nicht mehr erschöpft und ausgepumpt, er ist ein junger Mann, dem seine Arbeit Spaß macht und der sie zu einem guten Ende führen wird! Mit eiligen Schritten strebt er durch die Nacht dem Hofe zu.

7

Natürlich - wie immer, aber man gewöhnte sich auch daran - kam Pagel nicht sofort auf das Büro. Bei den eiligsten Wegen kam immer etwas dazwischen.

Diesmal war es der Tierarzt aus der Kreisstadt, auf den seltenen Namen Hoffart hörend, aber nicht aussehend wie sein Name. Der Futtermeister hatte ihn in Pagels Abwesenheit gerufen: das Reitpferd des Rittmeisters fohlte seit dem Morgen, eine englische Vollblutstute, Mabel hieß sie, aber sie wurde nicht fertig damit. Sie hatte Wehen und Wehen, aber die Geburt ging nicht vorwärts.

Man hatte alles getan, wie es sich gehörte: die Box der Stute war dicht verhängt worden, denn gebärende Pferde sind geschämig, sie vertragen es nicht, wenn ihnen ein menschliches Auge zusieht. Ein neugierig hereingeworfener Blick kann die Geburt für Stunden aufhalten.

Aber mit dieser Abgeschlossenheit war es nun vorbei. Als Pagel mit dem Tierarzt in die Box trat, warf ihnen das Pferd einen im Winkel geröteten Blick zu, der von Qual sprach und um Hilfe flehte. Wie bei den Menschen hatte sich die Scham verloren, als der Schmerz unerträglich wurde.

"Bis vor einer halben Stunde habe ich noch die Herztöne vom Fohlen gehört. Jetzt ist alles still, ich bin überzeugt, es ist tot. Wahrscheinlich hat es sich in der Nabelschnur erstickt. - Ich bin leider zu spät gerufen."

Der Tierarzt Hoffart sah Pagel mit der ergebungsvollen Miene des Mannes an, der gewohnt ist, jeden Tod als Schuld auf seinem Konto buchen zu müssen.

"Und was ist zu tun?" fragte Pagel, den mehr als die Schuldfrage die Qual der Kreatur interessierte.

"Ich habe nachgesehen", sagte der Tierarzt erleichtert und eifrig. "Leider ist die Stute sehr eng. Ich werde das Fohlen in ihr zerschneiden und stückweise herausholen müssen. So könnte man wenigstens die Mutter retten."

"Es ist bloß ein niedergebrochenes Vollblut", meinte Pagel nachdenklich. "Der Rittmeister soll es für ein paar hundert Mark aus irgendeinem Rennstall gekauft haben. Aber er hat sehr an dem Pferd gehangen. - Wissen Sie was, Herr Doktor", sprach er lebhafter, "gedulden Sie sich noch eine Viertelstunde, zwanzig Minuten - ich gebe Ihnen dann Bescheid."

"Die Wehen hören fast auf, das Herz läßt sehr nach. Ist hier wenigstens

jemand, der solange einen starken Kaffee für den Gaul kochen kann? Ich will ihm auch eine Kampferspritze geben ... Aber alles müßte schnell gehen."

"Alles wird schnell gehen. Ich schicke Ihnen den Kaffee hierher, wieviel -? Eine Weinflasche voll? In einer Weinflasche, gut!"

Er lief schon über den Hof, dem Beamtenhaus zu. In der Dunkelheit sprach ihn jemand an, er verstellte ihm den Weg. Es war wohl die schwarze Minna, sie jammerte irgend etwas von der gnädigen Frau, von der Sophie ... Er lief eilig an ihr vorbei und auf das Büro ...

Während er der Amanda die Weisungen wegen des Kaffees gab, verlangte er schon die Verbindung mit dem Kassenarzt. Der Arzt konnte nicht, in der Bürotür erschien die schwarze Minna und fing wieder an, irgend etwas zu plärren ... Er winkte ihr wütend ab, der Arzt entschloß sich, doch noch zu kommen, er würde um neun, halb zehn auf dem Büro sein, Pagel möge ihm den Weg ins Försterhaus zeigen. Pagel sagte: "Ja"; er rief Amanda zu: "Also Sie besorgen den Kaffee ganz rasch in den Pferdestall", und schoß an den beiden Frauen vorüber, wieder in die Nacht hinaus.

Er hatte ein undeutliches Gefühl davon, daß die schwarze Minna wirklich etwas vorzubringen gehabt hatte, etwas wie eine Beschwerde, eine Mahnung, eine Warnung. Aber wie jetzt oft, hatte er keine Zeit zuzuhören. Er mußte weiter. Hinter seinem Rücken, er ahnte es doch, spann sich schon wieder der schönste Ratsch und Tratsch zwischen den Frauenzimmern an. Er konnte es nicht hindern, er mußte laufen, eine Viertelstunde, hatte er zum Tierarzt gesagt. Fünf Minuten waren davon schon vertan, übrigens war alles vielleicht Unsinn, das, was er ahnte, wie das, was er vorhatte. Nun gut, dann war es auch noch so! Weiter! Jedenfalls weiter!

Die Villa öffnete ihm auf sein Klingeln der Pfleger des Rittmeisters selbst. Dieser Pfleger, Schümann geheißen, ein älterer, fahler, etwas fetter Mann, mit ein paar ergrauenden Sardellen über dem kahlen Schädel, trug, als sei er in einer Anstalt, stets eine weißblau gestreifte Jacke, Ledersandalen, graue, faltige Hosen, die seit ihrem Ankauf sicher noch nie wieder eine Bügelfalte erlebt hatten. Pagel mochte den ruhigen, stillen Mann gerne. Er hatte ein paarmal einen Schwatz mit ihm gehabt. Der Pfleger Schümann hatte ihm erzählt, was er keinem gesagt hatte, nicht einmal der Frau, nicht einmal dem Arzt.

"Ich glaube nicht, Herr Pagel", hatte der Mann leise, flüsternd gesagt, "daß der Herr Rittmeister so krank ist: geisteskrank, wie der Herr Doktor meint. Der Herr Rittmeister hat einen Schock erlitten - aber

geisteskrank? Nein! Er kann nicht sprechen, er lächelt zu allem, was man ihm sagt - aber er verstellt sich ja nur! Er will nicht mehr sprechen, er will nicht mehr hören noch sehen; er hat genug von der Welt, das ist es! Er kann ja im Schlaf sprechen ..."

"Aber ist das nicht auch eine Krankheit?" hatte Pagel gefragt.

"Vielleicht, ich weiß nicht. Vielleicht ist er bloß feige und mutlos. Die ersten Tage hat er ganz gut reden und mit mir zanken können, wenn er seinen Alkohol haben wollte. Dann hat er nur noch gesprochen, um Schlafmittel zu erbetteln, und als wir ihm die auch entzogen haben, hat er sich gesagt: Das Reden hat keinen Sinn mehr, die geben mir doch nichts, also halte ich den Mund ..."

"Glauben Sie denn, Herr Schümann, daß er auch nichts trinken würde, wenn er ohne Aufsicht wäre?"

"Das ist immer das Schwierige, Herr Pagel, das weiß man bei solchen nie! Vielleicht, wenn alles glatt geht, daß er es ohne Trinken aushält. Aber wenn er wieder etwas Unangenehmes hört - und er hört alles, er paßt ja so auf! -, dann ist es möglich, daß er wieder zusammenklappt. Deswegen bleibe ich ja noch hier."

So war damals die Unterhaltung gegangen, die beiden hatten noch öfters über dieses Thema gesprochen, sie waren eigentlich recht vertraut miteinander geworden.

Jetzt fragte Pagel eilig: "Nun, was macht der Herr Rittmeister? Liegt er im Bett? Ist er auf? Ist die gnädige Frau im Hause?"

"Die gnädige Frau ist fortgefahren", berichtete der Pfleger. "Herr Rittmeister ist auf, ich habe ihn angezogen, mit Kragen und Schlips, und jetzt liest er!"

"Er liest -?" fragte Pagel verblüfft. Er konnte sich den Rittmeister, auch in gesunden Tagen, kaum lesend vorstellen - es sei denn die Zeitung.

Herr Schümann feixte dünn.

"Hätten Sie mir nicht erzählt, daß der Herr Rittmeister in diesem Sommer ein paar Wochen als Jagdgast in einer Klapsmühle gewesen ist, ich wäre ihm wirklich auf den Leim gekrochen". Jetzt lächelte der Pfleger richtig. "Ich habe ihn in sein Arbeitszimmer gesetzt, ich habe ihm eine Nummer von ›Sport im Bild‹ in die Hand gedrückt, ich habe ihm gesagt: ›Herr Rittmeister, sehen Sie sich mal die Bilder an.‹ Ich bin gespannt, was er tun wird. - Natürlich sind ihm sofort die Idioten aus der Klapsmühle eingefallen. Er ruht nicht eher, bis er die Zeitschrift auf dem Kopf vor sich hat, obwohl ich sie ihm ganz richtig in die Hand gegeben habe. Er guckt immer auf dieselbe Seite, runzelt die Stirn, murmelt mit

sich - und nur, wenn ich sage: ›Herr Rittmeister, die nächste Seite‹ - dann dreht er um."

"Aber was soll das alles?" fragt Pagel etwas unwillig.

"Er spielt doch den Idioten!" kichert Herr Schümann. "Er ist ganz glücklich, wie gut er es macht. Wenn er denkt, ich sehe nicht hin, schielt er von der Seite, ob ich auch aufpasse, was er jetzt wieder anfängt ..."

"Aber wir würden ihn doch auch ohne diese Faxen zufriedenlassen!" ruft Pagel ärgerlich.

"Das würden Sie eben nicht!" sagt der Pfleger bestimmt. "Da hat er recht. Wenn Sie merken würden, er ist ganz vernünftig, dann würden Sie verlangen, daß er ein bißchen an seine Wirtschaft denkt, sich um Geld Gedanken macht. Die gnädige Frau würde Schmerz von ihm wegen der Tochter verlangen, Hilfe ... Das will er eben alles nicht mehr. Er will nicht mehr mitspielen, er ist leergelaufen, hat nichts mehr zu geben."

"Dann ist er eben doch krank!" ruft Pagel. "Nun, wir werden ja sehen. Hören Sie mal zu, Herr Schümann ..."

Und er entwickelt seinen Plan.

"Man kann es versuchen", sagt der Pfleger nachdenklich. "Freilich, wenn es schiefgeht, kriegen wir beide was aufs Dach - vom Arzt wie von der gnädigen Frau. Nun kommen Sie man rein, wir werden ja gleich sehen, wie er reagiert."

Es ist ein recht trauriger Anblick, es ist auch ein sehr beschämender Anblick - wenn der Mann nicht wirklich so krank ist, wie er tut. Da sitzt der Rittmeister, in einem seiner untadeligen englischen Schneideranzüge, immer noch dunkle Augen, aber Haar und Brauen schneeweiß. Das ehemals braune Gesicht sieht aus wie vergilbt. Er hat eine Zeitung in der Hand, er kichert vor Vergnügen über das, was er sieht. Die Zeitung wackelt in seinen Händen, der ganze Rittmeister wackelt mit.

"Herr Rittmeister!" sagt der Pfleger. "Legen Sie bitte die Zeitung weg. Sie müssen sich anziehen und ein bißchen fortgehen."

Einen Augenblick scheint es, als wenn die Stirn sich zusammenzieht, die weißen, buschigen Brauen rücken einander näher - aber dann faßt ein neues Kichern den Mann, die Zeitung raschelt in seiner Hand.

"Herr Rittmeister", sagt jetzt Pagel, "Ihre Stute, die Mabel, ist am Fohlen. Aber es geht nicht glatt, der Tierarzt ist da. Er sagt, das Fohlen ist tot, und die Stute wird auch hops gehen. Wollen Sie nicht einmal nachsehen?"

Der Rittmeister starrt mit gerunzelter Stirn in die Zeitung, er kichert

nicht mehr, er scheint ein Bild zu betrachten ...

Die beiden warten, aber es erfolgt nichts.

"Kommen Sie, Herr Rittmeister", sagt der Pfleger schließlich freundlich. "Geben Sie mir mal die Zeitung."

Der Rittmeister hat natürlich nichts gehört, so wird ihm die Zeitung aus der Hand genommen. Er wird auf die Diele geführt, ein Mantel wird ihm angezogen, eine Sportmütze aufgesetzt, sie treten aus dem Haus, in die Nacht hinaus.

"Bitte, nehmen Sie meinen Arm, Herr Rittmeister", sagt der Pfleger mit seiner sachten, ein wenig berufsmäßigen Freundlichkeit. "Herr Pagel, wollen Sie Herrn Rittmeister auch Ihren Arm geben. - Das Gehen muß Ihnen ja noch sauer werden, Sie sind ja sehr krank gewesen."

Fast unmerklich liegt der Ton auf dem "gewesen".

Vielleicht ist es Zufall, aber vielleicht hat der Kranke die Betonung gespürt. Er hat sie als Herausforderung empfunden, er fängt wieder an zu kichern.

Dann geht er still, ein wenig unsicher, wankend zwischen den beiden.

Nach einer Weile, sie sind den Häusern des Dorfes nun schon nahe, merkt Pagel, daß der Arm des Rittmeisters in dem seinen zittert. Der ganze Mann zittert und bebt. Etwas wie Angst vor dem, was er unternommen hat, will den jungen Pagel überkommen. Er schwankt, schließlich sagt er: "Sie zittern ja so - ist Ihnen kalt, Herr Rittmeister?"

Der Rittmeister antwortet natürlich nicht. Aber der Pfleger hat wohl verstanden, was Pagel gemeint hat.

"Das hilft nun nichts mehr, Herr Pagel", sagt er. "Jetzt können wir nicht mehr umdrehen. Nun müssen wir durch!"

Sie gehen über den Gutshof. Sie treten in den Stall. Pagel sieht wohl den Schreck in den Gesichtern der Leute, die da stehen. Der Rittmeister war ja nach dem Geschwätz ein Verrückter - nun kam der Verrückte zu ihnen in den Stall!

"Alle Mann aus dem Stall!" befiehlt er. "Nur Sie, Futtermeister, und meinethalben Sie, Amanda, können hierbleiben. Machen Sie die Stalltür zu, Amanda."

Gottlob benimmt sich der Tierarzt ganz vernünftig. Er sagt ruhig: "Guten Abend, Herr Rittmeister" und tritt etwas auf die Seite, um den Eingang zur Box freizugeben.

Es war Pagel, als hätte er einen leichten Zug an seinem Arm gespürt. Jawohl, der Rittmeister zog nach der Box, sie konnten ihn loslassen. Er

stand frei und allein da.

Das Pferd lag auf der Seite, die Beine weit von sich gestreckt. Es drehte den Kopf mit den traurigen, hilflosen Augen. Es hatte seinen Herrn erkannt, es wieherte leise, als erwarte es die immer noch ausgebliebene Hilfe nun von ihm.

Der Tierarzt Hoffart berichtete: "Seit ich der Stute Kaffee und Kampfer gegeben habe, sind die Wehen wieder stärker geworden, auch die Herztätigkeit ist jetzt recht gut. Es ist mir beinahe so, als hörte ich wieder leise Herztöne des Fohlens - aber ich kann mich irren, ich bin nicht ganz sicher ..."

Der Tierarzt schweigt. Sie schweigen alle. Was tut der Rittmeister? Er hat den Mantel ausgezogen, er sieht sich um, der Futtermeister nimmt seinem Herrn den Mantel ab, alle sind still, so still ... Der Rittmeister von Prackwitz zieht auch sein Jackett aus, der Futtermeister nimmt es. Der Rittmeister nestelt am Knopf seiner Manschette - Amanda ist da und hilft ihm, den Ärmel hochzustreifen.

Jawohl, das ist die rechte Geburtshelferhand, schmal, mit geschickten Fingern; ein Handgelenk, dünn wie bei einem Kind, aber aus Stahl! Ein langer, schlanker Arm, nichts von Fleisch, aber Sehnen, Knochen, Muskeln.

Sie sind atemlos still, als der Rittmeister hinter dem Pferd niederkniet - nun zögert er, er sieht sich unwillig um - was ist los? Was fehlt noch? Warum spricht er nicht?!

Aber der Tierarzt Hoffart hat ihn schon ohne Worte verstanden, er kniet neben dem Rittmeister, er reibt den Arm mit Öl ein, daß er glatt und geschmeidig ist. Dabei flüstert er: "Ein wenig Vorsicht, Herr Rittmeister! Wenn die Wehen kommen, schlägt der Gaul, man hat vergessen, ihm die Eisen abzunehmen ..."

Der Rittmeister runzelt ungnädig die Stirn, er preßt die fast farblosen Lippen zusammen. Dann macht er sich an seine Arbeit. Bis zur Schulter verschwindet der lange Männerarm in dem Pferdeleib, der Mund hat sich weit geöffnet, geheimnisvoll liest man das Tasten und Suchen der Hand auf dem Gesicht des Mannes ab. Nun leuchtet das Auge auf, der alte glühende Blitz, er hat gefunden, was er suchte!

Jawohl, jawohl - dieser Rittmeister, dieser Mann, einer unter den Menschen - er hatte sich vor dem schmählichen Untergang der Tochter feige verkrochen. Er jammerte nach Alkohol und Veronal, er spielte den Trottel - aber da ein Pferd in Not ist, verläßt er die selbstgewählte Einsamkeit, er kehrt zurück zu den Menschen, er findet noch etwas auf

dieser Erde, was des Tuns wert ist! O mein Gott, das sind die Menschen, so sind sie - besser sind sie nicht. Aber auch nicht schlechter.

Ein paarmal muß der Rittmeister seine Arbeit unterbrechen. Die Wehen sind da, das Pferd schlägt mit den Hufen vor Schmerz, aber er zieht seinen Arm nicht zurück, er duckt sich, denn diese Wehen, die ihn gefährden, helfen ihm auch, die Frucht von der Mutter zu lösen.

Dann wird das Gesicht des Rittmeisters dunkelrot, diese Wehen pressen ja auch seinen Arm mit unendlicher Gewalt aus dem Leib - mit aller Kraft widersteht er. Pagel läßt sich neben dem Rittmeister auf dem Stroh nieder, er stützt mit seiner Schulter die Schulter seines Herrn - ein Blick trifft ihn, ein dunkler Blick, glühend aus allem Dunkel -. Nein, dies ist nicht der Blick eines Trottels. Vielleicht aber ist es der Blick eines Menschen, der Unsagbares gelitten hat ...

Als die Hufe des Fohlens erscheinen, geht eine Bewegung durch die Herumstehenden. - Siehe, es kommt die feine, samtige Schnauze, der Kopf, die Schultern folgen nur zögernd. - Dann, mit unendlicher Schnelle, folgt sehr lang der Leib. Das Fohlen liegt wie leblos auf dem Boden, der Tierarzt kniet bei ihm, untersucht. Er sagt: "Es lebt!"

Mit einem Ruck steht der Rittmeister auf, er greift suchend in die Luft. Der Pfleger sagt: "Halten Sie sich nur fest an mir, Herr Rittmeister. Das war ein bißchen viel für den Anfang."

Und der Rittmeister versteht und hält sich fest.

Amanda Backs ist mit einer Blechschale und warmem Wasser da, behutsam wäscht sie des Rittmeisters mit Blut beschmutzten Arm, als sei der auch etwas Neugeborenes, leicht Verletzliches.

Dann geht Herr von Prackwitz zwischen seinen Führern aus dem Stall. Er geht, ohne einen Menschen anzusehen, ohne ein Wort, schwer, mit schleppenden Füßen, als schliefe er schon. Langsam gehen sie zwischen den Gutshäusern durch. Dann, als sie auf den freien Weg zur Villa hinauskommen, als der aus den Wäldern wehende Oktoberwind sie mit all seiner Frische anspringt, bleibt der Rittmeister stehen. Ein Zucken geht durch ihn, ein Krampf schüttelt seinen Leib. Joachim von Prackwitz sagt das erste Wort nach langem Schweigen. Es ist nur ein Ausruf, ein Ruf der Klage, der Verzweiflung, der Besinnung - wer weiß es? Er ruft: "Mein Gott -!"

Pagel und Schümann sagen nichts. Nach einer Weile nehmen sie ihren Weg wieder auf, schwer geht der Kranke zwischen ihnen. Sie kommen zur Villa, Pagel hilft noch, den Rittmeister in sein Schlafzimmer zu bringen, dann, als der Pfleger anfängt, Herrn von Prackwitz auszuziehen,

steigt er wieder die Treppe hinunter und setzt sich wartend auf die Diele.

Ein Weilchen sitzt er tatenlos. Ein Gefühl guter Müdigkeit erfüllt seine Glieder. Er ist erschöpft, aber er denkt, er hat etwas Richtiges, etwas Gutes getan. Ihm fällt etwas ein: Er steht auf und geht nach kurzem Anklopfen in das Zimmer der gnädigen Frau. Kaum hat er das Licht eingeschaltet, sieht er die Briefstapel auf dem Schreibtisch - jetzt sind es schon mehrere, sie sind hoch, viele Briefe liegen dort.

Er hat einen kleinen Widerwillen zu überwinden, aber, nicht wahr?, man kann ja im Leben nicht nur Dinge tun, die einem angenehm sind! Er läßt die Briefe durch seine Hand gleiten, er glaubt die Handschrift des Geheimrats zu kennen. Er wartet auf die ausländische Marke, den Poststempel: "Nice" muß er lauten, wenn ihn seine Schulkenntnisse nicht trügen.

Aber den ersten Stapel durchblättert er umsonst, ebenso den zweiten. Im dritten ist auch nichts. Als er den vierten und letzten ebenso ergebnislos aus der Hand legt, fällt sein Blick auf einen Notizblock. Er will nicht lesen, aber er hat es schon gelesen - "Vater schreiben" steht da. Er macht das Licht aus und setzt sich wieder auf die Diele.

Diese Notiz kann alles bedeuten: daß die gnädige Frau von sich aus ihrem Vater schreiben will, aber auch, daß sie nicht vergessen will, einen Brief von ihm zu beantworten. Also ist er so weit wie vorher. Er hat diese kleine, ein wenig deprimierende Schnüffelei umsonst betrieben, er weiß nicht recht weiter, er weiß nur, daß er weiter muß ...

Eine Weile später kommt dann der Pfleger die Treppe hinunter.

"Er ist sofort eingeschlafen", meldet er. "Es war wirklich etwas kräftig. Nun, man muß abwarten."

"Was glauben Sie denn?" fragt Pagel.

"Man muß morgen sehen", antwortet der Pfleger wieder. "Man weiß nicht". Und nach einer Pause: "Wie ist es? Sagen Sie es der gnädigen Frau?"

"Ja, richtig", stimmt Pagel zu. "Einer von uns muß es ihr sagen. Sie darf es nicht von andern Leuten erfahren."

Herr Schümann sieht Pagel bedenklich an. "Wissen Sie was, Herr Pagel", meint er dann. "Sie haben es zwar angeregt, aber ich werde es ihr sagen und werde es auf meine Kappe nehmen". Und als Pagel eine Bewegung macht: "Ich habe gehört, da ist so eine Weiberklatscherei im Gange. Die Frauen sind nun mal komisch; werde ich Ihnen wenigstens das abnehmen". Er lächelt. "Freilich, wenn es gut ausgegangen ist mit

dem Herrn Rittmeister, habe nachher ich den Ruhm davon ..."

"Ich kann mir schon denken, was wieder los ist!" sagt Pagel ärgerlich. "Aber die soll mir nur kommen!"

"Kümmern Sie sich nicht darum, Herr Pagel", tröstet ihn der Pfleger. "Eiterbeulen muß man erst aufstechen, wenn sie reif sind. Also vorläufig gute Nacht."

"Gute Nacht", sagt Pagel und macht sich wieder einmal auf den Weg zum Beamtenhaus.

Es ist schon nach acht, Amanda wird schön mit ihrem Abendessen warten. Endlose Geschäftspost ist zu erledigen, an die Mutter möchte er auch schreiben, der Arzt kommt, er muß zum Förster, nach dem Fohlen muß er auch noch mal sehen - aber am liebsten ginge er sofort ins Bett -, und ein Klatsch ist auch im Gange!

Gib Ruhe, liebe Seele, gib Ruhe!

Ja, wenn die andern nur Ruhe gäben ...

8

Jetzt ist es nach zehn Uhr abends, Pagel sitzt vor seinen Lohnbüchern, Krankenkassenbeiträge müssen errechnet, Lohnsteuermarken geklebt werden, und irgendwie muß das Kassenbuch zur Übereinstimmung mit der Kasse gebracht werden.

All dies sind für einen müden Mann fast unbesiegbare Schwierigkeiten; wenn man müde ist, geht keine Arbeit von der Hand. Und dazu kommt ja noch, daß es mit dem Gelde immer schwieriger wird. Er rechnet für einen Arbeiter irgendeinen Wochenlohn aus, genau nach dem Tarif, soundso viel Millionen und Milliarden - aber er kann ihm das Geld nicht geben! Es gibt nicht genug Millionen- und Milliardenscheine, Pagel muß irgendeinen großen Schein nehmen, einen von diesen Dreckscheinen über einhundert oder zweihundert Milliarden Mark. Er ruft vier Mann heran: "So, faßt jeder einen Zipfel an, er gehört euch gemeinsam. Es ist zwar ein bißchen zuviel, ich weiß nicht genau, zwei oder drei Milliarden, aber nun ab mit euch in die Stadt! Kauft gemeinsam ein, ihr müßt euch irgendwie einigen. Meinethalben schimpft auf mich - ich kriege kein anderes Geld mehr."

Schön, sie gehen schließlich, sie kaufen gemeinsam ein. Sie finden einen Kaufmann, der ihnen den Schein wechselt. Aber wo findet er, wo findet Wolfgang Pagel einen Mann, der seine Kasse stimmend macht? Oh, er ist ein großer Mann, er bekommt wöchentlich ein Gehalt von zwei

und einem halben Zentner Roggen - aber soviel fehlt regelmäßig in seiner Kasse! Oft fehlt noch viel mehr, er grübelt, er denkt nach, der kleine Meier hat sicher nie soviel unrichtige Zahlen in sein Kassenbuch geschrieben! Das soll sich einmal ein Bücherrevisor ansehen - ab ins Gefängnis mit diesem Defraudanten!

Pagel stützt den Kopf in die Hand, sie kotzt ihn an, diese Zahlenwildnis. Es steckt etwas so Unsauberes darin, dieses Prunken mit immer astronomischeren Zahlen! Jeder kleine Mann ein Millionär - aber verhungern werden wir Millionäre alle noch! Die Zahlen wachsen - das Elend wächst auch. Wie hatte der Arzt vorhin zum Förster gesagt: "Jetzt sollen bald die Billionenscheine kommen - eine Billion sind tausend Milliarden - höher geht's dann nicht mehr! Dann bekommen wir eine feste Währung. Sie werden pensioniert - und bis dahin bleiben Sie schön ruhig im Bett. Sie sind so verkalkt, daß ich das mit gutem Gewissen verantworten kann - auch ohne das Zureden Ihres jungen Freundes hier!"

"Bekommen wir wirklich noch einmal wieder anständiges Geld?" fragte der Förster ängstlich. "Werde ich es auch noch erleben? Ich möchte es wirklich noch erleben, Herr Doktor, daß man in einen Laden geht und der Kaufmann verkauft einem was und sieht den Geldschein nicht wütend an, als wäre man ein Betrüger."

