Thomas Mann

"Der Zauberberg. Erster Band"

Vorsatz

Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzahlen wollen, - nicht um seinetwillen(denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzahlenswert scheint(wobei zu Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, da? es seine Geschichte ist, und da? nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost uberzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen.

Das ware kein Nachteil fur eine Geschichte, sondern eher ein Vorteil; denn Geschichten mussen vergangen sein, und je vergangener, konnte man sagen, desto besser fur sie in ihrer Eigenschaft als Geschichten und fur den Erzahler, den raunenden Beschworer des Imperfekts. Es steht jedoch so mit ihr, wie es heute auch mit den Menschen und unter diesen nicht zum wenigsten mit den Geschichtenerzahlern steht: sie ist viel alter als ihre Jahre, ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumlaufen zu berechnen; mit einem Worte: sie verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit, - eine Aussage, womit auf die Fragwurdigkeit und eigentumliche Zwienatur dieses geheimnisvollen Elementes im Vorbeigehen angespielt und hingewiesen sei.

Um aber einen klaren Sachverhalt nicht kunstlich zu verdunkeln: die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte ruhrt daher, da? sie vor einer gewissen, Leben und Bewu?tsein tief zerkluftenden Wende und Grenze spielt ... Sie spielt, oder, um jedes Prasens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem gro?en Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehort hat. Vorher also spielt sie, wenn auch nicht lange vorher. Aber ist der Vergangenheitscharakter einer Geschichte nicht desto tiefer,

vollkommener undmarchenhafter, je dichter "vorher" sie spielt? Zudem konnte es sein, da? die unsrige mit dem Marchen auch sonst, ihrer inneren Natur nach, das eine und andre zu schaffen hat.

Wir werden sie ausfuhrlich erzahlen, genau und grundlich, - denn wann ware je die Kurz- oder Langweiligkeit einer Geschichte abhangig gewesen von dem Raum und der Zeit, die sie in Anspruch nahm? Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlichkeit, neigen wir vielmehr der Ansicht zu, da? nur das Grundliche wahrhaft unterhaltend sei.

Im Handumdrehen also wird der Erzahler mit Hansens Geschichte nicht fertig werden. Die sieben Tage einer Woche werden dazu nicht reichen und auch sieben Monate nicht. Am besten ist es, er macht sich im voraus nicht klar, wieviel Erdenzeit ihm verstreichen wird, wahrend sie ihn umsponnen halt. Es werden, in Gottes Namen, ja nicht geradezu sieben Jahre sein!

Und somit fangen wir an.

Erstes Kapitel

Ankunft

Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubundischen. Er fuhr auf Besuch fur drei Wochen.

Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise; zu weit eigentlich im Verhaltnis zu einem so kurzen Aufenthalt. Es geht durch mehrerer Herren Lander, bergauf und bergab, von der suddeutschen Hochebene hinunter zum Gestade des Schwabischen Meeres und zu Schiff uber seine springenden Wellen hin, dahin uber Schlunde, die fruher fur unergrundlich galten.

Von da an verzettelt sich die Reise, die solange gro?zugig, in direkten Linien vonstatten ging. Es gibt Aufenthalte und Umstandlichkeiten. Beim Orte Rorschach, auf schweizerischem Gebiet, vertraut man sich wieder der Eisenbahn, gelangt aber vorderhand nur bis Landquart, einer kleinen Alpenstation, wo man den Zug zu wechseln gezwungen ist. Es ist eine Schmalspurbahn, die man nach langerem Herumstehen in windiger und wenig reizvoller Gegend besteigt, und in dem Augenblick, wo die kleine, aber offenbar ungewohnlich zugkraftige Maschine sich in Bewegung

setzt, beginnt der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jaher und zaher Aufstieg, der nicht enden zu wollen scheint. Denn Station Landquart liegt vergleichsweise noch in ma?iger Hohe; jetzt aber geht es auf wilder, drangvoller Felsenstra?e allen Ernstes ins Hochgebirge.

Hans Castorp - dies der Name des jungen Mannes - befand sich allein mit seiner krokodilsledernen Handtasche, einem Geschenk seines Onkels und Pflegevaters, Konsul Tienappel, um auch diesen Namen hier gleich zu nennen, - seinem Wintermantel, der an einem Haken schaukelte, und seiner Plaidrolle in einem kleinen grau gepolsterten Abteil; er sa? bei niedergelassenem Fenster, und da der Nachmittag sich mehr und mehr verkuhlte, so hatte er, Familiensohnchen und Zartling, den Kragen seines modisch weiten, auf Seide gearbeiteten Sommeruberziehers aufgeschlagen. Neben ihm auf der Bank lag ein broschiertes Buch namens "Ocean steamships", worin er zu Anfang der Reise bisweilen studiert hatte;jetzt aber lag es vernachlassigt da, indes der hereinstreichende Atem der schwer keuchenden Lokomotive seinen Umschlag mit Kohlenpartikeln verunreinigte.

Zwei Reisetage entfernen den Menschen - und gar den jungen, im Leben noch wenig fest wurzelnden Menschen - seiner Alltagswelt, all dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte, viel mehr, als er sich auf der Droschkenfahrt zum Bahnhof wohl traumen lie?. Der Raum, der sich drehend und fliehend zwischen ihn und seine Pflanzstatte walzt, bewahrt Krafte, die man gewohnlich der Zeit vorbehalten glaubt; von Stunde zu Stunde stellt er innere Veranderungen her, die den von ihr bewirkten sehr ahnlich sind, aber sie in gewisser Weise ubertreffen. Gleich ihr erzeugt er Vergessen; er tut es aber, indem er die Person des Menschen aus ihren Beziehungen lost und ihn in einen freien und ursprunglichen Zustand versetzt, - ja, selbst aus dem Pedanten und Pfahlburger macht er im Handumdrehen etwas wie einen Vagabunden. Zeit, sagt man, ist Lethe; aber auch Fernluft ist so ein Trank, und sollte sie weniger grundlich wirken, so tut sie es dafur desto rascher.

Dergleichen erfuhr auch Hans Castorp. Er hatte nicht beabsichtigt, diese Reise sonderlich wichtig zu nehmen, sich innerlich auf sie einzulassen. Seine Meinung vielmehr war gewesen, sie rasch abzutun, weil sie abgetan werden mu?te, ganz als derselbe zuruckzukehren, als der er abgefahren war, und sein Leben genau dort wieder aufzunehmen, wo er es fur einen Augenblick hatte liegen lassen mussen. Noch gestern

war er vollig in dem gewohnten Gedankenkreise befangen gewesen, hatte sich mit dem jungst Zuruckliegenden, seinem Examen, und dem unmittelbar Bevorstehenden, seinem Eintritt in die Praxis bei Tunder & Wilms(Schiffswerft, Maschinenfabrik und Kesselschmiede), beschaftigt und uber die nachsten drei Wochen mit soviel Ungeduld hinweggeblickt, als seine Gemutsart nur immer zulie?. Jetzt aber war ihm doch, als ob die Umstande seine volle Aufmerksamkeit erforderten und als ob es nicht angehe, sie auf die leichte Achsel zu nehmen. Dieses Emporgehobenwerden in Regionen, wo er noch nie geatmet und wo, wie er wu?te, vollig ungewohnte, eigentumlich dunne und sparliche Lebensbedingungen herrschten, - es fing an, ihn zu erregen, ihn mit einer gewissen Angstlichkeit zu erfullen. Heimat und Ordnung lagen nicht nur weit zuruck, sie lagen hauptsachlich klaftertief unter ihm, und noch immer stieg er daruber hinaus. Schwebend zwischen ihnen und dem Unbekannten fragte er sich, wie es ihm dort oben ergehen werde. Vielleicht war es unklug und unzutraglich, da? er, geboren und gewohnt, nur ein paar Meter uber dem Meeresspiegel zu atmen, sich plotzlich in diese extremen Gegenden befordern lie?, ohne wenigstens einige Tage an einem Platze von mittlerer Lage verweilt zu haben? Er wunschte, am Ziel zu sein, denn einmal oben, dachte er, wurde manleben wie uberall und nicht so wie jetzt im Klimmen daran erinnert sein, in welchen unangemessenen Spharen man sich befand. Er sah hinaus: der Zug wand sich gebogen auf schmalem Pa?; man sah die vorderen Wagen, sah die Maschine, die in ihrer Muhe braune, grune und schwarze Rauchmassen ausstie?, die verflatterten. Wasser rauschten in der Tiefe zur Rechten; links strebten dunkle Fichten zwischen Felsblocken gegen einen steingrauen Himmel empor. Stockfinstere Tunnel kamen, und wenn es wieder Tag wurde, taten weitlaufige Abgrunde mit Ortschaften in der Tiefe sich auf. Sie schlossen sich, neue Engpasse folgten, mit Schneeresten in ihren Schrunden und Spalten. Es gab Aufenthalte an armseligen Bahnhofshauschen, Kopfstationen, die der Zug in entgegengesetzter Richtung verlie?, was verwirrend wirkte, da man nicht mehr wu?te, wie man fuhr und sich der Himmelsgegenden nicht langer entsann. Gro?artige Fernblicke in die heilig-phantasmagorisch sich turmende Gipfelwelt des Hochgebirges, in das man hinan- und hineinstrebte, eroffneten sich und gingen dem ehrfurchtigen Auge durch Pfadbiegungen wieder verloren. Hans Castorp bedachte, da? er die Zone der Laubbaume unter sich gelassen habe, auch die der Singvogel wohl, wenn ihm recht war, und dieser Gedanke des Aufhorens und der

Verarmung bewirkte, da? er, angewandelt von einem leichten Schwindel und Ubelbefinden, fur zwei Sekunden die Augen mit der Hand bedeckte. Das ging voruber. Er sah, da? der Aufstieg ein Ende genommen hatte, die Pa?hohe uberwunden war. Auf ebener Talsohle rollte der Zug nun bequemer dahin.

Es war gegen acht Uhr, noch hielt sich der Tag. Ein See erschien in landschaftlicher Ferne, seine Flut war grau, und schwarz stiegen Fichtenwalder neben seinen Ufern an den umgebenden Hohen hinan, wurden dunn weiter oben, verloren sich und lie?en nebelig-kahles Gestein zuruck. Man hielt an einer kleinen Station, es war Davos-Dorf, wie Hans Castorp drau?en ausrufen horte, er wurde nun binnen kurzem am Ziele sein. Und plotzlich vernahm er neben sich Joachim Ziem?ens Stimme, seines Vetters gemachliche Hamburger Stimme, die sagte: "Tag, du, nun steige nur aus"; und wie er hinaussah, stand unter seinem Fenster Joachim selbst auf dem Perron, in braunem Ulster, ganz ohne Kopfbedeckung und so gesund aussehend wie in seinem Leben noch nicht. Er lachte und sagte wieder:

"Komm nur heraus, du, geniere dich nicht!"

"Ich bin aber noch nicht da", sagte Hans Castorp verdutzt und noch immer sitzend.

"Doch, du bist da. Dies ist das Dorf. Zum Sanatorium ist es naher von hier. Ich habe 'nen Wagen mit. Gib mal deine Sachen her."

Und lachend, verwirrt, in der Aufregung der Ankunft und des Wiedersehens reichte Hans Castorp ihm Handtasche und Wintermantel, die Plaidrolle mit Stock und Schirm und schlie?lich auch "Ocean steamships" hinaus. Dann lief er uber den engen Korridor und sprang auf denBahnsteig zur eigentlichen und sozusagen nun erst personlichen Begru?ung mit seinem Vetter, die sich ohne Uberschwang, wie zwischen Leuten von kuhlen und sproden Sitten, vollzog. Es ist sonderbar zu sagen, aber von jeher hatten sie es vermieden, einander beim Vornamen zu nennen, einzig und allein aus Scheu vor zu gro?er Herzenswarme. Da sie sich aber doch nicht gut mit Nachnamen anreden konnten, so beschrankten sie sich auf das Du. Das war eingewurzelte Gewohnheit zwischen den Vettern.

Ein Mann in Livree, mit Tressenmutze, sah zu, wie sie einander - der junge Ziem?en in militarischer Haltung - rasch und ein bi?chen verlegen die Hande schuttelten, und kam dann heran, um sich Hans Castorps Gepackschein auszubitten; denn er war der Concierge des

Internationalen Sanatoriums "Berghof" und zeigte sich willens, den gro?en Koffer des Gastes vom Bahnhof "Platz" zu holen, indes die Herren direkt mit dem Wagen zum Abendbrot fuhren. Der Mann hinkte auffallend, und so war das erste, was Hans Castorp Joachim Ziem?en fragte:

"Ist das ein Kriegsveteran? Was hinkt er denn so?"

"Ja, danke!" erwiderte Joachim etwas bitter. "Ein Kriegsveteran! Der hat es im Knie - oder hatte es doch, denn dann hat er sich die Kniescheibe herausnehmen lassen."

Hans Castorp besann sich so rasch er konnte. "Ja, so!" sagte er, indem er im Gehen den Kopf hob und sich fluchtig umblickte. "Du wirst mir doch aber nicht weismachen wollen, da? du noch so etwas hast? Du siehst ja aus, als ob du dein Portepee schon hattest und gerade aus dem Manover kamst." Und er sah den Vetter von der Seite an.

Joachim war gro?er und breiter als er, ein Bild der Jugendkraft und wie fur die Uniform geschaffen. Er war von dem sehr braunen Typus, den seine blonde Heimat nicht selten hervorbringt, und seine ohnehin dunkle Gesichtshaut war durch Verbrennung beinahe bronzefarben geworden. Mit seinen gro?en schwarzen Augen und dem dunklen Schnurrbartchen uber dem vollen, gut geschnittenen Munde ware er geradezu schon gewesen, wenn er nicht abstehende Ohren gehabt hatte. Sie waren sein einziger Kummer und Lebensschmerz gewesen bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Jetzt hatte er andere Sorgen. Hans Castorp fuhr fort:

"Du kommst doch gleich mit mir hinunter? Ich sehe wirklich kein Hindernis."

"Gleich mit dir?" fragte der Vetter und wandte ihm seine gro?en Augen zu, die immer sanft gewesen waren, in diesen funf Monaten aber einen etwas muden, ja traurigen Ausdruck angenommen hatten. "Gleich wann?"

"Na, in drei Wochen."

"Ach so, du fahrst wohl schon wieder nach Hause in deinen Gedanken", antwortete Joachim. "Nun, warte nur, du kommst ja eben erst an. Drei Wochen sind freilich fast nichts fur uns hier oben, aber fur dich, der du zu Besuch hier bistund uberhaupt nur drei Wochen bleiben sollst, fur dich ist es doch eine Menge Zeit. Erst akklimatisiere dich mal, das ist gar nicht so leicht, sollst du sehen. Und dann ist das Klima auch nicht das einzig Sonderbare bei uns. Du wirst hier mancherlei Neues

sehen, pa? auf. Und was du von mir sagst, das geht denn doch nicht so flott mit mir, du, 'in drei Wochen nach Haus', das sind so Ideen von unten. Ich bin ja wohl braun, aber das ist hauptsachlich Schneeverbrennung und hat nicht viel zu bedeuten, wie Behrens auch immer sagt, und bei der letzten Generaluntersuchung hat er gesagt, ein halbes Jahr wird es wohl ziemlich sicher noch dauern."

"Ein halbes Jahr? Bist du toll?" rief Hans Castorp. Sie hatten sich eben vor dem Stationsgebaude, das nicht viel mehr als ein Schuppen war, in das gelbe Kabriolett gesetzt, das dort auf steinigem Platze bereit stand, und wahrend die beiden Braunen anzogen, warf sich Hans Castorp emport auf dem harten Kissen herum. "Ein halbes Jahr? du bist ja schon fast ein halbes Jahr hier! Man hat doch nicht so viel Zeit -!"

"Ja, Zeit", sagte Joachim und nickte mehrmals geradeaus, ohne sich um des Vetters ehrliche Entrustung zu kummern. "Die springen hier um mit der menschlichen Zeit, das glaubst du gar nicht. Drei Wochen sind wie ein Tag vor ihnen. Du wirst schon sehen. Du wirst das alles schon lernen", sagte er und setzte hinzu: "Man andert hier seine Begriffe."

Hans Castorp betrachtete ihn unausgesetzt von der Seite.

"Du hast dich aber doch prachtvoll erholt", sagte er kopfschuttelnd.

"Ja, meinst du?" antwortete Joachim. "Nicht wahr, ich denke doch auch!" sagte er und setzte sich hoher ins Kissen zuruck; doch nahm er gleich wieder eine schragere Stellung ein. "Es geht mir ja besser", erklarte er; "aber gesund bin ich eben noch nicht. Links oben, wo fruher Rasseln zu horen war, klingt es jetzt nur noch rauh, das ist nicht so schlimm, aber unten ist es noch sehr rauh, und dann sind auch im zweiten Interkostalraum Gerausche."

"Wie gelehrt du geworden bist", sagte Hans Castorp.

"Ja, das ist, wei? Gott, eine nette Gelehrsamkeit. Die hatte ich gern im Dienste schon wieder verschwitzt", erwiderte Joachim. "Aber ich habe noch Sputum", sagte er mit einem zugleich lassigen und heftigen Achselzucken, das ihm nicht gut zu Gesichte stand, und lie? seinen Vetter etwas sehen, was er aus der ihm zugekehrten Seitentasche seines Ulsters zur Halfte herauszog und gleich wieder verwahrte: eine flache, geschweifte Flasche aus blauem Glase mit einem Metallverschlu?. "Das haben die meisten von uns hier oben", sagte er. "Es hat auch einen Namen bei uns, so einen Spitznamen, ganz fidel.Du siehst dir die Gegend an?"

Das tat Hans Castorp, und er au?erte: "Gro?artig!"

"Findest du?" fragte Joachim.

Sie hatten die unregelma?ig bebaute, der Eisenbahn gleichlaufende Stra?e ein Stuck in der Richtung der Talachse verfolgt, hatten dann nach links hin das schmale Geleise gekreuzt, einen Wasserlauf uberquert und trotteten nun auf sanft ansteigendem Fahrweg bewaldeten Hangen entgegen, dorthin, wo auf niedrig vorspringendem Wiesenplateau, die Front sudwestlich gewandt, ein langgestrecktes Gebaude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von weitem locherig und poros wirkte wie ein Schwamm, soeben die ersten Lichter aufsteckte. Es dammerte rasch. Ein leichtes Abendrot, das eine Weile den gleichma?ig bedeckten Himmel belebt hatte, war schon verblichen, und jener farblose, entseelte und traurige Ubergangszustand herrschte in der Natur, der dem vollen Einbruch der Nacht unmittelbar vorangeht. Das besiedelte Tal, lang hingestreckt und etwas gewunden, beleuchtete sich nun uberall, auf dem Grunde sowohl wie da und dort an den beiderseitigen Lehnen, - an der rechten zumal, die auslud, und an der Baulichkeiten terrassenformig aufstiegen. Links liefen Pfade die Wiesenhange hinan und verloren sich in der stumpfen Schwarze der Nadelwalder. Die entfernteren Bergkulissen, hinten am Ausgang, gegen den das Tal sich verjungte, zeigten ein nuchternes Schieferblau. Da ein Wind sich aufgemacht hatte, wurde die Abendkuhle empfindlich.

"Nein, ich finde es offen gestanden nicht so uberwaltigend", sagte Hans Castorp. "Wo sind denn die Gletscher und Firnen und die gewaltigen Bergesriesen? Diese Dinger sind doch nicht sehr hoch, wie mir scheint."

"Doch, sie sind hoch", antwortete Joachim. "Du siehst die Baumgrenze fast uberall, sie markiert sich ja auffallend scharf, die Fichten horen auf, und damit hort alles auf, aus ist es, Felsen, wie du bemerkst. Da druben, rechts von dem Schwarzhorn, dieser Zinke dort, hast du sogar einen Gletscher, siehst du das Blaue noch? Er ist nicht gro?, aber es ist ein Gletscher, wie es sich gehort, der Scaletta-Gletscher. Piz Michel und Tinzenhorn in der Lucke, du kannst sie von hier aus nicht sehen, liegen auch immer im Schnee, das ganze Jahr."

"In ewigem Schnee", sagte Hans Castorp.

"Ja, ewig, wenn du willst. Doch, hoch ist das alles schon. Aber wir selbst sind scheu?lich hoch, mu?t du bedenken. Sechzehnhundert Meter uber dem Meer. Da kommen die Erhebungen nicht so zur Geltung."

"Ja, war das eine Kletterei! Mir ist angst und bange geworden, kann ich dir sagen. Sechzehnhundert Meter! Das sind ja annahernd funftausend Fu?, wenn ich es ausrechne. In meinem Leben war ich noch nicht so hoch." Und Hans Castorp nahm neugierig einen tiefen, probenden Atemzug von der fremden Luft. Sie war frisch - und nichts weiter. Sie entbehrte des Duftes, des Inhaltes, der Feuchtigkeit, sie ging leicht ein und sagte der Seele nichts.

"Ausgezeichnet!" bemerkte erhoflich.

"Ja, es ist ja eine beruhmte Luft. Ubrigens prasentiert sich die Gegend heute abend nicht vorteilhaft. Manchmal nimmt sie sich besser aus, besonders im Schnee. Aber man sieht sich sehr satt an ihr. Wir alle hier oben, kannst du mir glauben, haben sie ganz unaussprechlich satt", sagte Joachim, und sein Mund wurde von einem Ausdruck des Ekels verzogen, der ubertrieben und unbeherrscht wirkte und ihn wiederum nicht gut kleidete.

"Du sprichst so sonderbar", sagte Hans Castorp.

"Spreche ich sonderbar?" fragte Joachim mit einer gewissen Besorgnis und wandte sich seinem Vetter zu ...

"Nein, nein, verzeih, es kam mir wohl nur einen Augenblick so vor!" beeilte sich Hans Castorp zu sagen. Er hatte aber die Wendung "Wir hier oben" gemeint, die Joachim schon zum dritten- oder viertenmal gebraucht hatte und die ihn auf irgendeine Weise beklemmend und seltsam anmutete.

"Unser Sanatorium liegt noch hoher als der Ort, wie du siehst", fuhr Joachim fort. "Funfzig Meter. Im Prospekt steht 'hundert', aber es sind blo? funfzig. Am allerhochsten liegt das Sanatorium Schatzalp dort druben, man kann es nicht sehen. Die mussen im Winter ihre Leichen per Bobschlitten herunterbefordern, weil dann die Wege nicht fahrbar sind."

"Ihre Leichen? Ach so! Na, hore mal!" rief Hans Castorp. Und plotzlich geriet er ins Lachen, in ein heftiges, unbezwingliches Lachen, das seine Brust erschutterte und sein vom kuhlen Wind etwas steifes Gesicht zu einer leise schmerzenden Grimasse verzog. "Auf dem Bobschlitten! Und das erzahlst du mir so in aller Gemutsruhe? Du bist ja ganz zynisch geworden in diesen funf Monaten!"

"Gar nicht zynisch", antwortete Joachim achselzuckend. "Wieso denn? Das ist den Leichen doch einerlei ... Ubrigens kann es wohl sein, da? man

zynisch wird hier bei uns. Behrens selbst ist auch so ein alter Zyniker - ein famoses Huhn nebenbei, alter Korpsstudent und glanzender Operateur, wie es scheint, er wird dir gefallen. Dann ist da noch Krokowski, der Assistent - ein ganz gescheutes Etwas. Im Prospekt ist besonders auf seine Tatigkeit hingewiesen. Er treibt namlich Seelenzergliederung mit den Patienten."

"Was treibt er? Seelenzergliederung? Das ist ja widerlich!" rief Hans Castorp, und nun nahm seine Heiterkeit uberhand. Er war ihrer gar nicht mehr Herr, nach allem andern hatte die Seelenzergliederung es ihm vollends angetan, und er lachte so sehr, da? die Tranen ihm unter der Hand hervorliefen, mit der er, sich vorbeugend, die Augen bedeckte. Joachim lachte ebenfalls herzlich - es schien ihm wohlzutun -, und so kam es, da? die jungen Leute in gro?er Aufgeraumtheit aus ihrem Wagen stiegen, der sie zuletzt im Schritt, auf steiler, schleifenformiger Anfahrt vor das Portal des Internationalen Sanatoriums Berghof getragen hatte.

Nr. 34

Gleich zur Rechten, zwischen Haustor und Windfang, war die Concierge-Loge gelegen, und vondort kam ein Bediensteter von franzosischem Typus, der, am Telephon sitzend, Zeitungen gelesen hatte, in der grauen Livree des hinkenden Mannes am Bahnhof ihnen entgegen und fuhrte sie durch die wohlbeleuchtete Halle, an deren linker Seite Gesellschaftsraume lagen. Im Vorubergehen blickte Hans Castorp hinein und fand sie leer. Wo denn die Gaste seien, fragte er, und sein Vetter antwortete:

"In der Liegekur. Ich hatte Ausgang heute, weil ich dich abholen wollte. Sonst liege ich auch nach dem Abendbrot auf dem Balkon."

Es fehlte nicht viel, da? Hans Castorp aufs neue vom Lachen uberwaltigt wurde.

"Was, ihr liegt noch bei Nacht und Nebel auf dem Balkon?" fragte er mit wankender Stimme ...

"Ja, das ist Vorschrift. Von acht bis zehn. Aber komm nun, sieh dir dein Zimmer an und wasch' dir die Hande."

Sie bestiegen den Lift, dessen elektrisches Triebwerk der Franzose bediente. Im Hinaufgleiten trocknete Hans Castorp sich die Augen.

"Ich bin ganz entzwei und erschopft vor Lachen", sagte er und atmete

durch den Mund. "Du hast mir soviel tolles Zeug erzahlt ... Das mit der Seelenzergliederung war zu stark, das hatte nicht kommen durfen. Au?erdem bin ich doch auch wohl ein bi?chen abgespannt von der Reise. Leidest du auch so an kalten Fu?en? Gleichzeitig hat man dann so ein hei?es Gesicht, das ist unangenehm. Wir essen wohl gleich? Mir scheint, ich habe Hunger. I?t man denn anstandig bei euch hier oben?"

Sie gingen gerauschlos den Kokoslaufer des schmalen Korridors entlang. Glocken aus Milchglas sandten von der Decke ein bleiches Licht. Die Wande schimmerten wei? und hart, mit einer lackartigen Olfarbe uberzogen. Eine Krankenschwester zeigte sich irgendwo, in wei?er Haube und einen Zwicker auf der Nase, dessen Schnur sie sich hinter das Ohr gelegt hatte. Offenbar war sie protestantischer Konfession, ohne rechte Hingabe an ihren Beruf, neugierig und von Langerweile beunruhigt und belastet. An zwei Stellen des Ganges, auf dem Fu?boden vor den wei? lackierten numerierten Turen, standen gewisse Ballons, gro?e, bauchige Gefa?e mit kurzen Halsen, nach deren Bedeutung zu fragen Hans Castorp furs erste verga?.

"Hier bist du", sagte Joachim. "Nummer Vierunddrei?ig. Rechts bin ich, und links ist ein russisches Ehepaar, - etwas salopp und laut, mu? man wohl sagen, aber das war nicht anders zu machen. Nun, was sagst du?"

Die Tur war doppelt, mit Kleiderhaken im inneren Hohlraum. Joachim hatte das Deckenlicht eingeschaltet, und in seiner zitternden Klarheit zeigte das Zimmer sich heiter und friedlich, mit seinen wei?en, praktischen Mobeln, seinen ebenfalls wei?en, starken, waschbaren Tapeten, seinem reinlichen Linoleum-Fu?bodenbelag und den leinenen Vorhangen, die in modernem Geschmacke einfach und lustig bestickt waren. Die Balkontur stand offen; man gewahrte die Lichter des Tals und vernahm eine entfernte Tanzmusik. Der gute Joachimhatte einige Blumen in eine kleine Vase auf die Kommode gestellt, - was eben im zweiten Grase zu finden gewesen war, etwas Schafgarbe und ein paar Glockenblumen, von ihm selbst am Hange gepfluckt.

"Reizend von dir", sagte Hans Castorp. "Was fur ein nettes Zimmer! Hier la?t es sich gut und gern ein paar Wochen hausen."

"Vorgestern ist hier eine Amerikanerin gestorben", sagte Joachim. "Behrens meinte gleich, da? sie fertig sein wurde, bis du kamest, und da? du das Zimmer dann haben konntest. Ihr Verlobter war bei ihr, englischer Marineoffizier, aber er benahm sich nicht gerade stramm. Jeden Augenblick kam er auf den Korridor hinaus, um zu weinen, ganz

wie ein kleiner Junge. Und dann rieb er sich die Backen mit Cold-cream ein, weil er rasiert war und die Tranen ihn da so brannten. Vorgestern abend hatte die Amerikanerin noch zwei Blutsturze ersten Ranges, und damit war Schlu?. Aber sie ist schon seit gestern morgen fort, und dann haben sie hier naturlich grundlich ausgerauchert, mit Formalin, wei?t du, das soll so gut sein fur solche Zwecke."

Hans Castorp nahm diese Erzahlung mit einer angeregten Zerstreutheit auf. Mit zuruckgezogenen Armeln vor dem geraumigen Waschbecken stehend, dessen Nickelhahne im elektrischen Lichte blitzten, warf er kaum einen fluchtigen Blick zu der wei?metallenen, reinlich bedeckten Bettstatt hinuber.

"Ausgerauchert, das ist famos", sagte er gesprachig und etwas ungereimt, indem er sich die Hande wusch und trocknete. "Ja, Methylaldehyd, das halt die starkste Bakterie nicht aus, - H?CO, aber es sticht in die Nase, nicht? Selbstverstandlich ist strengste Sauberkeit eine Grundbedingung ..." Er sagte "Selbstvers-tandlich" mit dem getrennten st, wahrend sein Vetter sich, seit er Student war, die verbreitetere Aussprache angewohnt hatte, und fuhr mit gro?er Gelaufigkeit fort: "Was ich noch sagen wollte ... Wahrscheinlich hatte der Marineoffizier sich mit dem Sicherheitsapparat rasiert, mochte ich annehmen, man macht sich doch leichter wund mit den Dingern, als mit einem gut abgezogenen Messer, das ist wenigstens meine Erfahrung, ich gebrauche abwechselnd eins und das andere ... Na, und auf der gereizten Haut tut das Salzwasser naturlich weh, da war er wohl vom Dienst her gewohnt, Cold-cream anzuwenden, es fallt mir nichts auf daran ..." Und er plauderte weiter, sagte, da? er zweihundert Stuck von Maria Mancini - seiner Zigarre - im Koffer habe, - die Revision sei hochst gemutlich gewesen - und richtete Gru?e von verschiedenen Personen in der Heimat aus. "Wird hier denn nicht geheizt?" rief er plotzlich und lief zu den Rohren, um die Hande daran zu legen ...

"Nein, wir werden hier ziemlich kuhl gehalten", antwortete Joachim. "Da mu? es anders kommen, bis im August die Zentralheizung angezundet wird."

"August, August!" sagte Hans Castorp. "Aber mich friert!Mich friert abscheulich, namlich am Korper, denn im Gesicht bin ich auffallend echauffiert, - da, fuhle doch mal, wie ich brenne!"

Diese Zumutung, man solle sein Gesicht befuhlen, pa?te ganz und gar nicht zu Hans Castorps Natur und beruhrte ihn selber peinlich. Joachim

ging auch nicht darauf ein, sondern sagte nur:

"Das ist die Luft und hat nichts zu sagen. Behrens selbst hat den ganzen Tag blaue Backen. Manche gewohnen sich nie. Na, go on, wir kriegen sonst nichts mehr zu essen."

Drau?en zeigte sich wieder die Krankenschwester, kurzsichtig und neugierig nach ihnen spahend. Aber im ersten Stockwerk blieb Hans Castorp plotzlich stehen, festgebannt von einem vollkommen gra?lichen Gerausch, das in geringer Entfernung hinter einer Biegung des Korridors vernehmlich wurde, einem Gerausch, nicht laut, aber so ausgemacht abscheulicher Art, da? Hans Castorp eine Grimasse schnitt und seinen Vetter mit erweiterten Augen ansah. Es war Husten, offenbar, - eines Mannes Husten; aber ein Husten, der keinem anderen ahnelte, den Hans Castorp jemals gehort hatte, ja, mit dem verglichen jeder andere ihm bekannte Husten eine prachtige und gesunde Lebensau?erung gewesen war, - ein Husten ganz ohne Lust und Liebe, der nicht in richtigen Sto?en geschah, sondern nur wie ein schauerlich kraftloses Wuhlen im Brei organischer Auflosung klang.

"Ja," sagte Joachim, "da sieht es bose aus. Ein osterreichischer Aristokrat, wei?t du, eleganter Mann und ganz wie zum Herrenreiter geboren. Und nun steht es so mit ihm. Aber er geht noch herum."

Wahrend sie ihren Weg fortsetzten, sprach Hans Castorp angelegentlich uber den Husten des Herrenreiters. "Du mu?t bedenken," sagte er, "da? ich dergleichen nie gehort habe, da? es mir vollig neu ist, da macht es naturlich Eindruck auf mich. Es gibt so vielerlei Husten, trockenen und losen, und der lose ist eher noch vorteilhafter, wie man allgemein sagt, und besser, als wenn man so bellt. Als ich in meiner Jugend("in meiner Jugend" sagte er) Braune hatte, da bellte ich wie ein Wolf, und sie waren alle froh, als es locker wurde, ich kann mich noch dran erinnern. Aber so ein Husten, wie dieser, war noch nicht da, fur mich wenigstens nicht, - das ist ja gar kein lebendiger Husten mehr. Er ist nicht trocken, aber lose kann man ihn auch nicht nennen, das ist noch langst nicht das Wort. Es ist ja gerade, als ob man dabei in den Menschen hineinsahe, wie es da aussieht, - alles ein Matsch und Schlamm ..."

"Na," sagte Joachim, "ich hore es ja jeden Tag, du brauchst es mir nicht zu beschreiben."

Aber Hans Castorp konnte sich gar nicht uber den vernommenen Husten beruhigen, er versicherte wiederholt, da? man formlich dabei in

den Herrenreiter hineinsahe, und als siedas Restaurant betraten, hatten seine reisemuden Augen einen erregten Glanz.

Im Restaurant

Im Restaurant war es hell, elegant und gemutlich. Es lag gleich rechts an der Halle, den Konversationsraumen gegenuber, und wurde, wie Joachim erklarte, hauptsachlich von neu angekommenen, au?er der Zeit speisenden Gasten, und von solchen, die Besuch hatten, benutzt. Aber auch Geburtstage und bevorstehende Abreisen wurden dort festlich begangen, sowie gunstige Ergebnisse von Generaluntersuchungen. Manchmal gehe es hoch her im Restaurant, sagte Joachim; auch Champagner werde serviert. Jetzt sa? niemand als eine einzelne etwa drei?igjahrige Dame darin, die in einem Buche las, aber dabei vor sich hin summte und mit dem Mittelfinger der linken Hand immerfort leicht auf das Tischtuch klopfte. Als die jungen Leute sich niedergelassen hatten, wechselte sie den Platz, um ihnen den Rucken zuzuwenden. Sie sei menschenscheu, erklarte Joachim leise, und esse immer mit einem Buche im Restaurant. Man wollte wissen, da? sie schon als ganz junges Madchen in Lungensanatorien eingetreten sei und seitdem nicht mehr in der Welt gelebt habe.

"Nun, dann bist du ja noch ein junger Anfanger gegen sie mit deinen funf Monaten und wirst es noch sein, wenn du ein Jahr auf dem Buckel hast", sagte Hans Castorp zu seinem Vetter; worauf Joachim mit jenem Achselzucken, das ihm fruher nicht eigen gewesen war, zur Menukarte griff.

Sie hatten den erhohten Tisch am Fenster genommen, den hubschesten Platz. An dem cremefarbenen Vorhang sa?en sie einander gegenuber, die Gesichter begluht vom Schein des rot umhullten elektrischen Tischlampchens. Hans Castorp faltete seine frisch gewaschenen Hande und rieb sie behaglich-erwartungsvoll aneinander, wie er zu tun pflegte, wenn er sich zu Tische setzte, - vielleicht weil seine Vorfahren vor der Suppe gebetet hatten. Ein freundliches, gaumig sprechendes Madchen in schwarzem Kleide mit wei?er Schurze und einem gro?en Gesicht von uberaus gesunder Farbe bediente sie, und zu seiner gro?en Heiterkeit lie? Hans Castorp sich belehren, da? man die Kellnerinnen hier "Saaltochter" nenne. Sie bestellten eine Flasche Gruaud Larose bei ihr, die Hans Castorp noch einmal fortschickte, um sie

besser temperieren zu lassen. Das Essen war vorzuglich. Es gab Spargelsuppe, gefullte Tomaten, Braten mit vielerlei Zutat, eine besonders gut bereitete su?e Speise, eine Kaseplatte und Obst. Hans Castorp a? sehr stark, obgleich sein Appetit sich nicht als so lebhaft erwies, wie er geglaubt hatte. Aber er war gewohnt, viel zu essen, auch wenn er keinen Hunger hatte, und zwar aus Selbstachtung.

Joachim tat den Gerichten nicht viel Ehre an. Er hatte die Kuche satt, sagte er, das hatten sie alle hier oben, und es sei Brauch, auf das Essen zu schimpfen; denn wenn man hier ewig und drei Tage sitze ... Dagegen trank er mit Vergnugen, ja mit einer gewissen Hingebung vondem Wein, und gab unter sorgfaltiger Vermeidung allzu gefuhlvoller Wendungen wiederholt seiner Genugtuung Ausdruck, da? jemand da sei, mit dem man ein vernunftiges Wort reden konne.

"Ja, es ist brillant, da? du gekommen bist!" sagte er, und seine gemachliche Stimme war bewegt. "Ich kann wohl sagen, es ist fur mich geradezu ein Ereignis. Das ist doch einmal eine Abwechslung, - ich meine, es ist ein Einschnitt, eine Gliederung in dem ewigen, grenzenlosen Einerlei ..."

"Aber die Zeit mu? euch eigentlich schnell hier vergehen", meinte Hans Castorp.

"Schnell und langsam, wie du nun willst", antwortete Joachim. "Sie vergeht uberhaupt nicht, will ich dir sagen, es ist gar keine Zeit, und es ist auch kein Leben, - nein, das ist es nicht", sagte er kopfschuttelnd und griff wieder zum Glase.

Auch Hans Castorp trank, obgleich sein Gesicht nun wie Feuer brannte. Aber am Korper war ihm noch immer kalt, und eine besondere freudige und doch etwas qualende Unruhe war in seinen Gliedern. Seine Worte uberhasteten sich, er versprach sich des ofteren und ging mit einer wegwerfenden Handbewegung daruber hin. Ubrigens war auch Joachim in belebter Stimmung, und um so freier und aufgeraumter ging ihr Gesprach, als die summende, pochende Dame ganz plotzlich aufgestanden und davongegangen war. Sie gestikulierten beim Essen mit den Gabeln, machten, einen Bissen in der Backe, wichtige Mienen, lachten, nickten, hoben die Schultern und hatten noch nicht ordentlich hinuntergeschluckt, wenn sie schon weitersprachen. Joachim wollte von Hamburg horen und hatte das Gesprach auf die geplante Elbregulierung gebracht.

"Epochal!" sagte Hans Castorp. "Epochal fur die Entwicklung unserer

Schiffahrt, - gar nicht zu uberschatzen. Wir setzen funfzig Millionen als sofortige einmalige Ausgabe dafur ins Budget, und du kannst uberzeugt sein, wir wissen genau, was wir tun."

Ubrigens sprang er, bei aller Wichtigkeit, die er der Elbregulierung beima?, gleich wieder ab von diesem Thema und verlangte, da? Joachim ihm Weiteres von dem Leben "hier oben" und von den Gasten erzahle, was auch bereitwillig geschah, da Joachim froh war, sich erleichtern und mitteilen zu konnen. Das von den Leichen, die man die Bob-Bahn hinuntersandte, mu?te er wiederholen und noch einmal ausdrucklich versichern, da? es auf Wahrheit beruhe. Da Hans Castorp wieder vom Lachen ergriffen wurde, lachte auch er, was er herzlich zu genie?en schien, und lie? andere komische Dinge horen, um der Ausgelassenheit Nahrung zu geben. Eine Dame sitze mit ihm am Tische, namens Frau Stohr, ziemlich krank ubrigens, eine Musikersgattin aus Cannstatt, - die sei das Ungebildetste, was ihm jemals vorgekommen. "Desinfiszieren" sage sie, - aber in vollstem Ernst. Und den Assistenten Krokowski nenne sie den "Fomulus". Das musse man nun hinunterschlucken, ohne das Gesicht zu verziehen. Au?erdem sei sie klatschsuchtig, wie ubrigens die meisten hier oben,und einer anderen Dame, Frau Iltis, sage sie nach, sie trage ein "Sterilett". "Sterilett nennt sie das, - das ist doch unbezahlbar!" Und halb liegend, gegen die Lehnen ihrer Stuhle zuruckgeworfen, lachten sie so sehr, da? ihnen der Leib bebte und sie fast gleichzeitig Schluckauf bekamen.

Zwischendurch betrubte Joachim sich und gedachte seines Loses.

"Ja, da sitzen wir nun und lachen," sagte er mit schmerzendem Gesicht und zuweilen von den Erschutterungen seines Zwerchfelles unterbrochen; "und dabei ist gar nicht abzusehen, wann ich hier wegkomme, denn wenn Behrens sagt: noch ein halbes Jahr, dann ist es knapp gerechnet, man mu? sich auf mehr gefa?t machen. Aber es ist doch hart, sage mal selbst, ob es nicht traurig fur mich ist. Da war ich nun schon genommen, und im nachsten Monat konnte ich meine Offiziersprufung machen. Und nun lungere ich hier herum mit dem Thermometer im Mund und zahle die Schnitzer von dieser ungebildeten Frau Stohr und versaume die Zeit. Ein Jahr spielt solch eine Rolle in unserem Alter, es bringt im Leben unten so viele Veranderungen und Fortschritte mit sich. Und ich mu? hier stagnieren wie ein Wasserloch, - ja, ganz wie ein fauliger Tumpel, es ist gar kein zu krasser Vergleich ..."

Sonderbarerweise antwortete Hans Castorp hierauf nur mit der Frage,

ob man hier eigentlich Porter bekommen konne, und als sein Vetter ihn etwas erstaunt betrachtete, sah er, da? jener im Einschlafen begriffen war, - eigentlich schlief er schon.

"Aber du schlafst ja!" sagte Joachim. "Komm, es ist Zeit, zu Bett zu gehen, fur uns beide."

"Es ist uberhaupt keine Zeit", sagte Hans Castorp mit schwerer Zunge. Aber er ging doch mit, etwas gebuckt und steifbeinig, wie ein Mensch, der von Mudigkeit formlich zu Boden gezogen wird, - nahm sich jedoch gewaltsam zusammen, als er in der nur noch matt erleuchteten Halle Joachim sagen horte:

"Da sitzt Krokowski. Ich mu? dich, glaube ich, rasch noch vorstellen."

Dr. Krokowski sa? im Hellen, am Kamin des einen Konversationszimmers, gleich bei der offenen Schiebetur, und las eine Zeitung. Er stand auf, als die jungen Leute auf ihn zutraten und Joachim in militarischer Haltung sagte:

"Darf ich Ihnen, bitte, meinen Vetter Castorp aus Hamburg vorstellen, Herr Doktor. Er ist eben erst angekommen."

Dr. Krokowski begru?te den neuen Hausgenossen mit einer gewissen heiteren, stammigen und aufmunternden Herzhaftigkeit, als wollte er andeuten, da? Aug in Auge mit ihm jede Befangenheit uberflussig und einzig frohliches Vertrauen am Platze sei. Er war ungefahr funfunddrei?ig Jahre alt, breitschultrig, fett, bedeutend kleiner als die beiden, die vor ihm standen, so da? er den Kopf schrag zurucklegen mu?te, um ihnen ins Gesicht zu sehen, - und au?erordentlich bleich, von durchscheinender, ja phosphoreszierender Blasse, die noch gehobenwurde durch die dunkle Glut seiner Augen, die Schwarze seiner Brauen und seines ziemlich langen, in zwei Spitzen auslaufenden Vollbartes, der bereits ein paar wei?e Faden zeigte. Er trug einen schwarzen, zweireihigen, schon etwas abgenutzten Sakkoanzug, schwarze, durchbrochene, sandalenartige Halbschuhe zu dicken, grauwollenen Socken und einen weich uberfallenden Halskragen, wie Hans Castorp ihn bis dahin nur bei einem Photographen in Danzig gesehen hatte und welcher der Erscheinung Dr. Krokowskis in der Tat ein atelierma?iges Geprage verlieh. Herzlich lachelnd, so da? in seinem Barte die gelblichen Zahne sichtbar wurden, schuttelte er dem jungen Manne die Hand, indem er mit baritonaler Stimme und etwas fremdlandisch schleppenden Akzenten sagte:

"Seien Sie uns willkommen, Herr Castorp! Mochten Sie sich rasch einleben und sich wohlfuhlen in unserer Mitte. Sie kommen zu uns als Patient, wenn ich mir die Frage erlauben darf?"

Es war ruhrend zu sehen, wie Hans Castorp arbeitete, um sich artig zu erweisen und seiner Schlafrigkeit Herr zu werden. Er argerte sich, so schlecht in Form zu sein und sah mit dem mi?trauischen Selbstbewu?tsein junger Leute in dem Lacheln und dem aufmunternden Wesen des Assistenten Zeichen nachsichtigen Spottes. Er antwortete, indem er von den drei Wochen sprach, auch seines Examens erwahnte und hinzufugte, da? er, gottlob, ganz gesund sei.

"Wahrhaftig?" fragte Dr. Krokowski, indem er seinen Kopf wie neckend schrag vorwarts stie? und sein Lacheln verstarkte ... "Aber dann sind Sie eine hochst studierenswerte Erscheinung! Mir ist namlich ein ganz gesunder Mensch noch nicht vorgekommen. Was fur ein Examen haben Sie abgelegt, wenn die Frage erlaubt ist?"

"Ich bin Ingenieur, Herr Doktor", antwortete Hans Castorp mit bescheidener Wurde.

"Ah, Ingenieur!" Und Dr. Krokowskis Lacheln zog sich gleichsam zuruck, bu?te an Kraft und Herzlichkeit fur den Augenblick etwas ein. "Das ist wacker. Und Sie werden hier also keinerlei arztliche Behandlung in Anspruch nehmen, weder in korperlicher noch in psychischer Hinsicht?"

"Nein, ich danke tausendmal!" sagte Hans Castorp und ware fast einen Schritt zuruckgewichen.

Da brach das Lacheln Dr. Krokowskis wieder siegreich hervor, und indem er dem jungen Manne aufs neue die Hand schuttelte, rief er mit lauter Stimme:

"Nun, so schlafen Sie denn wohl, Herr Castorp, - im Vollgefuhl Ihrer untadeligen Gesundheit! Schlafen Sie wohl und auf Wiedersehn!" - Damit entlie? er die jungen Leute und setzte sich wieder zu seiner Zeitung nieder.

Der Aufzug hatte keine Bedienung mehr, und so legten sie zu Fu? die Treppen zuruck, schweigend und etwas verwirrt von der Begegnung mit Dr. Krokowski. Joachim begleitete Hans Castorp auf Nummer Vierunddrei?ig, wo der Hinkende das Gepack des Ankommlings richtig eingeliefert hatte, und sie plauderten noch eine Viertelstunde, wahrend Hans Castorp Nacht- und Waschzeug auspackte und eine dicke, milde

Zigarette dazu rauchte. Zur Zigarre kam er heute nichtmehr, was ihm wunderlich und au?erordentlich erschien.

"Er sieht sehr bedeutend aus", sagte er, indem er beim Sprechen den eingeatmeten Rauch hervorsprudelte. "Wachsbleich ist er. Aber mit seiner Chaussure, hore mal, da steht es scheu?lich. Grauwollene Socken und dann diese Sandalen. War er zum Schlu? eigentlich beleidigt?"

"Er ist etwas empfindlich", gab Joachim zu. "Du hattest die arztliche Behandlung nicht so brusk zuruckweisen sollen, wenigstens nicht die psychische. Er sieht es nicht gern, wenn man sich dem entzieht. Auf mich ist er auch nicht besonders zu sprechen, weil ich ihm nicht genug anvertraue. Aber dann und wann erzahl ich ihm doch einen Traum, damit er was zu zergliedern hat."

"Nun, dann hab ich ihn eben vor den Kopf gesto?en", sagte Hans Castorp verdrie?lich; denn es machte ihn unzufrieden mit sich selbst, jemanden gekrankt zu haben, und so kam denn die Mudigkeit auch mit erneuter Starke uber ihn.

"Gute Nacht", sagte er. "Ich falle um."

"Um acht hole ich dich zum Fruhstuck", sagte Joachim und ging.

Hans Castorp machte nur fluchtige Nachttoilette. Der Schlaf ubermannte ihn, kaum da? er das Nachttischlampchen geloscht hatte, aber er schreckte noch einmal auf, da er sich erinnerte, da? in diesem Bette vorgestern jemand gestorben sei. "Es wird nicht das erstemal gewesen sein", sagte er zu sich, als konne ihm das zur Beruhigung dienen. "Es ist eben ein Totenbett, ein gewohnliches Totenbett." Und er schlief ein.

Aber sobald er eingeschlafen war, begann er zu traumen und traumte fast unaufhorlich bis zum anderen Morgen. Hauptsachlich sah er Joachim Ziem?en in sonderbar verrenkter Lage auf einem Bobschlitten eine schrage Bahn hinabfahren. Er war so phosphoreszierend bleich wie Dr. Krokowski, und vorneauf sa? der Herrenreiter, der sehr unbestimmt aussah, wie jemand, den man lediglich hat husten horen, und lenkte. "Das ist uns doch ganz einerlei, - uns hier oben", sagte der verrenkte Joachim, und dann war er es, nicht der Herrenreiter, der so grauenhaft breiig hustete. Daruber mu?te Hans Castorp bitterlich weinen und sah ein, da? er in die Apotheke laufen musse, um sich Cold-cream zu besorgen. Aber am Wege sa? Frau Iltis mit einer spitzen Schnauze und hielt etwas in der Hand, was offenbar ihr "Sterilett" sein sollte, aber

nichts weiter war als ein Sicherheits-Rasierapparat. Das machte Hans Castorp nun wieder lachen, und so wurde er zwischen verschiedenen Gemutsbewegungen hin und her geworfen, bis der Morgen durch seine halboffene Balkontur graute und ihn weckte.

Zweites Kapitel

Von der Taufschale und vom Gro?vater in zwiefacher Gestalt

Hans Castorp bewahrte an sein eigentliches Elternhaus nur blasse Erinnerungen; er hatte Vater und Mutter kaum recht gekannt. Sie starben weg in der kurzen Frist zwischen seinem funften und siebenten Lebensjahr, zuerst die Mutter, vollkommen uberraschend und in Erwartung ihrerNiederkunft, an einer Gefa?verstopfung infolge von Nervenentzundung, einer Embolie, wie Dr. Heidekind es bezeichnete, die augenblicklich Herzlahmung verursachte, - sie lachte eben, im Bette sitzend, es sah so aus, als ob sie vor Lachen umfiele, und dennoch tat sie es nur, weil sie tot war. Das war nicht leicht zu verstehen fur Hans Hermann Castorp, den Vater, und da er sehr innig an seiner Frau gehangen hatte, auch seinerseits nicht der Starkste war, so wu?te er nicht daruber hinwegzukommen. Sein Geist war verstort und geschmalert seitdem; in seiner Benommenheit beging er geschaftliche Fehler, so da? die Firma Castorp & Sohn empfindliche Verluste erlitt; im ubernachsten Fruhjahr holte er sich bei einer Speicherinspektion am windigen Hafen die Lungenentzundung, und da sein erschuttertes Herz das hohe Fieber nicht aushielt, so starb er trotz aller Sorgfalt, die Dr. Heidekind an ihn wandte, binnen funf Tagen und folgte seiner Frau unter ansehnlicher Beteiligung der Burgerschaft ins Castorpsche Erbbegrabnis nach, das auf dem St. Katharinenkirchhof sehr schon, mit Blick auf den Botanischen Garten, gelegen war.

Sein Vater, der Senator, uberlebte ihn, wenn auch nur um ein weniges, und die kurze Zeitspanne, bis er auch starb - ubrigens gleichfalls an einer Lungenentzundung, und zwar unter gro?en Kampfen und Qualen, denn zum Unterschiede von seinem Sohn war Hans Lorenz Castorp eine schwer zu fallende, im Leben zah wurzelnde Natur - diese Zeitspanne also, es waren nur anderthalb Jahre, verlebte der verwaiste Hans Castorp in seines Gro?vaters Hause, einem zu Anfang des abgelaufenen

Jahrhunderts auf schmalem Grundstuck im Geschmack des nordischen Klassizismus erbauten, in einer truben Wetterfarbe gestrichenen Haus an der Esplanade, mit Halbsaulen zu beiden Seiten der Eingangstur, in der Mitte des um funf Stufen aufgetreppten Erdgeschosses, und zwei Obergeschossen au?er der Beletage, wo die Fenster bis zu den Fu?boden hinuntergezogen und mit gegossenen Eisengittern versehen waren.

Hier lagen ausschlie?lich Reprasentationsraume, eingerechnet das helle, mit Stuck verzierte E?zimmer, dessen drei weinrot verhangene Fenster auf das ruckwartige Gartchen blickten, und wo wahrend der achtzehn Monate Gro?vater und Enkel alltaglich um 4 Uhr allein miteinander zu Mittag a?en, bedient von dem alten Fiete mit den Ohrringen und den silbernen Knopfen am Frack, der zu diesem Frack eine ebensolche battistene Halsbinde trug, wie der Hausherr selbst, auch auf ganz ahnliche Art das rasierte Kinn darin barg, und den der Gro?vater duzte, indem er plattdeutsch mit ihm sprach; nicht scherzender Weise - er war ohne humoristischen Zug -, sondern in aller Sachlichkeit und weil er es uberhaupt mit Leuten aus dem Volk, mit Speicherarbeitern, Postboten, Kutschern und Dienstboten so hielt. Hans Castorp horte es gern, und sehr gern horte er auch, wie Fiete antwortete, ebenfalls platt, indem er sich beim Servieren vonlinks hinter seinem Herrn herumbeugte, um ihm in das rechte Ohr zu sprechen, auf dem der Senator bedeutend besser horte als auf dem linken. Der Alte verstand und nickte und a? weiter, sehr aufrecht zwischen der hohen Mahagonilehne des Stuhles und dem Tisch, kaum uber den Teller gebeugt, und der Enkel, ihm gegenuber, betrachtete still, mit tiefer und unbewu?ter Aufmerksamkeit, die knappen, gepflegten Bewegungen, mit denen die schonen, wei?en, mageren alten Hande des Gro?vaters mit den gewolbten, spitz zulaufenden Nageln und dem grunen Wappenring auf dem rechten Zeigefinger einen Bissen aus Fleisch, Gemuse und Kartoffeln auf der Gabelspitze anordneten und unter einem leichten Entgegenneigen des Kopfes zum Munde fuhrten. Hans Castorp sah auf seine eigenen, noch ungeschickten Hande und fuhlte darin die Moglichkeit vorgebildet, spaterhin ebenso wie der Gro?vater Messer und Gabel zu halten und zu bewegen.

Eine andere Frage war, ob er je dazu gelangen wurde, sein Kinn in einer solchen Binde zu bergen, wie sie die geraumige Offnung des sonderbar geformten, mit den scharfen Spitzen die Wangen streifenden Halskragens des Gro?vaters ausfullte. Denn dazu mu?te man so alt sein

wie dieser, und schon heute trug au?er ihm und seinem alten Fiete weit und breit niemand mehr solche Binden und Kragen. Das war schade, denn dem kleinen Hans Castorp gefiel es besonders wohl, wie der Gro?vater das Kinn in die hohe, schneewei?e Binde lehnte; noch in der Erinnerung, als er erwachsen war, gefiel es ihm ausgezeichnet: es lag etwas darin, was er aus dem Grund seines Wesens billigte.

Wenn sie fertig gegessen und ihre Servietten zusammengelegt, gerollt und in die silbernen Ringe gesteckt hatten, ein Geschaft, mit dem Hans Castorp damals nicht leicht zu Rande kam, da die Servietten so gro? waren wie kleine Tischtucher, so stand der Senator vor dem Stuhle auf, den Fiete hinter ihm wegzog, und ging mit schlurfenden Schritten ins "Kabinett" hinuber, um sich seine Zigarre zu holen; und zuweilen folgte der Enkel ihm dorthin.

Dieses "Kabinett" war dadurch entstanden, da? man das E?zimmer dreifenstrig gemacht und durch die ganze Breite des Hauses gelegt hatte, weshalb nicht, wie sonst bei diesem Haustypus, Raum fur drei Salons, sondern nur fur zwei ubriggeblieben war, von denen jedoch der eine, senkrecht zum E?saal gelegene, mit nur einem Fenster nach der Stra?e, unverhaltnisma?ig tief ausgefallen ware. Darum hatte man etwa den vierten Teil seiner Lange von ihm abgesondert, eben das "Kabinett", einen schmalen Raum mit Oberlicht, dammerig und nur mit wenigen Gegenstanden ausgestattet: einer Etagere, auf der des Senators Zigarrenschrank stand, einem Spieltisch, dessen Schublade anziehende Dinge enthielt: Whistkarten, Spielmarken, kleine Markierbrettchen mit aufklappbaren Zahnchen, eine Schiefertafel nebst Kreidegriffeln, papierne Zigarrenspitzen und anderes mehr; endlich mit einem Rokoko-Glasschrank aus Palisanderholz inder Ecke, hinter dessen Scheiben gelbseidene Vorhange gespannt waren.

"Gro?papa", konnte der kleine Hans Castorp im Kabinett wohl sagen, indem er sich auf die Zehenspitzen erhob und zu dem Ohr des Alten emporstrebte, "zeig mir doch, bitte, die Taufschale!"

Und der Gro?vater, der ohnedies den Scho? seines langen und weichen Gehrocks vom Beinkleid zuruckgerafft und sein Schlusselbund aus der Tasche gezogen hatte, offnete damit den Glasschrank, aus dessen Innerem es dem Knaben eigentumlich angenehm und merkwurdig entgegenduftete. Es waren allerlei au?er Gebrauch befindliche und eben darum fesselnde Gegenstande darin aufbewahrt: ein Paar geschweifte silberne Armleuchter, ein zerbrochenes Barometer mit figurlicher

Holzschnitzerei, ein Album mit Daguerreotypien, ein Likorkasten aus Zedernholz, ein kleiner Turke, hart anzufassen unter seinem buntseidenen Anzug, mit einem Uhrwerk im Leibe, das ihn dereinst befahigt hatte, uber den Tisch zu laufen, nun aber schon lange den Dienst versagte, ein altertumliches Schiffsmodell und ganz zu unterst sogar eine Rattenfalle. Der Alte aber nahm von einem mittleren Fach eine stark angelaufene runde silberne Schale, die auf einem ebenfalls silbernen Teller stand, und wies beide Stucke dem Knaben vor, indem er sie voneinander nahm und unter schon oft gegebenen Erklarungen einzeln hin und her wandte.

Becken und Teller gehorten ursprunglich nicht zueinander, wie man wohl sah, und wie sich der Kleine aufs neue belehren lie?; doch seien sie, sagte der Gro?vater, seit rund hundert Jahren, namlich seit Anschaffung des Beckens, im Gebrauche vereinigt. Die Schale war schon, von einfacher, edler Gestalt, geformt von dem strengen Geschmack der Fruhzeit des letzten Jahrhunderts. Glatt und gediegen, ruhte sie auf rundem Fu?e und war innen vergoldet; doch war das Gold von der Zeit schon zum gelblichen Schimmer verblichen. Als einziger Zierat lief ein erhabener Kranz von Rosen und zackigen Blattern um ihren oberen Rand. Den Teller angehend, so war sein weit hoheres Alter ihm von der Innenseite abzulesen. "Sechzehnhundertundfunfzig" stand dort in verschnorkelten Ziffern, und allerlei krause Gravierungen umrahmten die Zahl, ausgefuhrt in der "modernen Manier" von damals, schwulstig-willkurlich, Wappen und Arabesken, die halb Stern und halb Blume waren. Auf der Ruckseite aber fanden sich in wechselnder Schriftart die Namen der Haupter einpunktiert, die im Gange der Zeit des Stuckes Inhaber gewesen: Es waren ihrer schon sieben, versehen mit der Jahreszahl der Erb-Ubernahme, und der Alte in der Binde wies mit dem beringten Zeigefinger den Enkel auf jeden einzelnen hin. Der Name des Vaters war da, der des Gro?vaters selbst und der des Urgro?vaters, und dann verdoppelte, verdreifachte und vervierfachte sich die Vorsilbe "Ur" im Munde des Erklarers, und der Junge lauschte seitwarts geneigten Kopfes, mit nachdenklich oder auch gedankenlos-traumerisch sich festsehenden Augen und andachtig-schlafrigem Munde auf das Ur-Ur-Ur-Ur, - diesen dunklen Laut der Gruft und der Zeitverschuttung,welcher dennoch zugleich einen fromm gewahrten Zusammenhang zwischen der Gegenwart, seinem eigenen Leben und dem tief Versunkenen ausdruckte und ganz eigentumlich auf ihn einwirkte: namlich so, wie es auf seinem Gesichte sich ausdruckte. Er meinte modrig-kuhle Luft, die

Luft der Katharinenkirche oder der Michaeliskrypte zu atmen bei diesem Laut, den Anhauch von Orten zu spuren, an denen man, den Hut in der Hand, in eine gewisse, ehrerbietig vorwarts wiegende Gangart ohne Benutzung der Stiefelabsatze verfallt; auch die abgeschiedene, gefriedete Stille solcher hallender Orte glaubte er zu horen; geistliche Empfindungen mischten sich mit denen des Todes und der Geschichte beim Klang jener dumpfen Silbe, und dies alles mutete den Knaben irgendwie wohltuend an, ja, es mochte wohl sein, da? er um des Lautes willen, um ihn zu horen und nachzusprechen, gebeten hatte, die Taufschale wieder einmal betrachten zu durfen.

Dann stellte der Gro?vater das Gefa? auf den Teller zuruck und lie? den Kleinen in die glatte, leicht goldige Hohlung sehen, die aufschimmerte von dem einfallenden Oberlicht.

"Nun sind es bald acht Jahre," sagte er, "da? wir dich daruber hielten und da? das Wasser, mit dem du getauft wurdest, da hinein flo? ... Kuster Lassen von St. Jacobi go? es unserem guten Pastor Bugenhagen in die hohle Hand, und von da lief es uber deinen Schopf hier in die Schale. Aber wir hatten es gewarmt, damit du nicht erschrecken und nicht weinen solltest, und das tatst du auch nicht, sondern im Gegenteil, du hattest vorher geschrien, so da? Bugenhagen es nicht leicht gehabt hatte mit seiner Rede, aber als das Wasser kam, da wurdest du still, und das war die Achtung vor dem heiligen Sakrament, wollen wir hoffen. Und vierundvierzig Jahre sind es in den nachsten Tagen, da war dein seliger Vater der Taufling, und von seinem Kopf flo? das Wasser hier hinein. Das war hier im Haus, seinem Elternhaus, druben im Saal, vor dem mittleren Fenster, und es war noch der alte Pastor Hesekiel, der ihn taufte, derselbe, den die Franzosen als jungen Menschen beinahe erschossen hatten, weil er gegen ihre Raubereien und Brandschatzungen gepredigt hatte, - der ist nun auch schon lange, lange bei Gott. Aber vor funfundsiebenzig Jahren, da war ich es selber, den sie tauften, auch da im Saal, und meinen Kopf hielten sie uber die Schale hier, wie sie da auf dem Teller steht, und der Geistliche sprach dieselben Worte wie bei dir und deinem Vater, und ebenso flo? das warme, klare Wasser von meinem Haar(es war nicht viel mehr damals, als ich jetzt auf dem Kopfe habe) da in das goldene Becken hinein."

Der Kleine blickte empor auf des Gro?vaters schmales Greisenhaupt, das eben wiederuber die Schale geneigt war, wie zu der langst verflossenen Stunde, von der er erzahlte, und ein schon erprobtes

Gefuhl kam ihn an, die sonderbare, halb traumerische, halb beangstigende Empfindung eines zugleich Ziehenden und Stehenden, eines wechselnden Bleibens, das Wiederkehr und schwindelige Einerleiheit war, - eine Empfindung, die ihm von fruheren Gelegenheiten her bekannt war, und von der wieder beruhrt zu werden er erwartet und gewunscht hatte: sie war es zum Teil, um derentwillen ihm die Vorzeigung des stehend wandernden Erbstucks angelegen gewesen war.