"Sie werden es bestimmt noch erleben, alter Vater!" versicherte der Arzt und zog dem Förster die Decke unters Kinn. "Und nun schlafen Sie schön - morgen bringt Ihnen der Milchwagen ein Schlafmittel mit."

Draußen aber sagte der Arzt zum jungen Pagel: "Sehen Sie zu, daß der alte Mann nicht ganz zum Liegen kommt. Geben Sie ihm irgendeinen Pusselkram zu tun. Völlig verbraucht und erschöpft. Daß der noch alle Tage zehn Stunden im Walde herumgelaufen ist, zu verstehen ist es auch nicht! Wenn er erst fest liegt, steht er bestimmt nicht wieder auf."

"Also wird er das Ende dieser Inflation nicht mehr erleben?" fragte Pagel. "Es gibt nämlich, weiß ich noch von der Schule her, Billiarden und Trillionen und Quadrillionen und ..."

"Machen Sie einen Punkt, Mensch!" schrie der Arzt. "Oder ich schlage Sie auf der Stelle mit meinem Perkussionshammer zur Erde! Wollen Sie all diese Schweinereien noch erleben? Sie haben ja einen Lebensappetit, junger Mann, davon kann einem übel werden! - Nein", flüsterte er, "ich weiß es von einem Herrn auf der Bank - mit vierhundertzwanzig Milliarden wird der Dollar stabilisiert."

"Ach, solches Gerede hört man seit einem halben Jahr", sagte Pagel. "Ich glaube kein Wort davon."

"Junger Mann", erklärte der Arzt feierlich und funkelte Pagel durch die Brillengläser an. "Ich will Ihnen was sagen: An dem Tag, an dem der Dollar über vierhundertzwanzig Milliarden steigt, setze ich mir eine Maske auf und chloroformiere mich selbst aus dieser Welt heraus. Denn dann habe ich es dicke!"

"Also - wir sprechen uns wieder", sagte Pagel.

"Nicht so, wie Sie denken!" schrie der Arzt zornig. "Ihr heutige Jugend seid ja ekelhaft! So was von Zynismus hatte zu meiner Zeit nicht mal ein hundertjähriger Greis!"

"Wann war denn eigentlich Ihre Zeit, Herr Doktor?" fragte Pagel grinsend. "Ziemlich lange her, was?"

"Ich habe Ihnen von dem Augenblick an mißtraut", sagte der Arzt traurig und kletterte in seinen Opel-Laubfrosch, "als Sie mich so hundeschnäuzig fragten, wie lange der Mann wohl tot sein könnte ..."

"Still doch, Doktor!"

"Na schön, in dem Punkt bin ich nun wieder zynischer. Das macht der Beruf. Gute Nacht. Und wie gesagt, wenn der Dollar nicht bei vierhundertzwanzig stabilisiert wird ..."

"Dann warten wir noch ein bißchen länger!" hatte Pagel dem losfahrenden Arzt nachgeschrien.

Es wäre gut gewesen, wenn nun ein Kaffee auf dem Büro gewesen wäre, aber es würde natürlich diesmal keiner dasein. Amanda Backs war längst schlafen gegangen. Aber Pagel hatte die Amanda wieder einmal unterschätzt - der Kaffee stand auf dem Tisch. Aber leider war der Kaffee nun auch wieder nicht so, daß er ihn richtig munter gekriegt hätte, oder Pagels Müdigkeit war zu dick - jedenfalls saß er trostlos über seinen Büchern. Er kam nicht weiter, wollte ins Bett, wollte aber auch noch an seine Mutter schreiben und plagte sein Gewissen mit dem Satz: Wenn ich nicht zu müde bin, an Mama zu schreiben, darf ich auch nicht zu müde sein, meine Lohnbücher fertigzumachen.

Dieser alberne Satz, bar jeder Logik, dieser tiftlige Satz, die Ausgeburt eines übermüdeten Kopfes, plagte den jungen Pagel so hartnäckig, daß er weder zum Rechnen noch zum Schreiben, noch zum Schlafen kam. Schließlich versank er in einen Zustand quälenden Halbwachseins, dumpfer Benommenheit, in dem durch sein Hirn schreckliche Gedanken krochen, Zweifel am Leben, Zweifel an sich selbst, Zweifel an Petra -

"Zum Teufel!" rief Pagel und stand auf. "Jetzt springe ich aber lieber in den saukalten Schwanenteich des werten Geheimrats voller Entengrütze und nehme das klapprigste, kälteste Bad meines Lebens, als daß ich hier

noch länger verdüst und verdöst herumsitze!"

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Eine weibliche, rasche Stimme, die ihm bekannt und doch fremd vorkam, sagte an, Herr Pagel möge doch sofort in die Villa kommen, die gnädige Frau wünsche ihn zu sprechen.

"Komme sofort!" antwortete Pagel und hing an.

Was war das bloß für ein Weibsbild, das mit ihm gesprochen hatte? Die Stimme klang verstellt!

Er sah auf die Uhr. Es war drei Viertel elf. Ein bißchen reichlich spät für einen Mann, der um fünf, um halb fünf, um vier aufstand! Nun, es brannte wohl mal wieder da drüben! Die Sache mit dem Rittmeister war schiefgegangen, oder die gnädige Frau hatte doch endlich irgend etwas wegen Violet erfahren, oder sie wollte auch nur wissen, wieviel Kartoffeln grade heute gebuddelt waren - manchmal kam sie so etwas an! Sie war ja zuzeiten auch eine Tochter ihres Vaters, dann dachte sie, sie müsse den jungen Beamten kontrollieren.

Vergnügt pfeifend wanderte Pagel durch das Gut zur Villa hinaus. Obwohl er sofort zur gnädigen Frau kommen soll, macht er doch noch den Umweg über den Pferdestall. Verschlafen fährt die Stallwache hoch - aber es ist alles in bester Ordnung. Die Stute steht schon wieder in ihrer Box und sieht sich mit ihrem lebhaften Auge nach Pagel um. Das unglaublich langbeinige Fohlen schläft. Den Wachtmann schickt Pagel nunmehr auch schlafen.

In der Villa öffnet ihm die gnädige Frau selbst. Sie hat sich sehr verändert in den letzten Wochen. Diese ewigen Fahrten mit ihrem qualvollen, irrsinnigen Hoffen, der dumpfen Rückfahrt, dieses verzehrende Warten auf etwas, das nie eintritt, diese qualvolle Ungewißheit tagaus, tagein, der die schlimmste Gewißheit vorzuziehen gewesen wäre - all das hat ihre Züge scharf gemacht.

Ihr Auge, dies sonst so freundliche, frauliche Auge, hat einen trockenen, brennenden Blick.

Aber es ist nicht nur dies allein: Seit Frau Eva sich nicht mehr pflegt, nicht mehr regelmäßig ißt, hat ihre sanfte Haut mit den blonden Tönen des Pfirsichs etwas Schlaffes, Zerfallenes bekommen; der Hals hat Falten, die Backen hängen ... Diese veränderte Frau hat auch eine andere Sprache. Sie konnte früher so schön lachen, sie war eine Frau im Einklang mit sich und der Welt. Ihre Stimme hatte etwas Reifes, Schmelz und Schwingung ... Vorbei, vorbei ... Ein eiliges, fast tonloses und scharfes Gerede - die Stimme klingt, als sei ihr die Kehle ausgedörrt.

Mit dieser scharfen, leisen Stimme wird Wolfgang ein trockenes "Guten Abend" gesagt. Die gnädige Frau bleibt auf der Diele stehen, sie mustert ihn mit bösen Augen, sie sagt dann eilig: "Es tut mir sehr leid, Herr Pagel, aber ich kann das unmöglich dulden. Ich höre heute, Sie haben schmutzige Weibergeschichten, Sie nutzen Ihre Stellung aus, um Mädchen zu zwingen ..."

Oh, die Frau, die arme, veränderte gnädige Frau! Gewiß tut es ihr nicht leid, sondern sie ist wütend, sie ist rachgierig. Diese Frau Eva, noch vor ein paar Wochen bereit, überall ein lächelndes Auge zuzudrücken, jetzt muß sie ihre Tochter an den Männern rächen! Es ist alles schmutzig - Schmutz, Schmutz, wohin sie sieht, aber in ihrer Nähe duldet sie ihn nicht! Nichts mehr von diesen Dingen, Schluß damit, alles Dreck und Gemeinheit!

Pagel hält dem harten Blick der bösen Frau stand, er lächelt, in seine Augenwinkel treten die Fältchen: Er kann nicht ernst sein. Er steht auf der andern Seite, er denkt gewissermaßen objektiv, er kann nicht begreifen, daß eine Frau, die vor Sorgen um die eigene Tochter fast umkommt, sich nun noch mit Klatsch abgibt ... Er bewegt lächelnd den Kopf von rechts nach links. Er sagt freundlich: "Nein, gnädige Frau, ich bin ganz sicher, ich habe keine schmutzigen Weibergeschichten."

"Aber mir ist es gesagt worden!" ruft die gnädige Frau. "Sie haben ..."

"Warum sollen wir uns denn anhören, was gelogen wird?" sagt Pagel unverändert freundlich. "Da ich doch eben keinerlei Weibergeschichten habe? Ich möchte wirklich nicht, daß wir länger von diesen Dingen reden, gnädige Frau."

Frau von Prackwitz macht eine ungeduldige Bewegung, denn grade das möchte sie. Ein Haß in ihr, eine Wut treibt sie, dem jungen Kerl da ins Gesicht zu sagen, was sie von ihm gehört hat. Und dann möchte sie Erklärungen hören, Entschuldigungen - am liebsten aber ein Geständnis!

Pagel aber dreht sich rasch um, er hat längst verstanden, warum diese Unterredung hier auf der Diele geführt wird. Richtig, in der Einmündung, der Küchentreppe aus dem Souterrain steht die Sophie Kowalewski. Sie macht eine Bewegung, sich zu verstecken, aber es ist schon zu spät.

"Kommen Sie nur vor, Sophie!" ruft Pagel. "Sie sind die einzige, von der ich die Geschichte hören möchte. Erzählen Sie bitte hier vor der gnädigen Frau, was Sie getan haben, damit Sie nicht Kartoffeln buddeln müssen."

Frau Eva wird langsam rot, sie macht eine Bewegung, um den jungen Mann anzuhalten. Aber er geht schon auf das Mädchen los, gar nicht

drohend, nein, gemütlich, freundschaftlich ...

"Nun, Sophie", sagt er. "Komm, mein Mädchen, erzähl, erzähl. Oder noch besser: Mach mal hier bei der gnädigen Frau vor, wie du mir dein Knie zeigen wolltest! Na, wird es -?!"

Hier erweist sich, daß Sophie Kowalewski nichts Ganzes ist, nicht im Guten und nicht im Bösen. Sie ist ausgerutscht, sie ist unter die Räder gekommen schön, schlimm, aber sie ist nicht einmal richtig schlecht geworden. Sie hat nicht einmal den Mut zu ihren Bosheiten, sie ist feige ...

Trotzdem der junge Pagel doch ganz gemütlich auf sie zukommt, stößt sie plötzlich einen Angstschrei aus. Sie dreht sich um, sie läuft die Küchentreppe hinunter, klapp! geht die Tür, fort ist sie -!

Pagel kehrt zurück zu Frau Eva. Nein, nun zeigt er nichts mehr von dieser prahlenden Unbekümmertheit, er sagt erklärend, fast entschuldigend: "Ich hatte ihr nämlich aufgegeben, morgen früh zur Kartoffelernte anzutreten. Ihre Faulheit ist ein böses Beispiel im Dorf."

Frau von Prackwitz sieht ihn an. Die Röte des Ärgers und der Scham ist aus ihrem Gesicht gewichen, doch nicht ganz. Etwas blieb zurück, eine Spur gesunderer Lebensfarbe. Nein, das Leben ist doch nicht nur alt und häßlich und verbraucht - es kann auch noch jung, frisch, sauber sein.

Fast entschuldigend sagt sie: "Ich habe die Sophie als Bedienung fürs Haus angenommen. Sie bot es mir an, und ich war so in Verlegenheit. Aber bitte, kommen Sie doch herein, Herr Pagel."

Sie geht ihm voran, sie ist fast befangen - muß sie sich nicht schämen? Ihr Unglaube, ihr Zweifel - sie sind so häßlich gegen seinen Glauben, seine Sauberkeit.

"Ich kannte ja die Zusammenhänge nicht", sagt sie noch einmal erklärend.

"Sicher wird sich die Sophie für die Hausarbeit besser eignen als für das Kartoffelbuddeln", meint Pagel. "Die Hauptsache ist, sie läuft nicht länger faul herum."

"Aber ich habe die schwarze Minna dafür entlassen", berichtet Frau Eva schuldbewußt. "Das Frauenzimmer ist mir so gräßlich ..."

Pagels Mund hat sich fest geschlossen; er denkt, daß die Faule den guten Posten kriegt und die Fleißige, die sich immer abrackert, wieder in die eisigen Kartoffeln muß. Sie urteilt nicht über die Arbeit, die versteht sie nicht. Sie denkt an das Aussehen, die hübsche Sophie gefällt ihr besser als die verbrauchte schwarze Minna.

"Ich werde mit Ihrem Einverständnis die Minna im Schloß

beschäftigen", schlägt er schließlich vor. "Da sieht es noch wild aus, und irgendwann werden die alten Herrschaften doch zurückkommen."

"Ja, tun Sie das, Herr Pagel!" ruft sie eifrig. "Ich bin Ihnen ja so dankbar. Es ist sicher die beste Lösung". Fast schuldbewußt sieht sie ihn an. "Sie sind mir doch nicht böse wegen vorhin?"

"Nein. Nein. Aber vielleicht werden Sie mir böse sein, wenn ich Ihnen sage ..."

Das Licht in ihren Augen erlischt.

"Hat die Sophie also doch recht gehabt?" fragt sie tonlos.

"... wenn ich Ihnen sage, daß ich vor ein paar Stunden hier in Ihrem Zimmer war. Ich habe", sagt er ein wenig verlegen, "die Briefe dort durchgesehen, ich suchte einen bestimmten Brief ..."

Sie sieht ihn zweifelnd an, sie wartet ab.

"Ich fand den Brief nicht. Ich wollte ihn nicht etwa lesen, ich wollte nur sehen, ob er da war. Dann las ich zufällig auf Ihrem Notizblock den Vermerk ›Vater schreiben‹ - ich komme mir vor wie ein richtiger, häßlicher Spion. Aber ich habe nicht für mich spioniert -."

"Aber warum denn?" fragt sie hilflos. "Sie hätten mich doch nur zu fragen brauchen."

"Es ist", sagt er verdrießlich und scheuert sich seine Nase, "gewissermaßen ein ärgerlicher Fall. Ich hatte mir ausgedacht, ich wollte Ihnen erzählen, daß der Förster bettlägerig geworden ist und daß wir darum an den Herrn Geheimrat schreiben müssen, was nun werden soll. - Aber es wäre Schwindel. Der Förster ist zwar wirklich krank, aber die Forst braucht uns darum keine Sorge zu machen."

"Und was ist nun wirklich?" fragt sie.

"Ja, das ist es eben, ich habe mein Wort gegeben, Ihnen, keinem etwas zu sagen. Ich habe es tun müssen", sagt er eifriger, "sonst hätte ich gar nichts erfahren."

"Aber was ist denn nur?" fragt sie unruhig. "Sollen denn immer wieder neue Sorgen kommen?" - Sie steht auf, sie läuft hin und her. "Können Sie mir denn gar nichts sagen, Herr Pagel?"

"Ich möchte Sie etwas fragen, gnädige Frau. Hat Ihnen Ihr Herr Vater seit seiner Abreise geschrieben?"

"Ja", sagt sie. Also es ist etwas mit Papa, überlegt sie, aber ihr Ton ist leichter. Dies nimmt sie nicht schwer.

"Haben Sie geantwortet?"

"Nein, ich habe ihm nicht geantwortet", sagt sie kurz. Er merkt, sie

ärgert sich schon in der Erinnerung an den Brief.

Sie sieht ihn abwartend an, aber er fragt nichts mehr. Er scheint alles gesagt zu haben, was er sagen wollte. Endlich entschließt sie sich: "Herr Pagel, ich will es Ihnen erzählen. Papa verlangt, daß ich mich von Herrn Rittmeister scheiden lasse. Er hat es schon immer gewollt, er liebt seinen Schwiegersohn nicht ..."

Pagel nickt langsam ...

"Aber kann ich es denn?!" ruft sie. "Kann ich ihn denn so sitzenlassen? Ich brauche Ihnen doch nichts zu erzählen", sagt sie hastig. "Sie kennen ihn doch auch. - Aber läßt man denn seine Freunde sitzen, wenn sie in der Not sind?! Ja, wenn er gesund wäre, wenn ich irgendwie sähe, daß er ohne mich leben könnte. Aber so - nein, nein! Nun erst recht nicht! Für Gut und Böse - for better and worse, heißt es bei den englischen Trauungen. Ich bin auch so! Grade für Böse, erst recht für Böse!"

Sie sieht Pagel starr an, ihr Gesicht zuckt.

"Ach, Herr Pagel", sagt sie klagend. "Ich weiß, Sie haben heute abend versucht, ihn wieder in dieses Leben zurückzurufen. Sie sind es natürlich gewesen. Wie soll denn der Pfleger auf so etwas kommen?! Ich war zuerst sehr böse auf Sie, Sie müssen ja doch auch sehen, daß er bloß ein armer Kranker ist. Aber dann habe ich mir gedacht: es war doch freundlich gedacht. Sie sorgen sich noch um ihn. Aber mein Vater, der will nur, daß ich ihn sitzenlasse, in irgendeine Irrenanstalt stecke, einen Vormund bestelle - fertig, los! Aber wir haben fast zwanzig Jahre miteinander gelebt, Herr Pagel!"

"Er hat einmal ›O Gott!‹ gesagt."

"Ja, ich habe es gehört. Das bedeutet nichts; er weiß nicht mehr, was er sagt. Aber Sie sind eben jung, Sie hoffen noch. - Ach, Herr Pagel, wenn ich jetzt so durch das Land fahre und sehe die Leute über die Landstraße laufen, jetzt, bei dem schlimmen Wetter! Es sind so viele unterwegs, nicht nur Stromer. Diese schreckliche Zeit macht alle ruhelos. - Heute früh, es regnete grade so eisig, sah ich zwei junge Leute. Er schob einen Kinderwagen, so einen ganz alten aus Rohr auf hohen Rädern, und sie ging neben dem Wagen her und redete dem Kind zu. - Nein, ich habe ihnen nichts gegeben", rief sie fast leidenschaftlich, "ich habe gedacht, daß vielleicht meine Violet auch so herumläuft, aber sie hat kein Kind, zu dem sie sprechen kann, sie hat niemanden, zu dem sie sprechen kann! Ach, Herr Pagel, was soll ich nur tun?!"

"Hoffen "..., sagt er.

"Darf ich es denn noch -? Soll ich es denn noch -?! Kann ich es ihr denn

überhaupt noch wünschen, daß sie lebt? Ist es nicht bloß Eigennutz von mir, daß ich es hoffe -? Ist denn überhaupt noch ein Stückchen von meiner Violet da? Ach, immerzu wünsche ich, daß ich sie treffe, und immerzu schaudere ich davor. Herr Pagel, es sind jetzt über vier Wochen, daß sie fort ist -!"

"Sie hat ihren freien Willen nicht", sagt Pagel leise. "Eines Tages wird sie ihn wiederfinden, dann wird sie kommen."

"Nicht wahr, Sie sagen es auch?!" ruft sie fast freudig. "Sie schläft noch, sie schläft noch immer! Wenn man schläft, so fest schläft, fühlt man nichts, sie wird unverändert zurückkommen. Sie wird dort oben in ihrem Zimmer aufwachen, sie wird glauben, es ist nichts gewesen, sie hat sich am Abend vorher schlafen gelegt!"

Mit Staunen sieht Pagel auf die Frau. Sie ist aufgeblüht, die Hoffnung, der unbesiegbare Lebenswille haben sie aufgeweckt, sie ist wieder jung - das Leben hat für sie noch große Gaben bereit!

"Ich will Ihnen noch etwas sagen, Herr Pagel", flüstert sie plötzlich, mit einem Blick zur Tür. "Ich suche nicht allein nach ihnen, es sucht noch einer. Er hat meinen Wagen angehalten, es ist ein Mann mit einem dicken, gedunsenen Gesicht, er hat einen steifen schwarzen Hut auf, einen glasigen Blick - vielleicht kennen Sie ihn?"

Pagel sieht sie an. "Ja, ich kenne ihn -", sagt er leise.

"Nein, sagen Sie mir nichts von ihm!" ruft sie eilig. "Ich will nichts von ihm wissen. Er hält meinen Wagen an, er fragt nichts, er grüßt nicht, er sagt nur: Fahren Sie einmal da und da hin! Dann sehe ich ihn wieder auf irgendeiner Landstraße, in einem Städtchen, er ist auch immer unterwegs. Er schüttelt nur den Kopf, wenn ich ihn ansehe, geht weiter ... Herr Pagel, wenn ich sie nicht finde, er findet sie! Manchmal denke ich, die reden soviel von der Liebe ... Aber der Haß ist viel stärker!"

"Ja", sagt Pagel. "Der Mann haßt das Böse. Er sieht böse aus, aber er haßt die Bosheit, sein Haß treibt ihn ruhelos umher."

"Sagen Sie mir nichts von ihm!" ruft sie wieder. "Ich will nichts von ihm wissen!" Und ganz leise: "Er ist doch jetzt über vier Wochen mit Violet unterwegs, er muß doch irgendwie für sie sorgen ..."

Pagel sieht sie an. Diese Mutter, die ewige Mutter - sie verabscheut den Wurm, der ihr die Tochter unselig und elend gemacht hat. Aber da der Elende die Tochter noch immer leben läßt, ihr ein bißchen zu essen gibt, mag sie nicht daran denken, daß er in die Hände dieses Grausamen gerät!

Pagel steht auf. "Gnädige Frau, machen Sie sich wenigstens keine

Sorge wegen des Herrn Geheimrats. Vorläufig wird nichts geschehen. Es ist etwas dazwischengekommen. Es bestehen wohl Pläne -"

"Ja, wir sollen fort von hier!"

"Aber sie sind im Augenblick nicht durchführbar. Wenn wirklich etwas vorfällt, gebe ich Ihnen sofort Nachricht."

Er sieht sie einen Augenblick nachdenklich an. Dann sagt er noch: "Sie brauchen sich auch nicht mit einem Brief an Ihren Herrn Vater zu plagen. Da Sie doch nicht tun können, was er wünscht, ist es ebensogut, Sie schreiben nicht."

"Ich danke Ihnen, Herr Pagel", sagt sie. "Ich danke Ihnen für alles". Sie gibt ihm die Hand, sie lächelt ihm zu. "Es hat mir gutgetan, mit Ihnen zu reden". Und mit jenem plötzlichen, unerklärlichen Übergang der Frauen: "Aber nun müssen Sie mir auch einen Gefallen tun, Herr Pagel!"

"Ja, bitte?" sagt er. "Gerne."

"Dulden Sie dieses Frauenzimmer, die Backs, nicht um sich! Sie sollen ja sogar mit ihr essen, und sie soll ewig im Büro bei Ihnen sitzen. Ach, seien Sie mir doch nicht böse, Herr Pagel!" ruft sie hastig. "Ich mißtraue Ihnen ja gar nicht. Sie merken natürlich nicht, daß das Mädchen verliebt in Sie ist ..."

"Amanda Backs ist nicht verliebt in mich, gnädige Frau", sagt Pagel. "Ich tu ihr nur gut - sie ist nämlich ein sitzengelassenes Mädel". Rascher: "Und mir tut sie auch gut. Das Leben in Neulohe ist manchmal ein wenig viel für einen so jungen Mann wie mich. Ich habe manchmal auch gerne einen Menschen um mich, mit dem ich ein Wort reden kann."

"Ach Gott, Herr Pagel!" ruft sie ehrlich bestürzt aus. "So habe ich es nun wirklich nicht gemeint! Ich habe doch nur gemeint, die Backs, weil sie mit dem Meier - der ist doch wirklich ein Lump ..."

Pagel sieht sie an, aber sie merkt nichts. Sie merkt wirklich nichts. Sie findet keinerlei Parallelen.

"Sobald ich die Backs sehe, werde ich ihr ein Wort sagen", meint sie versöhnlich. "Ich glaube, ich habe ein- oder zweimal ihren Gruß nicht erwidert. Es tut mir jetzt wirklich leid ..."

Draußen auf der Diele fängt die Uhr an zu schlagen, sie schlägt Mitternacht.

"Kommen Sie, Herr Pagel", ruft Frau von Prackwitz eifrig, "machen Sie, daß Sie ins Bett kommen! Es ist wirklich zu spät für Sie! Ich glaube es Ihnen schon, daß die Wirtschaft manchmal ein bißchen viel für einen alleine ist. Schlafen Sie sich morgen früh einmal gründlich aus. Lassen Sie die Leute nur alleine wursteln, ich bin mit allem einverstanden. Ich

erlaube es Ihnen. - Gute Nacht, Herr Pagel, und nochmals schönen Dank."

"Gute Nacht, gnädige Frau", sagt Pagel. "Ich habe zu danken."

"Also bestimmt ausschlafen!" ruft sie noch hinter ihm drein.

Pagel lächelt für sich im Dunkeln. Er nimmt es ihr nicht übel, in vielen Dingen ist diese kluge, erwachsene Frau wie ein Kind. Bei Arbeit denkt sie immer noch an so etwas wie Schularbeiten. Man kann wenig aufbekommen, der Lehrer kann aber auch mal einen ganzen Tag freigeben - und dann freut sich das Kind! Sie hat noch nicht begriffen(und wird es wohl nie begreifen), daß das Leben, daß jeder Tag seine Aufgabe stellt, die einem nicht erlassen werden kann.

Oben im Beamtenhaus ist ein weißer Schatten im Fenster. Die getreue Wächterin hat sich um seinetwillen gesorgt.

"Alles in bester Butter, Amanda", sagt Pagel halblaut nach oben. "Sophie hat sich umsonst angestrengt. Schlafen Sie ein, wärmen Sie sich und wecken Sie mich morgen früh erst um halb sechs - aber mit einem Mokka."

"Gute Nacht, Herr Pagel", klingt es von oben.

9

Am nächsten Morgen ereignet sich vor der Villa folgendes: Frau von Prackwitz sitzt schon im Wagen, sie gibt Oskar ihre Weisungen - da tut sich die Tür der Villa auf. Heraus tritt der Rittmeister, gefolgt von seinem Pfleger.

Der Rittmeister geht mit einem gehemmten, seltsam stolprigen Schritt an die Wagentür. Der Pfleger Schümann bleibt oben auf der Treppe stehen.

Mühsam, wie ein schuldbewußtes Kind, mit gesenkten Augenlidern, fragt der Rittmeister: "Darf ich vielleicht mit dir fahren, Eva? Bitte!"

Frau Eva ist so bestürzt, daß sie nicht weiß, was sie antworten soll. Sie wirft einen fassungslosen Blick zu dem Pfleger hinüber. Herr Schümann nickt nachdrücklich mit dem Kopf.

"Aber, Achim!" ruft die gnädige Frau. "Wird es dir auch nicht zuviel?!"