Prufte der junge Mann sich spater, so fand er, da? das Bild seines Altervaters sich ihm viel tiefer, deutlicher und bedeutender eingepragt hatte als das seiner Eltern: was moglicherweise auf Sympathie und physischer Sonderverwandtschaft beruhte, denn der Enkel sah dem Gro?vater ahnlich, soweit eben ein rosiger Milchbart einem gebleichten und starren Siebziger ahnlich sehen kann. Hauptsachlich aber war es doch wohl fur den Alten bezeichnend, der ohne Frage die eigentliche Charakterfigur, die malerische Personlichkeit in der Familie gewesen war.

Im offentlichen Sinne gesprochen, so war die Zeit uber Hans Lorenz Castorps Wesen und Willensmeinungen schon lange vor seinem Abscheiden hinweggegangen. Er war ein hochchristlicher Herr gewesen, von der reformierten Gemeinde, streng herkommlich gesinnt, auf aristokratische Einengung des gesellschaftlichen Kreises, in dem man regierungsfahig war, so hartnackig bedacht, als lebte er im vierzehnten Jahrhundert, wo das Handwerkertum gegen den zahen Widerstand des altfreien Patriziertums sich Sitz und Stimme im stadtischen Rat zu erobern begonnen hatte, und fur das Neue zu schwer zu haben. Sein Wirken war in Jahrzehnte eines heftigen Aufschwungs und vielfaltiger Umwalzungen gefallen, Jahrzehnte des Fortschritts in Gewaltmarschen, die an den offentlichen Opfer- und Wagemut bestandig so hohe Anforderungen gestellt hatten. An ihm aber, dem alten Castorp, das wu?te Gott, hatte es nicht gelegen, wenn der Geist der Neuzeit die weit bekannten, glanzenden Siege gefeiert hatte. Er hatte auf Vatersitte und alte Institutionen weit mehr gehalten als auf halsbrecherische Hafenerweiterungen und gottlose Gro?stadt-Alfanzereien, hatte gebremst und abgewiegelt, wo er nur konnte, und ware es nach ihm gegangen, so sah es in der Verwaltung noch heutigentages so idyllisch-altfrankisch aus wie seinerzeit in seinem eigenen Kontor.

So stellte der Alte, zu seinen Lebzeiten und nachher, sich dem burgerlichen Auge dar, und wenn der kleine Hans Castorp auch nichts von Staatsangelegenheiten verstand, so machte sein still anschauendes

Kinderauge im wesentlichen doch ganz dieselben Wahrnehmungen, - wortlose und also unkritische, vielmehr nur lebensvolle Wahrnehmungen, die ubrigens auch spater, als bewu?tes Erinnerungsbild, ihr wort- und zergliederungsfeindliches, schlechthin bejahendes Geprage durchaus bewahrten. Wie gesagt, war da Sympathie im Spiele, jene ein Glied uberspringende Nachstverbundenheit und Wesensverwandtschaft, die nichts Seltenes ist. Kinder und Enkel schauen an, um zu bewundern, und sie bewundern, um zu lernen und auszubilden, waserblicherweise in ihnen vorgebildet liegt.

Senator Castorp war hager und hochgewachsen. Die Jahre hatten ihm Rucken und Nacken gekrummt, aber er suchte die Krummung durch Gegendruck auszugleichen, wobei sein Mund, dessen Lippen nicht mehr von Zahnen gehalten wurden, sondern unmittelbar auf dem leeren Zahnfleisch ruhten(denn sein Gebi? legte er nur zum Essen an), sich auf wurdig-muhsame Art nach unten zog, und hierdurch eben, wie auch wohl als Mittel gegen eine beginnende Unfestigkeit des Kopfes, kam die ehrenstreng aufgeruckte Haltung und Kinnstutze zustande, die dem kleinen Hans Castorp so zusagte.

Er liebte die Dose - es war eine langliche, mit Gold eingelegte Schildpattdose, die er handhabte, - und benutzte aus diesem Grunde rote Taschentucher, deren Zipfel ihm aus der hinteren Tasche seines Gehrocks zu hangen pflegte. War das eine heitere Schwache in seiner Erscheinung, so wirkte sie doch durchaus als Alterslizenz, als eine Nachlassigkeit, wie die Betagtheit sie sich entweder bewu?t und jovialerweise gestattet oder in ehrwurdiger Unbewu?theit mit sich bringt; und jedenfalls blieb sie die einzige, die Hans Castorps kindlicher Scharfblick je an des Gro?vaters Au?erem gewahrte. Fur den Siebenjahrigen aber sowohl wie spater in der Erinnerung des Herangewachsenen war die alltagliche Erscheinung des Alten nicht seine eigentliche und wirkliche. In eigentlicher Wirklichkeit sah er noch anders, weit schoner und richtiger aus, als gewohnlich, - namlich so, wie er auf einem Gemalde, einem lebensgro?en Bildnis erschien, das fruher im elterlichen Wohnzimmer gehangen hatte und dann zusammen mit dem kleinen Hans Castorp an die Esplanade ubergesiedelt war, wo es seinen Platz uber dem gro?en rotseidenen Sofa im Empfangszimmer erhalten hatte.

Es zeigte Hans Lorenz Castorp in seiner Amtstracht als Ratsherrn der

Stadt - dieser ernsten, ja frommen Burgertracht eines verschollenen Jahrhunderts, die ein zugleich gravitatisches und verwegenes Gemeinwesen durch die Zeiten mitgefuhrt und in pomphaftem Gebrauch erhalten hatte, um zeremoniellerweise die Vergangenheit zur Gegenwart, die Gegenwart zur Vergangenheit zu machen und den steten Zusammenhang der Dinge, die ehrwurdige Sicherheit ihrer Handlungsunterschrift zu bekunden. Senator Castorp stand da in ganzer Figur, auf rotlich gepflastertem Boden, in einer Pfeiler- und Spitzbogen-Perspektive. Er stand, das Kinn gesenkt, den Mund nach unten gezogen, die blauen, sinnig blickenden Augen mit den Tranensacken darunter ins Weite gerichtet, in dem schwarzen und mehr als knielangen, talarartigen Uberrock, der, vorne offen, am Rande und Saume eine breite Pelzverbramung zeigte. Aus weiten, hochgepufften und bordierten Oberarmeln kamen engere Unterarmel von schlichtem Tuch hervor, und Spitzenmanschetten bedeckten die Hande bis zu den Knocheln. Die schlanken Greisenbeine staken in schwarzseidenen Strumpfen, die Fu?e in Schuhen mit silbernen Schnallen. Um den Hals aber lag ihm die breite, gestarkte und vielfach gefaltete Tellerkrause, vorn niedergedruckt und an den Seiten aufwarts geschwungen, unter welcher hervor zum Uberflu? nochein gefaltetes Batistjabot auf die Weste hing. Unter dem Arme trug er den altertumlichen Hut mit breiter Krempe, dessen Kopf sich nach oben verjungte.

Es war ein vortreffliches Bild, von namhafter Kunstlerhand geschaffen, mit gutem Geschmack in dem altmeisterlichen Stile gehalten, den der Gegenstand nahelegte, und in dem Beschauer allerlei spanisch-niederlandisch-spatmittelalterliche Vorstellungen weckend. Der kleine Hans Castorp hatte es oft betrachtet, nicht mit Kunstverstand naturlich, aber doch mit einem gewissen allgemeineren und sogar eindringlichen Verstande; und obgleich er den Gro?vater so, wie die Leinwand ihn darstellte, in Person nur ein einziges Mal, bei einer feierlichen Auffahrt am Rathaus, und auch da nur fluchtig gesehen hatte, konnte er, wie wir sagten, nicht umhin, diese seine bildhafte Erscheinung als seine eigentliche und wirkliche zu empfinden und in dem Gro?vater des Alltags sozusagen einen Interims-Gro?vater, einen behelfsweise und nur unvollkommen angepa?ten zu erblicken. Denn das Abweichende und Wunderliche in dieser seiner Alltagserscheinung beruhte offenbar auf solcher unvollkommenen, vielleicht etwas ungeschickten Anpassung, es waren nicht ganz zu tilgende Reste und Andeutungen seiner reinen und wahren Gestalt. So waren die Vatermorder, die hohe wei?e Binde

altmodisch; aber unmoglich war diese Bezeichnung anwendbar auf das bewunderungswurdige Kleidungsstuck, wovon jene nur die Interimsandeutung bildeten, namlich auf die spanische Krause. Und ebenso verhielt es sich mit dem unublich geschweiften Zylinder, den der Gro?vater auf der Stra?e trug, und dem in hoherer Wirklichkeit der breitkrempige Filzhut des Gemaldes entsprach; mit dem langen und faltigen Gehrock, als dessen Urbild und Eigentlichkeit dem kleinen Hans Castorp der bordierte, pelzverbramte Talar erschien.

So war er denn auch im Herzen einverstanden, da? der Gro?vater in seiner Richtigkeit und Vollkommenheit prangte, als es eines Tages hie?, Abschied von ihm zu nehmen. Das war im Saale, demselben Saal, wo sie so oft am E?tisch einander gegenuber gesessen; in seiner Mitte lag Hans Lorenz Castorp nun auf der von Kranzen umstellten und umlagerten Bahre im silberbeschlagenen Sarge. Er hatte die Lungenentzundung durchgekampft, hatte zah und lange gekampft, obgleich er doch, wie es schien, im gegenwartigen Leben nur anpassungsweise zu Hause gewesen war, und lag nun, man wu?te nicht recht ob siegreich oder uberwunden, auf jeden Fall mit streng befriedetem Ausdruck und stark verandert und spitznasig vom Kampfe auf seinem Paradebett, den Unterkorper von einer Decke verhullt, auf welcher ein Palmzweig lag, den Kopf vom seidenen Kissen hochgestutzt, so da? das Kinn aufs schonste in der vorderen Einbuchtung der Ehrenkrause ruhte; und zwischen die halb von den Spitzenmanschetten bedeckten Hande, deren Finger bei kunstlich-naturlicher Anordnung Kalte und Unbelebtheit nicht verhehlten, hatte man ihm ein Elfenbeinkreuz gesteckt, auf das er mit gesenkten Lidern unverwandt niederzublicken schien.

Hans Castorp hatte den Gro?vater zu Anfang von dessen letzter Krankheit wohl mehrmals, gegen das Ende hin aber nichtmehr gesehen. Mit dem Anblick des Kampfes, der auch zu seinem Hauptteile nachtlicherweile vor sich gegangen war, hatte man ihn ganzlich verschont, nur mittelbar, durch die beklommene Atmosphare des Hauses, die roten Augen des alten Fiete, das An- und Wegfahren der Doktoren, war er davon beruhrt worden; das Ergebnis aber, vor das er sich im Saale gestellt fand, lie? sich dahin zusammenfassen, da? der Gro?vater der Interimsanpassung nun feierlich uberhoben und in seine eigentliche und angemessene Gestalt endgultig eingekehrt war, - ein billigenswertes Ergebnis, wenn auch der alte Fiete weinte und ununterbrochen den Kopf schuttelte, und wenn auch Hans Castorp selber

weinte, wie er beim Anblick seiner unvermittelt gestorbenen Mutter und seines bald darauf ebenfalls still und fremd daliegenden Vaters geweint hatte.

Denn es war ja nun schon das drittemal binnen so kurzer Zeit und bei so jungen Jahren, da? der Tod auf den Geist und die Sinne - namentlich auch auf die Sinne - des kleinen Hans Castorp wirkte; neu war ihm der Anblick und Eindruck nicht mehr, sondern bereits recht wohl vertraut, und wie er schon die beiden ersten Male sich durchaus gesetzt und verla?lich, keineswegs nervenschwach, wenn auch mit naturlicher Betrubnis dagegen verhalten hatte, so auch jetzt, und in noch hoherem Grade. Unkundig der praktischen Bedeutung der Ereignisse fur sein Leben oder auch kindlich gleichgultig dagegen, in dem Vertrauen, da? die Welt schon so oder so fur ihn sorgen werde, hatte er an den Sargen eine gewisse ebenfalls kindliche Kuhle und sachliche Aufmerksamkeit an den Tag gelegt, welche beim drittenmal durch das Gefuhl und den Ausdruck erfahrener Kennerschaft noch eine besondere, altkluge Abschattung erhielt, - haufiger Tranen der Erschutterung und der Ansteckung durch andere als einer selbstverstandlichen Ruckwirkung nicht weiter zu gedenken. In den drei oder vier Monaten, seit sein Vater gestorben war, hatte er den Tod vergessen; nun erinnerte er sich, und alle Eindrucke von damals stellten sich genau, gleichzeitig und durchdringend in ihrer unvergleichbaren Eigentumlichkeit wieder her.

Aufgelost und in Worte gefa?t, hatten sie sich ungefahr folgenderma?en ausgenommen. Es hatte mit dem Tode eine fromme, sinnige und traurig schone, das hei?t geistliche Bewandtnis und zugleich eine ganz andere, geradezu gegenteilige, sehr korperliche, sehr materielle, die man weder als schon, noch als sinnig, noch als fromm, noch auch nur als traurig eigentlich ansprechen konnte. Die feierlich-geistliche Bewandtnis druckte sich aus in der pomphaften Aufbahrung der Leiche, der Blumenpracht und den Palmenwedeln, die bekanntlich den himmlischen Frieden bedeuteten; ferner und noch deutlicher in dem Kreuz zwischen den gestorbenen Fingern des ehemaligen Gro?vaters, dem segnenden Heiland von Thorwaldsen, der zu Haupten des Sarges stand, und in den zu beiden Seiten aufragenden Kandelabern, die bei dieser Gelegenheit ebenfalls einen kirchlichen Charakterangenommen hatten. Alle diese Anstalten hatten ihren genaueren und guten Sinn offenbar in dem Gedanken, da? der Gro?vater nun auf immer zu seiner eigentlichen und wahren Gestalt eingegangen war. Au?erdem aber hatten sie, wie der

kleine Hans Castorp wohl bemerkte, wenn auch nicht mit Worten sich eingestand, allesamt, im besonderen aber die Menge der Blumen und unter diesen wieder besonders die vielfach vertretenen Tuberosen, noch einen weiteren Sinn und nuchternen Zweck, namlich den, die andere, weder schone noch eigentlich traurige, sondern eher fast unanstandige, niedrig korperliche Bewandtnis, die es mit dem Tode hatte, zu beschonigen, in Vergessenheit zu bringen oder nicht zum Bewu?tsein kommen zu lassen.

Mit dieser Bewandtnis hing es zusammen, da? der tote Gro?vater so fremd, ja eigentlich nicht als der Gro?vater, sondern als eine lebensgro?e, wachserne Puppe erschien, die der Tod statt seiner Person eingeschoben hatte, und mit der nun all dieser fromme und ehrenvolle Aufwand getrieben wurde. Der da lag, oder richtiger: was da lag, war also nicht der Gro?vater selbst, sondern eine Hulle, - die, wie Hans Castorp wu?te, nicht aus Wachs bestand, sondern aus ihrem eigenen Stoff; nur aus Stoff: das eben war das Unanstandige und kaum auch Traurige, - traurig so wenig, wie Dinge traurig sind, die mit dem Korper zu tun haben und nur mit diesem. Der kleine Hans Castorp betrachtete den wachsgelben, glatten und kasig-festen Stoff, aus dem die lebensgro?e Todesfigur bestand, das Gesicht und die Hande des ehemaligen Gro?vaters. Eben lie? eine Fliege sich auf die unbewegliche Stirne nieder und begann, ihren Russel auf und ab zu bewegen. Der alte Fiete verscheuchte sie vorsichtig, indem er sich hutete, die Stirn dabei zu beruhren und mit einer ehrbaren Verfinsterung seiner Miene, so, als durfe und wolle er von dem, was er da tat, nichts wissen, - einem Ausdruck von Sittsamkeit, der sich offenbar auf die Tatsache bezog, da? der Gro?vater nur noch Korper und nichts weiter mehr war; allein nach schweifendem Auffluge nahm die Fliege auf den Fingern des Gro?vaters, in der Nahe des Elfenbeinkreuzes, kurz aufsitzend wieder Platz. Wahrend aber dies geschah, glaubte Hans Castorp deutlicher als bisher jene von fruher her vertraute leise, aber so ganz eigentumlich zahe Ausdunstung zu verspuren, die ihn beschamenderweise an einen mit einem lastigen Ubel behafteten und darum allerseits gemiedenen Schulkameraden erinnerte, und die zu ubertauben der Duft der Tuberosen unter der Hand bestimmt war, ohne es bei aller schonen Uppigkeit und Strenge imstande zu sein.

Er stand wiederholt an der Leiche: einmal allein mit dem alten Fiete, das zweitemal zusammen mit seinem Gro?onkel Tienappel, dem

Weinhandler, und den beiden Onkeln James und Peter, und dann noch ein drittes Mal, als eine Gruppe vonsonntaglich gekleideten Hafenarbeitern einige Augenblicke am offenen Sarge stand, um sich von dem ehemaligen Chef des Hauses Castorp und Sohn zu verabschieden. Dann kam das Begrabnis, bei dem der Saal voller Leute war und Pastor Bugenhagen von der Michaeliskirche, derselbe, der Hans Castorp getauft hatte, angetan mit der spanischen Halskrause, die Gedachtnisrede hielt und sich nachher in der Droschke, der ersten gleich hinter dem Leichenwagen, der dann eine lange, lange Reihe folgte, sehr freundlich mit dem kleinen Hans Castorp unterhielt, - und dann war auch dieser Lebensabschnitt zu Ende, und Hans Castorp wechselte gleich darauf Haus und Umgebung, - zum zweitenmal tat er das ja bereits in seinem jungen Leben.

Bei Tienappels. Und von Hans Castorps sittlichem Befinden

Zu seinem Schaden geschah es nicht, denn er kam zu Konsul Tienappel ins Haus, seinem bestellten Vormund, und hatte da nichts zu vermissen: in Hinsicht auf seine Person gewi? nicht, und ebensowenig, was die Betreuung seiner weiteren Interessen betraf, von denen er noch nichts wu?te. Denn Konsul Tienappel, ein Onkel von Hansens seliger Mutter, verwaltete die Castorpsche Hinterlassenschaft, er brachte die Immobilien zum Verkauf, nahm auch die Liquidation der Firma Castorp und Sohn, Import und Export in die Hand, und was er herausschlug, waren noch ungefahr vierhunderttausend Mark, Hans Castorps Erbe, das Konsul Tienappel in mundelsicheren Papieren anlegte, indem er, seiner verwandtschaftlichen Gefuhle unbeschadet, an jedem Quartalsbeginn zwei Prozent Provision von den falligen Zinsen fur sich in Abzug brachte.

Das Tienappelsche Haus lag im Hintergrunde eines Gartens am Harvestehuder Weg und blickte auf eine Rasenflache, in der auch nicht das kleinste Unkraut geduldet wurde, auf offentliche Rosenanlagen und dann auf den Flu?. Der Konsul ging jeden Morgen, obgleich er schones Fuhrwerk besa?, zu Fu? in sein Geschaft in der Altstadt, um doch ein bi?chen Bewegung zu haben, denn manchmal litt er an Blutstauungen im Kopfe, und kehrte um funf Uhr abends auch so zuruck, worauf bei Tienappels mit aller Kultur zu Mittag gegessen wurde. Er war ein gewichtiger Mann, in beste englische Stoffe gekleidet, mit wasserblau

vorquellenden Augen hinter der goldenen Brille, einer bluhenden Nase, grauem Schifferbart und einem feurigen Brillanten an dem gedrungenen kleinen Finger seiner Linken. Seine Frau war langst tot. Er hatte zwei Sohne, Peter und James, von denen der eine bei der Marine und wenig zu Hause, der andere im vaterlichen Weinhandel tatig und designierter Erbe der Firma war. Den Hausstand fuhrte seit vielen Jahren Schalleen, eine Goldschmiedstochter aus Altona mit wei?en Starkruschen um ihre walzenformigen Handgelenke. Sie stand dafur ein, da? der Fruhstucks- und Abendtisch reichlich mit kalter Kuche, mit Krabben und Lachs, Aal, Gansebrust und Tomato Catsup zum Roastbeef bestellt war; sie hatte ein wachsames Auge auf die Lohndiener,wenn Herrendiner bei Konsul Tienappel war, und sie war es auch, die bei dem kleinen Hans Castorp, so gut sie konnte, Mutterstelle vertrat.

Hans Castorp wuchs auf bei miserablem Wetter, in Wind und Wasserdunst, wuchs auf im gelben Gummimantel, wenn man so sagen darf, und fuhlte sich im ganzen recht munter dabei. Ein bi?chen blutarm war er ja wohl von Anfang an, das sagte auch Dr. Heidekind und lie? ihm taglich zum dritten Fruhstuck, nach der Schule, ein gutes Glas Porter geben, - ein gehaltvolles Getrank, wie man wei?, dem Dr. Heidekind blutbildende Wirkung zuschrieb und das jedenfalls Hans Castorps Lebensgeister auf eine ihm schatzenswerte Weise besanftigte, seiner Neigung, zu "dosen", wie sein Onkel Tienappel sich ausdruckte, namlich mit schlaffem Munde und ohne einen festen Gedanken ins Leere zu traumen, wohltuend Vorschub leistete. Sonst aber war er gesund und richtig, ein brauchbarer Tennisspieler und Ruderer, wenn er auch lieber, statt selber die Riemen zu handhaben, an Sommerabenden bei Musik und einem guten Getrank auf der Terrasse des Uhlenhorster Fahrhauses sa? und die beleuchteten Boote betrachtete, zwischen denen Schwane auf dem bunt spiegelnden Wasser dahinzogen; und wenn man ihn sprechen horte: gelassen, verstandig, ein bi?chen hohl und eintonig, mit einem Anflug von Platt, ja, wenn man ihn auch nur ansah in seiner blonden Korrektheit, mit seinem gut geschnittenen, irgendwie altertumlich gepragten Kopf, in dem ein ererbter und unbewu?ter Dunkel sich in Gestalt einer gewissen trockenen Schlafrigkeit au?erte, so konnte kein Mensch bezweifeln, da? dieser Hans Castorp ein unverfalschtes und rechtschaffenes Erzeugnis hiesigen Bodens und glanzend an seinem Platze war, - er selbst hatte es, wenn er sich daraufhin auch nur gepruft hatte, nicht einen Augenblick lang bezweifelt.

Die Atmosphare der gro?en Meerstadt, diese feuchte Atmosphare aus Weltkramertum und Wohlleben, die seiner Vater Lebensluft gewesen war, er atmete sie mit tiefem Einverstandnis, mit Selbstverstandlichkeit und gutem Behagen. Die Ausdunstungen von Wasser, Kohlen und Teer, die scharfen Geruche gehaufter Kolonialwaren in der Nase, sah er an den Hafenkais ungeheure Dampfdrehkrane die Ruhe, Intelligenz und Riesenkraft dienender Elefanten nachahmen, indem sie Tonnengewichte von Sacken, Ballen, Kisten, Fassern und Ballons aus den Bauchen ruhender Seeschiffe in Eisenbahnwagen und Schuppen loschten. Er sah die Kaufmannschaft in gelben Gummimanteln, wie er selbst einen trug, um Mittag zur Borse stromen, woselbst es scharf herging, seines Wissens, und jemand ganz leicht Veranlassung bekommen konnte, in aller Eile Einladungen zu einem gro?en Diner zu verschicken, um seinen Kredit zu fristen. Er sah(und hier lag ja spater sein besonderes Interessengebiet) das Gewimmel der Werften, sah die Mammutleiber gedockter Asien- und Afrikafahrer, turmhoch, Kiel und Propeller entblo?t, von baumdicken Streben gestutzt, in ihrer monstrosen Unbehilflichkeit auf dem Trockenen, bedeckt mit zwerghaften Heeren scheuernder, hammernder, tunchender Arbeiter;sah auf den uberdachten Hellings, von rauchigem Nebel umsponnen, die Spantenskelette entstehender Schiffe ragen und Ingenieure, Konstruktionszeichnung und Lenztafel zur Hand, den Bauleuten ihre Weisungen geben, - vertraute Gesichte dies alles fur Hans Castorp von Jugend auf und lauter Empfindungen gemutlich-heimatlicher Zugehorigkeit in ihm erweckend, Empfindungen, die ihren Hohepunkt etwa in jener Lebenslage fanden, wenn er Sonntagvormittags mit James Tienappel oder seinem Vetter Ziem?en - Joachim Ziem?en - im Alsterpavillon warme Rundstucke mit Rauchfleisch nebst einem Glase alten Portweins fruhstuckte, und sich danach, mit Hingebung an seiner Zigarre ziehend, im Stuhle zurucklehnte. Denn namentlich darin war er echt, da? er gern gut lebte, ja, seines dunnblutig verfeinerten Au?ern ungeachtet, innig und fest, wie ein schwelgerischer Saugling an der Mutterbrust, an des Lebens derben Genussen hing.

Bequem und nicht ohne Wurde trug er auf seinen Schultern die hohe Zivilisation, welche die herrschende Oberschicht der handeltreibenden Stadtdemokratie ihren Kindern vererbt. Er war so gut gebadet wie ein Baby und lie? sich von jenem Schneider kleiden, der das Vertrauen der jungen Leute seiner Sphare besa?. Der kleine, sorgfaltig gezeichnete Wascheschatz, den die englischen Zuge seines Schrankes bargen, ward von Schalleen aufs beste betreut; noch als Hans Castorp auswarts

studierte, schickte er ihn regelma?ig zur Reinigung und Ausbesserung nach Hause(denn seine Maxime war, da? man au?er in Hamburg im Reiche nicht zu bugeln verstehe), und eine aufgerauhte Stelle an der Manschette eines seiner hubschen farbigen Hemden hatte ihn mit heftigem Unbehagen erfullt. Seine Hande, obgleich nicht sonderlich aristokratisch in der Form, waren gepflegt und frisch von Haut, mit einem Kettenring aus Platin und dem gro?vaterlichen Erbsiegelring geschmuckt, und seine Zahne, die etwas weich waren und mehrfach Schaden gelitten hatten, mit Gold erganzt.

Im Stehen und Gehen schob er den Unterleib etwas vor, was einen nicht eben strammen Eindruck machte; aber seine Haltung bei Tische war ausgezeichnet. Er wandte den aufrechten Oberkorper hoflich dem Nachbarn zu, mit dem er plauderte(verstandig und etwas platt), und seine Ellenbogen lagen leicht an, wahrend er sein Stuck Geflugel zerlegte oder geschickt mit dem dazu bestimmten Tafelgerat das rosige Fleisch aus einer Hummerschere zog. Sein erstes Bedurfnis nach beendeter Mahlzeit war die Fingerschale mit parfumiertem Wasser, das zweite die russische Zigarette, die unverzollt war, und die er unterderhand, auf dem Wege gemutlicher Durchstecherei bezog. Sie ging der Zigarre voran, einer sehr schmackhaften Bremer Marke namens Maria Mancini, von der noch die Rede sein wird, und deren wurzige Gifte sich so befriedigend mit denen des Kaffees vereinigten. Hans Castorp entzog seine Tabakvorrate den schadlichen Einflussen der Dampfheizung, indem er sie im Keller aufbewahrte, wohin er jeden Morgen hinabstieg, um seinem Etui den Tagesbedarf einzuverleiben. Nur widerstrebend hatte er Butter gegessen, die ihm in einem Stuckund nicht vielmehr in Form geriefelter Kugelchen vorgesetzt worden ware.

Man sieht, da? wir darauf denken, alles zu sagen, was fur ihn einnehmen kann, aber wir beurteilen ihn ohne Uberschwang und machen ihn weder besser noch schlechter, als er war. Hans Castorp war weder ein Genie noch ein Dummkopf, und wenn wir das Wort "mittelma?ig" zu seiner Kennzeichnung vermeiden, so geschieht es aus Grunden, die nicht mit seiner Intelligenz und kaum etwas mit seiner schlichten Person uberhaupt zu tun haben, namlich aus Achtung vor seinem Schicksal, dem wir eine gewisse uberpersonliche Bedeutung zuzuschreiben geneigt sind. Sein Kopf genugte den Anforderungen des Realgymnasiums, ohne sich uberanstrengen zu mussen, - aber dies zu tun, ware er auch ganz bestimmt unter keinen Umstanden und um

keines Gegenstandes willen geneigt gewesen: weniger aus Furcht, sich weh zu tun, als weil er unbedingt keinen Grund dazu sah oder, richtiger gesagt: keinen unbedingten Grund; und eben darum vielleicht mogen wir ihn nicht mittelma?ig nennen, weil er das Fehlen solcher Grunde auf irgendeine Weise empfand.

Der Mensch lebt nicht nur sein personliches Leben als Einzelwesen, sondern, bewu?t oder unbewu?t, auch das seiner Epoche und Zeitgenossenschaft, und sollte er die allgemeinen und unpersonlichen Grundlagen seiner Existenz auch als unbedingt gegeben und selbstverstandlich betrachten und von dem Einfall, Kritik daran zu uben, so weit entfernt sein, wie der gute Hans Castorp es wirklich war, so ist doch sehr wohl moglich, da? er sein sittliches Wohlbefinden durch ihre Mangel vage beeintrachtigt fuhlt. Dem einzelnen Menschen mogen mancherlei personliche Ziele, Zwecke, Hoffnungen, Aussichten vor Augen schweben, aus denen er den Impuls zu hoher Anstrengung und Tatigkeit schopft; wenn das Unpersonliche um ihn her, die Zeit selbst der Hoffnungen und Aussichten bei aller au?eren Regsamkeit im Grunde entbehrt, wenn sie sich ihm als hoffnungslos, aussichtslos und ratlos heimlich zu erkennen gibt und der bewu?t oder unbewu?t gestellten, aber doch irgendwie gestellten Frage nach einem letzten, mehr als personlichen, unbedingten Sinn aller Anstrengung und Tatigkeit ein hohles Schweigen entgegensetzt, so wird gerade in Fallen redlicheren Menschentums eine gewisse lahmende Wirkung solches Sachverhalts fast unausbleiblich sein, die sich auf dem Wege uber das Seelisch-Sittliche geradezu auf das physische und organische Teil des Individuums erstrecken mag. Zu bedeutender, das Ma? des schlechthin Gebotenen uberschreitender Leistung aufgelegt zu sein, ohne da? die Zeit auf die Frage Wozu? eine befriedigende Antwort wu?te, dazu gehort entweder eine sittliche Einsamkeit und Unmittelbarkeit, die selten vorkommt und heroischer Natur ist, oder eine sehr robuste Vitalitat. Weder das eine noch das andere war Hans Castorps Fall, und so war er denn doch wohl mittelma?ig, wenn auch in einem recht ehrenwerten Sinn.

Wir haben hier nicht nur von des jungen Mannes innerem Verhalten wahrend seinerSchulzeit, sondern auch von den darauffolgenden Jahren gesprochen, als er seinen burgerlichen Beruf schon gewahlt hatte. Was seine Laufbahn durch die Klassen betraf, so mu?te er die eine und andere davon sogar repetieren. Im ganzen aber halfen seine Herkunft, die Urbanitat seiner Sitten und schlie?lich auch eine hubsche, wenn auch

leidenschaftslose Begabung fur Mathematik ihm vorwarts, und als er das Einjahrigenzeugnis hatte, beschlo? er, die Schule durchzumachen, - hauptsachlich, die Wahrheit zu sagen, weil damit ein gewohnter, vorlaufiger und unentschiedener Zustand verlangert und Zeit zu der Uberlegung gewonnen wurde, was denn Hans Castorp am liebsten werden wollte, denn das wu?te er lange nicht recht, wu?te es auch in der obersten Klasse noch nicht, und als es sich dann entschied(da? namlich er sich entschieden hatte, ware beinah schon zu viel gesagt), fuhlte er wohl, da? es sich ebensogut anders hatte entscheiden konnen.

Aber so viel war ja richtig, da? er an Schiffen immer gro?es Vergnugen gehabt hatte. Als kleiner Junge hatte er die Blatter seiner Notizbucher mit Bleistiftzeichnungen von Fischerkuttern, Gemuseevern und Funfmastern gefullt, und als er mit funfzehn Jahren von einem bevorzugten Platze aus hatte zusehen durfen, wie der neue Doppelschrauben-Postdampfer "Hansa" bei Blohm & Vo? vom Stapel lief, da hatte er in Wasserfarben ein wohlgetroffenes und bis weit ins Einzelne genaues Bildnis des schlanken Schiffes ausgefuhrt, das Konsul Tienappel in sein Privatkontor gehangt hatte, und auf dem namentlich das transparente Glasgrun der rollenden See so liebevoll und geschickt behandelt war, da? irgend jemand zu Konsul Tienappel gesagt hatte, das sei Talent, und daraus konne ein guter Marinemaler werden, - eine Au?erung, die der Konsul seinem Pflegesohn ruhig wiedererzahlen konnte, denn Hans Castorp lachte blo? gutmutig daruber und lie? sich auf Uberspanntheiten und Hungerleiderideen auch nicht einen Augenblick ein.