Er schüttelt den Kopf, er sieht sie an. Seine Augen sind voller Tränen, sein Mund zittert.

"Ach, Achim!" ruft sie. "Achim - ich bin ja so glücklich! Paß auf, es wird noch alles wieder gut. Wir zwei alten Leute. - Steh doch nicht, setze dich

doch hier neben mich. Herr Schümann, helfen Sie doch bitte Herrn Rittmeister in den Wagen. - Oskar, hol noch eine Decke, die mit dem Pelz. - Herr Schümann, Sie müssen dann sofort zu Herrn Pagel gehen und ihm dies sagen, er wird sich auch freuen ... Ach, Achim ..."

Endlich fährt der Wagen an.

Der Rittmeister macht eine entschuldigende Bewegung zu seinem Hals. "Verzeih, Eva", sagt er leise und wieder sehr mühsam. "Ich kann noch nicht richtig reden. Ich verstehe nicht ganz, aber ..."

"Aber was brauchst du denn zu reden, Achim?" sagt sie und nimmt seine Hand. "Wenn wir beide nur zusammen sind, nicht wahr, dann ist alles leichter -?"

Er nickt heftig.

FÜNFZEHNTES KAPITEL. Der Letzte bleibt nicht allein

1

Es ist nun Ende November, fast Dezember geworden; mit eisigen Stürmen, mit nassen, häßlichen Schneefällen geht das Jahr seinem Ende zu. Die letzten Kartoffelbuddler sind geflohen, ein großer Schlag, zehntausend Zentner Kartoffeln und mehr stecken noch in der Erde. Nach dieser Richtung hinaus mag Wolfgang Pagel nicht fahren; eine zornige Scham überkommt ihn, wenn er das Kartoffelkraut über der Erde verfaulen sieht und daran denkt, daß auch die Knollen in der Erde verfaulen - indes Menschen in den Städten vor Hunger umkommen.

Ich habe vieles falsch gemacht, denkt er. Aber wie zum Teufel hätte ich es wissen sollen?! Keiner hat es mir gesagt, und ich habe jeden Tag so vieles zu erledigen gehabt, daß ich nicht über den Tag hinausdenken konnte. Gleich vom Felde hätte ich die Kartoffeln zur Bahn fahren sollen, dann hätten wir jetzt das bißchen Geld, das uns immer fehlt. Nun lagern sie in den Mieten, von Frost und Dieben bedroht. - Erst im Frühjahr werden sie zu verkaufen sein, und wer wird dann hier wirtschaften?

Die Dreschmaschine draußen singt und brummt - aber sie ist zu laut, sie ist zu auffallend. Da ist ein Mann in Frankfurt, er hat einmal eine große Summe Inflationsgeld hergegeben, es wurde dafür ein Auto gekauft - nun will der Mann seine Ware haben. Die Zeiten beginnen sich zu ändern, in Berlin sollen sie nun wirklich die Notenpresse stillgelegt

haben, es heißt, die Mark wird nicht mehr tiefer fallen; als für einen amerikanischen Dollar viertausendzweihundert Milliarden Mark gegeben wurden, hörte die Mark auf zu fallen. Vielleicht bleibt sie auf diesem Stand wirklich stehen - schließlich ist auch das egal.

Die Dreschmaschine brummt und singt - manchmal schafft sie für den Mann in Frankfurt Roggen, manchmal muß der leer ausgehen, weil ein anderer rascher ist. Der Herr Geheimrat von Teschow hat den schönen Ort Nizza an der Azurküste verlassen, er wohnt nun in der angenehmen Stadt Dresden, genauer, auf dem "Weißen Hirsch" in Loschwitz. Vielleicht will er abnehmen, oder seine Galle plagt ihn, wenn er an Neulohe denkt. Oder die alte gnädige Frau hat es mit den Nerven ...

Jedenfalls besuchen Sendboten von ihm häufig Neulohe. Es sind Gerichtsvollzieher und Obergerichtsvollzieher, auch ein fröhlicher Rechtsanwalt mit roten Schmissen und sehr dünnem blondem Haar ist für Wolfgang eine bekannte Figur geworden. Der Vater aus Dresden schnappt zu, er hat Witterung und einen guten Appetit. Dazu hat er ein vollstreckbares Urteil, oh, es ist alles in bester Ordnung! - Wieder hat er dreihundert Zentner Roggen geschnappt, einen Waggon, den der Mann in Frankfurt haben sollte ...

Pagel sitzt an seiner Schreibmaschine, es ist erst halb neun Uhr morgens, er tippt einen Brief, den der Postbote unbedingt noch mitnehmen muß.

"Sehr geehrter Herr Soundso, zu meinem Bedauern muß ich Ihnen mitteilen, daß der Ihnen bereits avisierte Waggon Roggen(Baden 326485, 15 tons) noch vor seinem Abrollen auf der hiesigen Verladestation von dem Ihnen bekannten andern Gläubiger des Herrn von Prackwitz beschlagnahmt wurde. Ich bitte Sie noch um einige Tage Geduld, ich werde eine Ersatzlieferung so schnell wie möglich vornehmen. Mittlerweile bitte ich zu erwägen, ob Sie das für Sie bestimmte Getreide nicht direkt mit Lastzug von der Dreschmaschine abholen können. Ich habe Ihnen ja bereits mündlich ausgeführt, daß es weder an unserm guten Willen zu liefern noch an der Möglichkeit fehlt ..."

Aber was sagte die Herrschaft dazu? Was sagen die beiden Leute in der Villa dazu?

Sie sagen gar nichts dazu!

Der Rittmeister spricht überhaupt nicht gern ein Wort, er sitzt am liebsten still neben seiner Frau. Und Frau Eva nickt mit dem Kopf. "Machen Sie das ganz so, wie Sie es für richtig halten, Herr Pagel. Sie haben ja Vollmacht ..."

"Aber Ihr Herr Vater ..."

"Ach, Papa - er wird es schon nicht so schlimm meinen. Sie sollen sehen, wenn alles ganz verwirrt ist, kommt mein Vater, bringt alles in Ordnung - und strahlt, weil er so klug sein darf. Nicht wahr, Achim, so hat es Papa doch immer gemacht -?"

Der Rittmeister nickt beistimmend mit dem Kopf, er lächelt.

"Aber ich habe kein Geld für die Leutelöhnung!" ruft Pagel verzweifelt.

"Herr Pagel! Verkaufen Sie doch irgend etwas - verkaufen Sie Kühe, verkaufen Sie Pferde! Was brauchen wir jetzt zu Winters Anfang, wo die Arbeit zu Ende ist, Pferde?! Nicht wahr, Achim, im Winter braucht man doch keine Pferde?"

"Nein". Der Rittmeister ist einverstanden, im Winter braucht man keine Pferde.

"Der Pachtvertrag untersagt den Verkauf des lebenden Inventars. Das lebende und tote Inventar, gnädige Frau, gehört nicht Ihnen, es gehört Herrn Geheimrat."

"Sind Sie Herr von Studmann geworden? Jetzt reden Sie sogar schon vom Pachtvertrag! - Lieber Herr Pagel, machen Sie uns keine Schwierigkeiten! Dafür haben Sie doch die Vollmacht! Es handelt sich ja jetzt nur noch um ein paar Tage ..."

Pagel sieht Frau Eva fragend an.

"Ja", sagt sie plötzlich eifrig, "ich bin überzeugt, unsere Fahrten werden jetzt Erfolg haben. Der dicke Mann ist wieder aufgetaucht mit seinem steifen Hut ... Eine Weile war er fort, wir hatten die Hoffnung fast aufgegeben ... Aber jetzt ist er wieder da, er nickt uns zu ..."

Pagel geht.

Pagel beschafft Geld und löhnt die Leute. Pagel beschafft kein Geld, und er gibt den Leuten Korn und Kartoffeln, ein Ferkel, Butter, eine Gans ...

Pagel sitzt an der Schreibmaschine und tippt:

"Wir haben noch annähernd viertausend Zentner Getreide ungedroschen liegen ..."

Ist das nun wahr, oder ist es gelogen? denkt Pagel. Ich weiß es nicht. Ich habe die Getreidebücher seit Wochen nicht mehr geführt, ich komme nicht mehr durch, ich habe jede Übersicht verloren ... Er seufzt. Wenn jemand nach mir diese Bude übernimmt, er muß mich für sträflich leichtsinnig halten. Es stimmt ja alles nicht ... Wenn der Geheimrat das zu sehen kriegt ... Pagel seufzt. Ach, das Leben macht keinen Spaß, es

schmeckt mir nicht mehr. Sogar, wenn ich an Petra denke, schmeckt es mir nicht mehr. Wenn ich je wirklich zu ihr kommen sollte, ich bin überzeugt, ich werde heulen, heulen, aus reiner Nervenschwäche ... Aber ich kann doch jetzt nicht weglaufen! Ich kann sie doch nicht sitzenlassen! Sie kriegen ja nicht mal mehr den Brennstoff für ihren verdammten Wagen gepumpt!

Er seufzt wieder.

"Jetzt haben Sie dreimal geseufzt, Herr Pagel", sagt Amanda Backs vom Fenster her, "und es ist erst halb neun Uhr morgens, wie wollen Sie da durch den Tag kommen?"

"Das frage ich mich auch manchmal, Amanda", antwortet Wolfgang Pagel, dankbar für die Ablenkung. "Aber im allgemeinen sorgt der Tag schon selber dafür, daß man durch ihn kommt, und meistens ist kein Tag so schlimm geworden, wie ich am Morgen gefürchtet, und keiner so gut, wie ich am Morgen gehofft habe ..."

Amanda Backs will antworten, sie hat ungeduldig zum Fenster hinausgesehen, sie mag diese weisen Sprüche nicht hören. - Aber nun stößt sie einen Schrei aus, einen Schrei des Schreckens -: "Herr Pagel, sehen Sie doch bloß -!"

Pagel springt an das Fenster und sieht ...

Er sieht etwas gekrochen kommen, über die Wiese des geheimrätlichen Parks, ein Menschentier, auf Armen und Beinen kriechend, es ist vorne von einem düsteren, schrecklichen Rot, und es schleppt etwas Langes, Braunes hinter sich nach ...

Einen Augenblick steht Pagel erstarrt.

Dann schreit er: "Der Förster! Jetzt haben sie auch noch den Förster erschlagen!" und springt aus der Tür.

2

Es war gar nicht so schwierig gewesen für Wolfgang Pagel, den alten Förster Kniebusch wieder aus dem Bett zu bekommen, nachdem er ihn krank hineingelegt hatte - nicht halb so schwierig, wie es sich der Arzt gedacht hatte. Ein Mann, der sein ganzes Leben in der frischen Luft verbracht hatte, wurde so öde im Kopf, wenn er immer in der Luft des geschlossenen Zimmers lag. "Ich habe ja Angst, die Wände fallen mir über den Kopf!" klagte der Förster zu Pagel. "Es ist alles so eng - und sie will nicht, daß ein Fenster aufgemacht wird."

Vielleicht war es nicht die Enge, war es nicht die Atemnot, waren es

nicht die Bienen, die für den Winter versorgt werden mußten, war es nicht der Jagdhund, der alle Tage sein Futter haben wollte, was den Förster rasch wieder aus dem Bett trieb.

Vielleicht war es am stärksten "sie", seine Frau, die ihm die Stube verleidete. Da hatten sie nun ein ganzes Leben Seite an Seite verbracht - ach, sie waren sich ja so zuwider geworden, sie konnten sich nicht mehr sehen! Nein, sie sahen sich wirklich nicht mehr, Tag für Tag gingen sie aneinander vorüber, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. Jetzt ging er in die Küche, er kochte sich seinen Kaffee und schmierte sich sein Brot, und dann, wenn er aus der Küche hinaus war, kam sie angeschnauft und kochte sich ihren Kaffee und schmierte sich ihr Brot.

Es war der äußerste, unüberwindliche Überdruß. Sie waren längst über Ekel, Haß und Abneigung hinaus, sie waren füreinander überhaupt nicht mehr da! Schon lange nicht mehr! Ehe er noch den Mund aufgemacht hatte, wußte sie schon, was er sagen würde, und er wußte alles, alles von ihr, wie ihr Erbsen bekamen und daß sie bei Südwind auf dem linken Ohr nicht hörte und daß Neunaugen mit einem Lorbeerblatt viel besser schmecken als Neunaugen ohne ein Lorbeerblatt.

"Ziehen Sie doch in ein anderes Zimmer", schlug Pagel vor. "Es sind doch leere Zimmer genug im Haus."

"Aber mein Bett hat doch immer hier im Zimmer gestanden! Ich kann es doch auf meine alten Tage nicht mehr umstellen. Ich würde nie einschlafen!"

"Dann gehen Sie eben ein bißchen spazieren", antwortete Pagel. "Frische Luft und ein wenig Bewegung können Ihnen nur guttun, meint der Arzt."

"Ja, meint er das wirklich?" fragte der Förster ängstlich. "Dann will ich es auch tun."

Er war sehr bereit, alles zu tun, was der Arzt anordnete. Der Arzt hatte ihm viel Gutes verschafft: Arbeitsruhe, Krankengeld, ein schönes Mittel, das zu sorglosem Schlaf verhalf. Und er hatte noch viel Besseres versprochen: das Ende der Inflation, Pensionierung, einen ruhigen Lebensabend.

Also ging der Förster spazieren. Aber gleich wurde es auch mit dem Spazierengehen wieder schwierig. In den Wald, der direkt an das Haus stieß, ging der Förster Kniebusch um keinen Preis mehr. Er hatte genug Wald in seinem Leben gesehen, viel zuviel. Er sah wirklich den Wald vor Bäumen nicht. Er sah nur noch Bäume mit soundso viel Festmetern Holz, Eisenbahnschwellen, Felgenholz, Deichseln für den Stellmacher,

Zaunpfähle ... Und wenn er im Wald spazierenging, sah es ja so aus, als sei er gar nicht krank, als mache er Dienst. Es wäre genauso gewesen, wie wenn ein kranker Angestellter zur Erholung auf sein Büro gegangen wäre.

Nach der andern Seite zu aber, nach dem Dorf hin, ging der Förster auch nicht. Die Leute hatten ihm sein ganzes Leben lang nachgesagt, er sei bloß ein Tagedieb, der nichts tue als spazierengehen, das sah ja aus, als hätten die Leute am Ende wirklich recht!

So blieb ihm nur ein Weg, nämlich der Weg, der von der Försterei, am Kartoffelmietenplatz vorbei, ziemlich grade auf den Gutshof Neulohe zuführte, auf den Gutshof und auf das Beamtenhaus. Diesen einzigen Weg ging also der Förster, er ging ihn mit großer Regelmäßigkeit, mehrmals am Tage, und mit größter Regelmäßigkeit traf der Förster am Ende des Weges mehrmals am Tage auf dem Gutsbüro ein.

Dem Förster war es geschehen, daß er in hohem Alter noch einen wirklichen Freund gefunden hatte - und diesen guten Glauben wollte Pagel nicht enttäuschen. Er seufzte manchmal, wenn er den Förster wieder ankommen sah, wenn der alte Mann sich schnaufend auf einen Stuhl setzte und nun eine halbe Stunde lang kein Auge von dem jungen Beamten ließ. Er störte ja nicht grade, er sagte kein Wort, wenn Pagel beschäftigt war, er ließ sich höchstens einmal zu einem begeisterten Ausruf hinreißen. Etwa, wenn Pagel auf der Schreibmaschine schrieb -: Nein, wie ihm das von der Hand geht! Wie Maschinengewehrfeuer! Großartig!

Nein, er störte nicht grade, aber es war ein bißchen lästig, den Blick dieser kugeligen, verblaßten Seehundsaugen unverwandt auf sich gerichtet zu fühlen, einen Blick bedingungsloser Ergebenheit, begeisterter Freundschaft. Es war vielleicht grade darum lästig, weil Pagel dieses Gefühl so gar nicht erwiderte. Nein, er liebte den Förster, diesen alten Angsthasen, nicht besonders - und was hatte er am Ende getan, solche Freundschaft zu verdienen? So gut wie nichts: ein Telefonat mit dem Arzt, ein bißchen Deputat, zwei, drei kurze Krankenbesuche ...

Wenn's gar zu schlimm wurde, unterbrach Pagel seine Arbeit: "Kommen Sie, Herr Kniebusch, ich muß doch sehen, ob in meinen Kartoffelmieten wieder Mauselöcher sind, ich bringe Sie das Stückchen."

Immer stand der Förster sofort willig auf und ging mit. Er kam nicht auf die Idee, daß der Freund ihn fortschickte, loswerden wollte. - Aber als es drei-, viermal so gegangen war, kam dem alten Kniebusch der Gedanke, daß er seinem Freunde wenigstens eine Arbeit abnehmen könnte. Wenn er jetzt seinen Morgenspaziergang zum Gutsbüro machte, ging er Miete

auf Miete ab. Er meldete: "Miete sechs, sieben, elf je ein Loch. Am Nordende, Mitte, Südende ..."

Er nahm es sehr genau.

"Ja, Sie seufzen, Herr Pagel", sagte Amanda erbost. "Aber Sie könnten es ihm ruhig sagen, daß Ihnen die ständige Rumsitzerei und Stiererei auf dem Büro nicht paßt! Der Kniebusch, der ist doch auch grade kein Sanfter gewesen, und wen er reinlegen konnte, den hat er reingelegt. Und wenn Sie es ihm nicht sagen mögen, so sage ich es ihm!"

"Das werden Sie bleibenlassen, Amanda!" hatte Pagel geantwortet, und er hatte es mit solchem Nachdruck gesagt, daß Amanda es wirklich bleibenließ.

Es regnete bei völliger Windstille sehr fein vom Himmel herunter, als der Förster an diesem Tage aus seinem Haus trat. Es war nicht hell und nicht dunkel, es war nicht einmal Dämmerung, es war einer dieser öden, trostlosen Herbsttage, die nur fahl sind, die sich wie ein Alp auf das Herz der jungen Menschen legen. Den alten Förster aber freute das Wetter, nun war er sicher, seinen jungen Freund auf dem Büro zu treffen. Bei diesem schlechten Wetter würde er nicht unterwegs sein, sondern lieber im Trocknen schriftliche Arbeiten erledigen. Der Förster stülpte sich einen alten Filz auf den Schädel, hing sich sein Regencape um und machte sich auf den Weg.

Er ging, die Hände schön trocken und warm unter dem Cape über den Bauch gefaltet, in einem langsamen und behaglichen Schlürfeschritt dem Hof zu. Wenn er es genau bedachte, war es ihm noch nie in seinem Leben so gut ergangen, und so gut, wie es ihm erging, fühlte er sich auch. Nicht einmal vor der Rückkunft des Geheimrats mußte er sich fürchten. Auf Pagels Veranlassung hatte der Arzt an Herrn von Teschow geschrieben, und der alte Herr hatte seinem alten Förster nicht etwa ärgerlich, sondern recht freundlich geantwortet: Er solle doch sehen, wieder ein bißchen auf die Beine zu kommen, damit er seinem Nachfolger die Schliche des Wildes, die Kniffe des Reviers und die Pfiffigkeiten der Bevölkerung noch beibringen könnte. Um den Dienst aber sollte er sich nun wirklich keine Gedanken mehr machen -!

Der Alte hatte eine Ahnung! Der Förster machte sich überhaupt keine Gedanken, heißt Sorgen, mehr. Um die Forst schon gar nicht; aber tat es ihm etwa leid, ärgerte er sich auch nur ein bißchen, wenn er Löcher in den Kartoffelmieten fand? Die machten doch seinem besten und einzigen Freunde Pagel Kummer und Sorge! Das wußte er; aber den Förster Kniebusch freuten die Löcher, denn wenn Löcher da waren, hatte er etwas zu melden und war seinem Freunde von Nutzen! -

So ging er denn ganz zufrieden eine Seite der Kartoffelmieten hinauf und die andere hinunter. Aber es war leider, wie er sich beinahe hätte denken können: Bei diesem Sauwetter hatten die Leute nicht einmal zum Klauen Lust. Kleidung war knapp, noch aus dem Kriege her, und die eine graue Uniform, die von den Männern aus dem Felde mitgebracht war, machten sie sich auch nicht gerne naß.

So sah es denn aus, als ob es heute nichts zu melden geben würde, und das war verdrießlich. Bis der alte Kniebusch zu der allerletzten Miete kam, und auf deren anderer Seite, auf der nach dem Walde zu, fand er denn auch wirklich das ersehnte Mauseloch; und ein ganz stattliches dazu, sechs oder acht Zentner Kartoffeln waren da mindestens rausgeholt worden!

Der Förster hätte nun vergnügt dem jungen Pagel seine Meldung machen können, aber er sah statt dessen nachdenklich einen kleinen Tretweg an, der von dem Mietenloch direkt in die Fichtenschonung führte. Das nasse Wetter hatte den Boden aufgeweicht, er erzählte klar und deutlich, daß die Kartoffeln nicht auf einem Handwägelchen direkt vom Mietenplatz auf die feste Straße und dann ins Dorf geschafft worden waren. Die noch ganz frischen Spuren sagten, daß die Kartoffeln erst einmal in die Schonung gebracht waren und dort wohl noch lagen.

Den Förster plagte die Neugierde der alten Männer, die quälend wie ein juckendes Ekzem ist; den Förster trieb der Spürsinn des Jägers - man spürt nicht ein Leben lang dem Wilde nach, um auf seine alten Tage dann achtlos über eine Fährte fortzulaufen. Den Förster juckte auch der Gedanke, seinem Freunde Pagel etwas ganz Besonderes melden zu können.

Nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke, daß das Nachsuchen dieser Spur gefährlich werden könnte. Kartoffeldiebe waren harmlose Leute. Kartoffeldiebstahl war bloß Mundraub und wurde mit einer papierenen Geldstrafe belegt. Kein erwischter Kartoffeldieb regte sich noch um eine Anzeige auf. Wenn etwas den Förster zögern ließ, so war es sein fester Entschluß, sich nicht mehr um andere Dinge zu kümmern. Aber da war der Wunsch, Pagel einen Gefallen zu tun, und sachte, im Pirscheschritt, nahm der Förster den Wechsel auf.

Er brauchte auch keine Angst zu haben, daß er nur mit Ach und Weh, nur mit Brechen und Krachen in die Schonung kam. Die Leute hatten hier mit den Jahren sauber aufgeräumt, sie hatten sich so viel Stangen, Reisig, Waldstreu besorgt, daß man in dem Bestand gehen konnte wie im lichten Hochwald.

So kam der Förster überraschend schnell an die Stelle, wo vor seinen

Augen ein kleiner Hügel Kartoffeln lag. Rote Professor Wohltmann, stellte der Förster befriedigt die Sorte fest. Will er wohl seine Schweine mit fett machen!

Der Förster fühlte was, er fühlte, daß er nicht allein war, er fühlte einen Blick. Er hob also seine Augen auf und sah einen Mann unter den Fichten sitzen, der hatte seine Hosen abgeknöpft, hockte da, sah den Förster ruhig an und verrichtete sein Geschäft.

"Nanu! Was machen Sie denn hier?" rief der Förster verwundert aus.

"Ich scheiße!" antwortete der Mann freundlich grinsend.

"Das merke ich", sprach der Förster vergnügt. Oh, was würde er Pagel alles erzählen können! "Haben Sie denn die Kartoffeln gemaust?"

"Natürlich", erklärte der Mann und ließ sich alle Zeit.

"Aber wer sind Sie denn? Ich kenne Sie doch gar nicht!" rief der Förster erstaunt. Er glaubte, von den Holzauktionen her alle Menschen zwanzig Kilometer in der Runde zu kennen, aber diesen Mann hatte er bestimmt noch nicht gesehen.

"Sehen Sie mich nur gut an", sagte der Mann, stand auf und knöpfte gemütsruhig seine Hosen fest. "Sie werden mich schon wiedererkennen."

Es ging alles so gemütlich, so in bester Laune vor sich - und Kartoffeldiebstahl war ja auch wirklich kein tragisches Verbrechen -, daß der Förster sich seinen Mann wirklich in aller Ruhe betrachtete. Der Förster stand noch wie vorher, die Hände unter dem Cape, über den Bauch gefaltet, und sah den Mann gemütlich näher schlendern. Kein Gefühl der Besorgnis kam in ihm auf. Dagegen ein immer helleres Verwundern. Diesen modernen Anzug mit Knickerbockers aus einem grau in grau gemusterten Stoff kannte er doch genau!

"Aber Sie haben ja einen Anzug vom Rittmeister an!" rief Kniebusch verblüfft.

"Sie merken auch alles, Herr Förster!" sagte der Mann grinsend. "Nicht wahr, er steht mir gut?"

Der Mann stand jetzt direkt vor dem Förster und lachte ihn an. Aber irgend etwas in diesem Lachen, im Ton der Worte, in der Nähe des Mannes mißfiel dem Förster.

"Nun sagen Sie mir aber Ihren Namen", befahl er strenger. "Ich kenne Sie bestimmt nicht."

"Dann sollen Sie mich kennenlernen!" rief der andere.

Blitzschnell veränderte sich sein Gesicht vom Grinsen in Haß, blitzschnell hatte er den Förster umgefaßt - und unter seinem Cape

konnte der Förster die Arme nicht rühren!

"Was soll denn das -?" rief der Förster hilflos, nahm es noch nicht recht ernst und wehrte sich nur schwächlich.

"Jetzt kommt der Gruß von Ihrem Freunde Bäumer!" rief der Mann direkt in das Gesicht des Försters.

Im gleichen Augenblick hörte der Förster etwas schrecklich krachen. Es krachte direkt in seinem Schädel, es wurde blendend weiß darin ...

Es müssen zweie gewesen sein, einer hat mich von hinten über den Kopf gehauen! dachte der Förster noch ...

Dann wurde alles rot, nun langsam schwarz - er fühlte sich fallen - und weg war er!

Langsam kommt der Förster wieder zu sich. Langsam kehrt die Erinnerung in sein Hirn zurück. An das letzte, was er vorher gedacht hatte, knüpft sie an.

Zweie sind es gewesen, denkt der Förster. Den einen kenne ich nicht, aber der mich von hinten über den Schädel gehauen hat, das muß Bäumer gewesen sein ...

Dann: Es ist gar nicht so schlimm, totgeschlagen zu werden. Davor habe ich mich auch mein ganzes Leben lang geängstigt, und nun ist es gar nicht so schlimm ...

Nicht einen Augenblick lang glaubt der Förster, er könnte mit dem Leben davonkommen. Er hat es ja krachen hören, der muß ihm ja den Schädel eingeschlagen haben, der Lump, der Bäumer. Hat der ihn also doch noch erwischt! Es tut nicht sehr weh, es ist mehr wie ein Druck ... Und dann ist das da, was stört, das Warme, das über seinen Schädel läuft. Das ist das Blut, das aus ihm rinnt. Er merkt es, er wird so leicht davon, es ist gar nicht unangenehm ...

Sind die Kerle eigentlich weg? denkt der Förster erst jetzt.

Er lauscht, er hört nichts. Es ist ganz still, kein Schritt, kein Huschen; kein Ästchen knackt.

Mühsam bewegt er den Kopf hin und her, er kann die Augen nicht recht drehen, er muß den ganzen Kopf bewegen. Aber er sieht niemand, sie sind weg. Haben gedacht, ich bin hinüber, denkt der Förster. Aber so schnell ist es nun doch nicht gegangen!