"Viel hast du nicht", sagte sein Onkel Tienappel manchmal zu ihm. "Mein Geld bekommen im wesentlichen mal James und Peter, das hei?t, es bleibt im Geschaft, und Peter bezieht seine Rente. Was dir gehort, liegt ja ganz gut und tragt dir was Sicheres. Aber von Zinsen zu leben, dabei ist heutzutage kein Spa? mehr, wenn man nicht wenigstens funfmal so viel hat, wie du, und wenn du was vorstellen willst hier in der Stadt und leben wie du's gewohnt bist, dann mu?t du ordentlich zuverdienen, das merk' du lieber, min Sohn."

Hans Castorp merkte es sich und sah sich nach einem Berufe um, mit dem er vor sich selbst und den Leuten bestehen konnte. Und als er einmal gewahlt hatte - es geschah auf Anregung des alten Wilms, in Firma Tunder & Wilms, der namlich am sonnabendlichen Whisttisch zu Konsul Tienappel sagte, Hans Castorp solle doch Schiffbau studieren, das

sei eine Idee, undbei ihm eintreten, dann wolle er wohl auf den Jungen ein Auge haben -, da dachte er sehr hoch von seinem Beruf und fand, da? es zwar ein verdammt komplizierter und anstrengender, dafur aber auch ein ausgezeichneter, wichtiger und gro?artiger Beruf sei und fur seine friedliche Person jedenfalls bei weitem dem seines Vetters Ziem?en vorzuziehen, Stiefschwestersohns seiner seligen Mutter, der durchaus Offizier werden wollte. Dabei war Joachim Ziem?en nicht mal ganz fest auf der Brust, aber eben darum mochte ein Freiluft-Beruf, bei dem von geistiger Arbeit und Anspannung kaum ernstlich die Rede sein konnte, denn wohl das richtige fur ihn sein, wie Hans Castorp mit leichter Geringschatzung urteilte. Denn vor der Arbeit hatte er den allergro?ten Respekt, obwohl ihn personlich die Arbeit ja leicht ermudete.

Wir kommen hier auf unsere Andeutungen von fruher zuruck, die namlich auf die Vermutung zielten, da? Beeintrachtigungen des personlichen Lebens durch die Zeit geradezu den physischen Organismus des Menschen zu beeinflussen vermochten. Wie hatte Hans Castorp die Arbeit nicht achten sollen? Es ware unnaturlich gewesen. Wie alles lag, mu?te sie ihm als das unbedingt Achtungswertste gelten, es gab im Grunde nichts Achtenswertes au?er ihr, sie war das Prinzip, vor dem man bestand oder nicht bestand, das Absolutum der Zeit, sie beantwortete sozusagen sich selbst. Seine Achtung vor ihr war also religioser und, so viel er wu?te, unzweifelhafter Natur. Aber eine andere Frage war, ob er sie liebte; denn das konnte er nicht, so sehr er sie achtete, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie ihm nicht bekam. Angestrengte Arbeit zerrte an seinen Nerven, sie erschopfte ihn bald, und ganz offen gab er zu, da? er eigentlich viel mehr die freie Zeit liebe, die unbeschwerte, an der nicht die Bleigewichte der Muhsal hingen, die Zeit, die offen vor einem gelegen hatte, nicht abgeteilt von zahneknirschend zu uberwindenden Hindernissen. Dieser Widerstreit in seinem Verhaltnis zur Arbeit bedurfte genau genommen der Auflosung. War es moglicherweise so, da? sein Korper sowohl wie sein Geist - zuerst der Geist und durch ihn auch der Korper - zur Arbeit freudiger und nachhaltiger willig gewesen ware, wenn er im Grunde seiner Seele, dort, wo er selbst nicht Bescheid wu?te, an die Arbeit als unbedingten Wert und sich selbst beantwortendes Prinzip zu glauben und sich dabei zu beruhigen vermocht hatte? Es wird damit wieder die Frage seiner Mittelma?igkeit oder Mehr-als-Mittelma?igkeit aufgeworfen, die wir nicht bundig beantworten wollen. Denn wir betrachten uns nicht als Hans Castorps Lobredner und lassen der Vermutung Raum, da? die Arbeit in

seinem Leben einfach dem ungetrubten Genu? von Maria Mancini etwas im Wege war. -

Zum militarischen Dienst wurde er seinerseits nicht herangezogen. Seine innere Natur widerstrebte demund wu?te es zu verhindern. Auch mochte wohl sein, da? Stabsarzt Dr. Eberding, der am Harvestehuder Weg verkehrte, von Konsul Tienappel gesprachsweise gehort hatte, da? der junge Castorp in der Notigung sich zu bewaffnen eine empfindliche Storung seiner soeben auswarts begonnenen Studien erblicken wurde.

Sein Kopf, der langsam und gelassen arbeitete, zumal Hans Castorp die beruhigende Gewohnheit des Porterfruhstucks auch auswarts beibehielt, fullte sich mit analytischer Geometrie, Differentialrechnung, Mechanik, Projektionslehre und Graphostatik, er berechnete geladenes und ungeladenes Deplacement, Stabilitat, Trimmverlagerung und Metazentrum, wenn es ihm zuweilen auch sauer wurde. Seine technischen Zeichnungen, diese Spanten-, Wasserlinien- und Langsrisse, waren nicht ganz so gut, wie seine malerische Darstellung der "Hansa" auf hoher See, aber wo es galt, die geistige Anschaulichkeit durch die sinnliche zu unterstutzen, Schatten zu tuschen und Querschnitte in munteren Materialfarben anzulegen, tat Hans Castorp es an Geschicklichkeit den meisten zuvor.

Wenn er in den Ferien nach Hause kam, sehr sauber, sehr gut angezogen, mit einem kleinen rotblonden Schnurrbart in seinem schlafrigen jungen Patriziergesicht und offenbar auf dem Wege zu ansehnlichen Lebensstellungen, so sahen die Leute, die sich mit kommunalen Dingen befa?ten, auch mit Familien- und Personalverhaltnissen gut Bescheid wu?ten - und das tun die meisten in einem sich selbst regierenden Stadtstaat -, so sahen seine Mitburger ihn prufend an, indem sie sich fragten, in welche offentliche Rolle der junge Castorp wohl einmal hineinwachsen werde. Er hatte ja Uberlieferungen, sein Name war alt und gut, und eines Tages, das konnte beinahe nicht fehlen, wurde man mit seiner Person als mit einem politischen Faktor zu rechnen haben. Er wurde dann in der Burgerschaft oder dem Burgerausschu? sitzen und Gesetze machen, wurde im Ehrenamt an den Sorgen der Souveranitat teilnehmen, einer Verwaltungsabteilung, der Finanzdeputation vielleicht oder der fur das Bauwesen angehoren, und seine Stimme wurde gehort und mitgezahlt werden. Man konnte neugierig sein, wie er wohl einmal Partei bekennen wurde, der junge Castorp. Au?erlichkeiten mochten tauschen, aber eigentlich sah er ganz

so aus, wie man nicht aussah, wenn die Demokraten auf einen rechnen konnten, und die Ahnlichkeit mit dem Gro?vater war unverkennbar. Vielleicht wurde er ihm nacharten, ein Hemmschuh werden, ein konservatives Element? Das war wohl moglich - und ebensowohl auch das Gegenteil. Denn schlie?lich war er ja Ingenieur, ein angehender Schiffbaumeister, ein Mann des Weltverkehrs und der Technik. Da konnte es sein, da? Hans Castorp unter die Radikalen ging, ein Draufganger wurde, ein profaner Zerstorer alter Gebaude und landschaftlicher Schonheiten, ungebunden wie ein Jude und pietatlos wie ein Amerikaner, geneigt, den rucksichtslosen Bruch mit wurdig Uberliefertem einer bedachtigen Ausbildung naturlicher Lebensbedingungen vorzuziehen und den Staat in wagehalsige Experimente zu sturzen, - das war auch denkbar. Wurde er es im Blute haben, da? Ihre Wohlweisheiten, vor denender Doppelposten am Rathaus prasentierte, alles am besten wu?ten, oder wurde er die Opposition in der Burgerschaft zu unterstutzen gestimmt sein? In seinen blauen Augen unter den rotlich blonden Brauen war keine Antwort auf solche Fragen mitburgerlicher Neugier zu lesen, und er wu?te auch wohl noch gar keine, Hans Castorp, dies unbeschriebene Blatt.

Als er die Reise antrat, auf der wir ihn betrafen, stand er im dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Damals hatte er vier Semester Studienzeit am Danziger Polytechnikum hinter sich und vier weitere, die er auf den Technischen Hochschulen von Braunschweig und Karlsruhe verbracht hatte, war kurzlich ohne Glanz und Orchestertusch, aber mit gutem Anstande aus der ersten Hauptprufung gestiegen und schickte sich an, bei Tunder & Wilms als Ingenieur-Volontar einzutreten, um auf der Werft seine praktische Ausbildung zu empfangen. An diesem Punkt nahm sein Weg nun erst einmal folgende Wendung.

Zur Hauptprufung hatte er scharf und anhaltend arbeiten mussen und sah, als er heimkam, denn doch noch matter aus, als es zu seinem Typus pa?te. Dr. Heidekind schalt, so oft er ihn sah, und forderte Luftveranderung, das hei?t: eine grundliche. Mit Norderney oder Wyk auf Fohr, sagte er, sei es dieses Mal nicht getan, und wenn man ihn frage, so gehorte Hans Castorp, bevor er auf die Werft gehe, fur ein paar Wochen ins Hochgebirge.

Das sei ganz gut, sagte Konsul Tienappel zu seinem Neffen und Pflegesohn, aber dann trennten sich diesen Sommer ihre Wege, denn ihn, Konsul Tienappel, bekamen ins Hochgebirge keine vier Pferde. Das

sei nichts fur ihn, er brauche einen vernunftigen Luftdruck, sonst kriege er Zufalle. Ins Hochgebirge solle Hans Castorp nur freundlichst alleine reisen. Er solle doch Joachim Ziem?en besuchen.

Das war ein naturlicher Vorschlag. Joachim Ziem?en namlich war krank, - nicht krank wie Hans Castorp, sondern auf wirklich mi?liche Weise krank, es war sogar ein gro?er Schrecken gewesen. Schon immer hatte er zu Katarrh und Fieber geneigt, und eines Tages war richtig auch roter Auswurf dagewesen, und Hals uber Kopf hatte Joachim nach Davos gehen mussen, zu seinem gro?ten Leidwesen und Kummer, denn eben stand er am Ziel seiner Wunsche. Ein paar Semester lang hatte er nach dem Willen der Seinen Jurisprudenz studiert, aber aus unwiderstehlichem Drange hatte er umgesattelt und sich als Fahnenjunker gemeldet und war auch schon angenommen. Und nun sa? er seit uber funf Monaten im Internationalen Sanatorium "Berghof"(dirigierender Arzt: Hofrat Dr. Behrens) und langweilte sich halb zu Tode, wie er auf Postkarten schrieb. Wenn also Hans Castorp denn schon eine Kleinigkeit fur sich tun wollte, bevor er bei Tunder & Wilms seinen Posten antrat, so lag nichts naher, als da? er auch dort hinauf fuhr, um seinem armen Cousin Gesellschaft zu leisten,- fur beide Teile war es das angenehmste.

Es war hoher Sommer geworden, als er sich zu der Reise entschlo?. Die letzten Juli-Tage waren schon da.

Er fuhr auf drei Wochen.

Drittes Kapitel

Ehrbare Verfinsterung

Hans Castorp hatte gefurchtet, die Zeit zu verschlafen, da er so uberaus mude gewesen war, aber er war fruher als notig auf den Beinen und hatte Mu?e im Uberflu?, seinen Morgengewohnheiten ausfuhrlich nachzukommen, hochzivilisierten Gewohnheiten, unter denen eine Gummiwanne sowie eine Holzschale mit gruner Lavendelseife nebst zugehorigem Strohpinsel eine Hauptrolle spielten, - und mit den Geschaften der Sauberung und der Korperpflege das andere des Auspackens und Einraumens zu verbinden. Wahrend er den versilberten Hobel uber seine mit parfumiertem Schaum bedeckten Wangen fuhrte, erinnerte er sich seiner verworrenen Traume und schuttelte nachsichtig

lachelnd, mit dem Uberlegenheitsgefuhl des im Tageslicht der Vernunft sich rasierenden Menschen den Kopf uber so viel Unsinn. Sehr ausgeruht fuhlte er sich eben nicht, aber frisch mit dem jungen Tage.

Indes er sich die Hande trocknete, trat er mit gepuderten Backen, in seiner file d'ecosse-Unterhose und roten Saffian-Pantoffeln auf den Balkon hinaus, der durchlief und nur vermittelst undurchsichtiger, nicht ganz bis zum Gelander vortretender Glaswande in einzelne Zimmerbereiche geteilt war. Der Morgen war kuhl und wolkig. Gestreckte Nebelbanke lagen unbeweglich vor den seitlichen Hohen, wahrend massiges Gewolk, wei?es und graues, auf das fernere Gebirge niederhing. Flecken und Streifen von Himmelsblau waren hie und da sichtbar, und wenn ein Sonnenblick einfiel, schimmerte die Ortschaft im Talgrunde wei? gegen die dunklen Fichtenwalder der Hange. Irgendwo gab es Morgenmusik, wahrscheinlich in demselben Hotel, wo man auch gestern abend Konzert gehabt hatte. Choral-Akkorde klangen gedampft heruber, nach einer Pause folgte ein Marsch, und Hans Castorp, der Musik von Herzen liebte, da sie ganz ahnlich auf ihn wirkte, wie sein Fruhstucksporter, namlich tief beruhigend, betaubend, zum Dosen uberredend, lauschte wohlgefallig, den Kopf auf die Seite geneigt, mit offenem Munde und etwas geroteten Augen.

Drunten schlang sich die Wegschleife zum Sanatorium herauf, die er gestern abend gekommen war. Kurzstieliger, sternformiger Enzian stand im feuchten Grase des Abhangs. Ein Teil der Plattform war als Garten eingezaunt; dort gab es Kieswege, Blumenrabatten und eine kunstliche Felsengrotte zu Fu?en einer stattlichen Edeltanne. Eine mit Blech gedeckte Halle, in der Liegestuhle standen, offnete sich gegen Suden, und daneben war eine rotbraun gestrichene Flaggenstange aufgerichtet, an deren Schnur zuweilen das Fahnentuch sich entfaltete, - eine Phantasiefahne, grun und wei?, mit dem Emblem der Heilkunde, einem Schlangenstab, in der Mitte.

Eine Frau ging im Garten umher, eine altere Dame von dusterem, ja tragischem Aussehen. Vollstandig schwarz gekleidet und um das wirre schwarzgraue Haar einen schwarzen Schleier gewunden, wanderte sie ruhelos und gleichma?ig rasch, mit krummen Knien und steif nach vorn hangenden Armen auf den Pfadendahin und blickte, Querfalten in der Stirn, mit kohlschwarzen Augen, unter denen schlaffe Hautsacke hingen, starr von unten geradeaus. Ihr alterndes, sudlich blasses Gesicht mit dem gro?en, verharmten, einseitig abwarts gezogenen Mund erinnerte

Hans Castorp an das Bild einer beruhmten Tragodin, das ihm einmal zu Gesichte gekommen, und unheimlich war es zu sehen, wie die schwarzbleiche Frau, offenbar ohne es zu wissen, ihre langen, gramvollen Tritte dem Takt der heruberklingenden Marschmusik anpa?te.

Nachdenklich teilnehmend blickte Hans Castorp auf sie hinab, und ihm war, als verdunkele ihre traurige Erscheinung die Morgensonne. Gleichzeitig aber fa?te er noch etwas anderes auf, etwas Horbares, Gerausche, die aus dem Nachbarzimmer zur Linken, dem Zimmer des russischen Ehepaars, nach Joachims Angabe, kamen und gleichfalls nicht zu dem heiteren, frischen Morgen passen wollten, sondern ihn irgendwie klebrig zu verunreinigen schienen. Hans Castorp erinnerte sich, da? er schon gestern abend dergleichen vernommen, doch hatte seine Mudigkeit ihn gehindert, darauf zu achten. Es war ein Ringen, Kichern und Keuchen, dessen ansto?iges Wesen dem jungen Mann nicht lange verborgen bleiben konnte, obgleich er sich anfangs aus Gutmutigkeit bemuhte, es harmlos zu deuten. Man hatte dieser Gutmutigkeit auch andere Namen geben konnen, zum Beispiel den etwas faden der Seelenreinheit, oder den ernsten und schonen der Schamhaftigkeit, oder die herabsetzenden Namen der Wahrheitsunlust und der Duckmauserei, oder selbst den einer mystischen Scheu und Frommigkeit, - von alledem war etwas in Hans Castorps Verhalten zu den Gerauschen nebenan, und physiognomisch druckte es sich aus in einer ehrbaren Verfinsterung seiner Miene, so, als durfe und wolle er von dem, was er da horte, nichts wissen: einem Ausdruck von Sittsamkeit, der nicht ganz originell war, den er aber bei bestimmten Gelegenheiten anzunehmen pflegte.

Mit dieser Miene also zog er sich von dem Balkon ins Zimmer zuruck, um nicht langer Vorgange zu belauschen, die ihm ernst, ja erschutternd schienen, obgleich sie sich unter Gekicher kundtaten. Aber im Zimmer war das Treiben jenseits der Wand nur noch deutlicher zu horen. Es war eine Jagd um die Mobel herum, wie es schien, ein Stuhl polterte hin, man ergriff einander, es gab ein Klatschen und Kussen, und hierzu kam, da? es nun Walzerklange waren, die verbraucht melodiosen Phrasen eines Gassenhauers, die von au?en und fernher die unsichtbare Szene begleiteten. Hans Castorp stand, das Handtuch in Handen, und horchte wider besseren Willen. Und plotzlich errotete er unter seinem Puder, denn was er deutlich hatte kommen sehen, war gekommen und das Spiel nun ohne allen Zweifel ins Tierische ubergegangen. Herrgott, Donnerwetter! dachte er, indem er sich abwandte, um mit absichtlich

gerauschvollen Bewegungen seine Toilette zu beenden. Nun, es sind Eheleute, in Gottes Namen, soweit ist die Sache in Ordnung. Aber am hellen Morgen,das ist doch stark. Und mir ist ganz, als hatten sie schon gestern abend keinen Frieden gehalten. Schlie?lich sind sie doch krank, da sie hier sind, oder wenigstens einer von ihnen, da ware etwas Schonung am Platze. Aber das eigentlich Skandalose ist selbstverstandlich, dachte er zornig, da? die Wande so dunn sind und man alles so deutlich hort, das ist doch ein unhaltbarer Zustand! Billig gebaut naturlich, schandlich billig gebaut! Ob ich die Leute nachher zu sehen bekomme oder ihnen gar vorgestellt werde? Das ware im hochsten Grade peinlich. Und hier wunderte sich Hans Castorp, denn er bemerkte, da? die Rote, die ihm vorhin in die frisch rasierten Wangen gestiegen war, nicht daraus weichen wollte, oder doch nicht das Warmegefuhl, wovon sie begleitet gewesen, sondern fix darin stand und nichts anderes als jene trockene Gesichtshitze war, an der er gestern abend gelitten, deren er im Schlafe ledig geworden, und die bei dieser Gelegenheit sich wieder eingestellt hatte. Das stimmte ihn nicht freundlicher gegen die benachbarten Eheleute, vielmehr murmelte er mit vorgeschobenen Lippen ein sehr absprechendes Wort gegen sie und beging dann den Fehler, sein Gesicht nochmals mit Wasser zu kuhlen, was das Ubel bedeutend verschlimmerte. So geschah es, da? seine Stimme mi?mutig schwankte, als er seinem Vetter antwortete, der ihm zurufend an die Wand geklopft hatte, und da? er bei Joachims Eintritt nicht eben den Eindruck eines erfrischten und morgenfrohen Menschen machte.

Fruhstuck

"Tag", sagte Joachim. "Das war ja nun deine erste Nacht hier oben. Bist du zufrieden?"

Er war fertig zum Ausgehen, sportlich gekleidet, in kraftig gearbeiteten Stiefeln, und trug uber dem Arm seinen Ulster, in dessen Seitentasche sich die flache Flasche abzeichnete. Einen Hut hatte er auch heute nicht.

"Danke," erwiderte Hans Castorp, "es geht. Ich will weiter nicht urteilen. Etwas konfus getraumt habe ich, und dann hat das Haus ja den Nachteil, da? es sehr hellhorig ist, das ist etwas lastig. Wer ist denn die Schwarze da drau?en im Garten?"

Joachim wu?te sogleich, wer gemeint war.

"Ach, das ist 'Tous-les-deux'", sagte er. "So wird sie allgemein genannt hier von uns, denn das ist das einzige, was man von ihr zu horen bekommt. Mexikanerin, wei?t du, kann kein Wort deutsch und auch franzosisch fast gar nicht, nur ein paar Brocken. Sie ist seit funf Wochen hier bei ihrem altesten Sohn, einem vollstandig hoffnungslosen Fall, der jetzt ziemlich rasch eingehen wird, - er hat es schon uberall, durch und durch vergiftet ist er, kann man wohl sagen, das sieht dann zuletzt ungefahr wie Typhus aus, sagt Behrens, - scheu?lich fur alle Beteiligten jedenfalls. Vor vierzehn Tagen kam nun der zweite Sohn herauf, weil er den Bruder noch sehen wollte -, bildhubscherKerl ubrigens, wie auch der andere, - beide sind bildhubsche Kerle, so glutaugig, die Damen waren ganz aus dem Hauschen. Na, der jungere hatte unten ja wohl schon ein bi?chen gehustet, war aber sonst ganz munter gewesen. Und kaum ist er hier, was meinst du, kriegt er Temperatur, - aber gleich 39,5, hochstes Fieber, verstehst du, legt sich ins Bett, und wenn er noch aufkommt, sagt Behrens, dann hat er mehr Gluck als Verstand. Jedenfalls sei es die hochste Zeit gewesen, sagt er, da? er heraufkam ... Ja, und seitdem geht die Mutter nun so herum, wenn sie nicht bei ihnen sitzt, und wenn man sie anspricht, sagt sie immer nur 'Tous les deux!' denn mehr kann sie nicht sagen, und hier ist im Augenblick niemand, der spanisch versteht."

"So ist es also mit der", sagte Hans Castorp. "Ob sie es wohl auch zu mir sagen wird, wenn ich sie kennenlerne? Das ware doch sonderbar, - ich meine, es ware komisch und unheimlich zu gleicher Zeit", sagte er, und seine Augen waren wie gestern: sie schienen ihm hei? und schwer, als habe er lange geweint, und jenen Glanz hatten sie wieder, den der neuartige Husten des Herrenreiters darin entzundet. Uberhaupt kam es ihm vor, als habe er jetzt erst den Anschlu? ans Gestrige gefunden, als sei er gleichsam wieder im Bilde, was nach seinem Erwachen zunachst so recht nicht der Fall gewesen war. Er sei ubrigens fertig, erklarte er, indem er etwas Lavendelwasser auf sein Taschentuch traufelte und sich die Stirn und die Gegend unter den Augen damit betupfte. "Wenn es dir recht ist, konnen wir tous les deux zum Fruhstuck gehen", scherzte er mit einem Gefuhl von ausschweifendem Ubermut, worauf Joachim ihn sanft anblickte und eigentumlich dazu lachelte, melancholisch und etwas spottisch, wie es schien, - warum, das war seine Sache.

Nachdem Hans Castorp sich uberzeugt, da? er zu rauchen bei sich habe, nahm er Stock, Mantel und Hut, auch diesen, trotzigerweise, denn er war seiner Lebensform und Gesittung allzu gewi?, um sich so leicht

und auf blo?e drei Wochen fremden und neuen Gebrauchen zu fugen -, und so gingen sie denn, gingen die Treppen hinab, und auf den Korridoren wies Joachim auf diese und jene Tur und nannte die Namen der Inwohner, deutsche Namen und solche von allerlei fremdem Klang, indem er kurze Anmerkungen uber ihren Charakter und die Schwere ihres Falles hinzufugte.

Sie begegneten auch Personen, die schon vom Fruhstuck zuruckkehrten, und wenn Joachim jemandem Guten Morgen sagte, luftete Hans Castorp hoflich den Hut. Er war gespannt und nervos wie ein junger Mensch, der im Begriffe ist, sich vielen fremden Leuten zu prasentieren und der dabeivon dem deutlichen Gefuhl geplagt ist, trube Augen und ein rotes Gesicht zu haben, was ubrigens nur teilweise zutraf, denn er war vielmehr bla?.

"Ehe ich es vergesse!" sagte er plotzlich mit einem gewissen blinden Eifer. "Du kannst mich gern der Dame im Garten vorstellen, wenn es sich gerade so macht, dagegen habe ich nichts. Sie soll nur immerhin 'tous les deux' zu mir sagen, das macht mir gar nichts, ich bin ja vorbereitet und verstehe den Sinn und werde schon das richtige Gesicht dazu machen. Aber mit dem russischen Ehepaar wunsche ich nicht bekanntzuwerden, horst du? Das will ich ausdrucklich nicht. Es sind uberaus unmanierliche Leute, und wenn ich schon drei Wochen lang neben ihnen wohnen soll und es nicht anders einzurichten war, so will ich sie doch nicht kennen, das ist mein gutes Recht, da? ich mir das mit aller Bestimmtheit verbitte ..."

"Schon", sagte Joachim. "Haben sie dich denn so gestort? Ja, es sind gewisserma?en Barbaren, unzivilisiert mit einem Wort, ich hab es dir ja im voraus gesagt. Er kommt immer in einer Lederjoppe zum Essen, - abgeschabt sage ich dir, mich wundert immer, da? Behrens nicht dagegen einschreitet. Und sie ist auch nicht die Propperste, trotz ihrem Federhut ... Ubrigens kannst du ganz unbesorgt sein, sie sitzen weit von uns fort, am Schlechten Russentisch, denn es gibt einen Guten Russentisch, wo nur feinere Russen sitzen -, und es ist kaum eine Moglichkeit, da? du mit ihnen zusammentriffst, selbst wenn du wolltest. Es ist uberhaupt nicht leicht, Bekanntschaften zu machen, schon weil so viele Auslander unter den Gasten sind, und ich selbst kenne personlich nur wenige, so lange ich hier bin."

"Wer ist denn krank von den beiden?" fragte Hans Castorp. "Er oder sie?"

"Er, glaube ich. Ja, nur er", sagte Joachim merklich zerstreut, wahrend sie an den Garderobestandern vorm Speisesaal ablegten. Und dann traten sie ein in den hellen, flachgewolbten Raum, wo Stimmen schwirrten, Gerat klapperte und die Saaltochter mit dampfenden Kannen umhereilten.

Sieben Tische standen im Speisesaal, die meisten in Langsrichtung, nur zwei in die Quere. Es waren gro?ere Tafeln, fur zehn Personen jede, wenn auch die Gedecke nicht uberall vollzahlig waren. Nur ein paar Schritte schrag in den Saal hinein, und Hans Castorp war schon an seinem Platz: er war ihm an der Schmalseite des Tisches bereitet, der mitten vorn stand, zwischen den beiden querstehenden. Aufrecht hinter seinem Stuhle, verbeugte Hans Castorp sich steif und freundlich gegen die Tischgenossen, mit denen Joachim ihn zeremoniell bekannt machte, und die er kaum sah, geschweige, da? ihm ihre Namen ins Bewu?tsein gedrungen waren. Einzig Frau Stohrs Person und Namen fa?te er auf, und da? sie ein rotes Gesichtund fettige aschblonde Haare hatte. Man konnte ihr die Bildungsschnitzer wohl zutrauen, so storrisch unwissend war ihr Gesichtsausdruck. Dann setzte er sich und nahm beifallig wahr, da? man das erste Fruhstuck hier als eine ernste Mahlzeit behandelte.

Es gab da Topfe mit Marmeladen und Honig, Schusseln mit Milchreis und Haferbrei, Platten mit Ruhrei und kaltem Fleisch; Butter war freigebig aufgestellt, jemand luftete die Glasglocke uber einem tranenden Schweizer Kase, um davon abzuschneiden, und eine Schale mit frischem und trockenem Obst stand obendrein in der Mitte des Tisches. Eine Saaltochter in Schwarz und Wei? fragte Hans Castorp, was er zu trinken wunsche: Kakao, Kaffee oder Tee. Sie war klein wie ein Kind, mit einem alten, langen Gesicht, - eine Zwergin, wie er mit Schrecken erkannte. Er sah seinen Vetter an, aber da dieser nur gleichmutig mit Schultern und Brauen zuckte, als wollte er sagen: "Ja, nun, was weiter?" so fugte er sich in die Tatsachen, bat mit besonderer Hoflichkeit um Tee, da es eine Zwergin war, die ihn fragte, und begann Milchreis mit Zimt und Zucker zu essen, wahrend seine Augen uber die anderen Speisen hingingen, von denen zu kosten ihn verlangte, und uber die Gasteschaft an den sieben Tischen, Joachims Kollegen und Schicksalsgenossen, die alle innerlich krank waren und schwatzend fruhstuckten.

Der Saal war in jenem neuzeitlichen Geschmack gehalten, welcher der sachlichsten Einfachheit einen gewissen phantastischen Einschlag zu

geben wei?. Er war nicht sehr tief im Verhaltnis zu seiner Lange und von einer Art Wandelgang umlaufen, in dem Anrichten standen und der sich in gro?en Bogen gegen den Innenraum mit den Tischen offnete. Die Pfeiler, bis zu halber Hohe mit Holz in Sandelpolitur bekleidet, dann glatt gewei?t, wie der obere Teil der Wande und die Decke, wiesen buntfarbige Bandstreifen auf, einfaltige und lustige Schablonen, die sich an den weitgespannten Gurten des flachen Gewolbes fortsetzten. Mehrere Kronenleuchter, elektrisch, aus blankem Messing, schmuckten den Saal, bestehend aus je drei ubereinander gelagerten Reifen, welche mit zierlichem Flechtwerk verbunden waren und an deren unterstem wie kleine Monde Milchglasglocken im Kreise gingen. Es waren vier Glasturen da, - an der entgegengesetzten Breitseite zwei, die hinaus auf eine vorgelagerte Veranda gingen, eine dritte vorn links, die geradeswegs in die vordere Halle fuhrte, und dann jene, durch die Hans Castorp von einem Flur aus eingetreten war, da Joachim ihn eine andere Treppe hinabgefuhrt hatte, als gestern abend.

Er hatte zur Rechten ein unansehnliches Wesen in Schwarz mit flaumigem Teint und matt erhitzten Backen, in der er etwas wie eine Nahterin oder Hausschneiderin sah, wohl auch weil sie ausschlie?lich Kaffee mit Buttersemmeln fruhstuckte und weil er die Vorstellung einer Hausschneiderin von jeher mit derjenigen von Kaffee und Buttersemmeln verbundenhatte. Zur Linken sa? ihm ein englisches Fraulein, schon angejahrt gleichfalls, sehr ha?lich, mit durren, verfrorenen Fingern, die rundlich geschriebene Briefe aus der Heimat las und einen blutfarbenen Tee dazu trank. Neben ihr folgte Joachim und dann Frau Stohr in einer schottischen Wollbluse. Die linke Hand hielt sie geballt in der Nahe ihrer Wange, wahrend sie speiste, und bemuhte sich sichtlich, beim Sprechen eine feingebildete Miene zu machen, indem sie die Oberlippe von ihren schmalen und langen Hasenzahnen zuruckzog. Ein junger Mann mit dunnem Schnurrbart und einem Gesichtsausdruck, als habe er etwas Schlechtschmeckendes im Munde, setzte sich neben sie und fruhstuckte vollstandig schweigend. Er kam herein, als Hans Castorp schon sa?, senkte im Gehen und ohne jemanden anzublicken einmal zum Gru?e das Kinn auf die Brust und nahm Platz, indem er es durch sein Verhalten rundweg ablehnte, sich mit dem neuen Gaste bekannt machen zu lassen. Vielleicht war er zu krank, um fur solche Au?erlichkeiten noch Sinn und Achtung zu haben oder uberhaupt an seiner Umgebung Interesse zu nehmen. Einen Augenblick sa? ihm gegenuber ein au?erordentlich mageres, hellblondes junges Madchen, das eine

Flasche Yoghurt auf seinen Teller entleerte, die Milchspeise aufloffelte und sich unverzuglich wieder entfernte.