Er liegt eigentlich ganz gut so, der alte Förster Kniebusch, er hat schon schlechter gelegen in seinem Leben. Ihm ist ein bißchen schwer, und ihm ist ein bißchen leicht, die Glieder werden schwer, aber der Kopf und irgend etwas in seiner Brust werden immer leichter.

Er denkt einen Augenblick nach, ob er etwas tun soll, was er tun soll ... Aber warum soll er eigentlich etwas tun -?

Die Kälte wird zwar immer stärker, die von den Enden der Glieder aufsteigende eisige Kälte, aber das läßt sich schon aushalten, und schließlich werden ja im Laufe des Vormittags Leute zu den Mieten kommen, er liegt nahebei, er braucht nur zu rufen. Dann finden sie ihn, tragen ihn heim, legen ihn in sein Bett - er hat immer gewünscht, in seinem Bett zu sterben.

Der alte Förster, dem die letzte Lebenskraft langsam aus seiner schrecklichen Schädelwunde sickert, schiebt einen Arm unter den Kopf, fast behaglich liegt er da. Es ist alles nicht so schlimm, denkt er noch einmal. Wenn man wüßte, wie wenig schlimm selbst das Schlimmste ist, man brauchte im Leben überhaupt keine Angst zu haben!

Er versucht auszurechnen, wann die Leute etwa zu den Mieten kommen werden; die Kartoffeln für den Schweinemeister müssen geholt werden. Es kann höchstens noch zwei Stunden dauern, so lange wird er ja noch das Leben haben, damit er im eigenen Bette sterben kann ...

Aber der Pagel! fällt dem Förster plötzlich ein. Mein Freund Pagel wird auf mich warten! Alle Morgen bin ich zeitig bei ihm gewesen und habe ihm die Löcher in den Mieten gemeldet - und heute komme ich nicht! Pagel wird mich vermissen!

Er schließt die Augen, es ist für den verbrauchten, mühseligen Mann ein süßes Gefühl, daß ihn doch einer vermissen wird. Er hört ihn die Backs fragen; er schließt die Augen, er hört den Klang der immer freundlichen jungen Stimme: Wo bleibt denn heute bloß unser alter Kniebusch? Er hat doch noch nicht seine Meldung gemacht, Amanda!

Er lächelt.

Aber dann richtet er sich gleich auf. Ein quälendes Gefühl fängt an, sich in ihm zu regen: Er hat ja noch nicht seine Meldung gemacht! Heute hat er wirklich etwas zu melden, und heute bleibt er aus!

Sie werden mich ja doch bald finden! will er sich trösten.

Aber der Trost verfängt nicht. Ich werde ja immer schwächer, denkt er. Ich werde ja immer kälter. Vielleicht kann ich nachher nicht mehr rufen, ich kann nicht mehr reden - zu spät werden sie mich finden!

Er versucht den Kopf wegzurücken. Er möchte aus der Menge des ausgeronnenen Blutes die Menge des ihm noch verbliebenen Lebens abschätzen, aber er kann es nicht, es ist zu mühsam.

Ein schrecklicher Kampf fängt in ihm an: der Sterbende möchte nur ruhig liegen, sich sanft fortrinnen fühlen, seine Ruhe haben ... Und der

Mann und der Freund sagen, daß er auf muß und seine Meldung machen. Der Bäumer ist wieder da und ein anderer, ein Unbekannter - zwei gefährliche Leute, zwei reißende Wölfe!

Ich kann ja nicht hin! jammert er. Ich kann ja nicht gehen!

Wenn du nicht gehen kannst, wirst du kriechen, spricht die erbarmungslose Stimme.

Ich habe nie in meinem Leben Ruhe gehabt, laß mich doch wenigstens in Ruhe sterben! bettelt er.

Im Grabe wirst du Ruhe haben, jetzt mach deine Meldung! spricht es ohne Gnade.

Und der alte Mann, der verbrauchte Mann, der Feigling, der Schwätzer - er wälzt sich auf den Bauch, er macht den Rücken krumm, er zieht die eisigen Glieder an sich. Der Wille, der erbarmungslose Wille der Pflicht ist es, der ihn gegen sein ganzes Naturell immer hochgehalten hat. Er jagt ihn noch einmal zu einer letzten, äußersten Anstrengung auf: Der alte Förster Kniebusch kriecht auf allen vieren über den Waldboden, und als er über einen Sack wegkriecht, faßt er den und schleppt ihn auch noch mit, in dem dunklen Gefühl, ein Beweisstück gegriffen zu haben.

Er kriecht, wie eine grüne, grausige Schnecke mit einem purpurroten Kopf kriecht er über den Waldboden. Er kriecht hinauf auf den Mietenplatz, jetzt hebt er den Kopf voller Hoffnung. Aber niemand ist zu sehen.

Er jammert: O mein Gott, mein Gott! Hilft mir denn keiner?

Aber er kriecht weiter. Er kriecht hinunter von dem Mietenplatz auf den Weg, und als er am Park entlangkriecht und unten im Zaun ein sonst nie bemerktes Loch sieht - das er eben nur sehen kann, weil er kriecht -, da schiebt er sich durch das Loch, um seinen Weg abzukürzen ...

Er tut alles richtig, exakt, als arbeite sein Hirn noch. Aber sein Hirn dämmert nur noch, alles, was Körper und Geist hergeben können, wird von dem ungeheuren Willen verbraucht, der ihn zum ständigen Weiterkriechen zwingt. Er denkt nicht mehr an Pagel, nicht mehr an Bäumer, nicht an Eiseskälte noch Wunden. Er denkt nicht mehr an den Sack, den er doch unter Qualen immer weiter mitzerrt - er denkt nur, daß er kriechen muß. Kriechen, kriechen, kriechen ... bis er umfällt. Und er fällt in dem Augenblick um, als ihn Pagel anruft: "Mein Gott, Kniebusch, lieber Kniebusch - was haben sie denn mit Ihnen gemacht?!"

In diesem Augenblick, bei dieser bekannten Freundesstimme setzt der Wille aus, der Körper fällt hin, das Kriechen hört auf ...

Gemeinsam schleppen Amanda und Pagel den Förster in Wolfgangs

Zimmer. Sie legen ihn in Wolfgangs Bett. Aber den Sack können sie nicht aus seiner Hand lösen, es ist, als seien die Finger eingewachsen in den Stoff.

3

Es wäre ja nun wohl die bitterste Ironie von der Welt gewesen, wenn der Förster Kniebusch im fremden Bett gestorben wäre, ohne dem Freund die Meldung, für die er so heroisch gelitten, noch machen zu können. Aber so schlimm meinte es der Todesengel nicht mit ihm. Er konnte noch einmal die Augen aufschlagen; nahe über ihm war das weiße Gesicht des Freundes mit den großen, freundlichen Augen. Er durfte noch einmal die gute Stimme hören: "Ach, alter Kniebusch, was haben Sie uns doch für einen Schreck eingejagt! Warten Sie nur, gleich ist der Doktor hier, der flickt Sie schon wieder zusammen! Haben Sie arge Schmerzen?"

Aber der Förster bewegte nur unwillig den Kopf. Arzt und Schmerzen gingen ihn nichts mehr an. Er war schon hinabgetaucht in das Dunkel, und er war nur noch einmal daraus zurückgekehrt, weil er etwas erledigen mußte, die Meldung.

Und er flüsterte seine Meldung mit abgerissenen Worten in Pagels Ohr, und Pagel nickte immer wieder und sagte: "Gut, gut, Kniebusch. Leiser - strengen Sie sich nicht an, ich verstehe alles ..."

Der Förster flüsterte weiter, jedes Wort tat ihm weh. Aber jedes Wort war notwendig, und darum mußte es gesagt werden. Als er aber endlich doch fertig war, sah er Pagel mit so flehenden, so gierigen Augen stumm an, daß auch der Stumpfeste die dringliche Frage, die in diesem Blick lag, verstanden hätte. Und der Stumpfeste war ja Wolfgang Pagel nun wirklich nicht!

"Guter Mann!" sagte Pagel und drückte dem Förster sanft die Hand. "Sehr guter Mann!"

Da lächelte der Förster befreit, wie er vielleicht nie in seinem Leben gelächelt hatte. Und dann schien er einzuschlafen, und Pagel saß neben ihm. Er hielt die schlaffe Greisenhand, und er bedachte das Gehörte, und es war wenig genug, denn den einen Mann hatte der Förster nicht gesehen, und den er gesehen hatte, den hatte er nicht gekannt.

Wie Pagel aber so trübe dasaß, fiel sein Blick auf den alten, beschmutzten Kartoffelsack zu seinen Füßen. Denn die Hand des Sterbenden hatte ihn losgelassen, als sie nach der Hand des Freundes faßte. Er stieß den Sack mit dem Fuß an und wendete ihn hin und her,

und es schien ihm, als säße unter all dem Dreck, mit dem der verklebt war, eine schwarze Schrift wie ein Name, mit dem die Leute ihre Deputatsäcke zeichnen.

Da bückte sich Pagel und griff nach dem Sack mit der freien Hand. Er legte ihn sich übers Knie und wischte mit der Hand den Dreck fort - aber die Hand des Sterbenden ließ er noch nicht los. Es gelang ihm, und die Schrift wurde Buchstabe um Buchstabe leserlich, schwer leserlich, aber leserlich. Und als sie ganz leserlich war, da stand da der Name: Kowalewski.

Wolfgang Pagel starrte mutlos auf den Namen, denn alles verwirrte sich immer wieder von neuem, und es gab keine Klarheit. Denn was sollte der alte, ehrliche Kowalewski mit Kartoffeldieben und Totschlägern zu tun haben? Sicherlich, es war ein gestohlener Sack!

In diesem Augenblick tat sich die Tür zum Büro auf, und herein kam Amanda Backs, die unterdes telefoniert hatte, und sie meldete, daß der Arzt in einer Viertelstunde dasein werde und die Polizei vielleicht in einer halben ...

Pagel hob als Antwort den Sack, er wies ihr den Namen und sagte: "Sie kommen alle zu spät. Er hat seinen Mörder nicht gesehen, und der ihn festgehalten hat, den hat er nicht gekannt. Und der Name auf diesem Sack hilft uns auch nicht weiter ..."

Da wurde Amanda ganz weiß. Sie sah Pagel mit großen, erschrockenen Augen an und fing an zu zittern.

"Was ist Ihnen denn?" fragte Pagel. "Verstehen Sie, was der Name Kowalewski auf dem Kartoffelsack zu tun hat?"

Amanda schwieg, sie hatte die Hand auf die Brust gelegt und sah schweigend von dem Sterbenden auf den Sack und von dem Sack zu Pagel hin.

"Reden Sie doch, Amanda!" drängte Pagel. "Was wissen Sie davon?"

"Das weiß ich davon", flüsterte Amanda Backs ganz leise, "daß in der Kammer der Sophie Kowalewski der entsprungene Zuchthäusler haust ..."

Pagel hob den Kopf und sah mit blassem Gesicht die Zitternde an.

"Ja, und ich weiß", sagte sie eiliger, "daß der Liebschner stehlen gegangen ist, mit dem Bäumer zusammen, und so hat der eine von den beiden den Förster festgehalten, der andere aber hat zugeschlagen ..."

"Amanda!" rief Pagel.

"Ja, Amanda!" wiederholte sie, und die Tränen brachen aus ihr hervor.

"Und nun bin ich eine Helferin von Mördern geworden, grade als ich dachte, ich wäre ganz heraus aus dem Dreck!"

Eine Weile war es still im Zimmer, still hörte Pagel auf das Weinen des Mädchens. Dann hob er den Kopf und sagte leise: "Das hätten Sie mir nun freilich erzählen müssen, Amanda!"

"Ja!" rief sie verzweifelt, "jetzt weiß ich auch, daß ich es hätte tun müssen. Aber damals - sie hat mir ja so viele gute Worte gegeben. Und ich habe immer an mein Hänseken denken müssen, an den Inspektor Meier, Herr Pagel, und wie es mir gewesen wäre, wenn den einer verraten hätte und der Polizei übergeben. Ich habe ihm ja noch von hier fortgeholfen, schon als er auf mich geschossen hatte! Man läßt doch seinen Freund nicht sitzen! Und sie hat mir gesagt, die Sophie hat mir gesagt, er ist gut zu ihr und sie fahren gleich ab, sie wollen nur noch das Reisegeld zusammensparen, stehlen heißt das, und er ist gut zu ihr! Das ist es gewesen, weil sie gesagt hat, er ist gut zu ihr, das hat es gemacht, daß ich den Mund gehalten habe - mein Hänseken war nicht gut zu mir ..."

"Sie hätten es doch fühlen müssen, Amanda", beharrte Pagel, "daß es unrecht war, zu schweigen!"

"Ja, das sagen Sie jetzt!" rief sie wild. "Es hat mir oft beinahe das Herz abgedrückt, besonders, als die Sophie dann so gemein war gegen Sie und so tat, als hätten Sie ihr Gewalt antun wollen! Aber was weiß ich, was Recht und Unrecht ist auf der Welt?! Sie haben mir immer gesagt: ›Amanda, das schickt sich nicht!‹ und: ›Amanda, tu das lieber nicht!‹ - Und wenn Sie schweigend die Nase gezogen haben, dann war es am schlimmsten. Und das haben Sie immer getan, wenn ich von andern was erzählen wollte. Schließlich habe ich gedacht: Halt das Maul, er ist der einzige Mensch, der zu dir anständig ist, und er denkt auch: Verrat ist Verrat, und auch einen Zuchthäusler darf man nicht verraten! Ich habe nicht mehr aus noch ein gewußt ..."

Sie sah ihn mit weinenden Augen bittend an.

"Es tut mir sehr leid, Amanda", sagte Pagel. "Nein, Sie haben recht, ich hätte anders mit Ihnen reden müssen. Und vor allem hätte ich Ihnen nicht den Mund verbieten dürfen. Ich habe wohl die meiste Schuld. - Aber jetzt muß ich los! Setzen Sie sich hin und halten Sie seine Hand. Er wird ja den Betrug nicht merken, und wenn er doch noch aufwacht, sagen Sie ihm, ich hätte nicht auf die Gendarmen warten wollen. Vielleicht erwische ich die Kerle noch ..."

Und Pagel lief hinaus auf den Hof und trommelte ein paar handfeste Männer zusammen. Leise drangen sie in des Kowalewski Haus, und im

Oberstock faßten sie den Bäumer und den Liebschner, die gerade dabei waren, ihre Sachen zusammenzupacken. Sie hatten geglaubt, es habe noch keine Eile mit ihnen, denn sie meinten fest, sie hätten den Förster völlig erschlagen und er werde so bald nicht gefunden werden.

So aber wurden sie ergriffen, überwältigt, gefesselt und der Gendarmerie übergeben - so aber plädierte der Staatsanwalt auf Mord, so aber wurden sie zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, denn so konnten sie sich nicht auf einen Totschlag ausreden.

Die Festnahme aber der noch ahnungslos in der Villa wirtschaftenden Sophie Kowalewski überließ Pagel den andern. Er ging zurück zum Förster. Aber in seinem Zimmer war nur der Arzt - der Förster Kniebusch war schon gegangen.

4

Es war nicht etwa am Abend dieses Tages, es war erst am Abend des nächsten Tages, daß Wolfgang Pagel in schlichter Deutlichkeit erfuhr, wer die Prackwitzens sind und wer die Pagels und was er so eigentlich für eine Rolle auf diesem Gut Neulohe spielte. Und was das wert war, was er hier getan hatte. Nicht nur seine guten Taten muß sich der Mensch eine Weile überlegen, ehe er sich zu ihnen entschließt, auch für seine Gemeinheiten, große und kleine, braucht er manchmal Zeit. Frau Eva von Prackwitz hatte rund sechsunddreißig Stunden Überlegung gebraucht.

Es war schon dunkel, als der bekannte große Wagen vor dem Beamtenhaus hielt. Aber natürlich war es dunkel, der Mensch sündigt lieber im Dunkeln als bei Tageslicht. Er scheint zu meinen, wegen einer ungesehenen Sünde braucht er sich nicht zu schämen. Der Wagen hielt - aber weder Frau Eva noch der Rittmeister stiegen aus, keiner stieg aus.

Man wartete.

"Hupen Sie doch noch mal, Oskar!" rief Frau von Prackwitz gereizt. "Er muß doch gehört haben, daß wir hier halten! Warum kommt er nicht heraus?"

Pagel hatte den Wagen kommen, anhalten hören. Er hörte jetzt auch die Autohupe, aber er ging nicht hinaus. Er war traurig und zornig, er hatte von seiner fröhlichen Gelassenheit eingebüßt, wahrhaftig, das Leben schmeckte nicht, es knirschte zwischen den Zähnen wie Staub und Asche. Er hatte gestern und heute zehnmal an der Villentür geklingelt, zwanzigmal die gnädige Frau am Fernsprecher verlangt. Er hatte wissen wollen, wie es mit dem Begräbnis des toten Försters

gehalten werden sollte, was zur Versorgung der hilflosen Frau geschehen sollte.

Aber nein, die gnädige Frau war nicht für ihn zu sprechen gewesen. Vielleicht grollte sie, daß er ihr das Mädchen Sophie so rücksichtslos fortgeholt hatte, daß er nun doch seinen Willen durchgesetzt hatte, daß nun doch wieder die schwarze Minna in der Villa Arbeit bekommen hatte, dieses schmuddlige Frauenzimmer mit einem Haufen unehelicher Bälger!

Ach, hole sie alle der Teufel! Wahrscheinlich war Frau Eva gar nicht so schlimm. Früher einmal war sie ihm recht nett vorgekommen. Brauchbar, mit Mutterwitz, mit Verstand, auch mit Freundlichkeit, auch mit Gedanken an andere - solange es ihr gut ging. Aber wahrscheinlich hatte der Reichtum sie verdorben, sie hatte sich nie einen Wunsch versagen müssen - wenn es ihr schlecht ging, dachte sie nur noch an sich. Der ganzen Welt nahm sie es übel, daß es ihr schlecht ging - und sie ließ es sie merken!

Ja, hupe nur, ich gehe nicht vor meine Tür! Im Grunde paßt du ausgezeichnet zum Rittmeister. Ihr seid beide aus demselben Stoff - vor dem Kriege wandeltet ihr auf der Menschheit Höhen, ihr wart vom Adel, ihr hattet Geld ... Es gab da noch das sogenannte Volk, meinethalben, mochte es sehen, wie es zurechtkam!

Sicherlich, eine verdammte Ähnlichkeit mit dem Rittmeister! Natürlich machte sie es nicht so grob wie er, dafür war sie eben eine Frau. Sie konnte liebenswürdig sein, wenn sie etwas erreichen wollte, fraulicher Reiz, ein vorgestrecktes Bein, Schmelz in der Stimme - Lächeln. Aber am Ende kam es auf dasselbe heraus. Wenn sie ein Auto brauchte, dann kaufte sie es, und der junge Beamte konnte sehen, wie er ein halbes Hundert Familien ohne Lohngeld satt kriegte.

Nicht wahr, Sie erledigen mir das -? Ich brauche mich damit nicht abzuquälen? Sie sind ja so tüchtig! Aber du würdest es ja gar nicht erledigen können, du willst es gar nicht - du wandelst oben, und für solche Dinge sind deine Leute da. Zwischen Wolfgang Pagel und der schwarzen Minna war noch lange kein so großer Unterschied(für die gnädige Frau) wie zwischen Frau von Prackwitz und Pagel - der Abstand war einfach ungeheuer!

Ich bin ungerecht, dachte Pagel, und das Auto hupte wieder einmal recht dringlich in seine Gedanken hinein. Ich bin ungerecht. Sie hat wirklich ihren schweren Kummer - und wenn Reichtum egoistisch macht und wenn Glück egoistisch macht, Kummer tut es noch viel mehr! - Ob ich nicht vielleicht doch zu ihr hinausgehe?

Aber es war schon nicht mehr nötig, sich zu entschließen. Der Chauffeur Oskar mit dem Teiggesicht trat in das Büro und meldete: "Herr Pagel, Sie sollen mal ans Auto zur gnädigen Frau kommen."

Pagel stand auf, sah Oskar nachdenklich an und sagte: "Schön!"

Oskar, dieser Sohn einer ehemaligen Hausdame, durch die Gunst der Frau von Prackwitz hochherrschaftlicher Chauffeur geworden, betrachtete Pagel listig. Dann flüsterte er: "Achtung, Herr Pagel, die will auskneifen! - Aber verraten Sie mich nicht!"

Und ging.

Pagel lächelte. Siehe da, Oskar, der gelernte Motorenschlosser, der vor vier Wochen die gnädige Frau noch wie einen seligen Engel angestrahlt hatte - auch ihm schmeckte das süße Kuchenbrot des täglichen Umgangs mit der Herrschaft nicht mehr! Er witterte ähnlich wie die gnädige Frau, nur mit umgekehrten Vorzeichen! Er empfand, daß er hundertmal eher zu diesem ihm fast unbekannten Herrn Pagel gehörte als zu der täglich gesehenen gnädigen Frau.

Pagel trat an die Wagentür, er sagte: "Guten Abend, gnädige Frau - ich hätte Sie gerne einmal gesprochen ..."

"Seit fünf Minuten hupen wir vor Ihrem Fenster!" rief die unsichtbare Gnädige aus dem Wagendunkel. "Haben Sie denn geschlafen? Gehen Sie schon um acht Uhr abends schlafen?!"

"Ich habe gestern", antwortete Pagel ungerührt, "zwanzigmal den Versuch gemacht, Sie zu erreichen, gnädige Frau. Es müssen unbedingt Verfügungen wegen des Försters getroffen werden ..."

"Mein Mann ist schon ganz krank!" rief sie. "Wir sind beide krank von all den schrecklichen Aufregungen! Ich bitte dringend, mir jetzt nicht von diesen Dingen zu sprechen "... Sanfter setzte sie hinzu: "Sie waren doch sonst immer so rücksichtsvoll, Herr Pagel!"

Unbestochen sagte Pagel: "Ich hätte Sie gerne eine Viertelstunde gesprochen, gnädige Frau."

Er sah nicht mehr in das Wageninnere, das doch dunkel war, er sah auf das Wagenende, ungeheuerlich ausgebuchtet: Oskar hatte die Wahrheit gesprochen, diese Kofferungetüme bestätigten die Flucht.

"Ich habe heute abend unmöglich Zeit! Wir müssen fahren."

"Und wann hätten Sie einmal Zeit?" fragte Pagel unerbittlich.

"Ich kann es Ihnen nicht auf die Stunde sagen", antwortete Frau Eva ausweichend. "Sie wissen doch, wie unregelmäßig ich komme und gehe! - Ach Gott, Herr Pagel", rief sie plötzlich. "Wollen Sie mir jetzt auch

Schwierigkeiten machen?! Seien Sie doch selbständig! Sie haben doch die Vollmacht!"

Pagel schwieg. Jawohl hatte er eine Vollmacht. Er hatte die Vollmacht, alles selbständig zu erledigen(ganz nach den Wünschen der gnädigen Frau) und schließlich damit hereinzufallen(ganz nach den Wünschen des Herrn Geheimrats). Aber er schwieg davon, er war jung, zuviel Gemeinheit muß man den Menschen auch nicht zutrauen. Sie würde ihn schließlich nicht sitzenlassen! Oder doch -?

"Herr Pagel", sagte Frau von Prackwitz, "Sie haben mir seit einer Woche kein Geld gegeben. Ich brauche Geld."

"Es ist kaum etwas in der Kasse", antwortete Pagel und wußte nun, warum das Auto vor dem Beamtenhaus angehalten hatte.

"So geben Sie mir einen Scheck!" rief sie ungeduldig. "O Gott, was für Umständlichkeit! Ich muß doch Geld haben ..."

"Wir haben weder auf der Bank noch auf der Sparkasse ein Guthaben", widersprach Pagel. "Ich kann leider keinen Scheck ausstellen."

"Aber ich muß Geld haben! Sie können mich doch nicht ohne Geld sitzenlassen! - Wie denken Sie sich das?!"

"Ich will sehen, daß ich morgen irgend etwas verkaufe ... Ich kann Ihnen morgen dann etwas Geld geben, wenn es nicht viel sein muß, gnädige Frau ..."

"Es muß aber viel sein! Und es muß heute noch sein!" rief sie zornig.

Pagel schwieg eine Weile. Dann fragte er leicht: "Die Herrschaften verreisen?"

"Ich verreise nicht! Wer sagt Ihnen solche Sachen -? Lassen Sie mich etwa ausspionieren? Ich verbitte mir das!"

"Die Koffer "..., erklärte Pagel und wies nach dem Wagenende.

Ein langes Schweigen entstand.

Dann sagte Frau Eva mit einer ganz andern Stimme: "Lieber Herr Pagel, wie können Sie mir Geld verschaffen -?"

"Ich bitte um eine Unterredung von zehn Minuten."

"Aber es ist nichts zu besprechen! Wir sind morgen, spätestens übermorgen zurück. - Wissen Sie was, Herr Pagel, geben Sie mir einen vordatierten Scheck - Sie verkaufen morgen und übermorgen, zahlen das Geld bei der Bank ein, und ich lege den Scheck erst Ende der Woche vor."

"Übermorgen wollten gnädige Frau spätestens zurück sein. - Ich bin kein Angestellter, bei meinem Eintritt sind keinerlei Abmachungen

zwischen mir und Herrn Rittmeister getroffen - es besteht keine Kündigungsfrist. Ich werde also morgen Neulohe auch verlassen."

"Achim! Warte hier im Wagen! Oskar, schalten Sie die Scheinwerfer aus. Herr Pagel, helfen Sie mir aus dem Wagen -!"

Sie ging ihm voran auf das Büro, sie drehte sich um, flammend sah sie ihn an, oh, sie sah prachtvoll aus in ihrem Zorn. "Sie wollen fahnenflüchtig werden, Herr Pagel?! Sie wollen mich im Stich lassen - nach allem, was wir gemeinsam erlebt haben?!"

"Wir haben nichts gemeinsam erlebt, gnädige Frau", sagte Pagel finster. "Wenn Sie mich gebraucht haben, dann haben Sie mich gerufen. Und wenn Sie mich nicht brauchten, vergaßen Sie mich auf der Stelle. Sie haben nie danach gefragt, ob ich fröhlich oder traurig war."

"Ich habe mich so oft über Sie gefreut, Herr Pagel!" rief sie bittend. "In all meinen Sorgen und meinem Kummer habe ich gedacht: Da läuft ein Mensch auf dem Hof herum, auf den kannst du dich unbedingt verlassen. Sauber, anständig ..."

"Ich danke Ihnen, gnädige Frau!" sagte Pagel mit einer leichten Verbeugung. "Aber wenn eine Sophie Kowalewski kam und Ihnen berichtete, der hat schmutzige Weibergeschichten - so trauten Sie dem sauberen, anständigen Kerl diese Geschichten sofort zu."

"Herr Pagel, warum sind Sie so böse zu mir? Was habe ich Ihnen getan?! Nun ja, ich bin eine Frau. Ich bin wohl wie die meisten Frauen. Ich höre auf Klatsch, ich habe kein festes Urteil über meine Mitmenschen - aber ich gestehe es auch ein, wenn ich unrecht habe. Nun gut, ich bitte Sie deswegen um Verzeihung, Herr Pagel."

"Ich will keine Bitte um Verzeihung, gnädige Frau!" rief Pagel verzweifelt aus. "Erniedrigen Sie sich doch nicht so! Ich will Sie doch nicht auf den Knien vor mir sehen! - Das ist es ja alles nicht. Jetzt, zum erstenmal, seit wir uns kennen, denken Sie auch an mich, an das, was ich fühle, möchten mich in guter Stimmung sehen ... Und warum? Weil Sie mich brauchen! Weil ich Ihnen das Geld verschaffen kann, das Sie zu Ihrer Flucht aus Neulohe brauchen ..."

"Und das nennen Sie nicht demütigen?! Das nennen Sie nicht auf die Knie zwingen?!" rief sie. "Jawohl, Herr Pagel, wir fliehen ... Neulohe ist uns verhaßt, Neulohe hat uns nur Unglück gebracht ... Wenn ich nicht auch untergehen soll wie mein Mann, muß ich auf der Stelle fort! Ich zittere ja jede Sekunde davor: Was wird nun wieder sein? Wenn ich jemand laut rufen höre auf dem Hof, geben meine Knie schon nach. Was ist nun wieder los? denke ich. Ich muß fort! - Und Sie müssen mir das

Geld dazu geben, Herr Pagel. Sie können mich doch hier nicht umkommen lassen!"

"Ich muß auch fort", sagte er. "Das Leben schmeckt mir nicht mehr. Ich bin auch am Ende. Lassen Sie mich morgen gehen, gnädige Frau. Was soll ich noch hier?"

Sie hörte nicht auf ihn. Nur ein Gedanke beschäftigte sie. "Ich muß doch Geld haben!" rief sie verzweifelt.

"Es ist keines in der Kasse. Und ich stelle keine ungedeckten Schecks aus, es ist mir - zu gefährlich. Gnädige Frau, ich kann Ihnen nie in zwei Tagen das Geld für einen längeren Aufenthalt fern von Neulohe besorgen. Das Geld ist knapp geworden, seit die Notenpresse nicht mehr läuft. Es gibt kaum erst die neuen Dinger, die Rentenbankscheine. - Auch wenn ich noch ein paar Tage bliebe, könnte ich Ihren Wunsch nicht erfüllen."

"Aber ich muß Geld haben!" rief sie wieder mit unerschütterlicher Zähigkeit. "Mein Gott, es hat sich noch immer Geld gefunden, wenn wir wirklich etwas brauchten! Denken Sie nach, Herr Pagel, Sie müssen es irgendwie bewerkstelligen. - Ich kann doch nicht zugrunde gehen, bloß weil ein paar Mark nicht da sind!"

Viele Menschen gehen zugrunde, weil ein paar Mark fehlen, dachte Pagel, aber er sagte es nicht. Es hatte keinen Zweck, so etwas zu sagen, denn es galt natürlich nicht für sie. - Statt dessen meinte er: "Gnädige Frau, Sie haben einen reichen Bruder in Birnbaum, fahren Sie die halbe Stunde nach Birnbaum - er wird Ihnen bestimmt aushelfen!"

"Ich soll meinen Bruder um Geld bitten?!" rief sie zornig. "Ich soll mich vor meinem Bruder demütigen?! Nie! Nie!"

Pagel tat einen raschen, wilden Schritt auf die Frau zu. "Aber vor mir können Sie sich demütigen, wie?!" rief er zornig. "Vor dem Sklaven zeigt die Königin sich auch nackt, ja?! Ein Sklave ist kein Mensch, was!?"

Sie wich vor seiner Empörung zurück, schneeweiß, zitternd.

"Da!" rief Pagel und zeigte. "Da nebenan in meinem Bett ist gestern morgen der Förster Kniebusch gestorben, in Ihrem Dienst, gnädige Frau! Sie müssen ihn seit Ihrer Kinderzeit gekannt haben; seit Sie denken, seit Sie sprechen können, ist der Mann für Sie und Ihre paar Mark gelaufen, hat Angst gehabt, hat sich gequält - haben Sie überhaupt danach gefragt, was er gelitten hat, wie er gestorben ist, wie er sich gequält hat?! Nur mit einem Wort -? Neulohe ist für Sie zur Hölle geworden -?! Haben Sie je daran gedacht, was für eine Hölle es für diesen alten Mann gewesen ist - und er, er konnte nicht ausreißen - er ist auch nicht

ausgerissen! Fast auf dem Bauche kriechend, hat er bis zur letzten Minute seine Pflicht getan ..."

Sie stand mit einem weißen Gesicht zitternd an der Wand. Sie starrte ihn groß an ...

"Die Fahne verlassen? Feige sein -?" rief er immer wilder und fühlte immer stärker, wie seine Nerven nachgaben, und wollte es nicht und mußte es doch sagen, endlich sagen, endlich einmal sagen. "Was wissen Sie denn von Feigheit und Mut?! Ich habe auch einmal gedacht, ich wüßte etwas davon. Ich habe einmal geglaubt, Mut wäre das, aufrecht zu stehen, wenn eine Granate platzt, einen Granatsplitter zu apportieren ... Jetzt weiß ich, das ist bloß Dummheit und Tollkühnheit; Mut heißt aushalten, wenn etwas ganz unerträglich ist. Mut, Mut hat der alte Feigling gehabt, der da drinnen gestorben ist."

Er warf einen raschen, hellen Blick auf sie. Er sagte: "Aber es muß eine Sache sein, um die es sich verlohnt, Mut zu haben. Es muß eine Fahne dasein, für die es wert ist zu kämpfen. Wo ist denn Ihre Fahne, gnädige Frau? Sie fliehen ja als erste!"

Ein langes, trübes, schweres Schweigen entstand. Dann rührte sich Pagel. Er ging langsam zu seinem Schreibtischstuhl, er setzte sich, er stützte den Kopf in die Hand. Nun gut, jetzt hatte er geredet, alles, was sich in den letzten Wochen angesammelt hatte war ausgesprochen - und was weiter?

Die Frau löste sich von der Wand, sie ging leise zu ihm hin, sie legte ihm sachte die Hand auf die Schulter: "Herr Pagel!" sprach sie ihn leise an. "Herr Pagel - es ist sicher wahr, was Sie gesagt haben. Ich bin selbstisch und feige und gedankenlos - ich weiß nicht, ob ich erst so geworden bin, aber so bin ich. Sie haben recht. Aber Sie sind das doch nicht, Herr Pagel, Sie sind doch anders, nicht wahr -?"

Sie wartete lange, aber er antwortete nicht. Die Schulter unter ihrer Hand rührte sich nicht.

"Seien Sie noch einmal, was Sie waren bisher: jung, gläubig, aufopfernd. Nicht für mich, Herr Pagel, ich habe wirklich keine Fahne für Sie. Aber ich habe die Hoffnung, daß Sie noch so lange hier in Neulohe bleiben, bis meine Eltern wiederkommen. Ich möchte Sie bitten, in die Villa zu ziehen. Herr Pagel - ich habe noch immer die Hoffnung, daß Violet einmal dort an die Tür klopft ... Gehen nicht auch Sie weg! Lassen Sie den Hof nicht ganz freundlos sein, wenn sie kommt ..."

Wieder lange Stille. Aber eine andere Art von Stille, etwas Wartendes. Frau von Prackwitz nahm die Hand von seiner Schulter, sie tat einen

Schritt zur Tür. Er schwieg. Sie tat einen zweiten, einen dritten Schritt, sie hatte die Hand auf der Klinke - da fragte Pagel: "Wann wird Ihr Vater kommen?"

"Ich habe einen Brief an ihn im Wagen. Ich stecke ihn heute noch in Frankfurt ein. Ich nehme an, mein Vater wird gleich kommen, wenn erfährt, daß wir abgereist sind. Also etwa in drei, vier Tagen."

"Ich bleibe bis dahin", erklärte Pagel.

"Ich danke Ihnen. Ich wußte es ja."

Aber sie ging nicht, sie zögerte, sie wartete ...

Er machte es ihr leicht. Er war aller Umschweife müde. "Dann ist da noch die Sache mit Ihrem Geld", sagte er kurz. "Ich habe etwa hundert Rentenmark in der Kasse, die werde ich Ihnen geben. In den nächsten Tagen werde ich alles verkaufen, was zu verkaufen ist - wissen Sie schon, wo Sie bleiben?"

"In Berlin."

"Wo dort?"

"Erst einmal in einem Hotel."

"Studmanns Hotel. Hotel Regina", sagte er. "Ich werde Ihnen das Geld täglich telegrafisch in das Hotel senden ... An welchen Betrag hatten Sie etwa gedacht?"

"Ach, nur ein paar tausend Mark - nur, daß wir einen Anfang haben."

Er zuckte nicht. "Sie wissen ja, ich darf nichts vom Inventar verkaufen, es ist verboten; da es nicht Ihr Eigentum ist, mache ich mich strafbar. Sie werden mir, gnädige Frau, jetzt eine Erklärung unterschreiben, die mich vor Ihrem Herrn Vater deckt. Sie werden mir bestätigen, daß alle ungesetzlichen Verkäufe auf Ihre Veranlassung erfolgt sind. Sie werden mir weiter bestätigen, daß Ihnen die ungenaue, lückenhafte, manchmal auch unrichtige Führung der Bücher bekannt ist, kurz, daß alle meine Maßnahmen Ihre volle Billigung haben ..."

"Sie sind sehr hart mit mir, Herr Pagel", sagte sie. "Mißtrauen Sie mir so sehr?"

"Es könnte der Fall sein, daß Ihr Herr Vater sagt, ich hätte eine Summe unterschlagen, ich hätte Durchstechereien gemacht. - Ach Gott!" rief er ungeduldig. "Was sollen wir viel reden?! Jawohl, ich mißtraue Ihnen! Ich habe jedes Vertrauen verloren."

"Schreiben Sie also die Erklärung", sagte sie.

Während er tippte, ging sie hin und her, wahllos griff sie dies und das an - voller Gedanken und gedankenlos, am Ende doch erleichtert, daß er

tat, was sie wünschte.

Plötzlich fällt ihr etwas ein, sie wendet sich ihm lebhaft zu, sie will etwas sagen ...

Aber als sie sein abweisendes, finsteres Gesicht sieht, schließt sie wieder den Mund. Sie setzt sich an den Schreibtisch, sie taucht eine Feder in das Tintenfaß, auch sie schreibt. Ihr Gesicht lächelt. Ihr ist etwas eingefallen, sie ist keine Egoistin, er hat doch unrecht - sie denkt an ihn, sie macht ihm eine Freude ...

Jetzt überfliegt sie nur die Erklärung, die sie eben noch so schmachvoll fand, gleichgültig unterschreibt sie. Dann nimmt sie ihren Zettel in die Hand ...

"Hier, Herr Pagel, habe ich noch etwas für Sie. Sie sehen, ich vergesse nichts. Sobald es paßt, erledige ich das. - Auf Wiedersehen, Herr Pagel, und nochmals vielen Dank!"

Sie geht.

Pagel steht in der Mitte des Büros. Er starrt die Tür an, er starrt den Wisch in seiner Hand an. Er hat das Gefühl, noch nie in seinem Leben so dämlich ausgesehen zu haben.

Er hält in der Hand eine Bescheinigung, auf der Frau Eva von Prackwitz, auch im Namen ihres Gatten, bestätigt, von Herrn Wolfgang Pagel ein Darlehen von 2000 Goldmark, in Worten: zweitausend Goldmark, empfangen zu haben ...

Pagel kommt sich sehr lächerlich vor.

Wütend zerknittert er den Schein.

Aber er besinnt sich. Er glättet ihn sorgsam. Er legt ihn zusammen mit der Ehrenerklärung in seine Brieftasche.

"Wertvolle Reiseandenken!" grinst er.

Jetzt ist er fast vergnügt.

5

Was der junge Wolfgang Pagel in den vier Monaten seiner Neuloher Tätigkeit an Achtung und Freundschaft bei den Leuten gewonnen hatte, das verlor er auf einmal in den vier letzten Tagen seines Dortseins. Noch lange hinterher erzählten sie sich, daß der kleine Negermeier schlimm genug gewesen sei, aber so ein abgründiger, scheinheiliger, rücksichtsloser Bursche wie der Pagel - nein, so etwas würden sie wohl nicht so leicht wieder erleben! Ein Bursche, der sich überhaupt nicht

schämte. Er stiehlt ja vor aller Augen - am hellerlichten Tage!

"Ich werde mich nicht ärgern", sprach Pagel entschlossen am Abend des zweiten Tages zu Amanda Backs. "Aber in die Luft gehen möchte ich manchmal doch! Bringt doch wahrhaftig der alte Trottel, der Kowalewski, es fertig, wie ich die fünf Sauen an den Fleischer verkaufe, zu sagen: ›So was sollten Sie doch lieber nicht machen, Herr Pagel. Wenn der Gendarm davon erfährt!‹ - Er hat es grade nötig!"

"Ärgern Sie sich nur, ärgern Sie sich nur tüchtig!" sprach Amanda Backs. "Warum sind Sie immer nett und freundlich gewesen zu allen? Da haben Sie Ihren Dank weg! Mich haben sie heute auch im Dorfe gefragt, wie sich's denn im Bett von der gnädigen Frau schläft und ob ich nicht auch bald die Kleider von der Gnädigen trage ..."

"Es ist schon eine bescheidene Welt!" schalt Pagel ärgerlich. "Jede Schlechtigkeit trauen sie einem auf der Stelle zu. Ohne weiteres glauben sie, daß ich hinter dem Rücken der Herrschaft das Vieh für meine Tasche verkaufe und daß wir beide hier frech und verboten unsern Einzug in die Villa gehalten haben. Kommt denn kein Aas auf die Idee, daß ich zufällig einen Auftrag von der Herrschaft habe? Ich kann doch nicht jedem Waschweib meine Vollmacht unter die Nase halten!"

"Sie wollen es gar nicht anders wissen", sagte Amanda triumphierend. "Wenn Sie täten, was Ihnen die gnädige Frau aufgegeben hat, so ist das bloß selbstverständlich und langweilig. Aber wenn Sie am hellen Tage das halbe Gut verschieben, so ist das eine großartige Sache - und die haben zu reden, noch und noch!"

"Amanda! Amanda!" sprach Pagel prophetisch. "Mir ist doch verdammt mulmig zumute. Wenn der olle Geheimrat ankommt und sieht, was ich hier angerichtet habe, und seine Gnädige hört, was sich die Weiber erzählen - ich weiß nicht, ob der Wisch in meiner Brieftasche kräftig genug ist. Ich fürchte, ich fürchte: Unter Donner und Blitz werde ich aus Neulohe scheiden!"

"Warten Sie's alles nur in Ruhe ab, Herr Pagel", schlug Amanda tröstlich vor. "Bis jetzt ist es doch noch immer so gewesen, daß Sie den meisten Ärger von allen hatten - und warum sollte das zum Schluß anders sein?"

"Richtig", sagte Pagel. "Sie hat heute zweimal von Berlin angerufen, wo Geld bleibt - sie sagt, sie braucht noch viel. Ich glaube, sie will sich ein Geschäft kaufen - trotzdem ich mir das Geschäft noch nicht recht vorstellen kann, in dem Frau Eva von Prackwitz hinter einem Ladentisch steht. Ich fürchte sehr, ich werde mich entschließen müssen, morgen die Dreschmaschine zu vermöbeln - und was der alte Herr dann sagt ..."

Erst sagte einmal ein anderer was -: Am nächsten Tage kam der örtlich zuständige Gendarm auf den Hof, in den Dreschmaschinenhandel hineingetrampelt mit seinem Fahrrad, und der war so verlegen höflich und so falsch liebenswürdig zu Pagel, daß über seine schlimmen Absichten gar kein Zweifel sein konnte. So wurde es Pagel nicht schwer, sehr unliebenswürdig zu sein, und als der Beamte schließlich damit herausrückte, daß er gerne einmal die Adresse der Herrschaft gehabt hätte, da verweigerte sie ihm Pagel rundweg.

"Herr und Frau von Prackwitz wünschen keine Störung. Ich bin ihr Beauftragter; was Sie ihnen zu sagen haben, das sagen Sie bitte mir."

Was der Gendarm nun auch wieder nicht wollte. Recht ärgerlich zog er ab.

Und Pagel verhandelte weiter wegen der Dreschmaschine. Es war ein schöner Kasten, aber der Maschinenhändler aus der Kreisstadt wollte nicht den zehnten Teil des wirklichen Wertes zahlen, einmal, weil Geld in diesen Tagen unendlich knapp war, zum andern, weil es sich schon in der Gegend herumgesprochen hatte, ein verrückter Hund verramsche Neulohe für ein Butterbrot.

"Einen Augenblick mal, Sie!" sprach es da sehr empört. "Sie wollen wohl den Dreschkasten verkaufen?"

"Wollen Sie ihn kaufen?" fragte Pagel und sah sich interessiert den Herrn in Schilfleinen und mit Gamaschenbeinen an. Er konnte sich so ungefähr denken, wer das war. Ein einstmals vielbesprochenes Rennauto hielt ja dahinten.

"Erlauben Sie!" rief der Herr. "Ich bin der Sohn von Herrn Geheimrat von Teschow!"

"Dann sind Sie also der Bruder von Frau von Prackwitz", stellte Pagel zufrieden fest und wandte sich wieder an den Maschinenonkel. "Also sagen Sie jetzt ein vernünftiges Wort, Herr Bertram, oder der Kasten bleibt hier!"

"Jawohl bleibt der Kasten hier!" rief zornig der Erbe. "Wenn Sie ein Wort sagen, Herr Bertram, mache ich nie wieder ein Geschäft mit Ihnen!"

Der Maschinenonkel sah verschüchtert von einem zum andern. Pagel lächelte nur. So murmelte Herr Bertram verwirrt den erleuchteten Satz: "Ja, wenn es so ist "... und verschwand von der Scheunentenne.

"Achthundert Rentenmark futsch!" sprach Pagel bedauernd. "Auf achthundert Rentenmark hätte ich ihn noch getrieben. Das wird Ihre Frau Schwester sehr bedauern!"

"Einen Dreck wird sie!" schrie der andere. "Achthundert Rentenmark

für eine fast neue Schütte-Lanz, die so, wie sie da steht und geht, ihre sechstausend wert ist. Sie sind ja ..."

"Ich hoffe, Sie schreien nicht mich an, Herr von Teschow", sprach Pagel freundlich. "Sonst würde ich Ihnen nämlich nicht die Aufklärungen geben, wegen deren Sie doch sicher gekommen sind, sondern müßte Sie vom Hof jagen!"

"Mich von meines Vaters Hof jagen?!" sprach der Sohn verblüfft und starrte Pagel an. Aber in Pagels Auge lag etwas, das ihn ruhiger sagen ließ: "Also, wo können wir über die Kiste sprechen?" Und drohend: "Aber dummschmusen lasse ich mich von Ihnen nicht, Herr ...!"

"Pagel", half Pagel, wo keine Hilfe gewünscht wurde, und schritt voran zum Büro.

"Ja, wenn es freilich so ist!" sprach der junge Herr von Teschow und besah noch einmal die beiden Schriftstücke, die Vollmacht und die Ehrenerklärung. "Dann sind Sie völlig gedeckt, und ich bitte um Entschuldigung. - Meine Schwester aber und mein Schwager müssen ja wahnsinnig sein. Was die hier angerichtet haben, das verzeiht ihnen mein Vater nie. Wozu braucht sie denn soviel Geld? Ein paar hundert Mark würden für die ersten Wochen genügen - und dann einigt sie sich eben mit meinem Vater irgendwie. Ganz blank wird er sie ja auch nicht sitzenlassen."

"Wie ich gestern Ihre Frau Schwester am Telefon verstand", sagte Pagel vorsichtig, "scheint sie die Absicht zu haben, ein Geschäft zu kaufen."

"Ein Geschäft!" rief der Erbsohn. "Ja, will denn Eva Verkäuferin werden?"

"Ich weiß es nicht. Aber jedenfalls scheint sie den Wunsch zu haben, ein kleines Anfangskapital in die Hand zu bekommen. Mir ist selbstverständlich klar, daß das, was ich jetzt für Frau von Prackwitz tue, gesetzlich nicht zulässig ist. Aber sie hat die feste Absicht, nie wieder nach Neulohe zurückzukehren. Sie leistet gewissermaßen auf ihr Erbteil Verzicht, und da habe ich gemeint, man könnte diese Unregelmäßigkeit verantworten."

"Sie meinen", rief Herr von Teschow der Jüngere lebhaft, "sie würde Neulohe ausschlagen?"

"Ich glaube das. Nach den Erlebnissen der letzten Zeit ..."

"Ich verstehe", sprach Herr von Teschow. "Gewiß, sehr traurig. - Von meiner Nichte Violet gibt es keine Nachrichten?"

"Nein", antwortete Pagel.

"Ja, ja", sagte Herr von Teschow gedankenvoll. "Ja, ja."

Er stand auf. "Also ich bitte Sie nochmals um Entschuldigung. Blinder Alarm - mir hatte da jemand was in die Ohren geflüstert. - Ich bin - unter uns - ganz Ihrer Ansicht. Sehen Sie, daß Sie für meine Schwester noch ein ordentliches Stück Geld herausschlagen. Es ist ja nun doch egal: Mein Vater wird auf alle Fälle toben, ob die Dreschmaschine da ist oder nicht. Achthundert Rentenmark", sprach er sinnend. "Ich könnte sie auch dafür nehmen. Aber nein, es geht leider nicht". Lauter: "Es ist Ihnen natürlich klar, Herr Pagel, daß ich bei meinem Vater nicht die Partei meiner Schwester nehmen kann - ihr Vorgehen ist jedenfalls nicht korrekt."

Mit fast unverhohlenem Ekel sah Pagel in die Augen des andern. Er meinte, nie etwas so Häßliches gehört zu haben wie die Frage: Von meiner Nichte Violet nichts Neues? - als dem jungen Herrn von Teschow klargeworden war, wieviel es jetzt vielleicht zu erben gab.

Aber Herr von Teschow der Jüngere merkte von diesem Ekel nichts. Er war viel zu beschäftigt, um auf den jungen Mann zu achten. Er sagte verloren: "Na, dann sehen Sie also, daß Sie noch etwas rausschlagen. Ich denke, mein Vater wird erst in drei oder vier Tagen kommen."

"Schön", sagte Pagel.

"Na, ob das für Sie grade schön werden wird -? Aber jedenfalls sind Sie gegen das Schlimmste gedeckt. - Sie kennen meinen Vater noch nicht, wenn der richtig tobt ..."

"So werde ich ihn also kennenlernen", sagte Pagel lächelnd. "Ich warte es in Ruhe ab ..."

Aber darin irrte sich Wolfgang Pagel. Er sollte es nicht kennenlernen, dieses Toben. Er wartete es nicht in Ruhe ab.

Er war schon weg, als der Geheimrat kam.

"Ausgerissen, so ein schlauer Hund!" lachten die Leute.

6

Es fing damit an, daß das Telefon läutete auf dem Büro.

Wolfgang Pagel war grade dabei, eine telegrafische Postanweisung auszuschreiben an die gnädige Frau, und Amanda Backs war eine Treppe darüber damit beschäftigt, sich warm und wetterdicht einzupacken für eine Radfahrt durch Winterwind und Herbstregen nach der Kreisstadt. Denn dort auf dem Postamt mußte die Anweisung aufgegeben werden, und die beiden einsamen Hühner wußten niemanden sonst in Neulohe,

dem sie das Geld gerne anvertraut hätten, runde zweitausend Rentenmark ...

Da also klingelte das Telefon ...

Das Telefon klingelt verschieden, es klingelt mal hell, mal dunkel, mal nüchtern und gleichgültig und nun wieder herrisch und eilig ... Und danach haben wir unsere Vorahnungen, was das für ein Gespräch sein könnte, und manchmal treffen unsere Vorahnungen sogar ein ...

Pagel sah kurz auf zu dem dunkel und herrisch klingelnden Apparat -: Das ist etwas! dachte er, nahm den Hörer ab und meldete sich als Gutsverwaltung Neulohe.

Eine ziemlich grobe Stimme verlangte Frau von Prackwitz zu sprechen.

"Frau von Prackwitz ist nicht zu sprechen", antwortete Pagel. "Frau von Prackwitz ist verreist."

"So", sagte die grobe Stimme, wie es schien, etwas enttäuscht. "Ausgerechnet jetzt ist sie verreist. Wann kommt sie denn zurück?"

"Das kann ich nicht sagen, diese Woche nicht mehr. Kann ich ihr etwas ausrichten? Hier spricht der Inspektor von Neulohe."

"Sie sind also noch da?"

"Ich weiß nicht, was Sie eigentlich wollen", rief Pagel etwas ärgerlich. "Wer sind Sie denn eigentlich?"

"Dann bleiben Sie auch da!" sagte die grobe Stimme, und Pagel hatte das Gefühl, der andere hing ab.

"Halt!" schrie Pagel. "Wer Sie sind, möchte ich wissen ..."

Aber im Apparat summte es nur, summte, summte ...

"Hör zu, Amanda", sagte Pagel, "was eben hier geschehen ist ..."

Und er erzählte es ihr.

"Und was denken Sie sich dabei?" fragte Amanda. "Das ist einer, der hat Sie bei der Gnädigen verklatschen wollen, oder er hat Sie auch nur so auf den Arm nehmen wollen ..."

"Nein, nein", sagte Pagel zerstreut. "Ich denke immer ..."

"Nun, was denken Sie -?" fragte Amanda.

"Ich denke immer, es könnte irgendwie mit Fräulein Violet zusammenhängen."

"Mit der Violet? Aber wieso denn? Warum soll sich denn einer wegen Fräulein Violet so dußlig am Apparat benehmen?! Nee, nun geben Sie mir mal die zweitausend Mark, die Anweisung ist wohl fertig? Ich muß sehen, daß ich wegkomme. Bei völliger Nacht möchte ich auch nicht in

diesem Wetter zurückstrampeln müssen."

"In einem Augenblick bin ich mit meiner Schreiberei fertig", sagte Pagel und setzte sich wieder daran.

Das Telefon klingelte, es klingelte hell und lange, gewissermaßen langweilig und blechern.

"Ein Händler", sagte Pagel zu Amanda, nahm den Hörer und meldete die Gutsverwaltung Neulohe.

Es kam aber Berlin ...

"Die gnädige Frau", flüsterte Pagel zu Amanda.

Es kam aber ein Händler, es kam ein großer Handelsmann.

"Sind Sie da, junger Mann?" rief die bekannte Krähstimme.

"Jawohl, Herr Geheimrat!" rief Pagel, grinste und warf Amanda einen erheiterten Blick zu. "Pagel heiße ich übrigens."

"Na, denn is ja jut ... Sehen Sie, det hatte ich nu schon janz wieder vajessen. Is unhöflich, aber nicht zu ändern. - Nu hören Sie mal gut zu, junger Mann ..."

"Pagel ist mein Name."

"Nu ja, det weiß ick ja jetzt!" rief der Geheimrat etwas ärgerlich. "Ich muß es ja nicht grade am Telefon auswendig lernen! Bedenken Sie, det Jespräch kostet einszwanzig, und det ist leider mein Jeld, wat es kostet ... Nu hören Sie also mal gut zu ..."

"Ich höre, Herr Geheimrat."

"Ich komme mit dem Zehnuhrzug heute abend an. Da schicken Sie mir den Hartig zur Bahn mit den beiden ollen Kutschbraunen ..."