Die Unterhaltung am Tisch war nicht lebhaft. Joachim plauderte formell mit Frau Stohr, er erkundigte sich nach ihrem Befinden und vernahm mit korrektem Bedauern, da? es zu wunschen ubrig lasse. Sie klagte uber "Schlaffheit". "Ich bin so schlaff!" sagte sie gedehnt und zierte sich auf ungebildete Weise. Auch habe sie beim Aufstehen schon 37,3 gehabt, und wie werde es da erst nachmittags sein. Die Hausschneiderin bekannte sich zu derselben Korpertemperatur, erklarte aber, da? sie sich im Gegenteil aufgeregt fuhle, innerlich gespannt und rastlos, so, als stande ihr etwas Besonderes und Entscheidendes bevor, was doch gar nicht der Fall sei, sondern es sei eine korperliche Erregung ohne seelische Ursachen. Sie war doch wohl keine Hausschneiderin, denn sie sprach sehr richtig und fast gelehrt. Ubrigens fand Hans Castorp diese Aufgeregtheit oder doch die Au?erung davon irgendwie unangemessen, ja fast ansto?ig bei einem so unscheinbaren und geringen Geschopf. Er fragte nacheinander die Nahterin und Frau Stohr, wie lange sie schon hier oben seien(jene lebte seit funf Monaten, diese seit sieben in der Anstalt), suchte hierauf sein Englisch zusammen, um von seiner Nachbarin zur Rechten zu erfahren, was fur einen Tee sie da trinke(es war Hagebuttentee) und ob er denn gut schmecke, was sie fast sturmisch bejahte, und sah dann in den Saal hinein, in dem man kam und ging: das erste Fruhstuck war keine streng gemeinsame Mahlzeit.

Er hatte ein wenig Furcht vor schreckhaften Eindrucken gehabt, aber er fand sich enttauscht: es ging ganz aufgeraumt zu hier imSaale, man hatte nicht das Gefuhl, sich an einer Statte des Jammers zu befinden. Gebraunte junge Leute beiderlei Geschlechts kamen trallernd herein, sprachen mit den Saaltochtern und hieben mit robustem Appetit in das Fruhstuck ein. Auch reifere Personen waren da, Ehepaare, eine ganze Familie mit Kindern, die Russisch sprach, auch halbwuchsige Jungen. Die Frauen trugen fast samtlich eng anliegende Jacken aus Wolle oder Seide, sogenannte Sweater, wei? oder farbig, mit Fallkragen und Seitentaschen, und es sah hubsch aus, wenn sie, beide Hande in diese Seitentaschen vergraben, standen und plauderten. An mehreren Tischen wurden Photographien herumgezeigt, neue, selbst angefertigte Aufnahmen ohne Zweifel; an einem anderen tauschte man Briefmarken. Es wurde vom Wetter gesprochen, davon, wie man geschlafen und wieviel man morgens im Munde gemessen. Die meisten waren lustig, - ohne

besonderen Grund wahrscheinlich, sondern nur, weil sie keine unmittelbaren Sorgen hatten und zahlreich beisammen waren. Einzelne freilich sa?en, den Kopf in die Hande gestutzt, am Tische und starrten vor sich hin. Man lie? sie starren und achtete nicht auf sie.

Plotzlich zuckte Hans Castorp geargert und beleidigt zusammen. Eine Tur war zugefallen, es war die Tur links vorn, die gleich in die Halle fuhrte, - jemand hatte sie zufallen lassen oder gar hinter sich ins Schlo? geworfen, und das war ein Gerausch, das Hans Castorp auf den Tod nicht leiden konnte, das er von jeher geha?t hatte. Vielleicht beruhte dieser Ha? auf Erziehung, vielleicht auf angeborener Idiosynkrasie, - genug, er verabscheute das Turenwerfen und hatte jeden schlagen konnen, der es sich vor seinen Ohren zuschulden kommen lie?. In diesem Fall war die Tur obendrein mit kleinen Glasscheiben gefullt, und das verstarkte den Chok: es war ein Schmettern und Klirren. Pfui, dachte Hans Castorp wutend, was ist denn das fur eine verdammte Schlamperei! Da ubrigens in demselben Augenblick die Nahterin das Wort an ihn richtete, so hatte er keine Zeit, festzustellen, wer der Missetater gewesen sei. Doch standen Falten zwischen seinen blonden Brauen, und sein Gesicht war peinlich verzerrt, wahrend er der Nahterin antwortete.

Joachim fragte, ob die Arzte schon durchgekommen seien. Ja, zum erstenmal seien sie dagewesen, antwortete jemand, - sie hatten den Saal verlassen fast in dem Augenblick, als die Vettern gekommen seien. Dann wollten sie gehen und nicht warten, meinte Joachim. Eine Gelegenheit zur Vorstellung werde sich im Laufe des Tages ja finden. Aber an der Tur waren sie fast mit Hofrat Behrens zusammengesto?en, der, gefolgt von Dr. Krokowski, im Geschwindschritt hereinkam.

"Hoppla, Achtung die Herren!" sagte Behrens. "Das hatte leicht schlecht ablaufen konnen fur die beiderseitigen Huhneraugen." Er sprach stark niedersachsisch, breit und kauend. "So das sind Sie", sagte er zu Hans Castorp, den Joachim mit zusammengezogenen Absatzen prasentierte; "na,freut mich." Und er gab dem jungen Mann seine Hand, die gro? war wie eine Schaufel. Er war ein knochiger Mann, wohl drei Kopfe hoher als Dr. Krokowski, schon ganz wei? auf dem Kopf, mit heraustretendem Genick, gro?en, vorquellenden und blutunterlaufenen blauen Augen, in denen Tranen schwammen, einer aufgeworfenen Nase und kurzgeschnittenem Schnurrbartchen, das schief gezogen war, und zwar infolge einer einseitigen Schurzung der Oberlippe. Was Joachim von seinen Backen gesagt hatte, bewahrheitete sich vollkommen, sie waren

blau; und so wirkte sein Kopf denn recht farbig gegen den wei?en Chirurgenrock, den er trug, einen uber die Knie reichenden Gurtkittel, der unten seine gestreiften Hosen und ein paar kolossale Fu?e in gelben und etwas abgenutzten Schnurstiefeln sehen lie?. Auch Dr. Krokowski war im Berufskleide, allein sein Kittel war schwarz, aus einem schwarzen Lusterstoff, hemdartig, mit Gummizugen an den Handgelenken, und hob seine Blasse nicht wenig. Er verhielt sich rein assistierend und beteiligte sich auf keine Weise an der Begru?ung, doch lie? eine kritische Spannung seines Mundes erkennen, da? er sein untergeordnetes Verhaltnis als wunderlich empfinde.

"Vettern?" fragte der Hofrat, indem er mit der Hand zwischen den jungen Leuten hin und her deutete und mit seinen blutunterlaufenen blauen Augen von unten blickte ... "Na, will er denn auch zum Kalbsfell schworen?" sagte er zu Joachim und wies mit dem Kopf auf Hans Castorp ... "I, Gott bewahre, - was? Ich habe doch gleich gesehen" - und er sprach nun direkt zu Hans Castorp -, "da? Sie so was Ziviles haben, so was Komfortables, - nichts so Waffenrasselndes wie dieser Rottenfuhrer da. Sie waren ein besserer Patient als der, da mocht ich doch wetten. Das sehe ich jedem gleich an, ob er einen brauchbaren Patienten abgeben kann, denn dazu gehort Talent, Talent gehort zu allem, und dieser Myrmidon hier hat auch kein bi?chen Talent. Zum Exerzieren, das wei? ich nicht, aber zum Kranksein gar nicht. Wollen Sie glauben, da? er immer weg will? Immerzu will er weg, tirrt mich und plagt mich und kann es nicht erwarten, sich da unten schinden zu lassen. So ein Biereifer! Kein halbes Jahrchen will er uns schenken. Und dabei ist es doch ganz schon hier bei uns, - nun sagen Sie mal selbst, Ziem?en, ob es nicht ganz schon hier ist! Na, Ihr Herr Vetter wird uns schon besser zu wurdigen wissen, wird sich schon amusieren. Damenmangel ist auch nicht, - allerliebste Damen haben wir hier. Wenigstens von au?en sind manche ganz malerisch. Aber Sie sollten sich etwas mehr Couleur anschaffen, horen Sie mal, sonst fallen Sie ab bei den Damen! Grun ist ja wohl des Lebens goldner Baum, aber als Gesichtsfarbe ist grun dochnicht ganz das Richtige. Total anamisch naturlich", sagte er, indem er ohne weiteres auf Hans Castorp zutrat und ihm mit Zeige- und Mittelfinger ein Augenlid herunterzog. "Selbstverstandlich total anamisch, wie ich sagte. Wissen Sie was? Das war gar nicht so dumm von Ihnen, da? Sie Ihr Hamburg mal auf einige Zeit sich selbst uberlie?en. Ist ja eine hochst dankenswerte Einrichtung, dieses Hamburg; stellt uns immer ein nettes Kontingent mit seiner feuchtfrohlichen

Meteorologie. Aber wenn ich Ihnen bei dieser Gelegenheit einen unma?geblichen Rat geben darf - ganz sine pecunia, wissen Sie -, so machen Sie, solange Sie hier sind, mal alles mit, was Ihr Vetter macht. In Ihrem Fall kann man gar nichts Schlaueres tun, als einige Zeit zu leben wie bei leichter tuberculosis pulmonum, und ein bi?chen Eiwei? anzusetzen. Das ist namlich kurios hier bei uns mit dem Eiwei?stoffwechsel ... Obgleich die Allgemeinverbrennung erhoht ist, setzt der Korper doch Eiwei? an ... Na, und Sie haben schon geschlafen, Ziem?en? Fein, was? Also nun mal los mit dem Lustwandel! Aber nicht mehr als 'ne halbe Stunde! Und nachher die Quecksilberzigarre ins Gesicht gesteckt! Immer hubsch aufschreiben, Ziem?en! Dienstlich! Gewissenhaft! Sonnabend will ich die Kurve sehen! Ihr Herr Vetter soll auch gleich mitmessen. Messen kann nie was schaden. Morgen, die Herren! Gute Unterhaltung! Morgen ... Morgen ..." Und Dr. Krokowski schlo? sich ihm an, der weiter segelte, mit den Armen schlenkernd, die Handflachen ganz nach hinten gekehrt, indem er nach rechts und links die Frage richtete, ob man "schon" geschlafen habe, was allgemein bejaht wurde.

Neckerei. Viatikum. Unterbrochene Heiterkeit

"Sehr netter Mann", sagte Hans Castorp, als sie nach freundschaftlicher Begru?ung mit dem hinkenden Concierge, der in seiner Loge Briefe ordnete, durch das Portal hinaus ins Freie traten. Das Portal war an der Sudostflanke des wei?getunchten Gebaudes gelegen, dessen mittlerer Teil die beiden Flugel um ein Stockwerk uberragte und von einem kurzen, mit schieferfarbenem Eisenblech gedeckten Uhrturm gekront war. Man beruhrte den eingezaunten Garten nicht, wenn man das Haus hier verlie?, sondern war gleich im Freien, angesichts schrager Bergwiesen, die von vereinzelten, ma?ig hohen Fichten und auf den Boden geduckten Krummholzkiefern bestanden waren. Der Weg, den sie einschlugen - eigentlich war es der einzige, der in Betracht kam, au?er der zu Tale abfallenden Fahrstra?e -, leitete sie leicht ansteigend nach links an der Ruckseite des Sanatoriums vorbei, der Kuchen- und Wirtschaftsseite, wo eiserne Abfalltonnen an den Gittern der Kellertreppen standen, lief noch ein gutes Stuck in derselben Richtung fort, beschrieb dann ein scharfes Knie und fuhrte steiler nach rechts hin den dunn bewaldeten Hang hinan. Es war ein harter, rotlich gefarbter, noch etwas feuchter Weg, an dessen Saume zuweilen Steinblocke lagen. Die Vettern sahen sich keineswegs allein aufder Promenade. Gaste, die

gleich nach ihnen ihr Fruhstuck beendet, folgten ihnen auf dem Fu?e, und ganze Gruppen, auf dem Ruckweg, kamen ihnen mit den stapfenden Tritten absteigender Leute entgegen.

"Sehr netter Mann!" wiederholte Hans Castorp. "So eine flotte Redeweise hat er, es machte mir Spa?, ihm zuzuhoren. 'Quecksilberzigarre' fur 'Thermometer' ist doch ausgezeichnet, ich habe es gleich verstanden ... Aber ich zunde mir nun eine richtige an," sagte er stehenbleibend, "ich halte es nicht mehr aus! Seit gestern mittag habe ich nichts Ordentliches mehr geraucht ... Entschuldige mal!" Und er entnahm seinem automobilledernen und mit silbernem Monogramm geschmuckten Etui ein Exemplar von Maria Mancini, ein schones Exemplar der obersten Lage, an einer Seite abgeplattet, wie er es besonders liebte, kupierte die Spitze mit einem kleinen, eckig schneidenden Instrument, das er an der Uhrkette trug, lie? seinen Taschenzundapparat aufflammen und setzte die ziemlich lange, vorn stumpfe Zigarre mit einigen hingebungsvoll paffenden Zugen in Brand. "So!" sagte er. "Nun konnen wir meinethalben den Lustwandel fortsetzen. Du rauchst naturlich nicht vor lauter Biereifer."

"Ich rauche ja nie", antwortete Joachim. "Warum sollt ich denn gerade hier rauchen."

"Das verstehe ich nicht!" sagte Hans Castorp. "Ich verstehe es nicht, wie jemand nicht rauchen kann, - er bringt sich doch, sozusagen, um des Lebens bestes Teil und jedenfalls um ein ganz eminentes Vergnugen! Wenn ich aufwache, so freue ich mich, da? ich taguber werde rauchen durfen, und wenn ich esse, so freue ich mich wieder darauf, ja ich kann sagen, da? ich eigentlich blo? esse, um rauchen zu konnen, wenn ich damit naturlich auch etwas ubertreibe. Aber ein Tag ohne Tabak, das ware fur mich der Gipfel der Schalheit, ein vollstandig oder und reizloser Tag, und wenn ich mir morgens sagen mu?te: heut gibt's nichts zu rauchen, - ich glaube, ich fande den Mut gar nicht, aufzustehen, wahrhaftig, ich bliebe liegen. Siehst du: hat man eine gut brennende Zigarre - selbstverstandlich darf sie nicht Nebenluft haben oder schlecht ziehen, das ist im hochsten Grade argerlich - ich meine: hat man eine gute Zigarre, dann ist man eigentlich geborgen, es kann einem buchstablich nichts geschehn. Es ist genau, wie wenn man an der See liegt, dann liegt man eben an der See, nicht wahr, und braucht nichts weiter, weder Arbeit noch Unterhaltung ... Gott sei Dank raucht man ja in der ganzen Welt, es ist nirgendwo unbekannt, soviel ich wei?, wohin man

auch etwa verschlagen werden sollte. Selbst die Polarforscher statten sich reichlich mit Rauchvorrat aus fur ihre Strapazen, und das hat mich immer sympathisch beruhrt, wenn ich es las. Denn es kann einem sehr schlecht gehen, - nehmen wir mal an, es ginge mirmiserabel; aber solange ich noch meine Zigarre hatte, hielte ich's aus, das wei? ich, sie brachte mich druber weg."

"Immerhin ist es etwas schlapp," sagte Joachim, "da? du so daran hangst. Behrens hat ganz recht: Du bist ein Zivilist - er meinte es ja wohl mehr als Lob, aber du bist ein heilloser Zivilist, das ist die Sache. Ubrigens bist du ja gesund und kannst tun, was du willst", sagte er, und seine Augen wurden mude.

"Ja, gesund bis auf die Anamie", sagte Hans Castorp. "Reichlich geradezu war es ja, wie er es mir so sagte, da? ich grun aussehe. Aber es stimmt, es ist mir selber aufgefallen, da? ich im Vergleich mit euch hier oben formlich grun bin, zu Hause hab ich es nicht so bemerkt. Und dann ist es ja auch wieder nett von ihm, da? er mir so ohne weiteres Ratschlage gibt, ganz sine pecunia, wie er sich ausdruckt. Ich will mir gern vornehmen, es zu machen, wie er sagt, und mich ganz nach deiner Lebensweise richten, - was sollt' ich denn sonst auch wohl tun bei euch hier oben, und es kann ja nicht schaden, wenn ich in Gottes Namen Eiwei? ansetze, obgleich es etwas widerlich klingt, das mu?t du mir zugeben."

Joachim hustelte ein paarmal im Gehen, - die Steigung schien ihn doch anzustrengen. Als er zum drittenmal ansetzte, blieb er mit gerunzelten Brauen stehen. "Geh nur voran", sagte er. Hans Castorp beeilte sich, weiterzugehen und sah sich nicht um. Dann verlangsamte er seinen Schritt und blieb schlie?lich fast stehen, da ihm war, als musse er einen bedeutenden Vorsprung vor Joachim gewonnen haben. Aber er sah sich nicht um.

Ein Trupp von Gasten beiderlei Geschlechtes kam ihm entgegen, - er hatte sie droben auf halber Hohe des Hanges den ebenen Weg entlang kommen sehen, jetzt stapften sie abwarts, gerade auf ihn zu und lie?en ihre verschiedenartigen Stimmen ertonen. Es waren sechs oder sieben Personen gemischten Alters, die einen blutjung, ein paar schon etwas weiter an Jahren. Er sah sie sich an mit seitwarts geneigtem Kopfe, wahrend er an Joachim dachte. Sie waren barhaupt und braun, die Damen in farbigen Sweaters, die Herren meist ohne Uberzieher und selbst ohne Stocke, wie Leute, die ohne Umstande und die Hande in den

Taschen ein paar Schritte vors Haus machen. Da sie bergab gingen, was keine ernsthaft tragende Anstrengung, sondern nur ein lustiges Bremsen und Anstemmen der Beine erfordert, damit man nicht ins Laufen und Stolpern gerat, ja eigentlich nichts weiter als ein Sichfallenlassen ist, hatte ihre Gangart etwas Beschwingtes und Leichtsinniges, was sich ihren Mienen, ihrer ganzen Erscheinung mitteilte, so da? man wohl wunschen konnte, zu ihnen zu gehoren.

Nunwaren sie bei ihm, Hans Castorp sah ihre Gesichter genau. Sie waren nicht alle gebraunt, zwei Damen stachen durch Blasse ab: die eine dunn wie ein Stock und elfenbeinern von Angesicht, die andere kleiner und fett, von Leberflecken verunziert. Sie sahen ihn alle an, mit einem gemeinsamen, dreisten Lacheln. Ein langes junges Madchen in grunem Sweater, mit schlecht frisiertem Haar und dummen, nur halb geoffneten Augen strich dicht an Hans Castorp vorbei, indem es ihn fast mit dem Arme beruhrte. Und dabei pfiff sie ... Nein, das war verruckt! Sie pfiff ihn an, doch nicht mit dem Mund, den spitzte sie gar nicht, sie hielt ihn im Gegenteil fest geschlossen. Es pfiff aus ihr, indes sie ihn ansah, dumm und mit halbgeschlossenen Augen, - ein au?erordentlich unangenehmes Pfeifen, rauh, scharf und doch hohl, gedehnt und gegen das Ende im Tone abfallend, so da? es an die Musik jener Jahrmarktsschweinchen aus Gummi erinnerte, die klagend ihre eingeblasene Luft fahren lassen und zusammensinken, drang irgendwie und unbegreiflicherweise aus ihrer Brust hervor, und dann war sie mit ihrer Gesellschaft voruber.

Hans Castorp stand starr und blickte ins Weite. Dann wandte er sich hastig um und begriff wenigstens so viel, da? das Abscheuliche ein Scherz, eine abgekartete Fopperei gewesen sein mu?te, denn er sah an den Schultern der Abziehenden, da? sie lachten, und ein untersetzter Jungling mit Wulstlippen, welcher, beide Hande in den Hosentaschen, auf ziemlich unschickliche Art seine Jacke emporgerafft hielt, drehte sogar unverhohlen den Kopf nach ihm und lachte ... Joachim war herangekommen. Er gru?te die Gruppe, indem er nach seiner ritterlichen Gewohnheit beinahe Front machte und sich mit zusammengezogenen Absatzen verbeugte, und trat dann sanft blickend zu seinem Vetter.

"Was machst du denn fur ein Gesicht?" fragte er.

"Sie pfiff!" antwortete Hans Castorp. "Sie pfiff aus dem Bauche, als sie an mir voruberkam, willst du mir das erklaren?"

"Ach", sagte Joachim und lachte wegwerfend. "Nicht aus dem Bauche,

Unsinn. Das war die Kleefeld, Hermine Kleefeld, die pfeift mit dem Pneumothorax."

"Womit?" fragte Hans Castorp. Er war au?erordentlich erregt und wu?te nicht recht in welchem Sinne. Er schwankte zwischen Lachen und Weinen, als er hinzufugte: "Du kannst nicht verlangen, da? ich euer Rotwelsch verstehe."

"So komm doch weiter!" sagte Joachim. "Ich kann es dir doch auch im Gehen erklaren. Du bist ja wie angewurzelt! Es ist etwas aus der Chirurgie, wie du dir denken kannst, eine Operation, die hier oben haufig ausgefuhrt wird. Behrens hat gro?e Ubung darin ... Wenn eine Lunge sehr mitgenommen ist, verstehst du, die andere aber gesund oder vergleichsweise gesund, so wird die kranke mal einige Zeit von ihrer Tatigkeit dispensiert, um sie zu schonen ... Das hei?t: man wirdhier aufgeschnitten, hier irgendwo seitwarts, - ich kenne die Stelle ja nicht genau, aber Behrens hat es gro?artig los. Und dann wird Gas in einen hineingelassen, Stickstoff, wei?t du, und so der verkaste Lungenflugel au?er Betrieb gesetzt. Das Gas halt naturlich nicht lange vor, halbmonatlich etwa mu? es erneuert werden, - man wird gleichsam aufgefullt, so mu?t du dirs vorstellen. Und wenn das ein Jahr lang geschieht oder langer, und alles geht gut, so kann die Lunge durch Ruhe zur Heilung kommen. Nicht immer, versteht sich, es ist wohl sogar eine gewagte Sache. Aber es sollen schon schone Erfolge mit dem Pneumothorax erzielt worden sein. Alle haben ihn, die du da eben sahst. Frau Iltis war auch dabei - die mit den Leberflecken - und Fraulein Levi, die magere, du erinnerst dich, - sie hat so lange zu Bett gelegen. Sie haben sich zusammengefunden, denn so etwas wie der Pneumothorax verbindet die Menschen naturlich, und nennen sich 'Verein Halbe Lunge', unter diesem Namen sind sie bekannt. Aber der Stolz des Vereins ist Hermine Kleefeld, weil sie mit dem Pneumothorax pfeifen kann, - das ist eine Gabe von ihr, es kann es durchaus nicht jeder. Wie sie es fertig bringt, das kann ich dir auch nicht sagen, sie selbst kann es nicht deutlich beschreiben. Aber wenn sie rasch gegangen ist, dann kann sie aus ihrem Inneren pfeifen, und das benutzt sie naturlich, um die Leute zu erschrecken, besonders die neuangekommenen Kranken. Ich glaube ubrigens, da? sie Stickstoff dabei verschwendet, denn alle acht Tage mu? sie aufgefullt werden."

Nun lachte Hans Castorp; seine Erregung hatte sich bei Joachims Worten zum Heiteren entschieden, und indem er im Gehen die Augen

mit der Hand bedeckte und sich vorneigte, wurden seine Schultern von einem raschen und leisen Kichern erschuttert.

"Sind sie auch eingetragen?" fragte er, und das Sprechen wurde ihm nicht leicht; es klang vor zuruckgehaltenem Lachen weinerlich und leise jammernd. "Haben sie Statuten? Schade, da? du nicht Mitglied bist, du, dann konnten sie mich als Ehrengast zulassen oder als ... Konkneipant ... Du solltest Behrens bitten, da? er dich teilweise au?er Betrieb setzt. Vielleicht wurdest du auch pfeifen konnen, wenn du's drauf anlegtest, es mu? doch schlie?lich zu lernen sein ... Das ist das Komischste, was ich in meinem Leben gehort habe!" sagte er tief aufseufzend. "Ja, verzeih, da? ich so davon spreche, aber sie selbst sind ja in der besten Laune, deine pneumatischen Freunde! Wie sie daherkamen ... Und zu denken, da? es der 'Verein Halbe Lunge' war! 'Tiuu' pfeift sie mich an, - eine tolle Person! Aber das ist doch heller Ubermut! Warum sind sie so ubermutig, du, willst dumir das mal sagen?"

Joachim suchte nach einer Antwort. "Gott," sagte er, "sie sind so frei ... Ich meine, es sind ja junge Leute, und die Zeit spielt keine Rolle fur sie, und dann sterben sie womoglich. Warum sollen sie da ernste Gesichter schneiden. Ich denke manchmal: Krankheit und Sterben sind eigentlich nicht ernst, sie sind mehr so eine Art Bummelei, Ernst gibt es genau genommen nur im Leben da unten. Ich glaube, da? du das mit der Zeit schon verstehen wirst, wenn du erst langer hier oben bist."

"Sicher", sagte Hans Castorp. "Das glaube ich sogar sicher. Ich habe schon sehr viel Interesse gefa?t fur euch hier oben, und wenn man sich interessiert, nicht wahr, dann kommt das Verstehen von selber ... Aber wie ist mir denn nur, - sie schmeckt nicht!" sagte er und betrachtete seine Zigarre. "Ich frage mich die ganze Zeit, was mir fehlt, und nun merke ich, da? es Maria ist, die mir nicht schmeckt. Sie schmeckt wie Papiermache, ich versichere dich, es ist gerade, wie wenn man einen vollig verdorbenen Magen hat. Das ist doch unbegreiflich! Ich habe ja ungewohnlich viel zum Fruhstuck gegessen, aber das kann der Grund nicht sein, denn wenn man zu viel gegessen hat, so schmeckt sie zunachst sogar besonders gut. Meinst du, es kann daher kommen, da? ich so unruhig geschlafen habe? Vielleicht bin ich dadurch in Unordnung geraten. Nein, ich mu? sie geradezu wegwerfen!" sagte er nach einem neuen Versuch. "Jeder Zug ist eine Enttauschung; es hat keinen Zweck, da? ich es forciere." Und nachdem er noch einen Augenblick gezogert, warf er die Zigarre den Abhang hinab zwischen das feuchte Nadelholz.

"Wei?t du, womit es meiner Uberzeugung nach zusammenhangt?" fragte er ... "Meiner festen Uberzeugung nach hangt es mit dieser verdammten Gesichtshitze zusammen, an der ich nun schon wieder seit dem Aufstehen laboriere. Wei? der Teufel, mir ist immer, als ware ich schamrot im Gesicht ... Hast du das auch so gehabt, als du ankamst?"

"Ja", sagte Joachim. "Mir war auch zuerst etwas sonderbar. Mach dir nichts draus! Ich habe dir ja gesagt, da? es nicht so leicht ist, sich einzuleben bei uns. Aber du kommst schon wieder in Ordnung. Siehst du, die Bank steht hubsch. Wir wollen uns etwas setzen und dann nach Hause gehen, ich mu? in die Liegekur."

Der Weg war eben geworden. Er lief nun in der Richtung auf Platz Davos, etwa in Drittelhohe des Hanges, und gewahrte zwischen hohen, schmal gewachsenen und windschiefen Kiefern den Blick auf den Ort, der wei?lich in hellerem Lichte lag. Die schlicht gezimmerte Bank, auf der sie sich setzten, lehnte sich an die steile Bergwand. Nebenihnen fiel ein Wasser in offener Holzrinne gurgelnd und platschernd zu Tal.

Joachim wollte den Vetter uber die Namen der umwolkten Alpenhaupter unterrichten, die das Tal im Suden zu schlie?en schienen, indem er mit der Spitze seines Bergstockes auf sie wies. Aber Hans Castorp blickte nur fluchtig hin, er sa? vornuber gebeugt, zeichnete mit der Zwinge seines stadtischen, silberbeschlagenen Stockes Figuren im Sand und verlangte anderes zu wissen.

"Was ich dich fragen wollte -", fing er an ... "Der Fall in meinem Zimmer war also gerade eingegangen, als ich kam. Sind sonst schon viele Todesfalle vorgekommen, seit du hier oben bist?"

"Mehrere sicher", antwortete Joachim. "Aber sie werden diskret behandelt, verstehst du, man erfahrt nichts davon oder nur gelegentlich, spater, es geht im strengsten Geheimnis vor sich, wenn einer stirbt, aus Rucksicht auf die Patienten und namentlich auch auf die Damen, die sonst leicht Zufalle bekamen. Wenn neben dir jemand stirbt, das merkst du gar nicht. Und der Sarg wird in aller Fruhe gebracht, wenn du noch schlafst, und abgeholt wird der Betreffende auch nur zu solchen Zeiten, zum Beispiel wahrend des Essens."

"Hm", sagte Hans Castorp und zeichnete weiter. "Hinter den Kulissen also geht so etwas vor sich."

"Ja, so kann man sagen. Aber neulich, es ist nun, warte mal, moglicherweise acht Wochen her -"

"Dann kannst du nicht neulich sagen", bemerkte Hans Castorp trocken und wachsam.

"Wie? Also nicht neulich. Du bist aber genau. Ich habe die Zahl ja nur so geraten. Also vor einiger Zeit, da habe ich doch einmal hinter die Kulissen gesehen, aus reinem Zufall, ich wei? es wie heute. Das war, als sie der kleinen Hujus, einer Katholischen, Barbara Hujus, das Viatikum brachten, das Sterbesakrament, wei?t du, die letzte Olung. Sie war noch auf, als ich hier ankam, und ausgelassen lustig konnte sie sein, so dalberig, recht wie ein Backfisch. Aber dann ging es rapide mit ihr, sie stand nicht mehr auf, drei Zimmer von meinem lag sie, und ihre Eltern kamen, und nun kam denn also der Priester. Er kam, wahrend alles beim Tee war, nachmittags, es war kein Mensch auf den Gangen. Aber stelle dir vor, ich hatte verschlafen, ich war in der Hauptliegekur eingeschlafen und hatte das Gong uberhort und mich um eine Viertelstunde verspatet. Da war ich nun im entscheidenden Augenblick nicht, wo alle waren, sondern war hinter die Kulissen geraten, wie du sagst, und wie ich uber den Korridor gehe, da kommen sie mir entgegen, in Spitzenhemden und ein Kreuz voran, ein goldenes Kreuz mit Laternen, der eine trug es voran wie den Schellenbaum vor der Janitscharenmusik."

"Das ist kein Vergleich", sagte Hans Castorp nicht ohne Strenge.

"Es kam mir sovor. Ich wurde unwillkurlich daran erinnert. Aber hore nur weiter. Sie kommen also auf mich zu, marsch, marsch, im Geschwindschritt, zu dritt, wenn ich nicht irre, voran der Mann mit dem Kreuz, darauf der Geistliche, eine Brille auf der Nase, und dann noch ein Junge mit einem Raucherfa?chen. Der Geistliche hielt das Viatikum an der Brust, es war zugedeckt, und er hielt recht demutig den Kopf schief, es ist ja ihr Allerheiligstes."

"Eben darum", sagte Hans Castorp. "Eben aus diesem Grunde wundere ich mich, da? du von Schellenbaum sprechen magst."

"Ja, ja. Aber warte nur, wenn du dabei gewesen warst, wu?test du auch nicht, was du fur ein Gesicht machen solltest in der Erinnerung. Es war, da? man davon traumen konnte -"

"In welcher Hinsicht?"

"Folgenderma?en. Ich frage mich also, wie ich mich zu verhalten habe unter diesen Umstanden. Einen Hut zum Abnehmen hatte ich nicht auf -"

"Siehst du wohl!" unterbrach ihn Hans Castorp rasch noch einmal. "Siehst du wohl, da? man einen Hut aufhaben soll! Es ist mir naturlich

aufgefallen, da? ihr keinen tragt hier oben. Man soll aber einen aufsetzen, damit man ihn abnehmen kann, bei Gelegenheiten, wo es sich schickt. Aber was denn nun weiter?"