Die sind ja verkauft! wollte Pagel sagen, aber dann: Lieber nicht, er wird's von selbst merken.

"Und Decken schicken Sie mit - daß mir die Zossen am Bahnhof gut zugedeckt sind! Der Hartig ist man dußlig - der hat wohl seinen Verstand unter die vielen Kinder aufgeteilt -"

Pagel platzte los.

"Na, sehen Sie, da lachen Se schon", sagte der Geheimrat zufrieden. "Hoffentlich lachen Sie morgen früh auch noch, wenn ich da bin. Ick bringe nämlich noch 'nen Herrn mit, so 'nen Bücherrevisor ... Soll kein Mißtrauensvotum gegen Sie sein, aber wo mein Herr Schwiegersohn so heimlich ausgekniffen ist, müssen wir doch was machen wie 'ne Bestandsaufnahme und Kassen- und Bücherübergabe. - Das verstehen Sie doch, junger Mann?!"

"Verstehe ich vollkommen, Herr Geheimrat. - Pagel war mein Name."

"Ist doch alles in Ordnung, Mensch?" fragte der Geheimrat mit plötzlicher Besorgnis.

"Alles in Ordnung", sagte Pagel grinsend. "Sie werden es ja selbst sehen, Herr Geheimrat!"

Amanda hätte fast losgequietscht. Sie hörte längst am Hörer mit.

"Na also!" sprach der Geheimrat. "Ja, Frollein vom Amt, ick habe gute Nachrichten, ick lege noch drei Minuten zu. - Nu aber fix, junger Mann. Also lassen Sie zwei Zimmer in meinem Katen heizen, mein Schlafzimmer und das kleine Fremdenzimmer. - Meine Frau bleibt erst noch mal hier. Die will erst hören, daß die Luft wieder rein ist bei euch in Neulohe". Wieder mit Besorgnis: "Es ist doch nicht noch mehr passiert bei euch?"

"Doch, allerlei, Herr Geheimrat."

"Mensch, erzählen Sie mir das bloß nicht am Telefon, das höre ich morgen alles noch viel zu früh. - Die Amanda, die Dicke mit den Knallbacken, wissen Se ..."

Amanda hätte fast ja gesagt ...

"Die kann ja nu mal Mädchen für alles spielen. Ja, und mein Arbeitszimmer soll sie auch heizen. Aber nicht das Eßzimmer. Sparen müssen wir, Geld wird immer knapper. Und eure Wirtschafterei - sagen Sie mal, Herr Pagel, haben Sie so 'n bißchen Geld in der Kasse?"

"Wenig, Herr Geheimrat. Genauer gesagt: nichts!"

"Aber wie denkt ihr euch denn das?! Ich denke, ihr habt ein bißchen Pacht zusammengekratzt? Ihr könnt doch nicht so einfach ... Na also, davon reden wir morgen ernsthaft. - He, und noch eins, Herr Pagel! Der Förster, der olle Kniebusch, liegt denn der noch immer faulkrank im Bett -?"

"Nein, Herr Geheimrat! Ich denke, Ihre Tochter hat Ihnen das geschrieben? Der Förster ist doch gestorben, der Förster ist doch -"

"Schluß!" schrie der Geheimrat wütend. "Schluß! Hätte ich doch die drei Minuten nicht draufgelegt. Nischt wie schlechte Nachrichten ... Also um zehne, um zehne an der Bahn! Mahlzeit!"

"Und keine Frage nach seiner Enkelin!" sagte Pagel zu Amanda und hängte an. "Sohn wie Vater, eine Wichse!"

"Na ja", sagte Amanda, "was soll er denn so tun?! Der ist doch bloß froh, wenn er seinen Hof wiederhat! Aber wie ich das schaffen soll - jetzt noch aufs Postamt und dann die Zimmer im Schloß richten, ein bißchen

warm sollen sie doch auch sein ..."

"Geben Sie mir das Geld wieder", sagte Pagel, nahm es, sah Amanda an und steckte es in seine Brieftasche. "Ich hab so 'ne Ahnung, als wenn ich morgen fliegen lernte, und da kann ich es ja schließlich der Gnädigen persönlich bringen. Sparen wir noch das Porto."

"Schön", sagte Amanda. "Ich will sehen, daß ich ein paar Frauen aus dem Dorfe kriege. Es muß ja schließlich auch etwas zu essen dasein."

"Immer los! Ich werde mich noch ein bißchen hinter meine Geschäftsbücher setzen, es hilft zwar auch nichts, in Ordnung kommen die nie, aber ich könnte doch mal versuchen, so etwas wie einen Kassenbestand festzustellen ..."

Er setzte sich hin. Als er mit dem Geheimrat gesprochen hatte, war er noch ganz vergnügt und aufgeräumt gewesen, aber nun war die gute Laune verflogen. Wenn er sich jetzt den ollen Rauschebart vorstellte und sein Gebrüll, und wie er rot anlief, und wie er einem auf die Pelle rückte, und wie er roch, und wie er jeden Einspruch niederschrie, und wie er feucht sprühte, wenn er wütend war ... Verdammt noch mal, es würde morgen ein sehr bescheidener Tag werden, er, der einzige Prügelknabe für all und jedes. Und was das schlimmste war, er war seiner Nerven auch nicht mehr ganz sicher. Und er haßte es, die Beherrschung zu verlieren. Es machte ihn hinterher ganz elend!

Aber deswegen kneifen?

Nie!

Unterdessen hatte sich wie ein Lauffeuer im Dorf die Kunde verbreitet, der alte Herr komme heute abend zurück und die Weiber putzten schon im Schlosse ... Und zwanzig Männlein und Weiblein machten sich ein Gewerbe und gingen am Schloß vorüber, und wenn sie wirklich die Fenster im Zimmer des alten Herrn erleuchtet und offen sahen, so nickten sie zufrieden mit dem Kopfe. Und sie freuten sich sehr auf das, was es morgen früh geben würde -!

Alle hatten sie vergessen, wie sehr sie einmal den jungen Pagel begrüßt hatten, wie sie ihn gerne gemocht und "Junkerchen" genannt hatten und wie glücklich sie gewesen waren, nach dem unanständigen Negermeier den anständigen Pagel bekommen zu haben. Alle promenierten sie am Bürofenster vorüber und versuchten hineinzuschielen, und die Neugierigsten dachten sich ein Anliegen aus, und noch nie war Pagel so oft und so sinnlos bei dem Addieren seiner Millionen-, Milliarden- und Billionenkolonnen gestört worden.

Kamen die Neugierigen aber wieder heraus, so fragten die andern: "Ist

er noch da?"

Und wenn die Späher antworteten: "Er sitzt und schreibt", so schüttelten sie die Köpfe und sagten: "Er hat ja wohl gar keine Scham im Leibe. Packt er denn nicht wenigstens?"

"Was soll er denn packen?" fragten sie wieder. "Der hat bestimmt seinen Kram in Sicherheit gebracht, so oft wie der die letzten Tage in die Stadt gefahren ist!"

Und sie waren sich gar nicht einig, was sie nun eigentlich wünschen sollten: daß Pagel hierbliebe und nach riesigem Krach ins Kittchen wanderte oder daß der Pagel ausrisse und der Alte sich die Platze ärgerte. Beides war schön!

"Paß auf, morgen früh ist er weg!" sagten die einen.

"I wo", meinten die andern. "Der ist so schlau - den legt nicht mal der alte Herr rein! Das ist der gerissenste Kerl, den wir je auf dem Hof gehabt haben."

"Eben! Weil er das ist, ist er morgen früh weg."

Und das war er denn ja auch.

7

Um sieben Uhr abends klappte Pagel seine Bücher mit dem Seufzer: "Es hilft ja doch alles nichts!" endgültig zu.

Er warf noch einen Blick durch das Büro, ehe er das Licht ausschaltete, er sah den Geldschrank an mit seinen Arabesken, das rohe Aktenregal mit Reichsgesetzblatt und Kreisblatt. Die Schreibmaschine war zugedeckt, er hatte noch so manchen Brief an seine Mutter darauf geschrieben - für Petra.

Morgen fliege ich, dachte Pagel mutlos. Es ist eigentlich kein schöner Schluß - im ganzen habe ich meine Arbeit ja doch gerne getan. Es wäre netter, wenn hier morgen jemand stünde und sagte: Danke schön, Herr Pagel, Sie haben Ihre Sache gut gemacht! Statt dessen wird der Geheimrat nach Polizei und Gericht schreien!

Er schaltete aus, schloß ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging durch den stockdunklen Abend zur Villa hinüber. Für ausgangs November war die Luft heute abend merkwürdig warm. Auch wehte keine Spur von Wind, nur war alles sehr feucht.

"Grippewetter!" sagte Pagel. Der Doktor hatte ihm erzählt, die Leute stürben wie die Fliegen, Junge wie Alte. Zu lange unterernährt, erst der Krieg, dann diese Inflation ... Arme Luder, dachte Pagel. Ob es nun

wirklich besser wird mit dem neuen Geld -?!

In der Villa wartete Amanda schon mit dem Essen und mit tausend Klatschereien, die sie von den Weibern gehört hatte. "Denken Sie, Herr Pagel, was die sich jetzt ausgedacht haben! Sie sollen mit der Sophie unter einer Decke gesteckt haben - und daß der Förster grade bei Ihnen gestorben ist, das haben Sie nur gemacht, damit er nicht reden kann."

"Ach, Amanda", sagte Pagel gelangweilt. "All das ist so dumm und dreckig. Wissen Sie nicht irgend etwas Nettes, sagen wir, aus Ihrer Jugend, was Sie mir mal erzählen könnten?"

"Was Nettes -? Aus meiner Jugend?" fragte Amanda ganz verblüfft, und grade wollte sie loslegen und ihm erzählen, was mit ihrer Jugend los gewesen war ...

Da ging die Klingel der Villa - und über ihren Abendbrottellern sahen sich die beiden an wie ertappte Verbrecher.

"Das kann doch noch nicht der Geheimrat sein?" flüsterte Amanda.

"Unsinn!" sagte Pagel. "Es ist kaum halb acht - es wird irgendwas im Stall los sein. Machen Sie auf, Amanda."

Aber er hielt es dann doch nicht aus und ging ihr nach und kam grade zurecht, als die heftig protestierende Amanda von einem Mann beiseite geschoben wurde. Der vierschrötige Mann hatte einen steifen, schwarzen Hut auf, er hatte einen Kopf wie ein Stier - und nun traf der Blick, kalt, eisig, unvergeßbar, den jungen Pagel.

"Ich habe ein Wort mit Ihnen zu reden", sagte der dicke Kriminalist. "Aber schicken Sie dies Frauenzimmer weg. Halt den Schnabel, du Schnattergans!"

Und auf der Stelle schwieg Amanda.

"Warten Sie auf der Diele, Amanda", bat Pagel. "Kommen Sie bitte". Und er ging, mit starkem Herzklopfen, dem Mann voran in das Eßzimmer.

Der Mann schoß einen Blick auf den Tisch mit den zwei Gedecken, dann sah er Pagel an. "Ist das da draußen Ihre Geliebte?" fragte er.

"Nein", sagte Pagel. "Das war die Freundin von Inspektor Meier. Aber es ist ein gutes Mädchen."

"Auch ein Schwein, das ich noch erwischen möchte", sprach der Dicke und setzte sich an den Tisch. "Halten Sie sich nicht mit Decken auf, ich bin hungrig und muß gleich weiter. Erzählen Sie mir, was hier los ist, warum Ihre Gnädige fort ist, warum Sie hier in der Villa wohnen - alles. Klar, kurz, bündig."

Der dicke Mann aß, wie er war: hart, ohne Zusehen, eilig, gierig. Pagel erzählte, als müßte es so sein ...

"Also hat sie schließlich doch schlappgemacht, Ihre Gnädige, hätte ich mir ja denken müssen!" sagte der Dicke. "Geben Sie mir jetzt eine Zigarre. Haben Sie gemerkt, daß ich das war, der Sie heute nachmittag anrief?"

"Ich dachte es", sagte Pagel. "Und -?"

"Und Sie sitzen nun selbst hier im Schlamassel? Zeigen Sie mir mal die beiden Wische von Ihrer Gnädigen."

Pagel tat es.

Der Dicke las sie. "In Ordnung", sagte er. "Sie haben nur vergessen, sich auch wegen der Verkäufe nach der Abreise von der Gnädigen sicherzustellen."

"Verdammt!" sagte Pagel.

"Macht nichts", sagte der Kriminalist. "Sie können das nachholen."

"Aber der Geheimrat kommt schon heute abend."

"Sie werden den Geheimrat nicht mehr sehen. Sie fahren heute abend nach Berlin, lassen Sie sich heute nacht noch von der Gnädigen aufschreiben, daß sie auch mit den letzten Verkäufen einverstanden ist. Heute nacht noch. Versprechen Sie mir das? Sie sind leichtsinnig in solchen Dingen!"

"Sie haben Nachrichten von Fräulein Violet?!" rief Pagel.

"Sitzt drunten im Wagen!" sagte der Dicke.

"Was?!" schrie Pagel und sprang zitternd auf. "Was?! Und Sie lassen mich hier sitzen und sie warten?!"

"Halt!" sagte der Dicke und legte ihm seine Hand wie eine nicht abzuschüttelnde Fessel auf die Schulter. "Halt, junger Mann!"

Pagel sah ihn wütend an und wollte sich befreien.

"Es stimmt nicht ganz, was ich Ihnen eben gesagt habe. Was da im Wagen sitzt, das ist das, was von Ihrem Fräulein Violet noch übrig ist. Bedenken Sie, zwei Monate lang ist sie systematisch von Sinn und Verstand geängstigt worden - von Sinn und Verstand! Sie verstehen mich doch -?"

Er sah Pagel eisig an.

"Ich weiß nicht", sagte der Kriminalist finster, "ob ich ihrer Mutter einen Dienst tue, daß ich sie ihr wiederbringe. Ich habe auch nicht extra nach ihr gesucht - denken Sie das bloß nicht. Aber man hört viel, wenn

man so weit im Lande herumkommt wie ich. Die alten Kollegen rechnen einen noch immer dazu, wenn die großen Bonzen mich auch abgesägt haben. Und da ist sie mir eben über den Weg gelaufen. Was soll ich mit ihr anfangen? Ich weiß auch nicht, ob Sie das Mädchen ohne weiteres der Mutter bringen können, das müssen Sie alles selber entscheiden. Sie darf hier nur nicht bei den alten Leuten bleiben. Bringen Sie sie diese Stunde noch mit einem Auto weg ... Irgendwohin, wo Ruhe ist und Sicherheit. Wozu wollen Sie sich hier noch von dem alten Kaffer anschnauzen lassen?! Fort mit Ihnen!"

"Ja "..., sagte Pagel gedankenvoll.

"Nehmen Sie das dicke Frauenzimmer von der Diele mit. Schon, daß Sie eine weibliche Hilfe während der Fahrt haben und daß die Leute nicht noch mehr über Sie reden können."

"Gut", sagte Pagel.

"Sprechen Sie nicht sanft mit ihr und auch nicht hart. Sagen Sie nur das Nötigste: ›Setz dich dahin.‹ - ›Iß.‹ - ›Leg dich schlafen!‹ Sie tut alles wie ein Lamm. Keine Spur von eigenem Willen mehr. Sagen Sie immer du zu ihr und nennen Sie sie nicht Violet - sonst wird sie ängstlich."

Flüsternd: "Er hat sie immer bloß Hure angeredet."

"Hören Sie auf!" rief Pagel, und leise fragend: "Und er -?"

"Er -? Wer -? Wen meinen Sie denn?!" rief der Dicke und schlug Pagel auf die Schulter, daß er wankte. - "Das wäre alles", sagte er ruhiger. "Sonst - nichts weiter! Nichts - weiter! Packen Sie Ihren Kram zusammen, Sie können in den Wagen steigen, der unten hält. Bis Frankfurt fahre ich mit. Und dann noch eins, junger Mann, haben Sie Geld?"

"Ja", sagte Pagel. Zum erstenmal in letzter Zeit gab er es gerne zu.

"Ich habe zweiundachtzig Mark Auslagen gehabt, die geben Sie mir jetzt gleich wieder. - Danke. - Ich stelle Ihnen keine Quittung aus, ich habe keinen Namen mehr, den ich unterschreiben mag. Aber wenn Ihre Gnädige fragt, sagen Sie ihr, ich habe sie frisch einpuppen müssen - sie war ziemlich abgerissen. Und dann noch ein bißchen Fahr- und Zehrgelder. Jetzt los mit Ihnen! Packen Sie, bringen Sie das dicke Frauenzimmer auf den Trab - in einer halben Stunde halte ich mit dem Wagen hundert Meter von hier nach dem Walde zu. Die Leute brauchen nichts zu merken."

"Aber kann ich Fräulein Violet nicht jetzt -?"

"Junger Mann", sagte der Dicke. "Haben Sie es bloß nicht so eilig. Das ist kein fröhliches Wiedersehen. Sie erleben es noch früh genug. Marsch! Ich gebe Ihnen dreißig Minuten."

Und er ging.

8

Von den bewilligten dreißig Minuten gingen acht dafür verloren, der Amanda Backs zu berichten, was geschehen war, sie zu überzeugen, daß sie für das gnädige Fräulein ihr Federvieh geruhig einer völlig unsicheren Zukunft überlassen müsse, und sie dann zum Handeln zu bringen. Fünf weitere Minuten nahm der Weg zum Beamtenhaus in Anspruch, wo man packen mußte. Da man die gleiche Zeit für den Rückweg zum Wagen rechnen mußte, blieben nur zwölf Minuten für die ganze Packerei. So wurden es nur zwei Handkoffer, einer für Amanda, einer für Pagel.

Wolfgang Pagel, der mit einem Ungetüm von Schrankkoffer seinen Einzug in Neulohe gehalten hatte, ging mit fast nichts. Aber er dachte nicht daran; er überlegte mehr, ob er dem Geheimrat nicht ein paar aufklärende Zeilen hinterlassen sollte. Es war ihm doch sehr zuwider, daß er morgen früh als ungetreuer Beamter und kläglicher Feigling von allen Mäulern zerrissen werden sollte. Er befragte Amanda.

"Schreiben -?" fragte Amanda. "Was wollen Sie dem denn schreiben? Der glaubt Ihnen doch nichts, wenn er den Kladderadatsch hier sieht! Nee, das lassen Sie man die gnädige Frau mit der Zeit in Ordnung bringen. - Aber, Herr Pagel", sagte sie fast weinend, "daß Sie mir zumuten, ich muß hier meine schönen Sachen stehen- und liegenlassen, und nachher geht irgendein Weibsbild wie die schwarze Minna daran und wühlt alles durch, und womöglich zieht sie sich noch meine schöne Wäsche auf ihren dreckigen Leib ..."

"Ach, machen Sie sich doch wegen der Sachen keine Sorgen, Amanda!" sagte Pagel zerstreut. "Sachen kann man sich doch immer wieder kaufen ..."

"So -?" fragte Amanda empört. "Sie können sich vielleicht immerzu neues Zeug kaufen, ich nicht! Und wie man sich da freut, wenn man ein Extrapaar seidene Strümpfe für besondere Gelegenheiten im Schrank hat, davon haben Sie eben gar keine Ahnung! Aber das sage ich Ihnen, wenn der alte Kracher mir die Sachen nicht auf der Stelle mit Fracht zuschickt, dann fahre ich persönlich hierher, und dann sage ich ihm so Bescheid -"

"Amanda, nur noch drei Minuten!"

"So, nur noch drei Minuten -? Und das sagen Sie mir so ganz einfach! Und wie ist es denn mit meinem Gehalt -? Jawoll, Herr Pagel, an alle haben Sie gedacht, aber daß ich auch ganz gerne für meine Arbeit was

kriege, das haben Sie die letzten Monate völlig vergessen. Aber wir leiden ja nicht an derselben Krankheit, Herr Pagel! Wenn Sie in Geldsachen doof sind, brauche ich es nicht zu sein, und ich verlange meine drei Monate rückständiges Gehalt mit Quittung, alles wie sich's gehört - und in Ihr Kassenbuch schreiben Sie es auch noch ein! Ich will, daß alles seine Richtigkeit hat."

"Ach, Amanda!" seufzte Pagel. Aber er tat doch, was sie wollte.

Dann schloß er zum letztenmal seine Bürotür ab und warf den Schlüssel in den kleinen blechernen Türbriefkasten, daß es klapperte. Und nun eilten sie, ihre Koffer in der Hand, durch die stockdunkle Nacht aus dem Dorf hinaus. Da und dort und dort, in fast allen Häusern brannte noch Licht - es mochte nun ziemlich nahe an neun Uhr sein. Neulohe wartete mit Spannung auf die Ankunft des Geheimrats.

"Achtung!" sagte Pagel und zog Amanda in eine dunkle Ecke.

Die Dorfstraße entlang kam jemand gegangen, und sie standen ängstlich wie wirkliche Verbrecher in der Dunkelheit und liefen erst wieder weiter, als sie eine Haustür hinter dem nächtlichen Wanderer hatten zuschlagen hören.

Nun kamen sie an der Villa vorüber, dunkel lag sie im Dunkel. Aber jetzt wurde der schwache Lichtschein des Wagens sichtbar, der mit abgeblendeten Lampen am Walde hielt.

"Acht Minuten Verspätung!" knurrte der Dicke. "Wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, wo ich mit ihr bleiben könnte, wäre ich abgehauen! - Du, Mädchen, setze dich neben sie, und das sage ich dir, wenn du zu schnattern anfängst, gibt's was auf den Schnabel. - Kommen Sie, junger Mann, wir müssen schon die Klappsitze nehmen."

Damit machte er die Wagentür auf. Der Augenblick war gekommen - und nichts geschah. Etwas Dunkles regte sich in der Wagenecke, aber der Dicke sagte bloß: "Rühr dich nicht. Schlaf weiter". Und das Dunkle bewegte sich nicht mehr.

"Los!" rief der Kriminalist zum Chauffeur. "Was haste, was kannste nach Frankfurt. Der junge Mann gibt Ihnen auch ein Trinkgeld, wenn wir bis elf da sind."

Der Wagen schoß in die Nacht. Wieder glitt die Villa vorüber, dann kamen die Lichter der Leutehäuser. Pagel sah angestrengt nach dem Beamtenhaus, aber es war im Dunkel nicht zu erkennen. Nun noch das Schloß ...

"Da ist Licht!" rief Amanda aufgeregt. "Die schwarze Minna wartet auf mich. Na, wie die mit dem Geheimrat allein zurechtkommen wird heute

abend ..."

"Schnabel!" sagte der Dicke, aber es klang nicht bösartig. "Sie dürfen ruhig rauchen, junger Mann. Es stört - sie nicht. Ich rauche auch."

Und nach einer Weile entschloß sich Pagel wirklich dazu.

Kurz vor der Kreisstadt hätten sie beinahe noch einen Unfall gehabt, beinahe wären sie in einen Kutschwagen hineingefahren. Das kam aber nur daher, daß der Kutscher Hartig die Pferde gehen ließ, wie sie wollten, weil er nämlich mit seinem Kopf immer hinten beim Geheimrat war. Der hatte seinen Schädel aus dem Fenster der "Zu-Bombe" gesteckt und erfuhr so schon unterwegs einiges von den tollen Dingen, die sich daheim begeben hatten.

"Das war der Geheimrat", erklärte Pagel, als das wütende Geschimpf von Herrn und Kutscher hinter ihnen verklungen war.

"Na ja", sagte der Dicke nachdenklich. "Heute nacht möchte ich dem sein Bett auch nicht sein!"

Hinter der Kreisstadt kamen sie auf die Staatsstraße. Nach dem Gerumpel und stoßweisen Fahren der Nebenwege ging der Wagen fast leise und immer rascher über die glatte Chaussee - weiter, immer weiter.

Pagel dachte trübe, was sie doch für eine seltsame Fuhre waren, jeder recht allein für sich, und er quälte sich, was er mit dem Mädchen wohl tun sollte, diese Nacht ...

Da sagte der Dicke: "Vor zwei können Sie kaum in Berlin sein; haben Sie schon überlegt, wo Sie mit ihr bleiben wollen? Zur Mutter -?"

Pagel sah gespannt nach der dunklen Gestalt in der Wagenecke, aber sie rührte sich nicht.

"Ich weiß es nicht", flüsterte er schließlich. "Die Mutter wohnt in einem Hotel, und ob ich da mitten in der Nacht mit - einer Kranken kommen kann? Und zu meiner Mutter? Es ist schon Schreck für die genug, wenn ich ohne Anmeldung hereinschneie."

Der Dicke sagte nichts.

"Ich habe auch an ein Sanatorium gedacht", fing Pagel wieder an. "Ich habe da einen guten Bekannten, einen Freund fast, der ist in einem Sanatorium angestellt. Aber heute nacht komme ich nicht mehr so weit. Ich weiß wirklich nicht ..."

"Sanatorien kosten viel Geld", sagte der Dicke. "Und Geld ist knapp bei euch!"

"Ja, wo soll ich denn hin mit ihr -?" rief Pagel.

"Zur gnädigen Frau", sagte Amanda. "Zur Mutter."

"Gut geschnattert!" lobte der Dicke. "Was Sie da sagen von Hotel und Nacht, das ist ja alles Unsinn. Sie ist doch die Mutter! Und wenn sie auch ausgekniffen ist und schlappgemacht hat, die Mutter ist sie, und jetzt wird sie nicht schlappmachen."

"Schön", sagte Pagel.

Aber er machte sich schon wieder Gedanken, was er Frau von Prackwitz auf alle Fragen antworten sollte. Denn er wußte ja gar nichts, und der Dicke würde ihm auch bestimmt keine weitere Auskunft geben.

Der Dicke klopfte gegen die Chauffeurscheibe, es war heller im Wagen, Frankfurts Straßenlaternen schienen herein.

"Ich steige hier aus", sagte er. "Hören Sie, Chauffeur, bestätigen Sie ... Der junge Mann hier zahlt die ganze Fuhre. Achtzig Pfennig kriegen Sie für den Kilometer - viel, junger Mann, aber die leere Rückfahrt ist mit einbegriffen. Auf 43750 stand Ihr Kilometeranzeiger, als wir losfuhren. Merken Sie sich das, Jüngling."

"Alles richtig", sagte der Chauffeur. "Und Sie werden auch genug Geld haben, Herr? Es wird über dreihundert Mark machen!"

"Habe genug", sagte Pagel.

"Dann ist's ja gut", sagte der Chauffeur. "Ein bißchen Bammel hatte ich doch."

"Geben Sie ihr noch eine warme Tasse Kaffee zu trinken hier in Frankfurt und etwas zu essen. Aber nicht im Lokal, reichen Sie's ihr in den Wagen. - Gute Nacht!"

Und damit hatte sich der Dicke schon umgedreht, ging ...

"Herr, Herr -!" rief Pagel, unnötig aufgeregt.

Der Dicke winkte mit der Hand. Den steifen Hut auf dem Kopf, der fest zwischen den Schultern stak, ging er um eine Ecke, ging fort, in die Nacht hinein - auf Nimmerwiedersehen!

"Chauffeur", sagte Pagel, "halten Sie an irgendeinem kleinen Lokal, wenn wir ziemlich durch die Stadt sind. Wir wollen noch etwas essen."

"Gemacht", antwortete der Mann, und wieder fuhren sie.