"Ich stellte mich an die Wand," sagte Joachim, "in anstandiger Haltung, und verbeugte mich etwas, als sie bei mir waren, - es war gerade vor dem Zimmer der kleinen Hujus, Nummer achtundzwanzig. Ich glaube, der Geistliche freute sich, da? ich gru?te; er dankte sehr hoflich und nahm seine Kappe ab. Aber zugleich machen sie auch schon halt, und der Ministrantenjunge mit dem Raucherfa? klopft an, und dann klinkt er auf und la?t seinem Chef den Vortritt ins Zimmer. Und nun stelle dir vor und male dir meinen Schrecken aus und meine Empfindungen! In dem Augenblick, wo der Priester den Fu? uber die Schwelle setzt, geht da drinnen ein Zetermordio an, ein Gekreisch, du hast nie so etwas gehort, drei, viermal hintereinander, und danach ein Schreien ohne Pause und Absatz, aus weit offenem Munde offenbar, ahhh, es lag ein Jammer darin und ein Entsetzen und Widerspruch, da? es nicht zu beschreiben ist, und so ein greuliches Betteln war es auch zwischendurch, und auf einen Schlag wird es hohl und dumpf, als ob es in die Erde versunken ware und tief aus dem Keller kame."

Hans Castorp hatte sich seinem Vetter heftig zugewandt. "War das die Hujus?" fragte er aufgebracht. "Und wieso: 'aus dem Keller'?"

"Sie war unter die Decke gekrochen!" sagte Joachim. "Stelle dir meine Empfindungen vor! Der Geistliche stand dicht an der Schwelle und sagte beruhigende Worte, ich sehe ihn noch, er schob immer den Kopf dabei vor und zog ihn dannwieder zuruck. Der Kreuztrager und der Ministrant standen noch zwischen Tur und Angel und konnten nicht eintreten. Und ich konnte zwischen ihnen hindurch ins Zimmer sehen. Es ist ja ein Zimmer wie deins und meins, das Bett steht links von der Tur an der Seitenwand, und am Kopfende standen Leute, die Angehorigen naturlich, die Eltern, und redeten auch beschwichtigend auf das Bett hinunter, man sah nichts als eine formlose Masse darin, die bettelte und grauenhaft protestierte und mit den Beinen strampelte."

"Sagst du, da? sie mit den Beinen strampelte?"

"Aus Leibeskraften! Aber es nutzte ihr nichts, das Sterbesakrament mu?te sie haben. Der Pfarrer ging auf sie zu, und auch die beiden anderen traten ein, und die Tur wurde zugezogen. Aber vorher sah ich noch: der Kopf von der Hujus kommt fur eine Sekunde zum Vorschein, mit wirrem hellblonden Haar, und starrt den Priester mit

weitaufgerissenen Augen an, so blassen Augen, ganz ohne Farbe und fahrt mit Ah und Huh wieder unters Laken."

"Und das erzahlst du mir jetzt erst?" sagte Hans Castorp nach einer Pause. "Ich verstehe nicht, da? du nicht schon gestern abend darauf zu sprechen gekommen bist. Aber, mein Gott, sie mu?te doch noch eine Menge Kraft haben, so wie sie sich wehrte. Dazu gehoren doch Krafte. Man sollte den Priester nicht holen lassen, bevor einer ganz schwach ist."

"Sie war auch schwach", erwiderte Joachim. "... Ach, zu erzahlen gabe es viel; es ist schwer, die erste Auswahl zu treffen ... Schwach war sie schon, es war nur die Angst, die ihr soviel Krafte gab. Sie angstigte sich eben furchterlich, weil sie merkte, da? sie sterben sollte. Sie war ja ein junges Madchen, da mu? man es schlie?lich entschuldigen. Aber auch Manner fuhren sich manchmal so auf, was naturlich eine unverzeihliche Schlappheit ist. Behrens wei? ubrigens mit ihnen umzugehen, er hat den richtigen Ton in solchen Fallen."

"Was fur einen Ton?" fragte Hans Castorp mit zusammengezogenen Brauen.

"'Stellen Sie sich nicht so an!' sagt er", antwortete Joachim. "Wenigstens hat er es neulich zu einem gesagt, - wir wissen es von der Oberin, die dabei war und den Sterbenden festhalten half. Es war so einer, der zu guter Letzt eine scheu?liche Szene machte und absolut nicht sterben wollte. Da hat Behrens ihn angefahren: 'Stellen Sie sich gefalligst nicht so an!' hat er gesagt, und sofort ist der Patient still geworden und ist ganz ruhig gestorben."

Hans Castorp schlug sich mit der Hand auf den Schenkel und warf sich gegen die Ruckenlehne der Bank, indem er zum Himmel aufblickte.

"Na, hore mal, das ist doch stark!" rief er. "Fahrt auf ihn los und sagt einfach zu ihm: 'Stellen Sie sichnicht so an!' Zu einem Sterbenden! Das ist doch stark! Ein Sterbender ist doch gewisserma?en ehrwurdig. Man kann ihn doch nicht so mir nichts, dir nichts ... Ein Sterbender ist doch sozusagen heilig, sollte ich meinen!"

"Das will ich nicht leugnen", sagte Joachim. "Aber wenn er sich nun doch derma?en schlapp benimmt ..."

"Nein!" beharrte Hans Castorp mit einer Heftigkeit, die zu dem Widerstand, den man ihm leistete, in keinem Verhaltnis stand. "Das lasse ich mir nicht ausreden, da? ein Sterbender etwas Vornehmeres ist, als

irgend so ein Lummel, der herumgeht und lacht und Geld verdient und sich den Bauch vollschlagt! Das geht nicht -" und seine Stimme schwankte hochst sonderbar. "Das geht nicht, da? man ihn so mir nichts, dir nichts -" und seine Worte erstickten im Lachen, das ihn ergriff und ihn uberwaltigte, dem Lachen von gestern, einem tief heraufquellenden, leiberschutternden, grenzenlosen Gelachter, das ihm die Augen schlo? und Tranen zwischen den Lidern hervorpre?te.

"Pst!" machte Joachim plotzlich. "Sei still!" flusterte er und stie? den haltlos Lachenden heimlich in die Seite. Hans Castorp blickte in Tranen auf.

Auf dem Wege von links kam ein Fremder daher, ein zierlicher brunetter Herr mit schon gedrehtem schwarzen Schnurrbart und in hellkariertem Beinkleid, der, herangekommen, mit Joachim einen Morgengru? tauschte - der seine war prazis und wohllautend - und mit gekreuzten Fu?en, auf seinen Stock gestutzt, in anmutiger Haltung vor ihm stehen blieb.

Satana

Sein Alter ware schwer zu schatzen gewesen, zwischen drei?ig und vierzig mu?te es wohl liegen, denn wenn auch seine Gesamterscheinung jugendlich wirkte, so war sein Haupthaar doch an den Schlafen schon silbrig durchsetzt und weiter oben merklich gelichtet: zwei kahle Buchten sprangen neben dem schmalen, sparlichen Scheitel ein und erhohten die Stirn. Sein Anzug, diese weiten, hellgelblich karierten Hosen und ein flausartiger, zu langer Rock mit zwei Reihen Knopfen und sehr gro?en Aufschlagen, war weit entfernt, Anspruch auf Eleganz zu erheben; auch zeigte sein rund umgebogener Stehkragen sich von haufiger Wasche an den Kanten schon etwas aufgerauht, seine schwarze Krawatte war abgenutzt, und Manschetten trug er offenbar uberhaupt nicht, - Hans Castorp erkannte es an der schlaffen Art, in der die Armel ihm um das Handgelenk hingen. Trotzdem sah er wohl, da? er einen Herrn vor sich habe; der gebildete Gesichtsausdruck des Fremden, seine freie, ja schone Haltung lie?en keinen Zweifel daran. Diese Mischung aber von Schabigkeit und Anmut, schwarze Augen dazu und der weich geschwungene Schnurrbart, erinnerten Hans Castorp sogleich an gewisse auslandische Musikanten, die zur Weihnachtszeit in den heimischen Hofen aufspielten und mit emporgerichteten Sammetaugen

ihren Schlapphut hinhielten, damit man ihnen Zehnpfennigstucke aus den Fenstern hineinwurfe. "Ein Drehorgelmann!" dachte er. Und so wunderte er sich nicht uber den Namen, den erzu horen bekam, als Joachim sich von der Bank erhob und in einiger Befangenheit vorstellte:

"Mein Vetter Castorp, - Herr Settembrini."

Hans Castorp war ebenfalls zur Begru?ung aufgestanden, die Spuren seiner Heiterkeitsausschreitung noch im Gesicht. Aber der Italiener bat beide in hoflichen Worten, sich nicht in ihrer Bequemlichkeit storen zu lassen und notigte sie auf ihre Platze zuruck, wahrend er selbst in seiner angenehmen Pose vor ihnen stehen blieb. Er lachelte, wie er da stand und die Vettern, namentlich aber Hans Castorp, betrachtete, und diese feine, etwas spottische Vertiefung und Krauselung seines einen Mundwinkels unter dem vollen Schnurrbart, dort, wo er sich in schoner Rundung aufwarts bog, war von eigentumlicher Wirkung, es hielt gewisserma?en zur Geistesklarheit und Wachsamkeit an und ernuchterte den trunkenen Hans Castorp im Augenblick, so da? er sich schamte. Settembrini sagte:

"Die Herren sind aufgeraumt, - mit Grund, mit Grund. Ein prachtiger Morgen! Der Himmel ist blau, die Sonne lacht -" und er hob mit einem leichten und gelungenen Schwung seines Armes die kleine, gelbliche Hand zum Himmel, wahrend er zugleich einen schragen, heiteren Blick ebenfalls dort hinaufsandte. "Man konnte in der Tat vergessen, wo man sich befindet."

Er sprach ohne fremden Akzent, nur an der Genauigkeit seiner Lautbildung hatte man allenfalls den Auslander erkennen konnen. Seine Lippen formten die Worte mit einer gewissen Lust. Man horte ihn mit Vergnugen.

"Und der Herr hat eine angenehme Reise zu uns gehabt?" wandte er sich an Hans Castorp ... "Ist man schon im Besitz seines Urteils? Ich meine: hat die dustere Zeremonie der ersten Untersuchung schon stattgehabt?" - Hier hatte er schweigen und warten mussen, wenn es ihm darauf ankam, zu horen; denn er hatte seine Frage gestellt, und Hans Castorp schickte sich an, zu antworten. Aber der Fremde fragte gleich weiter: "Ist sie glimpflich verlaufen? Aus Ihrer Lachlust -" und er schwieg einen Augenblick, indes die Krauselung seines Mundwinkels sich vertiefte, "lassen sich ungleichartige Schlusse ziehen. Wieviel Monate haben unsere Minos und Radamanth Ihnen aufgebrummt?" - Das Wort "aufgebrummt" nahm sich in seinem Munde besonders drollig aus. - "Soll

ich schatzen? Sechs? Oder gleich neun? Man ist ja nicht knauserig ..."

Hans Castorp lachte erstaunt, wobei er sich zu erinnern suchte, wer Minos und Radamanth doch gleich noch gewesen seien. Er antwortete:

"Aber wieso. Nein, Sie sind im Irrtum, Herr Septem-"

"Settembrini", verbesserte der Italiener klar und mit Schwung, indem er sich humoristisch verneigte.

"Herr Settembrini, - Verzeihung. Nein, also Sie irren. Ich bin gar nicht krank. Ich besuche nur meinen Vetter Ziem?en auf ein paar Wochen und will mich bei dieser Gelegenheit auch ein bi?chen erholen -"

"Potztausend, Sie sind nicht von den Unsrigen? Sie sind gesund, Sie hospitieren hier nur,wie Odysseus im Schattenreich? Welche Kuhnheit, hinab in die Tiefe zu steigen, wo Tote nichtig und sinnlos wohnen -"

"In die Tiefe, Herr Settembrini? Da mu? ich doch bitten! Ich bin ja rund funftausend Fu? hoch geklettert zu Ihnen herauf -"

"Das schien Ihnen nur so! Auf mein Wort, das war Tauschung", sagte der Italiener mit einer entscheidenden Handbewegung. "Wir sind tief gesunkene Wesen, nicht wahr, Leutnant", wandte er sich an Joachim, der sich uber diese Anrede nicht wenig freute, dies aber zu verbergen suchte und besonnen erwiderte:

"Wir sind wohl wirklich etwas versimpelt. Aber man kann sich schlie?lich wieder zusammenrei?en."

"Ja, Ihnen traue ich's zu; Sie sind ein anstandiger Mensch", sagte Settembrini. "So, so, so", sagte er dreimal mit scharfem S, indem er sich wieder gegen Hans Castorp wandte, und schnalzte dann ebensooft mit der Zunge leise am oberen Gaumen. "Sieh, sieh, sieh", sagte er hierauf, ebenfalls dreimal und mit scharfem S-Laut, indem er dem Neuling so unverwandt ins Gesicht blickte, da? seine Augen in eine fixe und blinde Einstellung gerieten, und fuhr dann, seinen Blick wieder belebend, fort:

"Ganz freiwillig kommen Sie also herauf zu uns Heruntergekommenen und wollen uns einige Zeit das Vergnugen Ihrer Gesellschaft gonnen. Nun, das ist schon. Und welche Frist haben Sie in Aussicht genommen? Ich frage nicht fein. Aber es soll mich doch wundernehmen, zu horen, wieviel man sich zudiktiert, wenn man selbst zu bestimmen hat und nicht Radamanth!"

"Drei Wochen", sagte Hans Castorp mit etwas eitler Leichtigkeit, da er merkte, da? er beneidet wurde.

"O dio, drei Wochen! Haben Sie gehort, Leutnant? Hat es nicht fast etwas Impertinentes, zu sagen: Ich komme auf drei Wochen hierher und reise dann wieder? Wir kennen das Wochenma? nicht, mein Herr, wenn ich Sie belehren darf. Unsere kleinste Zeiteinheit ist der Monat. Wir rechnen im gro?en Stil, - das ist ein Vorrecht der Schatten. Wir haben noch andere, und sie sind alle von ahnlicher Qualitat. Darf ich fragen, welchen Beruf Sie ausuben drunten im Leben - oder wohl richtiger: auf welchen Sie sich vorbereiten? Sie sehen, wir legen unserer Neugier keine Fesseln an. Auch die Neugier rechnen wir zu unseren Vorrechten."

"Bitte recht sehr", sagte Hans Castorp. Und er gab Auskunft.

"Ein Schiffsbaumeister! Aber das ist gro?artig!" rief Settembrini. "Seien Sie uberzeugt, da? ich das gro?artig finde, obgleich meine eigenen Fahigkeiten in anderer Richtung liegen."

"Herr Settembrini ist Literat", sagte Joachim erlauternd und etwas verlegen. "Er hat fur deutsche Blatter den Nachruf fur Carducci geschrieben, - Carducci, wei?t du." Und er wurde noch verlegener, da sein Vetter ihn verwundert ansah und zu sagen schien: Was wei?t denn du von Carducci? Ebenso wenig wie ich, sollte ich meinen.

"Das ist richtig", sagteder Italiener kopfnickend. "Ich hatte die Ehre, Ihren Landsleuten von dem Leben dieses gro?en Poeten und Freidenkers zu erzahlen, als es abgeschlossen war. Ich kannte ihn, ich darf mich seinen Schuler nennen. In Bologna habe ich zu seinen Fu?en gesessen. Ihm verdanke ich, was ich an Bildung und Frohsinn mein eigen nenne. Aber wir sprachen von Ihnen. Ein Schiffsbaumeister! Wissen Sie, da? Sie zusehends emporwachsen in meinen Augen? Sie sitzen da plotzlich, als der Vertreter einer ganzen Welt der Arbeit und des praktischen Genies!"

"Aber Herr Settembrini - ich bin ja eigentlich noch Student und fange erst an."

"Gewi?, und aller Anfang ist schwer. Uberhaupt, alle Arbeit ist schwer, die diesen Namen verdient, nicht wahr?"

"Ja, das wei? der Teufel!" sagte Hans Castorp, und es kam ihm von Herzen.

Settembrini zog rasch die Brauen empor.

"Sogar den Teufel rufen Sie an," sagte er, "um das zu bekraftigen? Den leibhaftigen Satan? Wissen Sie auch, da? mein gro?er Lehrer eine Hymne an ihn gerichtet hat?"

"Erlauben Sie," sagte Hans Castorp, "an den Teufel?"

"An ihn selbst. Sie wird in meiner Heimat zuweilen gesungen, bei festlichen Gelegenheiten. O salute, o Satana, o Ribellione, o forza vindice della Ragione ... Ein herrliches Lied! Aber dieser Teufel war es wohl kaum, den Sie im Sinne hatten, denn er steht mit der Arbeit auf ausgezeichnetem Fu?. Der, den Sie meinten, und der die Arbeit verabscheut, weil er sie zu furchten hat, ist vermutlich jener andere, von dem es hei?t, da? man ihm nicht den kleinen Finger reichen soll -"

Das alles wirkte recht sonderbar auf den guten Hans Castorp. Italienisch verstand er nicht, und das Ubrige war ihm auch nicht behaglicher. Es schmeckte nach Sonntagspredigt, obgleich es in leichtem und scherzhaftem Plauderton vorgetragen wurde. Er sah seinen Vetter an, der die Augen niederschlug, und sagte dann:

"Ach, Herr Settembrini, Sie nehmen meine Worte viel zu genau. Das mit dem Teufel war nur so eine Redewendung von mir, ich versichere Sie!"

"Irgend jemand mu? Geist haben", sagte Settembrini, indem er melancholisch in die Luft blickte. Aber sich wieder belebend, erheiternd und anmutig einlenkend fuhr er fort:

"Jedenfalls schlie?e ich wohl mit Recht aus Ihren Worten, da? Sie da einen ebenso anstrengenden wie ehrenvollen Beruf erwahlt haben. Mein Gott, ich bin Humanist, ein homo humanus, ich verstehe nichts von ingeniosen Dingen, so aufrichtig der Respekt ist, den ich Ihnen zolle. Aber vorstellen kann ich mir wohl, da? die Theorie Ihres Faches einen klaren und scharfen Kopf und seine Praxis einen ganzen Mann verlangt, - ist es nicht so?"

"Gewi? ist es so, ja, da kann ich Ihnen unbedingt zustimmen", antwortete Hans Castorp, indem er sich unwillkurlich bemuhte, ein wenig beredt zu sprechen."Die Anforderungen sind kolossal heutzutage, man darf es sich gar nicht so klar machen, wie scharf sie sind, sonst konnte man wahrhaftig den Mut verlieren. Nein, ein Spa? ist es nicht. Und wenn man nun auch nicht der Starkste ist ... Ich bin ja hier nur zu Gaste, aber der Starkste bin ich doch auch nicht gerade, und da mu?te ich lugen, wenn ich behaupten wollte, da? mir das Arbeiten so ausgezeichnet bekame. Vielmehr nimmt es mich ziemlich mit, das mu? ich sagen. Recht gesund fuhle ich mich eigentlich nur, wenn ich gar nichts tue -"

"Zum Beispiel jetzt?"

"Jetzt? Oh, jetzt bin ich noch so neu hier oben, - etwas verwirrt, konnen

Sie sich denken."

"Ah, - verwirrt."

"Ja, ich habe auch nicht ganz richtig geschlafen, und dann war das erste Fruhstuck wirklich zu ausgiebig ... Ich bin ja ein ordentliches Fruhstuck gewohnt, aber das heutige war doch, wie es scheint, zu kompakt fur mich, too rich, wie die Englander sagen. Kurz, ich fuhle mich etwas beklommen, und besonders wollte mir heute morgen meine Zigarre nicht schmecken, - denken Sie! Das passiert mir so gut wie nie, nur, wenn ich ernstlich krank bin, - und nun schmeckte sie mir heute wie Leder. Ich mu?te sie wegwerfen, es hatte keinen Zweck, da? ich es forcierte. Sind Sie Raucher, wenn ich fragen darf? Nicht? Dann konnen Sie sich nicht vorstellen, was fur ein Arger und eine Enttauschung das fur jemanden ist, der von Jugend auf so besonders gern raucht, wie ich ..."

"Ich bin ohne Erfahrung auf diesem Gebiet," erwiderte Settembrini, "und befinde mich ubrigens mit dieser Unerfahrenheit in keiner schlechten Gesellschaft. Eine Reihe von edlen und nuchternen Geistern haben den Rauchtabak verabscheut. Auch Carducci liebte ihn nicht. Aber da werden Sie bei unserem Radamanth Verstandnis finden. Er ist ein Anhanger Ihres Lasters."

"Nun, - Laster, Herr Settembrini ..."

"Warum nicht? Man mu? die Dinge mit Wahrheit und Kraft bezeichnen. Das verstarkt und erhoht das Leben. Auch ich habe Laster."

"Und Hofrat Behrens ist also Zigarrenkenner? Ein reizender Mann."

"Sie finden? Ah, Sie haben also schon seine Bekanntschaft gemacht?"

"Ja, vorhin, als wir fortgingen. Es war beinahe so etwas wie eine Konsultation, aber sine pecunia, wissen Sie. Er sah gleich, da? ich ziemlich anamisch bin. Und dann riet er mir, hier ganz so zu leben, wie mein Vetter, viel auf dem Balkon zu liegen, und messen soll ich mich auch gleich mit, hat er gesagt."

"Wahrhaftig?" rief Settembrini ... "Vorzuglich!" rief er nach oben in die Luft hinein, indem er sich lachend zuruckneigte. "Wie hei?t es doch in der Oper Ihres Meisters? 'Der Vogelfanger bin ich ja, stets lustig, heisa, hopsassa!' Kurz, das istsehr amusant. Sie werden seinen Rat befolgen? Zweifelsohne. Wie sollten Sie nicht. Ein Satanskerl, dieser Radamanth! Und wirklich 'stets lustig', wenn auch zuweilen ein wenig gezwungen. Er neigt zur Schwermut. Sein Laster bekommt ihm nicht - sonst ware es ubrigens kein Laster -, der Rauchtabak macht ihn schwermutig, -

weshalb unsere verehrungswurdige Frau Oberin die Vorrate in Verwahrung genommen hat und ihm nur kleine Tagesrationen zuteilt. Es soll vorkommen, da? er der Versuchung unterliegt, sie zu bestehlen, und dann verfallt er der Schwermut. Mit einem Wort: eine verworrene Seele. Sie kennen auch unsere Oberin schon? Nicht? Aber das ist ein Fehler! Sie tun unrecht, sich nicht um ihre Bekanntschaft zu bewerben. Aus dem Geschlechte derer von Mylendonk, mein Herr! Von der mediceischen Venus unterscheidet sie sich dadurch, da? sie dort, wo sich bei der Gottin der Busen befindet, ein Kreuz zu tragen pflegt ..."

"Ha, ha, ausgezeichnet!" lachte Hans Castorp.

"Mit Vornamen hei?t sie Adriatica."

"Auch das noch?" rief Hans Castorp ... "Horen Sie, das ist merkwurdig! Von Mylendonk und dann Adriatica. Es klingt, als mu?te sie langst gestorben sein. Geradezu mittelalterlich mutet es an."

"Mein geehrter Herr," antwortete Settembrini, "hier gibt es manches, was 'mittelalterlich anmutet', wie Sie sich auszudrucken belieben. Ich fur meine Person bin uberzeugt, da? unser Radamanth einzig und allein aus kunstlerischem Stilgefuhl dieses Petrefakt zur Oberaufseherin seines Schreckenspalastes gemacht hat. Er ist namlich Kunstler, - das wissen Sie nicht? Er malt in Ol. Was wollen Sie, das ist nicht verboten, nicht wahr, es steht jedem frei ... Frau Adriatica sagt es jedem, der es horen will, und den andern auch, da? eine Mylendonk Mitte des dreizehnten Jahrhunderts Abtissin eines Stiftes zu Bonn am Rheine war. Sie selbst kann nicht lange nach diesem Zeitpunkt das Licht der Welt erblickt haben ..."

"Ha, ha, ha! Ich finde Sie aber spottisch, Herr Settembrini."

"Spottisch? Sie meinen: boshaft. Ja, boshaft bin ich ein wenig -", sagte Settembrini. "Mein Kummer ist, da? ich verurteilt bin, meine Bosheit an so elende Gegenstande zu verschwenden. Ich hoffe, Sie haben nichts gegen die Bosheit, Ingenieur? In meinen Augen ist sie die glanzendste Waffe der Vernunft gegen die Machte der Finsternis und der Ha?lichkeit. Bosheit, mein Herr, ist der Geist der Kritik, und Kritik bedeutet den Ursprung des Fortschrittes und der Aufklarung." Und im Nu begann er von Petrarca zu reden, den er den "Vater der Neuzeit" nannte.

"Wir mussen nun aber in die Liegekur", sagte Joachim besonnen.

Der Literat hatte seine Worte mit anmutigen Handbewegungen begleitet. Nun rundete er dies Gestenspiel mit einer Gebarde ab, die auf

Joachim hinwies, und sagte:

"Unser Leutnant treibt zum Dienst. Gehen wir also. Wir haben den gleichen Weg, - 'rechtshin,welcher zu Dis, des Gewaltigen, Mauern hinanstrebt'. Ah, Virgil, Virgil! Meine Herren, er ist unubertroffen. Ich glaube an den Fortschritt, gewi?. Aber Virgil verfugt uber Beiworter, wie kein Moderner sie hat ..." Und wahrend sie sich auf den Heimweg machten, fing er an, lateinische Verse in italienischer Aussprache vorzutragen, unterbrach sich jedoch, als irgendein junges Madchen, eine Tochter des Stadtchens, wie es schien, und durchaus nicht sonderlich hubsch, ihnen entgegenkam, und verlegte sich auf ein schwerenoterhaftes Lacheln und Trallern. "T, t, t", schnalzte er. "Ei, ei, ei! La, la, la! Du su?es Kaferchen, willst du die Meine sein? Seht doch, 'es funkelt ihr Auge in schlupfrigem Licht'", zitierte er - Gott wu?te, was es war - und sandte dem verlegenen Rucken des Madchens eine Ku?hand nach.

Das ist ja ein rechter Windbeutel, dachte Hans Castorp, und dabei blieb er auch, als Settembrini nach seiner galanten Anwandlung wieder zu medisieren begann. Hauptsachlich hatte er es auf Hofrat Behrens abgesehen, stichelte auf den Umfang seiner Fu?e und hielt sich bei seinem Titel auf, den er von einem an Gehirntuberkulose leidenden Prinzen erhalten habe. Von dem skandalosen Lebenswandel dieses Prinzen spreche noch heute die ganze Gegend, aber Radamanth habe ein Auge zugedruckt, beide Augen, jeder Zoll ein Hofrat. Ob die Herren ubrigens wu?ten, da? er der Erfinder der Sommersaison sei? Ja, er, und kein anderer. Dem Verdienste seine Krone. Fruher hatten im Sommer nur die Treuesten der Treuen in diesem Tale ausgeharrt. Da habe "unser Humorist" mit unbestechlichem Scharfblick erkannt, da? dieser Mi?stand nichts als die Frucht eines Vorurteils sei. Er habe die Lehre aufgestellt, da?, wenigstens so weit sein Institut in Frage komme, die sommerliche Kur nicht nur nicht weniger empfehlenswert, sondern sogar besonders wirksam und geradezu unentbehrlich sei. Und er habe dieses Theorem unter die Leute zu bringen gewu?t, habe populare Artikel daruber verfa?t und sie in die Presse lanciert. Seitdem gehe das Geschaft im Sommer so flott wie im Winter. "Genie!" sagte Settembrini. "In-tu-i-tion!" sagte er. Und dann hechelte er die ubrigen Heilanstalten des Platzes durch und lobte auf bei?ende Art den Erwerbssinn ihrer Inhaber. Da sei Professor Kafka ... Alljahrlich, zur kritischen Zeit der Schneeschmelze, wenn viele Patienten abzureisen verlangten, finde Professor Kafka sich gezwungen,

rasch noch auf acht Tage zu verreisen, wobei er verspreche, nach seiner Ruckkehr die Entlassungen vorzunehmen. Dann aber bleibe er sechs Wochen aus, und die Armsten warteten, wobei sich, am Rande bemerkt, ihre Rechnungen vergro?erten. Bis nach Fiume lasse man Kafka kommen, er aber reise nicht, bevor man funftausend gute Schweizer Franken sichergestellt, woruber vierzehn Tage vergingen. Einen Tag nach der Ankunft des Celebrissimo sterbe alsdann der Kranke. Was Doktor Salzmann betreffe, so sage er demProfessor Kafka nach, da? er seine Spritzen nicht rein genug halte und den Kranken Mischinfektionen beibringe. Er fahre auf Gummi, sage Salzmann, damit seine Toten ihn nicht horten, - wogegen wiederum Kafka behaupte, bei Salzmann werde den Patienten "des Rebstocks erheiternde Gabe" in solchen Mengen aufgenotigt - namlich ebenfalls behufs Abrundung ihrer Rechnungen -, da? die Leute wie die Fliegen sturben, und zwar nicht an Phthise, sondern an Trinkerleber ...

So ging es weiter, und Hans Castorp lachte herzlich und gutmutig uber diesen Sturzbach zungenfertiger Lasterungen. Die Suade des Italieners lautete eigentumlich angenehm in ihrer unbedingten, von jeder Mundart freien Reinheit und Richtigkeit. Die Worte kamen prall, nett und wie neuschaffen von seinen beweglichen Lippen, er geno? die gebildeten, bissig behenden Wendungen und Formen, deren er sich bediente, ja selbst die grammatische Beugung und Abwandlung der Worter mit einem offensichtlichen, sich mitteilenden und heiter stimmenden Behagen und schien viel zu klaren und gegenwartigen Geistes, um sich auch nur ein einziges Mal zu versprechen.

"Sie sprechen so drollig, Herr Settembrini," sagte Hans Castorp, "so lebhaft, - ich wei? nicht, wie ich es nennen soll."

"Plastisch, wie?" entgegnete der Italiener und fachelte sich mit dem Taschentuch, obgleich es ja eher kuhl war. "Das wird das Wort sein, das Sie suchen. Ich habe eine plastische Art zu sprechen, wollen Sie sagen. Aber halt!" rief er. "Was sehe ich! Dort wandeln unsere Hollenrichter! Welch ein Anblick!"

Die Spazierganger hatten die Wegbiegung schon wieder zuruckgelegt. War es den Reden Settembrinis, dem Gefalle der Stra?e zu danken, oder hatten sie sich in Wahrheit weniger weit vom Sanatorium entfernt, als Hans Castorp geglaubt hatte, - denn ein Weg, den wir zum ersten Male gehen, ist bedeutend langer als derselbe, wenn wir ihn schon kennen -: jedenfalls war der Ruckmarsch uberraschend geschwind vonstatten

gegangen. Settembrini hatte recht, es war das Arztepaar, das dort unten auf dem freien Platz die Ruckseite des Sanatoriums entlang strebte, voran der Hofrat im wei?en Kittel, mit heraustretendem Genick und die Hande wie Ruder bewegend, auf seiner Fahrte Dr. Krokowski im schwarzen Uberhemd und desto selbstbewu?ter um sich blickend, als der klinische Brauch ihn notigte, sich auf Dienstgangen hinter dem Chef zu halten.

"Ah, Krokowski!" rief Settembrini. "Dort geht er und wei? alle Geheimnisse unserer Damen. Man bittet, die feine Symbolik seiner Kleidung zu beachten. Er tragt sich schwarz, um anzudeuten, da? sein eigenstes Studiengebiet die Nacht ist. Dieser Mann hat in seinem Kopf nur einen Gedanken, und der ist schmutzig. Ingenieur, wie kommt es, da? wir von ihm noch gar nicht gesprochen haben! Sie haben seine Bekanntschaft gemacht?"

Hans Castorp bejahte.

"Nun, und? Ich fange an, zu vermuten, da? auch er Ihnen gefallen hat."

"Ich wei? wirklich nicht, HerrSettembrini. Ich bin ihm nur erst fluchtig begegnet. Und dann bin ich auch nicht sehr rasch von Urteil. Ich sehe mir die Leute an und denke: So bist du also? Nun gut."

"Das ist Dumpfsinn!" antwortete der Italiener. "Urteilen Sie! Dafur hat die Natur Ihnen Augen und Verstand gegeben. Sie fanden, ich sprache boshaft; aber wenn ich es tat, so geschah es vielleicht nicht ohne padagogische Absicht. Wir Humanisten haben alle eine padagogische Ader ... Meine Herren, der historische Zusammenhang von Humanismus und Padagogik beweist ihren psychologischen. Man soll dem Humanisten das Amt der Erziehung nicht nehmen, - man kann es ihm nicht nehmen, denn nur bei ihm ist die Uberlieferung von der Wurde und Schonheit des Menschen. Einst loste er den Priester ab, der sich in truben und menschenfeindlichen Zeiten die Fuhrung der Jugend anma?en durfte. Seitdem, meine Herren, ist schlechterdings kein neuer Erziehertyp mehr erstanden. Das humanistische Gymnasium, - nennen Sie mich ruckschrittlich, Ingenieur, aber grundsatzlich, in abstracto, ich bitte, mich wohl zu verstehen, bleibe ich sein Anhanger ..."