Jetzt war es heller im Wagen. Die Lampen schienen herein, aber die dunkle Gestalt rührte sich nicht. Es war nur eine dunkle Gestalt, ein namenloser Fahrgast, das Gesicht in das Eckpolster gedrückt.

"Nun sind wir mit ihr allein", sagte Pagel bedrückt. "Fräulein - Fräulein Violet, möchten Sie etwas essen?"

Er hatte es vergessen - nein, er hatte es nicht vergessen, er hatte es nicht über sich vermocht, zu ihr zu sprechen wie zu einem

unverständigen Kind oder vernunftlosen Hund.

Sie zitterte in ihrer Ecke, er fühlte es, er sah es - etwas rührte sie an. Verstand sie - wollte sie es nicht verstehen, konnte sie es nicht -? Das Zittern wurde stärker, ein Klagelaut ließ sich hören, nichts Artikuliertes - sondern wie manchmal ein Vogel in der Nacht allein klagt ...

Amanda machte eine Bewegung zu ihr hin. Warnend legte Pagel seine Hand auf die von Amanda, er bemühte sich, den kalten, leidenschaftslosen Ton des Dicken zu treffen: "Sei jetzt ruhig. Schlafe ..."

Später hielten sie.

Amanda ging hinein. Amanda brachte, was nötig war. Aber Pagel sagte: "Iß - trink jetzt."

Schon fuhr der Wagen wieder weiter, eiliger in die Nacht hinein, auf Berlin zu. Pagel sprach: "Schlaf jetzt wieder."

Sie fuhren lange, es war dunkel, es war still. War nicht Pagel auch ein Sohn, der verloren war und nun heimkehrte? Sie kehrte jetzt auch heim! Fremd - fremd geworden, die Kinder kennen die Eltern nicht mehr. Bist du das? fragt die Mutter. Ach, das Leben, das Leben! Wir halten nicht, ob wir wollen oder nicht, wir gleiten, wir eilen - ruhelos, ewig verwandelt. Zum Gestern sagen wir die Frage: Bist du das? - Ich kenne dich nicht mehr! Halte doch ein! Halte ein -! Fort -!

Es fährt der Wagen und fährt. Manchmal werfen die Wände schlafender Dörfer das Motorengeräusch lauter zurück, dann wieder ist nur die leise surrende Stille der Landstraße da. Hatte Pagel geglaubt, er würde freudig, er würde erregt die Tochter der Mutter wiederbringen? Schließlich war er bloß müde und abgespannt. Er führte ein langsames, schläfriges, manchmal ein bißchen gereiztes Gespräch mit der Amanda, die wissen wollte, was sie denn nun eigentlich in Berlin tun sollte, wenn die gnädige Frau ihre Hilfe nicht wünschte?

"Ich weiß es nicht, Amanda", sagte Pagel gequält. "Sie haben ganz recht, es war unüberlegt. Aber ich weiß es nicht ..."

Dann versickerte auch das. Als sei niemand Besonderes im Wagen, keine Tochter, die man hundertmal tot geglaubt und die dem Leben wiedergegeben war, als sei es irgendeine gleichgültige, ja, ein bißchen lästige Fuhre. Mehr nicht ...

Schließlich stand er dann in der Hotelhalle. Es war morgens halb drei. Mit Mühe nur hatte er erreicht, daß ihn der Nachtportier mit dem Zimmer von Frau von Prackwitz verband.

"Ja, was ist denn?" fragte die aufgeschreckte Frauenstimme.

"Hier ist Pagel. - Ich bin unten in der Hotelhalle. - Ich bringe Fräulein

Violet". Und nun doch, statt des langsamen ruhigen Redens: "Ach, gnädige Frau "... Er brach wieder ab. Er wußte nicht weiter.

Eine lange, lange Stille. Es war so still, so still ...

Dann sprach eine ferne, leise Stimme: "Ich - komme."

Nichts mehr. Pagel legte den Hörer auf.

Und - es konnten kaum einige Minuten vergangen sein - da kam Frau Eva von Prackwitz die Treppe hinunter, dieselbe breite, mit einem roten Läufer belegte Treppe, die einst Herr von Studmann herabgestürzt war.(Aber daran dachte Pagel jetzt nicht - und doch hatte ihn dieser Sturz - und einige andere Dinge mehr - nach Neulohe gebracht.)

Sie ging auf Pagel zu, weiß, sehr ruhig - sie sah ihn kaum, sie fragte nur: "Wo -?"

"Im Wagen", sagte Pagel und ging ihr voran. Ach, er hätte vielerlei zu sagen gehabt, und er hatte gemeint, sie würde vielerlei zu fragen haben - aber nein, nichts. Nur dies eine "Wo -?"

Er öffnete die Wagentür.

Die Frau schob ihn zur Seite, sie fragte nichts, sie wußte nichts. Sie sagte nur: "Komm jetzt, Violet."

Ach ja, dies war wohl die rechte Art, zu einem kranken Mädchen, zu einer verwirrten Seele du zu sagen. Sie hatten es nicht gekonnt. Sie konnte es.

Die Gestalt stand auf, sie kam aus dem Wagen. Einen Augenblick sah Pagel das Profil, den festgeschlossenen Mund, die tiefgesenkten Lider ...

"Komm, Kind", sagte die Frau und gab ihr den Arm.

Sie gingen hinein in das Hotel, sie gingen hinaus aus Pagels Leben - er stand vergessen auf der Straße.

"Und wohin jetzt, Herr?" fragte der Chauffeur.

"Wie?!" sagte Pagel erwachend. "Ach so, in irgendein kleines Hotel hier in der Nähe. Ganz egal."

Und leise, die Hand der andern nehmend: "Aber weine doch nicht, Amanda! Warum weinst du denn, Amanda?"

Und doch war auch ihm, als müßte er weinen, weinen, weinen - aber warum?

Nein, er wußte es nicht. Er wußte es auch nicht.

SECHZEHNTES KAPITEL. Die Wunder der

Rentenmark

1

Wir haben einen weiten Weg gehabt, oft haben wir uns aufhalten müssen unterwegs - nun haben wir es eilig! Als wir anfingen, war es Sommer, fast ein Jahr ist seitdem vergangen. Es ist wieder grün draußen, es blüht, eine Ernte wächst heran - und drinnen in der Stadt, im Zimmer der Frau Thumann, der Pottmadamm, hängen in der stickigen Hitze die gelbgrauen Gardinen wieder reglos - wir wissen es nicht, wir nehmen es an. Draußen und drinnen - es ist alles dasselbe.

Es ist alles ganz anders. So wenig ist geschehen: Ein Mann kam, und es war aus mit den unsinnigen, den liederlichen Scheinen mit den astronomischen Ziffern. Zu Anfang sahen die Leute das Geld verblüfft an, es war nur eine Eins darauf oder eine Zwei oder eine Zehn. Standen zwei Nullen hinter der Ziffer, war es schon ein sehr großer Schein, nein, wie komisch! Da man doch gewöhnt war, mit Milliarden und Billionen zu rechnen!

Es kamen auch wieder Münzen in den Verkehr, richtige Geldmünzen. Man sollte nicht nur mit Mark rechnen, nein, auch mit Groschen, nein, auch mit Pfennigen - es war toll! Es gab Männer, die bauten, wenn sie ihren Lohn bekommen hatten, Türmchen aus dem neuen Geld, sie spielten damit. Es war ihnen, als seien sie aus einer wilden, verdorbenen Zeit noch einmal in das Kinderland zurückgekehrt, aus dem schrecklich Verwickelten in das Einfache, Schlichte, wo die Dinge nur erst ein Gesicht haben.

Und es war seltsam, es ging ein Zauber von diesen niedrigen Zahlen, von den Münzen und den kleinen Scheinen aus. Die Menschen besannen sich - sie fingen an zu rechnen, und plötzlich ging es auf, es stimmte! Das und das verdiene ich die Woche, soundso viel kann ich also ausgeben - siehe da, es stimmte! Die Menschen hatten durch Jahre gerechnet - und es hatte nie gestimmt! Sie hatten sich von Sinn und Verstand gerechnet, in den Taschen der Verhungerten hatte man Tausendmarkscheine gefunden, der ärmste Stromer auf der Landstraße war Millionär gewesen ...

Und nun erwachten sie alle. Sie erwachten aus einem wüsten, schweren, quälenden Traum. Sie standen still, und sie sahen sich um. Jawohl, sie konnten stillestehen, um sich sehen, sich besinnen. Das Geld lief ihnen nicht weg, die Zeit lief ihnen nicht weg, das Leben blieb bei ihnen. Erschrocken sahen sie einander in die vertrauten, ach so fremden

Gesichter. Warst du das? fragten sie zögernd. War ich das? - Es war so nahe, und doch fing es schon an, ihnen zu zergehen wie ein Nebel, ein Fiebertraum, ein Dunst ...

Sie schüttelten es ab. Nein, das war nicht ich, sagten sie. Mit neuem Mut gingen sie an ihr Werk, es hatte wieder einen Sinn, zu arbeiten, zu leben.

Oh, es war doch alles sehr, sehr anders geworden!

2

Ein Mann verläßt das Universitätsgebäude, er geht über den Vorhof, er tritt auf die Linden hinaus.

Die Straße Unter den Linden liegt in voller Sonne.

Der Mann blinzelt ein wenig im Licht, zögernd betrachtet er einen Autobus. Der Autobus würde den Studenten rasch nach Haus fahren zu Weib und Kind. Aber er besinnt sich anders. Er rüttelt ein wenig die Aktentasche, die er am Griff trägt. Mit einem ruhigen und doch fördernden Schritt geht er die Linden hinunter, dem Brandenburger Tor zu, dem Tiergarten zu.

Er war all sein Lebtage ein Stadtmensch, dann war er eine kurze Zeit ein Landmensch, nun ist er wieder ein Städter geworden. Aber von seiner kurzen Landzeit ist ihm ein Bedürfnis nach ruhigen, weiten, einsamen Wegen geblieben. Sie erinnern ihn an die Zeit, da er auf den Feldern herumsauste, die Leute kontrollierte. Heute kontrolliert er auf solchen Wegen die eigenen Gedanken, die eigenen Arbeiten, seine Beziehungen zur Umwelt. Er hat ein nachdenkliches, freundliches Gesicht. Er geht gerade und ruhig, aber seine Augen sind hell geblieben, es ist Licht darin. Sie sind noch ganz jung ...

Als die schlimme Zeit war, schien ihm das höchst Erreichbare ein Antiquitätengeschäft oder ein Bilderhandel. Als er dann aber mit seiner Mutter von diesen Dingen sprach, meinte er: "Wenn du es könntest, Mama, würde ich am liebsten Arzt werden. Psychiater. Seelenarzt. Einmal wollte ich Offizier werden, und dann sah es aus, als würde ich gar nichts werden, ein Spieler, verblasen, hohl. Später hat mir die Landwirtschaft viel Freude gemacht, aber was ich gerne sein möchte, das ist: ein wirklicher Arzt."

"Ach, Wolfi", sagte sie ganz erschrocken. "Grade das längste Studium!"

"Ja, freilich", lächelte er. "Wenn mein Sohn in die Schule kommt, lerne ich immer noch. Es dauert ein wenig lange, bis sein Vater etwas ist und

Geld verdient. Aber, Mama, ich habe immer gerne darüber nachgedacht, wie es in ihnen aussieht und warum sie dies und das tun. Ich bin glücklich, wenn ich ihnen helfen kann ..."

Er sah vor sich hin.

"Halt, Wolfi!" rief die Mutter. "Nun denkst du wieder an Neulohe!"

"Warum soll ich es nicht?" lächelte er. "Meinst du, es tut mir weh? Ich war ja viel zu jung! Um den Menschen wirklich helfen zu können, muß man viel wissen, viel erfahren haben - und man muß nicht weich sein. Ich war viel zu weich!"

"Sie haben schändlich an dir gehandelt!" Und sie schlug mit dem Knöchel hart auf den Tisch: Tamtata! Tamtata! Ratatam! Ratatam!

"Sie haben gehandelt, wie sie waren. Die Schändlichen schändlich und die Guten gut. Die Weichen aber zu weich. - Also, Mama, es muß keinesfalls sein. Aber wenn du es kannst und magst ..."

"Kannst und magst, Wolfi", grollte sie. "Du bist ein Esel und wirst all dein Lebtage ein Esel bleiben. Wenn du etwas verlangen kannst, dann bist du bescheiden. Aber wenn dir etwas nicht zusteht, dann verbeißt du dich darin. Ich bin überzeugt, wenn du von deinen Patienten fünfzig Mark zu fordern hast, wirst du nach langem Überlegen fünf Mark liquidieren."

"Für das Rechnerische ist jetzt Peter da!" rief Wolfgang vergnügt. "Gerechnet habe ich für eine Weile genug!"

"Ach, Peter", grollte die alte Frau. "Die ist ja ein noch größerer Esel als du. Die tut ja bloß, was du willst!"

3

Frau Pagel die Ältere hatte von je das junge Mädchen Petra Ledig mißbilligt. Sie mißbilligte es nicht weniger, als es Frau Pagel die Jüngere hieß. Sie fand, Ledig sei ein sehr passender, ein geradezu nach Maß geschneiderter Name für das Mädchen gewesen. Sie erklärte, indem sie eigene Vergehen in Ruhm verwandelte, ein Mädchen, das sich von seiner Schwiegermutter widerspruchslos Knallschoten hauen ließ, werde damit aufhören, den Mann zu backpfeifen. Schließlich kam es so weit, daß Frau Pagel senior nicht öfter als bloß werktäglich den Haushalt der jungen Frau besuchte. Sonntags hatte sie es nicht nötig, sonntags kamen die jungen Leute zum Essen zu ihr.

Sie hatte dann eine verfluchte, unverschämte Manier, stocksteif und hölzern im Schmuck ihrer weißen Haare am Tisch zu sitzen, mit den Fingern auf der Tischplatte zu trommeln und jede Bewegung Petras mit

ihren glühenden schwarzen Augen zu verfolgen, die jede andere junge Frau zum Wahnsinn gebracht hätte.

"Ich würde mir das von ihr nicht bieten lassen!" sagte das alte Mädchen Minna empört. "Und ich bin doch nur das Hausmädchen, du aber die Schwiegertochter."

"Schönes Wetter heute", das war die höchste Unterhaltung, zu der sich die alte Dame mit Wolfgangs Frau verstieg. "In der Markthalle gibt's frische Flundern. Wissen Sie, was das ist: Flundern? Man muß ihnen die Haut abziehen. Na ja!" Und sie rieb sich mit dem Finger energisch die Nase.

Sie machte Minna und Wolfgang vollständig irre und verzweifelt. Petra lächelte bloß.

"Ein Kind aus dem Dutzend", sagte die Schwiegermutter absprechend, wenn sie das Baby sah. "Nichts Pagelsches. Dutzendware!"

Die arme Petra - Wolfgang war ja meistens in der Universität, wenn seine Mutter kam, und daß Minna nicht oft dabeisein konnte, dafür sorgte die Alte schon! -, Petra mußte all dies meistens allein über sich ergehen lassen. Wenn sie das Kind an die Brust legte, hatte die Alte eine Manier dabeizusitzen, zu starren und mit dem unverschämtesten Ton von der Welt zu fragen: "Na, Fräulein, gedeiht es -?"

Jeder andern Frau hätte sich die Milch in Galle verwandelt.

"Danke, es gedeiht, gnädige Frau", lächelte Petra bloß.

"Er hat abgenommen", behauptete die Alte und trommelte hölzern.

"I wo, er hat dreißig Gramm zugenommen. Die Waage ..."

"Ich richte mich nicht nach Säuglingswaagen, die stimmen nie. Ich richte mich nach meinen Augen, die stimmen. Er hat abgenommen, Fräulein!"

"Jawohl, er hat abgenommen", antwortete Petra.

Frau Pagel die Ältere hielt hartnäckig weiter an der Auffassung fest, daß Petra ein lediges Mädchen sei, trotz Standesamt. "Da habt ihr ja wohl schon mal vor einem halben Jahr gehangen, und es galt auch nichts. Nein, alles bloß Augenverblendung und Täuschung."

"Aber ich wünsche wirklich, Mama -!"

"Wünsch dir was zu Weihnachten, mein Junge!"

"Daß ihr euch alle so täuschen laßt!" lachte Petra. "Die Mutter hat ja den größten Spaß daran. Manchmal, wenn sie denkt, ich sehe es nicht, schüttelt sie sich ordentlich vor Lachen!"

"Jawohl, sie lacht dich aus, weil du dir alles von ihr gefallen läßt!" rief

Minna empört. "So ein Schaf wie du hat ihr grade noch zum Schikanieren gefehlt!"

"Wirklich, Petra", bat Wolfgang. "Du solltest dir nicht alles von Mama gefallen lassen! Sie läßt sich immer mehr gehen!"

"Oh, Wolfi!" lachte Petra vergnügt. "Habe ich mir nicht auch von dir alles gefallen lassen und habe dich schließlich doch untergekriegt?!"

Wolfgang Pagel schwieg betroffen.

Wenn man bedenkt, daß Frau Pagel senior im alten Westen, in der Tannenstraße, beim Nollendorfplatz, wohnte und daß die jungen Leute sich ganz draußen in der Kreuznacher Straße, beim Breitenbachplatz, eingemietet hatten, so mußte man sich über die Ausdauer wundern, mit der die alte Frau tagtäglich die weite Reise zu der unangenehmen jungen Frau machte. Das Haus war neu, es war sogar ganz neu, eine Schöpfung der Inflation - und es war, als wollte es dieser Inflation nacheifern: Es war schon wieder im Vergehen, in all seiner Neuheit löste es sich schon wieder auf.

"Da, sehen Sie", schalt die alte Frau zornig zu Petra, "was ich mir in eurem ekelhaften Kasten eingerissen habe -!"

Und sie zeigte Petra ihre Hand. Quer durch den Handteller spießte ein großer, auch noch wieder splittriger Holzsplitter.

"Das Treppengeländer", rief die Alte zornig. "In solch einer Bude wohnen anständige Leute nicht. Das ist ja lebensgefährlich! Das kann eine Blutvergiftung geben!"

"Warten Sie, ich hole Ihnen den Splitter raus!" sagte Petra eifrig. "Ich kann so was sehr gut."

"Wenn Sie mir aber weh tun! Ich sage Ihnen -!" rief die Alte drohend.

Mit finsteren Augen sah sie zu, wie Petra eine Nadel und eine Pinzette holte. Wie viele Menschen, die großes Leid heroisch ohne Klage ertragen, war die alte Frau Pagel den kleinen Widerwärtigkeiten des Lebens gegenüber zimperlich, weich, fast feige ...

"Ich lasse mich nicht von Ihnen mißhandeln!" schrie sie.

"Sie müssen die Hand nur ruhig halten, dann tut es fast gar nicht weh", sagte Petra. Und machte sich ans Werk.

"Es soll aber überhaupt nicht weh tun!" rief Frau Pagel. "Der ekelhafte Splitter ist schon schlimm genug, Ihre Pfuscherei habe ich grade noch nötig!" Mit starren Augen, deren Pupillen die Angst verkleinert hatte, blickte sie auf die Hand.

"Sie müssen die Hand ruhig halten!" bat Petra noch einmal. "Sehen Sie

lieber weg!"

"Ich "..., sagte Frau Pagel schwächer und zuckte wieder, "... ich will das nicht ... Lassen Sie den Splitter drin ... Vielleicht geht er von selber raus ..."

Sie suchte die Hand fortzuziehen.

"Willst du wohl ruhig halten!" rief Petra ärgerlich. "Sich so anzustellen! Hab dich bloß nicht so albern!"

"Petra!" sprach die alte Frau Pagel starr. "Petra! Was fällt dir denn ein?! Du sagst ja wohl du zu mir!"

"Da ist er!" rief Petra eifrig und hielt triumphierend den Splitter mit der Pinzette hoch. "Siehst du, wie das gleich geht, wenn du bloß ruhig hältst -?!"

"Sie sagt du zu mir", flüsterte die alte Frau und setzte sich. "Sie sagt, ich soll mich nicht albern anstellen! Ja, Petra, hast du denn gar keine Angst vor mir -?"

"Nicht die Spur!" lachte Petra. "Du darfst ruhig weiter Fräulein zu mir sagen und behaupten, daß der Junge nicht gedeiht - ich weiß doch, wie du's meinst."

"Lächerliche Gans!" sagte die alte Frau ärgerlich. "Bilde dir bloß nicht ein, daß ich einverstanden bin mit dir!"

"Nein, nein!"

"Du, Peter -?"

"Ja -?"

"Wenn Wolf merkt, daß wir uns jetzt du nennen, sag ihm nicht, wie es gekommen ist. Erzähle ihm, ich habe dir das Du angeboten. Willst du das tun?"

"Nein", lächelte Petra.

"Du willst ihm sagen, wie es war?"

"Ja", antwortete Petra.

"Ich sage ja: Gans!" sagte Frau Pagel grollend. "Vermutlich hast du dir vorgenommen, ihm ›alles‹ zu sagen? Ja? Das hast du doch vor?"

"Natürlich."

"Du wirst sehen, wie hübsch weit du mit dieser Methode kommst. Du verwöhnst ihn bloß. Männer vertragen Verwöhnung nicht."

"Und du?" fragte Petra.

"Ich -?" fragte sie dagegen.

"Hast du ihn etwa nicht verwöhnt? Maßlos?"

"Ich? Nie! Ich schwöre dir: nie! Was lachst du, ich verbitte mir das! Ich werde mich doch nicht von dir auslachen lassen! Höre jetzt auf! - Du sollst aufhören! - Petra, es gibt eine Backpfeife! Petra!! - Ach, Petra, wie springst du mit mir alten Frau um?! Macht man das denn so -? Früher knieten sie nieder und baten um den Segen des Mütterleins - ich habe wenigstens so einen Quatsch gelesen -, und du lachst mich aus statt dessen! Petra -! Ach, du elende Sirene, du! Hast du mich nun auch rumgekriegt?! Armer Wolfgang!"

4

Wir haben einen langen Weg gemacht, wir müssen weiter, wir haben es eilig!

Geht man den Kurfürstendamm von der Gedächtniskirche nach Halensee zu, so führt auf der linken Seite eine kleine Straße ab, die Meinekestraße - in sie müssen wir, dort treffen wir Bekannte. Es ist fast die Ecke am Kurfürstendamm, nur ein oder zwei Häuser in die Meineke hinein, da liegt ein kleiner Laden, das Schild trägt den Namen "Eva von Prackwitz".

Es ist ein kleiner Modesalon, die Dame kann sich dort ein Wiener Strickkleid kaufen oder eine seidene Bluse anfertigen lassen, und für den Herrn gibt es wunderbare Handschuhe oder ein Paar ausgesuchter Manschettenknöpfe oder ein Oberhemd aus purer Seide, nach Maß, vierzig oder fünfzig Mark. Auf Billigkeit wird hier kein Wert gelegt. Man kann nicht darauf rechnen, etwas Bestimmtes in diesem Laden zu bekommen, man kann nicht hineingehen und Kragen, Weite 40, verlangen; die jungen Damen mit den schön gelackten Nägeln hinter den Tischen würden über einen solchen Käufer nur eine mokante Miene ziehen. Hier gibt es nur Sachen und Sächelchen, die die Laune reizen, ein plötzlicher Einfall - eben hat diese Dame noch nicht gewußt, daß sie den Jumper aus Wolle brauchte, aber nun weiß sie, daß ihr Leben kummervoll und öde ohne ihn verlaufen würde.

In diesem Laden herrscht Frau von Prackwitz. Über der Tür steht der Name Prackwitz, aber richtiger wäre es, es stünde Teschow darüber, denn es ist die echte Tochter des alten Teschow, die hier waltet. Ihre Liebenswürdigkeit, ihr Lächeln spart sie für die Kunden auf, ihre Angestellten zittern vor ihr, sie hat einen kalten, scharfen Ton. Sie ist knickrig, sie schindet Überstunden, sie hat das Auge, das alles sieht.

Jawohl, sie hat sich mit ihrem Vater überworfen. Es ist ausgemacht, daß sie nicht mehr als das Pflichtteil bekommen wird, aber sie ist eine

Teschow. Sie kann geizig sein, wenn sie ein Ziel hat.

Sie hat ein Ziel, sie muß Geld verdienen, viel Geld, sie muß für zwei Unmündige sorgen. Wenn sie einmal stirbt, muß genug dasein für die! Sie haßt jetzt Jugend und Unbekümmertheit und Gesundheit; es macht sie krank, wenn sie ihre jungen Verkäuferinnen Blicke mit Herren wechseln sieht. Sie denkt nur noch an Mann und Tochter. Sie denkt nur noch, daß diese zwei, daß sie alle drei vom Leben betrogen worden sind. So gönnt sie den andern nichts. Es gilt nur noch zu raffen, und sie rafft.

Manchmal, in den Abendstunden, steht ein schmaler, weißhaariger Herr im Laden, er hat dunkle Augen - er sieht vorzüglich aus! Er spricht kaum etwas, aber er hat ein verbindliches, liebenswürdiges, etwas wesenloses Lächeln - diesen Damen aus dem neuen Westen gefällt er sehr. Ein Kavalier alter Schule - ein Grandseigneur -, da sieht man, was blaues Blut ist!

Der alte Herr lächelt, er geht mit der Dame bis fast an die Ladentür, er bestätigt, daß es recht, recht warm ist. Dann macht er eine kleine Verbeugung, er sieht zu, wie die Dame sich die Ladentür öffnet, er wendet sich zurück, er geht wieder zu seiner Frau.

Sein Hirn schläft, die Eiszeit ist eingebrochen; er war einmal der Rittmeister und Rittergutspächter Joachim von Prackwitz - jetzt ist er nur noch ein sehr, sehr alter Mann. Er marschiert nicht mehr, weder allein noch im Glied. Er dämmert.

Aber ein ganz kleiner Rest von ehedem ist ihm geblieben - er öffnet den Damen nicht die Ladentür, er macht sie nicht hinter ihnen zu. Wäre es daheim in seiner Wohnung, in der Bleibtreustraße, er wäre den Damen behilflich, er wäre der Gastgeber, der Herr, der Kavalier. Aber er ist und er wird kein Geschäftsmann, der die Kundschaft "bedient". Das will er nun doch nicht. Dieser kleine Rest Eigenwille ist ihm geblieben. Es ist nicht viel, aber es ist etwas!

Seiner Tochter verblieb nicht einmal dies. Langsam, in Wochen und Monaten, hat sie sich wieder an Menschen gewöhnt. Sie kann es nun, ohne zu weinen, ertragen, daß ein Mensch freundlich zu ihr spricht. Sie sitzt den ganzen lieben langen Tag in der Hinterstube des Ladens, wo die Mädchen sitzen, die die eiligen Änderungen machen, die Hemdennäherinnen, die Zuschneiderin. Die Maschinen surren, die Mädchen schwatzen leise miteinander, die "gnädige Frau" ist vorne im Laden.

Violet von Prackwitz sitzt still dabei. Sie sieht den Mädchen zu, sie sieht aus dem Fenster oder auf die Blumen, die in einer kleinen Vase vor ihr stehen. Sie lächelt, manchmal weint sie auch ein wenig, aber sie sagt

nie ein Wort. Es wurde einmal ein Fluch über sie ausgesprochen, ihr ganzes Leben sollte sie ein Bild vor sich haben, sie hat den toten Mann gesehen, und dann kam eine Zeit, von der niemand etwas weiß.

Weiß sie etwas davon? Weiß sie noch etwas von dem toten Mann, seinem Fluch -? Die Ärzte sagen nein, aber warum weint sie dann manchmal? Sie weint lautlos, daß die Mädchen um sie es zuerst oft gar nicht merken. Aber dann sieht es eine, und sie ruft: "Unser gnädiges Fräulein weint!" Und nun schweigen sie alle und sehen die Weinende an. Sie haben schon früher alles versucht, sie haben ihr Blumen gegeben und Konfekt geschenkt, sie haben Witze gemacht, eine hat gegackert wie ein Huhn, die andere hat mit der Schneiderpuppe getanzt - aber nichts half.

Nun kommt die gnädige Frau herein. Sie ist gerufen worden, sie hat ihre beste Kundin im Laden stehengelassen, sie kommt eilig ... Sie ist nicht mehr hart, sie hat auch Zeit, sie nimmt ihr großes Kind in den Arm, sie legt ihr die Hand über die Augen: "Nicht weinen, Violet, du sollst fröhlich sein."

Allmählich beruhigt sich die Kranke in der mütterlichen Wärme, sie lächelt, wieder sieht sie den Mädchen zu. Frau von Prackwitz geht zurück in den Laden ...

Die Mädchen in der Schneiderstube, vorn im Geschäft sind Berlinerinnen. Sie haben ein rasches Mundwerk, sie reden oft hart von der harten Frau, die sie quält ... Aber immer ist dann eine, die sagt: "Aber, Gott, was hat die Frau auch zu tragen! - Der Mann und die Tochter! Wir wären sicher auch nicht anders ..."

Nein, das wären wir nicht. Violet ist jetzt sechzehn, sie hat ein langes Leben vor sich ...

"Ja", sagen die Ärzte, "man kann es ja nicht wissen. Hoffen und warten - es ist nicht unmöglich, gnädige Frau."

Sie hofft und sie harrt. Und sie baut vor, sie spart. Alles, was an Weichheit und Güte in ihr sitzt, bekommt allein die Tochter zu spüren. Den Mann sieht sie kaum noch, er ist da, aber er ist doch nicht da. Denkt sie manchmal an einen gewissen Herrn von Studmann? - Wie fern - wie töricht!

Es ist schon einmal geschehen, daß sie einem Herrn Pagel auf der Straße begegnete. Sie sah ihm kalt ins Auge, sie grüßte ihn nicht, sie sah durch ihn hindurch. Soweit war sie nun doch die Tochter ihres Vaters, um diesen Burschen endlich zu durchschauen. Er hatte sich Vollmachten von ihr erschlichen, er hatte diese Vollmachten mißbraucht, große Summen

hatte er in die eigene Tasche fließen lassen. Es gab Abrechnungen ihres Vaters über den Wert der Dinge, die dieser junge Mann verkauft hatte, es gab Aufstellungen über die Beträge, die er an sie abgeführt hatte - enorme Differenzen! Die ihrem Erbteil belastet worden waren!

Jawohl, sie erinnerte sich auch daran, sie erinnerte sich gut: Dieser Pagel besaß noch einen Schuldschein von ihr, lautend auf zweitausend Mark. Er sollte ihn behalten, sie würde ihn nie einlösen - ein kleiner Denkzettel für all die Schlechtigkeit, die er ihr angetan!

Er war so jung erschienen, so liebenswürdig, so anständig - aller Jugend, aller Liebenswürdigkeit, jedem Anstand mußte man mißtrauen. Alle betrogen einander - sie würde heute abend wieder einmal die Kasse revidieren - Fräulein Degelow trug nur noch neue Seidenstrümpfe. Sie konnte einen Freund haben, sie konnte aber auch in die Kasse greifen - hab acht!

5

"Kommen Sie rein, junger Mann. Kommen Sie rein in die gute Stube. - Natürlich ist sie da! Wieso soll sie nicht dasein?!" rief Frau Krupaß mit lauter, fröhlicher Stimme. Aber leise flüsterte sie: "Seien Sie heute ein bißchen nett mit ihr, sie hat's heute früh amtlich bekommen, daß ihr Verflossener tot ist ..."

"Is er das endlich wirklich?" fragte der junge Mann sehr erfreut. "Na, Jott sei Dank!"

"Um Jottes willen - seien Sie doch bloß nicht so herzlos, Herr Schulze! Wenn er auch bloß ein Schweinehund war, traurig is se darum doch."

"Tach, Amanda", sagte der junge Mann, der Herr Schulze, Lastwagenfahrer der Papierfabrik Korte & Körtig. Er sagte es aber nicht in der guten Stube, er sagte es in der Küche, wo Amanda Backs noch abwusch. "Was hat's bei euch jejeben? Bücklinge? Müßt ihr nich essen bei die Hitze, Fisch ist doch immer gleich stinkerig ..."

"I wo! Wo er doch geräuchert ist!" widersprach die Krupaß.

"Tu man nicht so, Schulzing", sagte Amanda, "als wenn du von nischt wüßtest. Ich habe wohl jehört, wie se mit dir an der Tür getuschelt hat. Jawohl, nu is er tot, mein Hänseken - und wenn er auch ein Lump war, so hat er mich doch auf seine Art geliebt, wie ich damals war, ohne alles, nichts als die rechte Hand von Mutter Krupaß."

"Wenn du meinst, Amanda, daß ich dir darum ..."

"Wer sagt denn das? Wer spricht denn von dir?" sagte Amanda und

warf den Kupferschwamm in das Abwaschwasser, daß es klatschte. "Ihr Männer denkt immer, man redet bloß von euch. Nee, von meinem Meier habe ich geredet und daß ich nicht darüber wegkomme, daß er auch als Lump gestorben ist. In Pirmasens haben sie ihn auf dem Bezirksamt erschlagen, ein Separatiste is er jewesen - immer mit de Franzosen und gegen die Deutschen, ganz wie in Neulohe, wo ich ihm doch schon ein paar gelangt habe deswegen."

"In Pirmasens", sagte Herr Schulze verlegen. "Das ist doch schon wieder 'ne aasige Zeit her ..."

"Am zwölften Februar is es gewesen, gut vier Monate is es her. Aber weil er bloß Meier geheißen hat und weil sie mich erst haben suchen müssen, hat es so lange gedauert, bis sie's mir haben amtlich geben können. Wo es doch in seiner Brieftasche gestanden hat, daß ich seine Braut bin ..."

Amanda Backs - ihre gebildete Zeit als Hausdame des Wolfgang Pagel lag weit zurück, und sie war auf dem Lagerplatz der Krupaß wieder ganz in das alte, heimische Berlin zurückgekehrt -, Amanda Backs zog eine verächtliche Schippe und sagte: "Dabei bin ick nie seine Braut gewesen, ick habe bloß mit ihm jeschlafen ..."

Eine etwas bedrückte Stille entstand. Der junge Mann rutschte auf seinem Küchenstuhl hin und her, schließlich ließ sich Frau Krupaß vernehmen: "Es is ja janz schön, Mandeken, daß du so 'n offner Mensch bist. Aber allzuviel is auch unjesund, du trittst Herrn Schulzen unnötig auf die Zehen, wo er es doch janz ehrlich mit dir meint."

"Na, lassen Se man, Krupassen, lassen Se man!" sagte der Chauffeur. "Ich kenne doch Amanda, die meint es ja gar nicht so."

"Wie meine ich es denn?!" rief Amanda mit geröteten Backen. "Genau so meine ich es, genau, wie ich's gesagt habe! Da gibt's gar nischt von Amanda und kennen!"

"Na schön, auch gut", sagte der Mann. "Dann haste es eben so gemeint. Darum wollen wir uns doch nich streiten."

"Da hören Sie es, Krupassen! Und so was will ein Mann sein! Nee, Schulzing", rief sie und war ganz ehrlich traurig. "Du bist ein guter Kerl, aber du bist mir zu lappig. Ich weiß, du bist solide, und du sparst, und du trinkst nicht, und sobald es geht, kaufst du dir einen Lastzug, und ich könnte Frau Fernspediteur werden, wie du mir gesagt hast ... Aber, Schulzing, ick habe es mir den ganzen Tag hin und her überlegt, es kann doch nischt werden mit uns. Versorgt sein ist ganz schön, aber nur versorgt sein, det is ooch nischt. Ick bin doch erst grade dreiundzwanzig,

und so eilig habe ich es noch nich. Und vielleicht kommt doch noch ein anderer, wo det Herze 'n bißken puckert. Bei dir puckert es gar nicht, Schulzing ..."

"Ach, Amanda, det denkste jetzt bloß so, weil du den Brief gekriegt hast. Sage mir bloß nich uff. Ick weeß ja, ick bin een bißchen trantutig, aber in meinem Jeschäft is det grade gut. Scharf fahren, det können se alle, aber vorsichtig fahren und 'nen Lastwagen mit 'n Anhänger auf 'm Hof umdrehen, nich viel größer als eure Küche, ohne eine Schramme, det kann ick alleene ..."

"Nu redste wieder von deinem dußligen Auto! Heirate du doch deinen Daimler!"

"Jawoll rede ick von meinem Auto, aber du mußt mir auch ausreden lassen, Amanda! Ick bin trantutig, habe ick jesacht, aber wie ick mit meinem Wagen grade durch meine Tutigkeit zurechtkomme, komme ick ooch in die Ehe zurecht. Jloob mir, Amanda, da is es jenauso: Jroße Bogen spucken können se alle und scharf ranjehen, und denn kiek dir so 'ne Ehe nach sechs Monaten an! Alles zu Bruch jefahren! Bei mir bleibste heil, Amanda, bei mir passiert dir nischt - det habe ick so sicher wie meinen Führerschein!"

"Ein guter Kerl biste doch, Schulzing", sagte Amanda. "Aber, glaub mir, es kann nich sein. Feuer und Wasser, das paßt eben nich zusammen. Du sagst, mir passiert nischt - schön, Schulzing, ick weeß ja nich, ob mir det recht wäre, wenn mir so gar nischt passiert. Gar zu stille is ooch doof."

"Na ja", sagte der junge Schulze und stand auf. "Ick will dir ja nich überreden. Wat nich is, det is nich. Dann bin ick eben der Doofe. - Nee, ick nehme dir das nich übel, Amanda, wo denn! Die Bäcker backen auch nich alle dasselbe Brot, du bist eben feurig, und ick bin tutig. Da kannst du nischt für, und da kann ick nischt für. Guten Abend, Frau Krupaß. Ick danke Ihnen ooch, daß Sie mir die Abende hier haben sitzen lassen, und für all das schöne Essen ..."

"Nu redt er auch noch vons Essen!"

"Warum soll ick nich vons Essen reden?! Für alles, was man geschenkt kriegt im Leben, soll man sich bedanken. Mir haben se noch nich so viel jeschenkt in meinem Leben, daß mir das Danken zu ville jeworden is. - Gute Nacht, Amanda, ick wünsche dir auch alles Jute ..."

"Danke schön, Schulzing. Ick dir auch - und vor allem 'ne nette Frau!"

"Na ja, ick werd ja woll noch 'ne andere finden. Aber es hätte mir doch jefreut, Amanda. Gute Nacht."

Sie warteten beide, bis sie die Tür klappen hörten, sie warteten, bis sie

seinen Schritt auf dem Hof hörten. Aber erst, als sie ihn dem Aufseher Randolf draußen auf dem Platz gute Nacht sagen hörten, sagte Frau Krupaß: "War det auch richtig, Amanda? Er is doch ein sehr reeller Mann."

Amanda Backs schwieg.

Die Krupaß fing wieder an: "Nicht, daß ich mir beklage. Mir soll's nur recht sein, und wenn du noch zehn Jahre bei mir lebst hier auf dem Platz. Die Petra habe ich sehr jerne, aber so reden wie mit dir kann man doch nich mit ihr. Und im Jeschäft bist du auch tüchtiger als sie - bloß im Schreiben, da is sie dir über."

"Vergleich mich bloß nich mit der Frau Pagel, Mutter Krupaß", sagte Amanda. "Du weißt auch gar nich, was sich schickt!"

"Habe ick was gegen die Petra gesagt?! Du weißt auch nicht, was du redest! Ick hab jesagt, du paßt besser zu mir. Und das is wahr!"

"Na ja", sagte Amanda. "Du meinst: 'ne Kuh soll nich auf 'n Ball jehn."

"Du verstehst mir janz jut, Mandeken", sagte die Krupaß und stand gähnend auf. "Du willst mir bloß nich verstehen. Weil du nämlich auf alle wütend bist, daß dein Verflossener kein besserer Kerl war. - Na, jetzt gehe ich in die Mulle. Wir haben morgen den Waggon Flaschen, da müssen wir um fünfe raus - gehst du noch nicht?"

"Ick sitz hier noch 'n Weilchen und sehe aus 'm Fenster. Und wütend bin ick nich auf dich, ick weiß schon, daß ick alleine mit ihm schuld gehabt hab."

"Nu werd man bloß nicht trübetimplig. Denk man an die Petra - die hat dringesessen im Dreck, schlimmer als du, und was is se jetzt? Ne richt'je Dame!"

"Ach, Dame!" sagte Amanda verächtlich. "Auf Dame pfeife ich! Aber er hat sie lieb, det is es - und so trantutig der Schulze auch war, der hat mehr an deinen Lagerplatz jedacht und daß du jesacht hast, du willst mir versorjen, als an Liebe ..."

"Jott, Liebe, Mandchen, nu fang nich ooch noch von Liebe an! Abends in den Himmel gucken und denn ooch noch Liebe - det is nich jesund, da holste dir bloß 'n Schnuppen! Komm man bald ins Bette. Richtich ausschlafen, det is besser als die janze Liebe. Von Liebe wird man bloß dußlig."

"Jute Nacht, Mutter Krupaß. Ick möchte bloß wissen, wat du jesacht hättest, wenn dir det jemand vor vierzig Jahren jesacht hätte."

"Ja, Kindchen, det is ja 'ne janz andre Sache! Vor vierzig Jahren und die Liebe! Det waren ooch andre Zeiten! Aber heute - da taugt doch ooch de

Liebe nischt mehr!"

"So siehste aus", sagte Amanda, rückte sich den Küchenstuhl ans Fenster und sah in den Berliner Himmel.

6

Wir wollen weiter, wir haben es eilig! Müssen wir noch nach Neulohe -?

Hallo, hallo! Achtung! Geht aus dem Wege - da kommt der Vierzöllerwagen, schwerbeladen mit Säcken. Sie haben keine Pferde, alle Pferde sind zur Arbeit auf dem Feld, kein Pferd ist zu entbehren - so schieben die Leute die fünfzig Zentner über den holprigen Hof. Sie greifen in die Speichen, sie pressen die Schultern gegen die Rungen, langsam schiebt sich der Wagen an den Futterboden heran.

Wer kommt über den Hof? Wer schreit, daß es schneller gehen muß? Es ist der alte Geheimrat von Teschow. Er ist sein eigener Inspektor, Förster, Schreiber geworden, jetzt wird er auch noch sein eigenes Zugpferd, er spannt sich an die Deichsel: "Los, Leute! Ich bin siebzig, und ihr, ihr schafft nicht mal die paar Zentner?! Schlappschwänze!"

Kaum steht der Wagen, muß er schon weiter. Ach, er hat so viel zu tun, anzutreiben, zu kontrollieren, zu rechnen, von morgens an ist er halbtot vor Überanstrengung - das macht ihn ganz glücklich! Er hat eine Aufgabe, nein, er hat zwei Aufgaben: Er muß Neulohe wieder aufbauen; sein Schwiegersohn, die eigene Tochter haben es im Verein mit einer Rotte von Dieben und Verbrechern ausgeplündert. Und er muß sein Barvermögen wieder auffüllen, das haben ihm die Roten gestohlen!

Unermüdlich ist er tätig, er ist geizig, er ist filzig. Der eigenen Frau stiehlt er die Eier aus der Speisekammer, um sie zu verkaufen; er findet immer neue Sparmethoden. Wenn die Leute seufzen: "Herr Geheimrat, Sie müssen uns doch auch das Leben lassen" - so schreit er: "Wer läßt denn mir das Leben?! Ich habe nischt mehr, ich bin ein armer Mann, Schulden habe ich, so haben sie mich bestohlen!"

"Ach, Herr Geheimrat, Sie haben doch die Forst!"

"Die Forst? Die Forst! Die paar Kiefernkuscheln - und was denkt ihr, was das Finanzamt von mir verlangt?! Vorm Kriege habe ich achtzehn Mark Einkommensteuer im Jahr bezahlt - und heute? Tausende verlangen die Brüder von mir! Bloß, sie kriegen sie nicht! Nee, richtet euch ein, ich muß mich auch einrichten."

Schon läuft er weiter. Sein Kopf ist voll von Einfällen. Wenn er morgens die Glocke fünf Minuten zu früh zum Arbeitsanfang läuten läßt, so

schindet er bei sechzig Leuten fünf Stunden unbezahlte Mehrarbeit heraus. Er betrügt sie bei der Lohnzahlung; wenn er jeden jede Woche nur um einen Pfennig beschummelt, so hat er im Jahr dreißig Mark gespart! Er muß sich eilen, er hat schiefgelegen, die Papiere, die er sich in der Inflation gekauft hat, sind auch nichts wert. Sie werden jetzt "zusammengelegt", so nennen das die Räuber, tausend Mark auf fünfzig Pfennig!

"Na, oller Elias, doch noch ein bißchen mehr, als du für deine braunen Tausender kriegst!"

"Warten Sie ab, Herr Geheimrat, warten Sie nur ab!"

Nein, er kann nicht abwarten, er muß rasch machen, der alte Geheimrat. Das Vermögen in Papieren, in bar ist zusammengeschmolzen. Wenn er stirbt, muß mindestens so viel dasein, wie er von seinem Vater übernommen hat! Warum? Für wen? Die Tochter ist auf das Pflichtteil gesetzt, und auf dieses Pflichtteil werden vorempfangene Beträge angerechnet. Mit dem Sohn hat er sich nun auch überworfen. Für wen? Er weiß es nicht, er denkt nicht darüber nach, er läuft herum, er rechnet - und außerdem wird er uralt werden. Es ist kein Gedanke daran, daß er in den nächsten zwanzig Jahren einpacken wird, er will noch manchen Jungen sterben sehen!

Oben im Schloß, an ihrem Fenster, sitzt die alte Frau, seine Frau. Aber nicht wie früher ist ihre Freundin, Jutta von Kuckhoff, bei ihr. Jutta ist in Ungnade gefallen, Jutta ist fortgeschickt worden, Jutta mag sehen, wie sie auf dieser Erde zurechtkommt, sie hat sich ihrem himmlischen Heil widersetzt, sie hat Herrn Herzschlüssel widerstanden!

Herrn Herzschlüssel hat Frau Belinda aus Dresden mitgebracht, er ist ein bärtiger Mann in schwarzem Rock, er ist der Leiter einer strengen Sekte, die schon hier auf Erden sich nur der Reue und Buße widmet, der Leiter und wahrscheinlich die ganze Sekte dazu. Herr Herzschlüssel hat Frau Belinda von der "verkalkten" Kirche befreit, er hat ihr bewiesen, daß er allein Jesu wahre Lehre verkörpert. Jetzt darf Frau Belinda so viel Betversammlungen abhalten, wie sie will, sie braucht vor keinem Pfarrer und Superintendenten mehr Angst zu haben.

Jutta lehnte sich gegen Herrn Herzschlüssel auf. Sie behauptete, er stehle, trinke, habe Weibergeschichten. Aber Jutta ist bloß ein altes, sauer gewordenes Fräulein, und Herr Herzschlüssel hat einen schönen, gepflegten Bart, eine sanfte Stimme. Wenn er Frau Belinda auf seinen starken Armen in den Liegestuhl trägt, dann ist Frau Belinda so glücklich, wie dies sündige Fleisch hier auf dieser Erde nur sein darf!

In einem letzten Gefecht versuchte Jutta von Kuckhoff, den Geheimrat

gegen Herrn Herzschlüssel vorzuschieben. Aber der Geheimrat lachte bloß. "Der Herzschlüssel?" krähte er. "Ach, Jutta, gut ist der Mann! Ein Mädchen spart er uns mindestens, endlich sind wir aus der Kirche raus und zahlen keine Kirchensteuern mehr, die Belinda ist immer guter Laune - und das alles für das bißchen Essen! Nee, Jutta, der Mann soll bloß bleiben!"

"Es wird nicht immer mit dem bißchen Essen abgehen - ein Kalb wird schnell zum Ochsen!"

"Geld - Geld? Ich habe ja keins, Jutta! Und dafür will ich schon aufpassen, daß sie nichts Schriftliches von sich gibt. Der Herzschlüssel, der kriegt die Kassenschlüssel nie!"

So ist dafür gesorgt, daß die beiden Alten ihre Beschäftigung haben - an ihre Kinder brauchen sie nicht mehr zu denken.

7

An seinen freien Tagen, auf seinen Spaziergängen geht Herr von Studmann gerne auf den Friedhof eines Nachbardorfes. Er setzt sich da auf eine Bank, direkt vor ihm ist ein altes Grab. Als er es entdeckte, war es ganz von Efeu überwuchert, den Stein hat Herr von Studmann erst wieder frei gemacht.

Auf dem Stein ist zu lesen, daß Helene Siebenrot, ihres Alters sechzehn Jahre, beim Retten eines ertrinkenden Kindes selbst ertrank. Zum Schluß heißt es einfach: "Sie war des Schwimmens unkundig."

Herr von Studmann sitzt gerne hier. Es ist still, in der Sommerzeit hat kein Mensch Zeit, auf den Kirchhof zu kommen, niemand stört ihn. Die Vögel singen, jenseits der Feldsteinmauer, auf der Dorfstraße, knarren die Erntefuder. Studmann sieht den Stein an, er denkt an das junge Mädchen. Helene Siebenrot hat sie geheißen, sechzehn Jahre - sie war des Schwimmens unkundig. Sie war hilfsbereit, aber sie brauchte selber Hilfe. Er war hilfsbereit - doch auch er war des Schwimmens unkundig.

Der Geheimrat Schröck ist sehr zufrieden mit ihm, die Kranken mögen ihn gerne, das Personal hat nichts an ihm auszusetzen - Herr von Studmann kann lange bleiben in diesem Sanatorium, er kann hier alt werden, er kann sterben in dem Sanatorium.

Der Gedanke hat nichts Abschreckendes für ihn. Es gefällt ihm, so wie er lebt, er möchte nicht wieder draußen sein in der Welt der Gesunden - er ist des Schwimmens unkundig. Er hat entdeckt, daß ihm etwas fehlt, was die andern haben: Er kann sich dem Leben nicht anpassen. Er trägt

einen Maßstab in sich, er wollte, daß das Leben sich diesem Maßstab fügte. Das Leben tat es nicht, Herr von Studmann scheiterte. In großen und in kleinen Dingen. Er konnte keine Konzessionen machen.

"Ach was!" konnte der alte Geheime Sanitätsrat rufen. "Sie sind einfach eine alte Jungfer in Hosen!"

Herr von Studmann lächelte bloß. Er antwortete nicht. So weit war er nun doch, daß er dem keine Lehren gab, der unbelehrbar ist.

Des Schwimmens unkundig, das war es.

Im übrigen wird Herr von Studmann einen ausgezeichneten, unübertrefflichen Onkel für die Pagelschen Kinder abgeben. Er hat den Plan, seinen Urlaub mit Pagels zu verbringen. Nur der Gedanke an die junge, ihm noch unbekannte Frau stört ihn. Frauen sind so - unverständlich! Nein, er hat nichts von einer Frau an sich, nichts von einer alten Jungfer. Der Sanitätsrat hatte Unsinn geredet. Frauen, verheiratete und ledige, sind ihm ganz fremd. Aber schließlich kann man ja Onkel werden - ohne diesen schwierigen Umgang. Vermutlich wird er doch mit Pagels reisen. Unkundig des Schwimmens!

8

Ein wenig ist die Stadt von der Nacht abgekühlt, ein wenig frischer Wind bewegt die weißen Gardinen. Die Frau ist aufgewacht, sie hat die kleine Nachttischlampe angezündet, sie sieht - wie so oft - in das andere Bett hinüber.

Der Mann schläft. Er liegt auf der Seite, ein wenig zusammengekrümmt, das Gesicht ist friedlich, still. Das etwas krause blonde Haar gibt ihm ein kindliches, jungenhaftes Aussehen, die Unterlippe ist vorgeschoben.

Die Frau forscht in diesen vertrauten Zügen, aber keine Unruhe entstellt sie, keine Sorge quält sie.

In manchen Nächten fängt er an zu sprechen, er hat Angst, er ruft ... Dann weckt sie ihn, sie sagt nur: "Du denkst wieder daran."

Sie reden eine Weile, und dann schlafen sie wieder ein.

Es gab eine Zeit, da war ihm viel aufgeladen, aber er hat durchgehalten. Er hielt nur durch? Nein, es machte ihn stark, er entdeckte etwas in sich, das ihm Halt gab, etwas Unzerstörbares, einen Willen. Einmal war er bloß liebenswürdig gewesen - dann wurde er der Liebe würdig.

Die junge Frau lächelt - sie lächelt dem Leben zu, dem Mann, dem

Glück ...

Es ist kein Glück, das von äußeren Dingen abhängig ist, es ruht in ihr, wie der Kern in der Nuß. Eine Frau, die liebt und sich geliebt weiß, kennt das Glück, das immer bei ihr ist, wie ein seliges Geflüster im Ohr - den Lärm des Tages übertönend. Eine liebende Geliebte ist das ruhige Glück, dem nichts mehr zu wünschen bleibt.

Sie wirft noch einmal einen Blick durch die Stube, keine Höhle, eine Stube. Sie hört die Atemzüge vom Mann, dann, leiser und schneller, die des Kindes. Sachte bewegen sich die weißen Vorhänge.

Es ist alles ganz anders geworden.

Sie löscht das Licht.

Gute Nacht. Gute, gute Nacht!

Informationen zum Buch

Der große Epochenroman

Auf dem Höhepunkt der Inflation: Drei ehemalige Soldaten versuchen im hektischen Berlin und auf dem Rittergut Neulohe trotz rasender Geldentwertung ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. - Hans Fallada hat den Roman über die Schrecken der Inflation geschrieben, eine epische Chronik jener dramatischen Zeit, in der viele ihr Glück suchten, aber nur wenige es fanden.

"Eine raffinierte Reportage, bestechend in ihrer Schilderung menschlicher Abgründigkeiten."

Der Spiegel

Informationen zum Autor

RUDOLF DITZEN alias HANS FALLADA(1893-1947), zwischen 1915 und 1925 Rendant auf Rittergütern, Hofinspektor, Buchhalter, zwischen 1928 und 1931 Adressenschreiber, Annoncensammler, Verlagsangestellter, 1920 Roman-Debüt mit "Der junge Goedeschal". Der vielfach übersetzte Roman "Kleiner Mann - was nun?"(1932) machte Fallada weltberühmt. Sein letztes Buch, "Jeder stirbt für sich allein"(1947), avancierte rund sechzig Jahre nach Erscheinen zum internationalen Bestseller. Weitere Werke u. a.: "Bauern, Bonzen und Bomben"(1931), "Wer einmal aus dem Blechnapf frißt"(1934), "Wolf unter Wölfen"(1937), "Der eiserne Gustav"(1938).