Noch im Lift fuhrte er dies weiter aus und verstummte erst, als die Vettern im zweiten Stockwerk den Aufzug verlie?en. Er selber fuhr bis zum dritten weiter, wo er, wie Joachim erzahlte, ein kleines Zimmer nach hinten hinaus bewohnte.

"Er hat wohl kein Geld?" fragte Hans Castorp, der Joachim begleitete. Es sah bei Joachim genau so aus wie druben bei ihm.

"Nein," sagte Joachim, "das hat er wohl nicht. Oder doch nur gerade so viel, um den Aufenthalt hier bestreiten zu konnen. Sein Vater war auch schon Literat, wei?t du, und ich glaube, der Gro?vater auch."

"Ja, dann", sagte Hans Castorp. "Ist er denn eigentlich ernsthaft krank?"

"Es ist nicht gefahrlich, soviel ich wei?, aber hartnackig und kommt immer wieder. Er hat es schon seit Jahren und war zwischendurch mal fort, mu?te aber bald wieder einrucken."

"Armer Kerl! Wo er doch so furs Arbeiten zu schwarmen scheint. Riesig gesprachig ist er dabei, so leicht kommt er von einem aufs andere. Mit dem Madchen war er ja etwas frech, es genierte mich momentan. Aber was er nachher von der menschlichen Wurde sagte, klang doch famos, ganz wie bei einem Festakt. Bist du denn ofter mit ihm zusammen?"

Gedankenscharfe

Aber Joachim konnte nur noch behindert und undeutlich antworten. Er hatte aus einem rotledernen, mit Samt gefutterten Etui, das auf seinem Tische lag, ein kleines Thermometer genommen und das untere, mit Quecksilber gefullte Ende in den Mund gesteckt. Links unter der Zunge hielt er es, so, da? ihm das glaserne Instrument schrag aufwarts aus dem Munde hervorragte. Dann machte er Haustoilette, zog Schuhe und eine litewkaartige Joppe an, nahm eine gedruckte Tabelle nebstBleistift vom Tisch, ferner ein Buch, eine russische Grammatik - denn er trieb Russisch, weil er, wie er sagte, dienstlichen Vorteil davon erhoffte -, und so ausgerustet nahm er drau?en auf dem Balkon im Liegestuhl Platz, indem er eine Kamelhaardecke nur leicht uber die Fu?e warf.

Sie war kaum notig: schon wahrend der letzten Viertelstunde war die Wolkenschicht dunner und dunner geworden, und die Sonne brach durch, so sommerlich warm und blendend, da? Joachim seinen Kopf mit einem wei?leinenen Schirm schutzte, der vermittelst einer kleinen, sinnreichen Vorrichtung an der Armlehne des Stuhles zu befestigen und dem Stande der Sonne nach zu verstellen war. Hans Castorp lobte diese Erfindung. Er wollte das Ergebnis der Messung abwarten und sah unterdessen zu, wie alles gemacht wurde, betrachtete auch den Pelzsack, der in einem Winkel der Loggia lehnte(Joachim bediente sich

seiner an kalten Tagen) und blickte, die Ellenbogen auf der Brustung, in den Garten hinab, wo die allgemeine Liegehalle nun von lesend, schreibend und plaudernd ausgestreckten Patienten bevolkert war. Ubrigens sah man nur einen Teil des Inneren, etwa funf Stuhle.

"Aber wie lange dauert denn das?" fragte Hans Castorp und wandte sich um.

Joachim hob sieben Finger empor.

"Die mussen doch um sein - sieben Minuten!"

Joachim schuttelte den Kopf. Etwas spater nahm er das Thermometer aus dem Mund, betrachtete es und sagte dabei:

"Ja, wenn man ihr aufpa?t, der Zeit, dann vergeht sie sehr langsam. Ich habe das Messen, viermal am Tage, ordentlich gern, weil man doch dabei merkt, was das eigentlich ist: eine Minute oder gar ganze sieben, - wo man sich hier die sieben Tage der Woche so gra?lich um die Ohren schlagt."

"Du sagst 'eigentlich'. 'Eigentlich' kannst du nicht sagen", entgegnete Hans Castorp. Er sa? mit einem Schenkel auf der Brustung, und das Wei?e seiner Augen war rot geadert. "Die Zeit ist doch uberhaupt nicht 'eigentlich'. Wenn sie einem lang vorkommt, so ist sie lang, und wenn sie einem kurz vorkommt, so ist sie kurz, aber wie lang oder kurz sie in Wirklichkeit ist, das wei? doch niemand." Er war durchaus nicht gewohnt, zu philosophieren und fuhlte dennoch den Drang dazu.

Joachim widersprach.

"Wieso denn. Nein. Wir messen sie doch. Wir haben doch Uhren und Kalender, und wenn ein Monat um ist, dann ist er fur dich und mich und uns alle um."

"Dann pa? auf", sagte Hans Castorp und hielt sogar den Zeigefinger neben seine truben Augen. "Eine Minute ist also so lang, wie sie dir vorkommt, wenn du dich mi?t?"

"Eine Minute ist so lang ... sie dauert so lange, wie der Sekundenzeiger braucht, um seinen Kreis zu beschreiben."

"Aber er braucht ja ganz verschieden lange - fur unser Gefuhl! Und tatsachlich ... ichsage: tatsachlich genommen", wiederholte Hans Castorp und druckte den Zeigefinger so fest gegen die Nase, da? er ihre Spitze vollstandig umbog, "ist das eine Bewegung, eine raumliche Bewegung, nicht wahr? Halt, warte! Wir messen also die Zeit mit dem Raume. Aber das ist doch ebenso, als wollten wir den Raum an der Zeit

messen, - was doch nur ganz unwissenschaftliche Leute tun. Von Hamburg nach Davos sind zwanzig Stunden, - ja, mit der Eisenbahn. Aber zu Fu?, wie lange ist es da? Und in Gedanken? Keine Sekunde!"

"Hor mal," sagte Joachim, "was hast du denn? Ich glaube, es greift dich an hier bei uns?"

"Sei still! Ich bin sehr scharf im Kopf heute. Was ist denn die Zeit?" fragte Hans Castorp und bog seine Nasenspitze so gewaltsam zur Seite, da? sie wei? und blutleer wurde. "Willst du mir das mal sagen? Den Raum nehmen wir doch mit unseren Organen wahr, mit dem Gesichtssinn und dem Tastsinn. Schon. Aber welches ist denn unser Zeitorgan? Willst du mir das mal eben angeben? Siehst du, da sitzst du fest. Aber wie wollen wir denn etwas messen, wovon wir genau genommen rein gar nichts, nicht eine einzige Eigenschaft auszusagen wissen! Wir sagen: die Zeit lauft ab. Schon, soll sie also mal ablaufen. Aber um sie messen zu konnen ... warte! Um me?bar zu sein, mu?te sie doch gleichma?ig ablaufen, und wo steht denn das geschrieben, da? sie das tut? Fur unser Bewu?tsein tut sie es nicht, wir nehmen es nur der Ordnung halber an, da? sie es tut, und unsere Ma?e sind doch blo? Konvention, erlaube mir mal ..."

"Gut," sagte Joachim, "dann ist es wohl auch blo? Konvention, da? ich hier vier Striche zuviel habe auf meinem Thermometer! Aber wegen dieser funf Striche mu? ich mich hier herumrakeln und kann nicht Dienst machen, das ist eine ekelhafte Tatsache!"

"Hast du 37,5?"

"Es geht schon wieder herunter." Und Joachim machte die Eintragung in seine Tabelle. "Gestern abend waren es fast 38, das machte deine Ankunft. Alle, die Besuch bekommen, haben Erhohung. Aber es ist doch eine Wohltat."

"Ich gehe ja nun auch", sagte Hans Castorp. "Ich habe noch eine Menge Gedanken uber die Zeit im Kopf, - es ist ein ganzer Komplex, kann ich wohl sagen. Aber ich will dich jetzt nicht damit aufregen, da du sowieso zuviel Striche hast. Ich werde es schon alles behalten, und wir konnen spater darauf zuruckkommen, vielleicht nach dem Fruhstuck. Wenn es Fruhstuckszeit ist, rufst du mich wohl. Ich gehe jetzt auch in die Liegekur, es tut ja nicht weh, gottlob." Und damit ging er an der glasernen Scheidewand vorbei in seine eigene Loge hinuber, wo gleichfallsein Liegestuhl nebst Tischchen aufgeschlagen war, holte sich "Ocean steamships" und sein schones, weiches, dunkelrot und grun

gewurfeltes Plaid aus dem reinlich aufgeraumten Zimmer und lie? sich nieder.

Auch er mu?te sehr bald den Schirm aufspannen; sowie man lag, wurde der Sonnenbrand unertraglich. Man lag aber ganz ungewohnlich bequem, das stellte Hans Castorp sogleich mit Vergnugen fest, - er erinnerte sich nicht, da? ihm je ein so angenehmer Liegestuhl vorgekommen sei. Das Gestell, ein wenig altmodisch in der Form - was aber nur eine Geschmacksspielerei war, denn der Stuhl war offenbar neu -, bestand aus rotbraun poliertem Holz, und eine Matratze mit weichem, kattunartigen Uberzug, eigentlich aus drei hohen Polstern zusammengesetzt, reichte vom Fu?ende bis uber die Ruckenlehne hinauf. Au?erdem war vermittelst einer Schnur eine weder zu feste noch zu nachgiebige Nackenrolle mit gesticktem Leinenuberzug daran befestigt, die von besonders wohltuender Wirkung war. Hans Castorp stutzte einen Arm auf die breite, glatte Flache der Seitenlehne, blinzelte und ruhte, ohne "Ocean steamships" zu seiner Unterhaltung in Anspruch zu nehmen. Durch die Bogen der Loggia gesehen, wirkte die harte und karge, aber hell besonnte Landschaft drau?en gemaldeartig und wie eingerahmt. Hans Castorp betrachtete sie gedankenvoll. Plotzlich fiel ihm etwas ein, und er sagte laut in der Stille:

"Es war ja eine Zwergin, die uns beim ersten Fruhstuck bediente."

"Pst", machte Joachim. "Leise doch. Ja, eine Zwergin. Und?"

"Nichts. Wir hatten uns noch gar nicht daruber ausgesprochen."

Und dann traumte er weiter. Es war schon zehn Uhr gewesen, als er sich niedergelegt hatte. Eine Stunde verging. Es war eine gewohnliche Stunde, nicht lang, nicht kurz. Als sie verflossen war, tonte ein Gong durch Haus und Garten, erst fern, dann naher, dann wieder fern.

"Fruhstuck", sagte Joachim, und man horte, da? er aufstand.

Auch Hans Castorp beendete fur diesmal die Liegekur und ging ins Zimmer, um sich ein wenig zurechtzumachen. Die Vettern trafen sich auf dem Korridor und gingen hinunter. Hans Castorp sagte:

"Nun, es lag sich ja ausgezeichnet. Was sind denn das fur Stuhle? Wenn es die hier zu kaufen gibt, dann nehme ich mir einen mit nach Hamburg, man liegt ja darauf wie im Himmel. Oder meinst du, da? Behrens sie eigens nach seinen Angaben hat anfertigen lassen?"

Joachim wu?te das nicht. Sie legten ab und betraten zum zweiten Male den Speisesaal, wo die Mahlzeit schon wieder in vollem Gange war.

Es schimmerte wei? im Saale vor lauter Milch: an jedem Platz stand ein gro?es Glas, wohl ein halber Liter voll.

"Nein", sagte Hans Castorp, als er wieder an seinem Tischende zwischen der Nahterin und der Englanderin Platz genommen und ergeben seine Serviette entfaltet hatte, obgleich er noch so schwer belastet vom erstenFruhstuck war. "Nein," sagte er, "Gott steh mir bei, Milch kann ich uberhaupt nicht trinken und am wenigsten jetzt. Ist nicht vielleicht Porter da?" Und er wandte sich zuerst hoflich und zart an die Zwergin mit dieser Frage. Leider war keiner da. Aber sie versprach, Kulmbacher Bier zu bringen und brachte es auch. Es war dick, schwarz, braunschaumig und ersetzte den Porter aufs beste. Hans Castorp trank durstig davon aus einem hohen Halbliterglase. Er a? kalten Aufschnitt dazu auf Rostbrot. Wieder war Haferbrei aufgestellt und wieder viel Butter und Obst. Er lie? wenigstens seine Augen darauf ruhen, da er nicht fahig war, sich davon zuzufuhren. Auch betrachtete er die Gasteschaft, - die Massen begannen sich fur ihn zu teilen; Einzelpersonen traten hervor.

Sein eigener Tisch war komplett, bis auf den oberen Platz ihm gegenuber, welcher, wie er sich belehren lie?, der Doktorplatz war. Denn die Arzte, wenn ihre Zeit es irgend erlaubte, beteiligten sich an den gemeinsamen Mahlzeiten und wechselten dabei die Tische: an einem jeden war zu oberst ein solcher Doktorplatz freigehalten. Jetzt war keiner von beiden anwesend; man sagte, sie seien bei einer Operation. Wieder kam der junge Mann mit dem Schnurrbart herein, senkte einmal das Kinn auf die Brust und setzte sich mit sorgenvoll-verschlossener Miene. Wieder sa? die Hellblonde, Magere an ihrem Platze und loffelte Yoghurt, als ob dies ihre einzige Speise ware. Neben ihr sa? diesmal eine kleine, muntere alte Dame, die in russischer Zunge auf den stillen jungen Mann einredete, der sie sorgenvoll anblickte und nicht anders als mit Kopfnicken antwortete, wobei er jenes Gesicht machte, als habe er etwas Schlechtschmeckendes im Munde. Ihm gegenuber, an der anderen Seite der alten Dame, war ein weiteres junges Madchen placiert, - hubsch war sie, von bluhender Gesichtsfarbe und hoher Brust, mit kastanienbraunem, angenehm wellig geordnetem Haar, runden, braunen, kindlichen Augen und einem kleinen Rubin an ihrer schonen Hand. Sie lachte viel und sprach ebenfalls Russisch, nur Russisch. Sie hie? Marusja, wie Hans Castorp horte. Ferner bemerkte er beilaufig, da? Joachim mit strengem Ausdruck die Augen niederschlug, wenn sie lachte

und sprach.

Settembrini erschien durch den Seiteneingang und schritt schnurrbartkrauselnd zu seinem Platze, der am Ende des Tisches gelegen war, der schrag vor demjenigen Hans Castorps stand. Seine Tischgenossen brachen in schallendes Lachen aus, als er sich niedersetzte; wahrscheinlich hatte er eine Bosheit gesagt. Auch die Mitglieder des "Vereins Halbe Lunge" erkannte Hans Castorp wieder. Hermine Kleefeld schob mit dummen Augen zu ihrem Tische dort druben vor der einen Verandatur und begru?te den wulstlippigen Jungling, der vorhin so unschicklich seine Jacke emporgerafft hatte. Die elfenbeinfarbene Levi sa? neben der fetten und leberfleckigen Iltis unter Unbekannten an dem querstehenden Tischerechts von Hans Castorp.

"Da sind deine Nachbarn", sagte Joachim leise zu seinem Vetter, indem er sich vorneigte ... Das Paar ging dicht an Hans Castorp vorbei zu dem letzten Tisch rechts, dem "Schlechten Russentisch" also, wo schon eine Familie mit einem ha?lichen Knaben gro?e Haufen Porridge verschlang. Der Mann war schmachtig gebaut und hatte graue und hohle Wangen. Er trug eine braune Lederjoppe und an den Fu?en plumpe Filzstiefel mit Spangenverschlu?. Seine Ehefrau, ebenfalls klein und zierlich, in wippendem Federhut, trippelte auf winzigen, hochgestockelten Juchtenstiefelchen; eine unsaubere Boa aus Vogelfedern lag um ihren Hals. Hans Castorp betrachtete die beiden mit einer Rucksichtslosigkeit, die ihm sonst fremd war und die er selbst als brutal empfand; doch war es eben das Brutale daran, das ihm plotzlich ein gewisses Vergnugen verursachte. Seine Augen waren zugleich stumpf und zudringlich. Als in demselben Augenblick die Glastur zur Linken zufiel, schmetternd und klirrend, wie beim ersten Fruhstuck, zuckte er nicht zusammen wie heute fruh, sondern schnitt nur eine trage Grimasse; und als er den Kopf nach jener Seite wenden wollte, fand er, da? ihm dies allzu schwer falle und da? es die Muhe nicht lohne. So kam es, da? er auch diesmal nicht zu der Feststellung gelangte, wer mit der Tur denn so liederlich umgehe.

Die Sache war die, da? das Fruhstucksbier, sonst nur von ma?ig benebelnder Wirkung auf seine Natur, den jungen Mann heute vollstandig betaubte und lahmte, - es zeitigte Folgen, als hatte er einen Schlag vor die Stirn bekommen. Seine Lider waren wie Blei so schwer, die Zunge gehorchte dem einfachen Gedanken nicht recht, als er aus Artigkeit mit der Englanderin zu plaudern versuchte; auch nur die Richtung des Blicks zu verandern, erforderte gro?e Selbstuberwindung,

und hinzu kam, da? der abscheuliche Gesichtsbrand den gestrigen Grad nun wieder vollauf erreicht hatte: seine Wangen schienen ihm gedunsen vor Hitze, er atmete schwer, sein Herz pochte wie ein umwickelter Hammer, und wenn er unter all dem nicht sonderlich litt, so war es deshalb, weil sein Kopf sich in einem Zustand befand, als habe er zwei oder drei Atemzuge von Chloroform getan. Da? Dr. Krokowski doch noch beim Fruhstuck erschien und an seiner Tafel, ihm gegenuber, Platz nahm, bemerkte er nur traumweise, obgleich der Doktor ihn wiederholentlich scharf ins Auge fa?te, wahrend er mit den Damen zu seiner Rechten russisch konversierte, - wobei die jungen Madchen, namlich die bluhende Marusja sowohl wie auch die magere Yoghurtesserin, unterwurfig und schamhaft die Augen vor ihm niederschlugen. Ubrigens hielt Hans Castorp sich redlich, wie sich von selbst versteht, schwieg, da seine Zunge sich widerspenstig zeigte, lieber still und handhabte Messer und Gabel sogar mit besonderem Anstand. Als seinVetter ihm zunickte und sich erhob, stand er ebenfalls auf, verneigte sich blind gegen die Tischgenossen und ging bestimmten Schrittes hinter Joachim hinaus.

"Wann ist denn wieder Liegekur?" fragte er, als sie das Haus verlie?en. "Das ist das Beste hier, soviel ich sehe. Ich wollte, ich lage schon wieder auf meinem vorzuglichen Stuhl. Gehen wir weit spazieren?"

Ein Wort zuviel

"Nein," sagte Joachim, "weit darf ich ja gar nicht gehen. Um diese Zeit gehe ich immer ein bi?chen hinunter, durchs Dorf und bis Platz, wenn ich Zeit habe. Man sieht Laden und Leute und kauft ein, was man braucht. Man liegt vor Tische noch eine Stunde, und dann liegt man wieder bis vier Uhr, sei ganz unbesorgt."

Sie gingen im Sonnenschein die Anfahrt hinab und uberschritten den Wasserlauf und das schmale Geleise, die Berggestalten der rechten Tallehne vor Augen: das "Kleine Schiahorn", die "Grunen Turme" und den "Dorfberg", die Joachim bei Namen nannte. Dort druben, in einiger Hohe, lag der ummauerte Friedhof von Davos-Dorf, - auf diesen ebenfalls wies Joachim mit seinem Stocke hin. Und sie gewannen die Hauptstra?e, die um ein Stockwerk uber die Talsohle erhoht, die terrassierte Lehne entlang fuhrte.

Von einem Dorf konnte ubrigens nicht gut die Rede sein; jedenfalls war

nichts davon als der Name ubrig. Der Kurort hatte es aufgezehrt, indem er sich immerfort gegen den Taleingang hin ausdehnte, und der Teil der gesamten Siedelung, welcher "Dorf" hie?, ging unmerklich und ohne Unterschied in den als "Davos Platz" bezeichneten uber. Hotels und Pensionen, alle mit gedeckten Veranden, Balkons und Liegehallen reichlich versehen, auch kleine Privathauser, in denen Zimmer zu vermieten waren, lagen zu beiden Seiten; hier und da kamen Neubauten; manchmal setzte auch die Bebauung aus, und die Stra?e gewahrte den Blick in die offenen Wiesengrunde des Tals ...

Hans Castorp, in seinem Verlangen nach dem gewohnten, geliebten Lebensreiz, hatte sich wieder eine Zigarre angezundet, und wahrscheinlich dank dem vorangegangenen Biere vermochte er zu seiner unaussprechlichen Genugtuung hier und da etwas von dem ersehnten Aroma zu verspuren: nur selten und schwach freilich, - es war eine gewisse nervose Anstrengung notig, um eine Ahnung des Vergnugens zu empfangen, und der abscheuliche Ledergeschmack herrschte bei weitem vor. Unfahig, sich in seine Ohnmacht zu finden, rang er eine Weile nach dem Genu?, der sich ihm entweder versagte oder nur spottend ahnungsweise von ferne zeigte, und warf die Zigarre endlich ermudet und angewidert fort. Trotz seiner Benommenheit fuhlte er die Hoflichkeitsverpflichtung, Konversation zu machen, und suchte sich zu diesem Zwecke der ausgezeichneten Dinge zu erinnern, die er vorhin uber die "Zeit" zu sagen gehabt hatte. Allein es erwies sich, da? er den ganzen "Komplex" ohne Rest vergessen hatte und uber die Zeit auchnicht den geringsten Gedanken mehr in seinem Kopfe beherbergte. Dafur begann er von korperlichen Angelegenheiten zu reden, und zwar etwas sonderbar.

"Wann mi?t du dich denn wieder?" fragte er. "Nach dem Essen? Ja, das ist gut. Da ist der Organismus in voller Tatigkeit, da mu? es sich zeigen. Da? Behrens von mir verlangte, ich sollte mich ebenfalls messen, das war doch wohl nur Spa?, hore mal, - Settembrini lachte ja auch aus vollem Halse daruber, es hatte doch absolut keinen Sinn. Ich habe ja auch nicht mal ein Thermometer."

"Nun," sagte Joachim, "das ware das wenigste. Du brauchst dir nur einen zu kaufen. Hier sind uberall Thermometer zu haben, beinahe in jedem Laden."

"Aber wozu denn! Nein, die Liegekur, die lasse ich mir gefallen, die will ich wohl mitmachen, aber das Messen ware zuviel fur einen Hospitanten,

das uberlasse ich denn doch lieber euch hier oben. Wenn ich nur wu?te," fuhr Hans Castorp fort, indem er beide Hande zum Herzen fuhrte wie ein Verliebter, "warum ich die ganze Zeit solches Herzklopfen habe, - es ist so beunruhigend, ich denke schon langer daruber nach. Siehst du, man hat Herzklopfen, wenn einem eine ganz besondere Freude bevorsteht oder wenn man sich angstigt, kurz, bei Gemutsbewegungen, nicht? Aber wenn einem das Herz nun ganz von selber klopft, grundlos und sinnlos und sozusagen auf eigene Hand, das finde ich geradezu unheimlich, versteh mich recht, es ist ja so, als ob der Korper seine eigenen Wege ginge und keinen Zusammenhang mit der Seele mehr hatte, gewisserma?en wie ein toter Korper, der ja auch nicht wirklich tot ist - das gibt es gar nicht -, sondern sogar ein sehr lebhaftes Leben fuhrt, namlich auf eigene Hand: es wachsen ihm noch die Haare und Nagel, und auch sonst soll physikalisch und chemisch, wie ich mir habe sagen lassen, ein uberaus munterer Betrieb darin herrschen ..."

"Was sind denn das fur Ausdrucke", sagte Joachim besonnen verweisend. "Ein munterer Betrieb!" Und vielleicht rachte er sich damit ein wenig fur den Verweis, den er heute fruh wegen des "Schellenbaums" erhalten.

"Aber es ist doch so! Es ist ein sehr munterer Betrieb! Warum nimmst du denn Ansto? daran?" fragte Hans Castorp. "Ubrigens erwahnte ich das nur nebenbei. Ich wollte nichts weiter sagen, als: es ist unheimlich und qualend, wenn der Korper auf eigene Hand und ohne Zusammenhang mit der Seele lebt und sich wichtig macht, wie bei solchem unmotivierten Herzklopfen. Man sucht formlich nach einem Sinn dafur, einer Gemutsbewegung, die dazu gehort, einem Gefuhl der Freude oder der Angst, wodurch es sozusagen gerechtfertigt wurde, - so geht es wenigstens mir, ich kann nur von mir reden."

"Ja, ja," sagte Joachim seufzend, "es ist wohlso ahnlich, wie wenn man Fieber hat - dabei herrscht auch ein besonders 'munterer Betrieb' im Korper, um deinen Ausdruck zu gebrauchen, und da mag es schon sein, da? man sich unwillkurlich nach einer Gemutsbewegung umsieht, wie du sagst, wodurch der Betrieb einen halbwegs vernunftigen Sinn bekommt ... Aber wir reden so unangenehmes Zeug", sagte er mit bebender Stimme und brach ab; worauf Hans Castorp nur mit den Achseln zuckte, und zwar ganz so, wie er es gestern abend zuerst bei Joachim gesehen hatte.

Sie gingen eine Weile schweigend. Dann fragte Joachim:

"Nun, wie gefallen dir denn die Leute hier? Ich meine die an unserem Tisch?"

Hans Castorp machte ein gleichgultig musterndes Gesicht.

"Gott," sagte er, "sie scheinen mir nicht sehr interessant. An den anderen Tischen sitzen, glaube ich, interessantere, aber das kommt einem vielleicht nur so vor. Frau Stohr sollte sich das Haar waschen lassen, es ist so fett. Und diese Mazurka da, oder wie sie hei?t, kommt mir etwas albern vor. Immer mu? sie sich das Taschentuch in den Mund stopfen vor lauter Kichern."

Joachim lachte laut uber die Namensverdrehung.

"'Mazurka' ist ausgezeichnet!" rief er. "Marusja hei?t sie, wenn du erlaubst, - das ist soviel wie Marie. Ja, sie ist wirklich zu ausgelassen", sagte er. "Und dabei hatte sie allen Grund, gesetzter zu sein, denn sie ist gar nicht wenig krank."

"Das sollte man nicht denken", sagte Hans Castorp. "Sie ist so gut im Stand. Gerade fur brustkrank sollte man sie nicht halten." Und er versuchte mit dem Vetter einen flotten Blick zu tauschen, fand aber, da? Joachims sonnverbranntes Gesicht eine fleckige Farbung zeigte, wie sonnverbrannte Gesichter sie annehmen, wenn das Blut daraus weicht, und da? sein Mund sich auf ganz eigentumlich klagliche Weise verzerrt hatte, - zu einem Ausdruck, der dem jungen Hans Castorp einen unbestimmten Schrecken einflo?te und ihn veranla?te, sofort den Gegenstand zu wechseln und sich nach anderen Personen zu erkundigen, wobei er Marusja und Joachims Gesichtsausdruck rasch zu vergessen suchte, was ihm auch vollig gelang.

Die Englanderin mit dem Hagebuttentee hie? Mi? Robinson. Die Nahterin war keine Nahterin, sondern Lehrerin an einer staatlichen hoheren Tochterschule in Konigsberg, und dies war der Grund, weshalb sie sich so richtig ausdruckte. Sie hie? Fraulein Engelhart. Was die muntere alte Dame betraf, so wu?te Joachim selber nicht, wie sie hie?, wie lange er auch schon hier oben war. Jedenfalls war sie die Gro?tante des Yoghurt essenden jungen Madchens, mit dem sie bestandig im Sanatorium lebte. Aber am kranksten von denen am Tisch war Dr. Blumenkohl, Leo Blumenkohl aus Odessa, - jener junge Mann mit dem Schnurrbart und der sorgenvoll verschlossenen Miene. Schon ganze Jahre war er hier oben ...

Eswar jetzt stadtisches Trottoir, auf dem sie gingen, - die Hauptstra?e

eines internationalen Treffpunktes, das sah man wohl. Flanierende Kurgaste begegneten ihnen, junge Leute zumeist, Kavaliere in Sportanzugen und ohne Hut, Damen, ebenfalls ohne Hut und in wei?en Rocken. Man horte Russisch und Englisch sprechen. Laden mit schmucken Schaufenstern reihten sich rechts und links, und Hans Castorp, dessen Neugier heftig mit seiner gluhenden Mudigkeit kampfte, zwang seine Augen, zu sehen und verweilte lange vor einem Herrenmodegeschaft, um festzustellen, da? die Auslage durchaus auf der Hohe sei.

Dann kam eine Rotunde mit gedeckter Galerie, in der eine Kapelle konzertierte. Hier war das Kurhaus. Auf mehreren Tennisplatzen waren Partien im Gange. Langbeinige, rasierte Junglinge in scharf gebugelten Flanellhosen, auf Gummisohlen und mit entblo?ten Unterarmen spielten gebraunten und wei? gekleideten Madchen gegenuber, die anlaufend sich in der Sonne steil emporreckten, um den kreidewei?en Ball hoch aus der Luft zu schlagen. Wie Mehlstaub lag es uber den gepflegten Sportfeldern. Die Vettern setzten sich auf eine freie Bank, um dem Spiele zuzusehen und es zu kritisieren.

"Du spielst hier wohl nicht?" fragte Hans Castorp.

"Ich darf ja nicht", antwortete Joachim. "Wir mussen liegen, immer liegen ... Settembrini sagt immer, wir lebten horizontal, - wir seien Horizontale, sagt er, das ist so ein fauler Witz von ihm. - Es sind Gesunde, die da spielen, oder sie tun es verbotenerweise. Ubrigens spielen sie ja nicht sehr ernsthaft, - mehr des Kostums wegen ... Und was das Verbotensein betrifft, da gibt es noch mehr Verbotenes, was hier gespielt wird, Poker, verstehst du, und in dem und jenem Hotel auch petits chevaux, - bei uns steht Ausweisung darauf, es soll das allerschadlichste sein. Aber manche laufen noch nach der Abendkontrolle hinunter und pointieren. Der Prinz, von dem Behrens seinen Titel hat, soll es auch immer getan haben."

Hans Castorp horte das kaum. Der Mund stand ihm offen, denn er konnte nicht recht durch die Nase atmen, ohne da? er ubrigens Schnupfen gehabt hatte. Sein Herz hammerte in falschem Takte zu der Musik, was er dumpf als qualend empfand. Und in diesem Gefuhl von Unordnung und Widerstreit begann er einzuschlafen, als Joachim zum Heimgehen mahnte.

Sie legten den Weg fast schweigend zuruck. Hans Castorp stolperte sogar ein paarmal auf der ebenen Stra?e und lachelte wehmutig

daruber, indem er den Kopf schuttelte. Der Hinkende fuhr sie im Lift in ihr Stockwerk. Sie trennten sich vor Nummer vierunddrei?ig mit einem kurzen "Auf Wiedersehn". Hans Castorp steuerte durch sein Zimmer auf den Balkon hinaus, wo er sich, wie er ging und stand, auf den Liegestuhl fallen lie? und ohne die einmal eingenommene Lage zu verbessern in einen schweren, von dem raschen Schlage seines Herzenspeinlich belebten Halbschlummer sank.

Naturlich, ein Frauenzimmer!

Wie lange das dauerte, wu?te er nicht. Als der Zeitpunkt gekommen war, ertonte das Gong. Aber es rief noch nicht unmittelbar zur Mahlzeit, es mahnte nur, sich bereit zu machen, wie Hans Castorp wu?te, und so blieb er noch liegen, bis das metallische Drohnen zum zweitenmal anschwoll und sich entfernte. Als Joachim durch das Zimmer kam, um ihn zu holen, wollte Hans Castorp sich umziehen, aber nun erlaubte Joachim es nicht mehr. Er ha?te und verachtete Unpunktlichkeit. Wie man denn vorwarts kommen wolle und gesund werden, um Dienst machen zu konnen, sagte er, wenn man sogar zu schlapp sei, um die Essenszeit einzuhalten. Da hatte er naturlich recht, und Hans Castorp konnte lediglich darauf hinweisen, da? er ja nicht krank, dafur aber im hochsten Grade schlafrig sei. Er wusch sich nur rasch die Hande; dann gingen sie in den Saal hinunter, zum drittenmal.

Durch beide Eingange stromten die Gaste herein. Auch durch die Verandaturen dort druben, die offen standen, kamen sie, und bald sa?en sie alle an den sieben Tischen, als seien sie nie davon aufgestanden. Dies war wenigstens Hans Castorps Eindruck, - ein rein traumerischer und vernunftwidriger Eindruck naturlich, dessen sein umnebelter Kopf sich jedoch einen Augenblick nicht erwehren konnte und an dem er sogar ein gewisses Gefallen fand; denn mehrmals im Laufe der Mahlzeit suchte er ihn sich zuruckzurufen, und zwar mit dem Erfolge vollkommener Tauschung. Die muntere alte Dame redete wieder in ihrer verwischten Sprache auf den ihr schrag gegenubersitzenden Dr. Blumenkohl ein, der ihr mit besorgter Miene zuhorte. Ihre magere Gro?nichte a? endlich etwas anderes als Yoghurt, namlich die seimige Creme d'orge, welche die Saaltochter in Tellern serviert hatten; doch nahm sie nur wenige Loffel davon und lie? sie dann stehen. Die hubsche Marusja stopfte ihr Taschentuchlein, das ein Apfelsinenparfum ausstromte, in den Mund, um ihr Kichern zu ersticken. Mi? Robinson las dieselben rundlich

geschriebenen Briefe, die sie schon heute morgen gelesen hatte. Offenbar konnte sie kein Wort deutsch und wollte es auch nicht konnen. Joachim sagte in ritterlicher Haltung etwas auf englisch zu ihr uber das Wetter, was sie einsilbig kauend beantwortete, um dann ins Schweigen zuruckzukehren. Was Frau Stohr in ihrer schottischen Wollbluse betraf, so war sie heute vormittag untersucht worden und berichtete daruber, indem sie sich auf ungebildete Weise zierte und die Oberlippe von ihren Hasenzahnen zuruckzog. Rechts oben, so klagte sie, habe sie Gerausch, au?erdem klinge es unter der linken Achsel noch sehr verkurzt, und funf Monate, habe "der Alte" gesagt, musse sie noch bleiben. In ihrer Unbildung nannte sie Hofrat Behrens "den Alten". Ubrigens zeigte sie sich emport daruber, da? "der Alte" heute nicht an ihremTische sitze. Der "Tournee" zufolge(sie meinte wohl "Turnus") sei ihr Tisch heute mittag an der Reihe, wahrend "der Alte" schon wieder am Nebentische links sitze -(wirklich sa? Hofrat Behrens dort und faltete seine riesigen Hande vor seinem Teller). Aber freilich, dort habe ja die dicke Frau Salomon aus Brussel ihren Platz, die jeden Wochentag dekolletiert zum Essen komme, und daran finde "der Alte" offenbar Gefallen, obgleich sie, Frau Stohr, es nicht begreifen konne, denn bei jeder Untersuchung sahe er ja beliebig viel von Frau Salomon. Spater erzahlte sie in erregtem Flustertone, da? gestern abend in der oberen gemeinsamen Liegehalle - der namlich, die sich auf dem Dache befinde - das Licht ausgeloscht worden sei, und zwar zu Zwecken, die Frau Stohr als "durchsichtig" bezeichnete. "Der Alte" habe es gemerkt und so gewettert, da? es in der ganzen Anstalt zu horen gewesen sei. Aber den Schuldigen habe er naturlich wieder nicht ausfindig gemacht, wahrend man doch nicht auf der Universitat studiert zu haben brauche, um zu erraten, da? es naturlich dieser Hauptmann Miklosich aus Bukarest gewesen sei, dem es in Damengesellschaft uberhaupt nie dunkel genug sein konne, - ein Mensch ohne all und jede Bildung, obgleich er ein Korsett trage, und seinem Wesen nach einfach ein Raubtier, - ja, ein Raubtier, wiederholte Frau Stohr mit erstickter Stimme, indem ihr auf Stirn und Oberlippe der Schwei? ausbrach. In welchen Beziehungen Frau Generalkonsul Wurmbrand aus Wien zu ihm stehe, das wisse ja Dorf und Platz, - man konne wohl kaum noch von geheimnisvollen Beziehungen sprechen. Denn nicht genug, da? der Hauptmann zuweilen schon morgens zu der Generalkonsulin aufs Zimmer komme, wenn diese noch im Bett liege, worauf er dann ihrer ganzen Toilette beiwohne, sondern am vorigen Dienstag habe er das Zimmer der Wurmbrand uberhaupt erst morgens

um vier Uhr verlassen, - die Pflegerin des jungen Franz auf Nummer neunzehn, bei dem neulich der Pneumothorax mi?gluckt sei, habe ihn selbst dabei betroffen und vor Scham die gesuchte Tur verfehlt, so da? sie sich plotzlich in dem Zimmer des Staatsanwalts Paravant aus Dortmund gesehen habe ... Schlie?lich erging Frau Stohr sich langere Zeit uber eine "kosmische Anstalt", die sich drunten im Ort befinde, und in der sie ihr Zahnwasser kaufe, - Joachim blickte starr auf seinen Teller nieder ...

Das Mittagessen war sowohl meisterhaft zubereitet wie auch im hochsten Grade ausgiebig. Die nahrhafte Suppe eingerechnet, bestand es aus nicht weniger als sechs Gangen. Dem Fisch folgte ein gediegenes Fleischgericht mit Beilagen, hierauf eine besondere Gemuseplatte, gebratenes Geflugel dann, eine Mehlspeise, die jener von gestern abend an Schmackhaftigkeit nicht nachstand, und endlich Kase und Obst. Jede Schussel ward zweimal gereicht - und nicht vergebens. Man fulltedie Teller und a? an den sieben Tischen, - ein Lowenappetit herrschte im Gewolbe, ein Hei?hunger, dem zuzusehen wohl ein Vergnugen gewesen ware, wenn er nicht gleichzeitig auf irgendeine Weise unheimlich, ja abscheulich gewirkt hatte. Nicht nur die Munteren legten ihn an den Tag, die schwatzten und einander mit Brotkugelchen warfen, nein, auch die Stillen und Finsteren, die in den Pausen den Kopf in die Hande stutzten und starrten. Ein halbwuchsiger Mensch am Nebentisch links, ein Schuljunge seinen Jahren nach, mit zu kurzen Armeln und dicken, kreisrunden Brillenglasern, schnitt alles, was er sich auf den Teller haufte, im voraus zu einem Brei und Gemengsel zusammen; dann beugte er sich daruber und schlang, indem er zuweilen mit der Serviette hinter die Brille fuhr, um sich die Augen zu wischen, - man wu?te nicht, was da zu trocknen war, ob Schwei? oder Tranen.

Zwei Zwischenfalle ereigneten sich wahrend der gro?en Mahlzeit und erregten Hans Castorps Aufmerksamkeit, soweit sein Befinden dies zulie?. Erstens fiel wieder die Glastur zu, - es war beim Fisch. Hans Castorp zuckte erbittert und sagte dann in zornigem Eifer zu sich selbst, da? er unbedingt diesmal den Tater feststellen musse. Er dachte es nicht nur, er sagte es auch mit den Lippen, so ernst war es ihm. Ich mu? es wissen! flusterte er mit ubertriebener Leidenschaftlichkeit, so da? Mi? Robinson sowohl wie die Lehrerin ihn verwundert anblickten. Und dabei wandte er den ganzen Oberkorper nach links und ri? seine blutuberfullten Augen auf.

Es war eine Dame, die da durch den Saal ging, eine Frau, ein junges Madchen wohl eher, nur mittelgro?, in wei?em Sweater und farbigem Rock, mit rotlichblondem Haar, das sie einfach in Zopfen um den Kopf gelegt trug. Hans Castorp sah nur wenig von ihrem Profil, fast gar nichts. Sie ging ohne Laut, was zu dem Larm ihres Eintritts in wunderlichem Gegensatz stand, ging eigentumlich schleichend und etwas vorgeschobenen Kopfes zum au?ersten Tische links, der senkrecht zur Verandatur stand, dem "Guten Russentisch" namlich, wobei sie die eine Hand in der Tasche der anliegenden Wolljacke hielt, die andere aber, das Haar stutzend und ordnend, zum Hinterkopf fuhrte. Hans Castorp blickte auf diese Hand, - er hatte viel Sinn und kritische Aufmerksamkeit fur Hande und war gewohnt, auf diesen Korperteil zuerst, wenn er neue Bekanntschaften machte, sein Augenmerk zu richten. Sie war nicht sonderlich damenhaft, die Hand, die das Haar stutzte, nicht so gepflegt und veredelt, wie Frauenhande in des jungen Hans Castorp gesellschaftlicher Sphare zu sein pflegten. Ziemlich breit und kurzfingrig, hatte sie etwas Primitives und Kindliches, etwas von der Hand eines Schulmadchens; ihre Nagel wu?ten offenbar nichts von Manikure, sie waren schlecht und recht beschnitten, ebenfalls wiebei einem Schulmadchen, und an ihren Seiten schien die Haut etwas aufgerauht, fast so, als werde hier das kleine Laster des Fingerkauens gepflegt. Ubrigens erkannte Hans Castorp dies eher ahnungsweise, als da? er es eigentlich gesehen hatte, - die Entfernung war doch zu bedeutend. Mit einem Kopfnicken begru?te die Nachzuglerin ihre Tischgesellschaft, und indem sie sich setzte, an die Innenseite des Tisches, den Rucken gegen den Saal, zur Seite Dr. Krokowskis, der dort den Vorsitz hatte, wandte sie, noch immer die Hand am Haar, den Kopf uber die Schulter und uberblickte das Publikum, - wobei Hans Castorp fluchtig bemerkte, da? sie breite Backenknochen und schmale Augen hatte ... Eine vage Erinnerung an irgendetwas und irgendwen beruhrte ihn leicht und vorubergehend, als er das sah ...

Naturlich, ein Frauenzimmer! dachte Hans Castorp, und wieder murmelte er es ausdrucklich vor sich hin, so da? die Lehrerin, Fraulein Engelhart, verstand, was er sagte. Die durftige alte Jungfer lachelte geruhrt.

"Das ist Madame Chauchat", sagte sie. "Sie ist so lassig. Eine entzuckende Frau." Und dabei verstarkte sich die flaumige Rote auf Fraulein Engelharts Wangen um eine Schattierung, - was ubrigens immer

der Fall war, sobald sie den Mund offnete.

"Franzosin?" fragte Hans Castorp streng.

"Nein, sie ist Russin", sagte die Engelhart. "Vielleicht ist der Mann Franzose oder franzosischer Abkunft, das wei? ich nicht sicher."

Ob es der dort sei, fragte Hans Castorp noch immer gereizt und deutete auf einen Herrn mit vorhangenden Schultern am Guten Russentisch.

O nein, er sei nicht hier, entgegnete die Lehrerin. Er sei uberhaupt noch nicht hier gewesen, sei hier ganz unbekannt.

"Sie sollte die Tur ordentlich zumachen!" sagte Hans Castorp. "Immer la?t sie sie zufallen. Das ist doch eine Unmanier."

Und da die Lehrerin den Verweis demutig lachelnd einsteckte, als sei sie selber die Schuldige, so war nicht weiter die Rede von Madame Chauchat. -

Das zweite Vorkommnis bestand darin, da? Dr. Blumenkohl vorubergehend den Saal verlie?, - weiter war es nichts. Plotzlich verstarkte sich der leise angewiderte Ausdruck seines Gesichtes, sorgenvoller als sonst blickte er auf einen Punkt, schob dann mit bescheidener Bewegung seinen Stuhl zuruck und ging hinaus. Hier aber zeigte sich Frau Stohrs gro?e Unbildung im vollsten Licht, denn wahrscheinlich aus gemeiner Genugtuung daruber, da? sie weniger krank war als Blumenkohl, begleitete sie seinen Weggang mit halb mitleidigen, halb verachtlichen Glossen. "Der Armste!" sagte sie. "Der pfeift bald aus dem letzten Loch. Schon wieder mu? er sich mit dem Blauen Heinrich besprechen." Ganz ohne Uberwindung, mit storrisch unwissender Miene, brachte sie die fratzenhafte Bezeichnung "der blaue Heinrich" uber die Lippen, und Hans Castorp empfand ein Gemisch von Schrecken und Lachreiz, als sie es sagte. Ubrigens kehrte Dr. Blumenkohl nach wenigen Minutenin der gleichen bescheidenen Haltung zuruck, in der er hinausgegangen war, nahm wieder Platz und fuhr fort, zu essen. Auch er a? sehr viel, von jedem Gerichte zweimal, stumm und mit sorgenvoll verschlossener Miene.

Dann war das Mittagessen beendet: dank einer gewandten Bedienung - denn die Zwergin besonders war ein sonderbar raschfu?iges Wesen - hatte es nur eine gute Stunde gedauert. Hans Castorp, schwer atmend, und ohne recht zu wissen, wie er heraufgekommen war, lag wieder auf dem vorzuglichen Stuhl in seiner Balkonloge, denn nach dem Essen war

Liegekur bis zum Tee, - sogar die wichtigste des Tages und streng einzuhalten. Zwischen den undurchsichtigen Glaswanden, die ihn von Joachim einerseits und dem russischen Ehepaar andererseits trennten, lag er und dammerte mit pochendem Herzen, indem er Luft durch den Mund holte. Als er sein Taschentuch benutzte, fand er es von Blut gerotet, aber er hatte nicht die Kraft, sich Gedanken daruber zu machen, obgleich er ja etwas angstlich mit sich war und von Natur ein wenig zu hypochondrischen Grillen neigte. Wieder hatte er sich eine Maria Mancini angezundet, und diesmal rauchte er sie zu Ende, mochte sie nun wie immer schmecken. Schwindelig, beklommen und traumerisch bedachte er, wie sehr sonderbar es ihm hier oben ergehe. Zwei- oder dreimal ward seine Brust von innerem Lachen erschuttert uber die schauderhafte Bezeichnung, deren Frau Stohr sich in ihrer Unbildung bedient hatte.

Herr Albin

Drunten im Garten hob sich das Phantasie-Fahnentuch mit dem Schlangenstabe zuweilen im Windhauch. Der Himmel hatte sich wieder gleichma?ig bedeckt. Die Sonne war fort, und sogleich war es fast unwirtlich kuhl geworden. Die gemeinsame Liegehalle schien voll besetzt; es herrschte Gesprach und Gekicher dort unten.

"Herr Albin, ich flehe Sie an, legen Sie das Messer fort, stecken Sie es ein, es geschieht ein Ungluck damit!" klagte eine hohe, schwankende Damenstimme. Und:

"Bester Herr Albin, um Gottes willen, schonen Sie unsere Nerven und bringen Sie uns das entsetzliche Mordding aus den Augen!" mischte sich eine zweite darein, - worauf ein blondkopfiger junger Mann, welcher, eine Zigarette im Munde, seitwarts auf dem vordersten Liegestuhl sa?, in frechem Tone erwiderte:

"Fallt mir nicht ein! Die Damen werden mir doch wohl erlauben, etwas mit meinem Messer zu spielen! Nun ja, gewi?, es ist ein besonders scharfes Messer. Ich habe es in Kalkutta einem blinden Zauberer abgekauft ... Er konnte es verschlucken, und gleich darauf grub sein Boy es funfzig Schritte von ihm entfernt aus dem Boden ... Wollen Sie sehen? Es ist viel scharfer als ein Rasiermesser. Man braucht die Schneide nur zu beruhren, und sie geht einem ins Fleisch wie durch Butter. Warten Sie, ich zeige es Ihnen naher ..." Und Herr Albin stand auf. Ein Gekreischerhob sich. "Nein, jetzt hole ich meinen Revolver!" sagte Herr

Albin. "Das wird Sie mehr interessieren. Ein ganz verflixtes Ding. Von einer Durchschlagskraft ... Ich hole ihn aus meinem Zimmer."

"Herr Albin, Herr Albin, tun Sie es nicht!" zeterten mehrere Stimmen. Aber Herr Albin kam schon aus der Liegehalle hervor, um auf sein Zimmer zu gehen, - blutjung und schlenkricht, mit rosigem Kindergesicht und kleinen Backenbartstreifen neben den Ohren.

"Herr Albin," rief eine Dame hinter ihm drein, "holen Sie lieber Ihren Paletot, ziehen Sie ihn an, tun Sie es mir zuliebe! Sechs Wochen haben Sie mit Lungenentzundung gelegen, und nun sitzen Sie hier ohne Uberzieher und decken sich nicht einmal zu und rauchen Zigaretten! Das hei?t Gott versuchen, Herr Albin, mein Ehrenwort!"

Aber er lachte nur hohnisch im Weggehen, und schon nach wenigen Minuten kehrte er mit dem Revolver zuruck. Da kreischten sie noch alberner als vorhin, und man horte, da? mehrere von den Stuhlen springen wollten, sich in ihre Decken verwickelten und sturzten.

"Sehen Sie, wie klein und blank er ist," sagte Herr Albin, "aber wenn ich hier drucke, so bei?t er zu ..." Ein neues Gekreisch. "Er ist naturlich scharf geladen", fuhr Herr Albin fort. "In dieser Scheibe hier stecken die sechs Patronen, die dreht sich bei jedem Schu? um ein Loch weiter ... Ubrigens halte ich mir das Ding nicht zum Spa?", sagte er, da er bemerkte, da? die Wirkung sich abnutzte, lie? den Revolver in die Brusttasche gleiten und setzte sich wieder mit ubergeschlagenem Bein auf seinen Stuhl, indem er sich eine frische Zigarette anzundete. "Durchaus nicht zum Spa?", wiederholte er und pre?te die Lippen zusammen.

"Wozu denn? Wozu denn?" fragten ahnungsvoll bebende Stimmen. "Entsetzlich!" schrie plotzlich eine einzelne, und da nickte Herr Albin.

"Ich sehe, Sie fangen an, zu begreifen", sagte er. "In der Tat, dazu halte ich ihn mir", fuhr er leichthin fort, nachdem er trotz der uberstandenen Lungenentzundung eine Menge Rauch eingezogen und wieder von sich geblasen hatte. "Ich halte ihn in Bereitschaft fur den Tag, wo mir dieser Trodel hier zu langweilig wird und wo ich die Ehre haben werde, mich ergebenst zu empfehlen. Die Sache ist ziemlich einfach ... Ich habe einiges Studium darauf verwandt und bin mit mir im reinen daruber, wie sie am besten zu deichseln ist.(Bei dem Worte "deichseln" ertonte ein Schrei.) Die Herzpartie schaltet aus ... Der Ansatz ist mir da nicht recht bequem ... Auch ziehe ich es vor, das Bewu?tsein an Ort und Stelle auszuloschen, namlich indem ich mir so einen hubschen kleinen

Fremdkorper in dieses interessante Organ appliziere ..." Und Herr Albin deutete mit dem Zeigefinger auf seinen kurzgeschorenen Blondschadel. "Man mu? hier ansetzen-" Herr Albin zog den vernickelten Revolver wieder aus der Tasche und klopfte mit der Mundung an seine Schlafe - "hier oberhalb der Schlagader ... Sogar ohne Spiegel ist es eine glatte Sache ..."

Mehrstimmiger, flehender Protest ward laut, in den sich sogar ein heftiges Schluchzen mischte.

"Herr Albin, Herr Albin, den Revolver weg, nehmen Sie den Revolver von Ihrer Schlafe weg, es ist nicht anzusehen! Herr Albin, Sie sind jung, Sie werden gesund werden, Sie werden ins Leben zuruckkehren und sich der allgemeinen Beliebtheit erfreuen, mein Ehrenwort! Ziehen Sie nur Ihren Mantel an, legen Sie sich hin, decken Sie sich zu, machen Sie Kur! Jagen Sie den Bademeister nicht wieder fort, wenn er kommt, um Sie mit Alkohol abzureiben! Lassen Sie das Zigarettenrauchen, Herr Albin, horen Sie, wir bitten um Ihr Leben, Ihr junges, kostbares Leben!"

Aber Herr Albin war unerbittlich.

"Nein, nein," sagte er, "lassen Sie mich, es ist gut, ich danke Ihnen. Ich habe noch nie einer Dame etwas abgeschlagen, aber Sie werden einsehen, da? es unnutz ist, dem Schicksal in die Speichen zu fallen. Ich bin im dritten Jahr hier ... ich habe es satt und spiele nicht mehr mit, - konnen Sie mir das verargen? Unheilbar, meine Damen, - sehen Sie mich an, wie ich hier sitze, bin ich unheilbar, - der Hofrat selbst macht kaum noch ehren- und schandenhalber ein Hehl daraus. Gonnen Sie mir das bi?chen Ungebundenheit, das fur mich aus dieser Tatsache resultiert! Es ist wie auf dem Gymnasium, wenn es entschieden war, da? man sitzen blieb und nicht mehr gefragt wurde und nichts mehr zu tun brauchte. Zu diesem glucklichen Zustand bin ich nun endgultig wieder gediehen. Ich brauche nichts mehr zu tun, ich komme nicht mehr in Betracht, ich lache uber das Ganze. Wollen Sie Schokolade? Bedienen Sie sich! Nein, Sie berauben mich nicht, ich habe massenweise Schokolade auf meinem Zimmer. Acht Bonbonnieren, funf Tafeln Gala-Peter und vier Pfund Lindschokolade habe ich da oben, - das alles haben die Damen des Sanatoriums mir wahrend meiner Lungenentzundung zustellen lassen ..."

Irgendwoher gebot eine Ba?stimme Ruhe. Herr Albin lachte kurz auf, - es war ein flatternd-abgerissenes Lachen. Dann ward es still in der Liegehalle, so still, als sei ein Traum oder Spuk zerstoben; und sonderbar klangen die gesprochenen Worte im Schweigen nach. Hans Castorp

lauschte ihnen, bis sie vollig erstorben waren, und obwohl ihm unbestimmt schien, als ob Herr Albin ein Laffe sei, so konnte er sich doch nicht eines gewissen Neides auf ihn erwehren. Namentlich jenes dem Schulleben entnommene Gleichnis hatte ihm Eindruck gemacht, denn er selbst war ja in Untersekunda sitzen geblieben, und er erinnerte sich wohl des etwas schimpflichen aberhumoristischen, angenehm verwahrlosten Zustandes, dessen er genossen hatte, als er im vierten Quartal das Rennen aufgegeben und "uber das Ganze" hatte lachen konnen. Da seine Betrachtungen dumpf und verworren waren, so ist es schwer, sie zu prazisieren. Hauptsachlich schien ihm, da? die Ehre bedeutende Vorteile fur sich habe, aber die Schande nicht minder, ja, da? die Vorteile der letzteren geradezu grenzenloser Art seien. Und indem er sich probeweise in Herrn Albins Zustand versetzte und sich vergegenwartigte, wie es sein musse, wenn man endgultig des Druckes der Ehre ledig war und auf immer die bodenlosen Vorteile der Schande geno?, erschreckte den jungen Mann ein Gefuhl von wuster Su?igkeit, das sein Herz vorubergehend zu noch hastigerem Gange erregte.

Satana macht ehrruhrige Vorschlage

Spater verlor er das Bewu?tsein. Nach seiner Taschenuhr war es halb vier, als Gesprach hinter der linken Glaswand ihn weckte: Dr. Krokowski, der um diese Zeit ohne den Hofrat die Runde machte, sprach dort russisch mit dem unmanierlichen Ehepaar, erkundigte sich, wie es schien, nach dem Befinden des Gatten und lie? sich seine Fiebertabelle zeigen. Dann aber setzte er seinen Weg nicht durch die Balkonlogen fort, sondern umging Hans Castorps Abteil, indem er sich auf den Korridor zuruckbegab und durch die Zimmertur bei Joachim eintrat. Da? man solchergestalt einen Bogen um ihn beschrieb und ihn links liegen lie?, empfand Hans Castorp denn doch als etwas verletzend, obgleich ihn nach einem Zusammensein unter vier Augen mit Dr. Krokowski ja durchaus nicht verlangte. Freilich, er war eben gesund und zahlte nicht mit, - denn bei denen hier oben, dachte er, lagen die Dinge so, da? derjenige nicht in Betracht kam und nicht gefragt wurde, der die Ehre hatte, gesund zu sein, und das argerte den jungen Castorp.

Nachdem Dr. Krokowski sich bei Joachim zwei oder drei Minuten verweilt hatte, ging er den Balkon entlang weiter, und Hans Castorp horte den Vetter sagen, da? man nun aufstehen und sich zur Vespermahlzeit bereit machen konne. "Schon", sagte er und stand auf.

Aber es schwindelte ihn sehr vom langen Liegen, und der unerquickliche Halbschlaf hatte ihm das Gesicht aufs neue peinlich erhitzt, wahrend er ubrigens zum Frosteln neigte, - vielleicht hatte er sich nicht warm genug zugedeckt.

Er wusch sich Augen und Hande, ordnete sein Haar und seine Kleider und traf mit Joachim auf dem Korridor zusammen.

"Hast du diesen Herrn Albin gehort?" fragte er, als sie die Treppen hinunter gingen ...

"Naturlich", sagte Joachim. "Der Mensch mu?te diszipliniert werden. Stort da die ganze Mittagsruhe mit seinem Geschwatz und regt die Damen so auf, da? er sie um Wochen zuruckbringt. Eine grobe Insubordination. Aber wer will denn den Denunzianten machen. Und au?erdem sind solche Reden ja den meistenals Unterhaltung willkommen."

"Haltst du es fur moglich," fragte Hans Castorp, "da? er Ernst macht mit seiner 'glatten Sache', wie er sich ausdruckt, und sich einen Fremdkorper appliziert?"

"Ach, doch," antwortete Joachim, "ganz unmoglich ist es nicht. Dergleichen kommt vor hier oben. Zwei Monate bevor ich kam hat sich ein Student, der schon lange hier war, nach einer Generaluntersuchung im Walde druben aufgehangt. Es war in meinen ersten Tagen noch viel die Rede davon."

Hans Castorp gahnte erregt.

"Ja, gut fuhle ich mich nicht bei euch," erklarte er, "das kann ich nicht sagen. Ich halte es fur moglich, da? ich nicht bleiben kann, du, da? ich abreisen mu?, - wurdest du es mir weiter ubelnehmen?"

"Abreisen? Was fallt dir ein!" rief Joachim. "Unsinn. Wo du gerade erst angekommen bist. Wie willst du denn urteilen nach dem ersten Tage!"

"Gott, ist noch immer der erste Tag? Mir ist ganz, als ware ich schon lange - lange bei euch hier oben."

"Nun fange nur nicht wieder an, uber die Zeit zu spintisieren!" sagte Joachim. "Ganz konfus hast du mich heute morgen gemacht."

"Nein, sei beruhigt, ich habe alles vergessen", erwiderte Hans Castorp. "Den ganzen Komplex. Jetzt bin ich auch kein bi?chen scharf mehr im Kopfe, das ist voruber ... Nun gibt es also Tee."

"Ja, und dann gehen wir wieder bis zu der Bank von heute morgen."

"In Gottes Namen. Aber hoffentlich treffen wir Settembrini nicht

wieder. Ich kann mich heute an keinem gebildeten Gesprach mehr beteiligen, das sage ich dir im voraus."

Im Speisesaal wurden alle Getranke geschenkt, die zu dieser Stunde nur irgend in Betracht kommen. Mi? Robinson trank wieder ihren blutroten Hagebuttentee, wahrend die Gro?nichte Yoghurt loffelte. Au?erdem gab es Milch, Tee, Kaffee, Schokolade, ja sogar Fleischbruhe, und uberall waren die Gaste, die seit dem uppigen Mittagsmahl zwei Stunden liegend verbracht hatten, eifrig beschaftigt, Butter auf gro?e Schnitten Rosinenkuchen zu streichen.

Hans Castorp hatte sich Tee geben lassen und tauchte Zwieback hinein. Auch etwas Marmelade versuchte er. Den Rosinenkuchen betrachtete er genau, doch erzitterte er buchstablich bei dem Gedanken, davon zu essen. Abermals sa? er an seinem Platze im Saal mit dem einfaltig bunten Gewolbe, den sieben Tischen, - zum viertenmal. Etwas spater, um sieben Uhr, sa? er zum funftenmal dort, und da galt es das Abendessen. In die Zwischenzeit, welche kurz und nichtig war, fiel ein Spaziergang zu jener Bank an der Bergwand, beim Wasserrinnsal - der Weg war jetzt dicht belebt von Patienten, so da? die Vettern haufig zu gru?en hatten - und eine neuerliche Liegekur auf dem Balkon, von fluchtigen und gehaltlosen anderthalb Stunden. Hans Castorp frostelte heftig dabei.

Zur Abendmahlzeit kleidete er sich gewissenhaft um und a? dann zwischen Mi?Robinson und der Lehrerin Juliennesuppe, gebackenes und gebratenes Fleisch nebst Zubehor, zwei Stucke von einer Torte, in der alles vorkam: Makronenteig, Buttercreme, Schokolade, Fruchtmus und Marzipan, und sehr guten Kase auf Pumpernickel. Wieder lie? er sich eine Flasche Kulmbacher dazu geben. Als er jedoch sein hohes Glas zur Halfte geleert hatte, erkannte er klar und deutlich, da? er ins Bett gehore. In seinem Kopfe rauschte es, seine Augenlider waren wie Blei, sein Herz ging wie eine kleine Pauke, und zu seiner Qual bildete er sich ein, da? die hubsche Marusja, die, vornuber geneigt, ihr Gesicht in der Hand mit dem kleinen Rubin verbarg, uber ihn lache, obgleich er sich so angestrengt bemuht hatte, keinerlei Veranlassung dazu zu geben. Wie aus weiter Ferne horte er Frau Stohr etwas erzahlen oder behaupten, was ihm als so tolles Zeug erschien, da? er in verwirrte Zweifel geriet, ob er noch richtig hore oder ob Frau Stohrs Au?erungen sich vielleicht in seinem Kopfe zu Unsinn verwandelten. Sie erklarte, da? sie achtundzwanzig verschiedene Fischsaucen zu bereiten verstehe, - sie habe den Mut, dafur einzustehen,

obgleich ihr eigener Mann sie gewarnt habe, davon zu sprechen. "Sprich nicht davon!" habe er gesagt. "Niemand wird es dir glauben, und wenn man es glaubt, so wird man es lacherlich finden!" Und doch wolle sie es heute einmal sagen und offen bekennen, da? es achtundzwanzig Fischsaucen seien, die sie machen konne. Das schien dem armen Hans Castorp entsetzlich; er erschrak, griff sich mit der Hand an die Stirn und verga? vollkommen, einen Bissen Pumpernickel mit Chester, den er im Munde hatte, fertig zu kauen und hinunterzuschlucken. Noch als man von Tische aufstand, hatte er ihn im Munde.

Man ging durch die Glastur zur Linken hinaus, jene fatale, die immer zufiel und die geradewegs in die vordere Halle fuhrte. Fast alle Gaste nahmen diesen Weg, denn es zeigte sich, da? um die Stunde nach dem Diner in der Halle und den anliegenden Salons eine Art von Geselligkeit stattfand. Die Mehrzahl der Patienten stand in kleinen Gruppen plaudernd umher. An zwei grun ausgeschlagenen Klapptischen lag man dem Spiele ob; es war Domino an dem einen, Bridge an dem anderen Tische, und hier waren es nur junge Leute, die spielten, darunter Herr Albin und Hermine Kleefeld. Ferner gab es ein paar unterhaltende optische Gegenstande im ersten Salon: einen stereoskopischen Guckkasten, durch dessen Linsen man die in seinem Innern aufgestellten Photographien, zum Beispiel einen venezianischen Gondolier, in starrer und blutloser Korperlichkeit erblickte; zweitens ein fernrohrformiges Kaleidoskop, an dessen Linse man ein Auge legte, um sich, nur durch leichte Handhabung eines Rades, buntfarbige Sterne und Arabesken in zauberhafter Abwechslung vorzugaukeln; eine drehende Trommel endlich,in die man kinematographische Filmstreifen legte und durch deren Offnungen, wenn man seitlich hineinsah, ein Muller, der sich mit einem Schornsteinfeger prugelte, ein Schulmeister, einen Knaben zuchtigend, ein springender Seiltanzer und ein Bauernparchen im Landlertanz zu beobachten waren. Hans Castorp, die kalten Hande auf den Knien, blickte langere Zeit in jeden der Apparate. Er verweilte sich auch ein wenig am Bridgetische, wo der unheilbare Herr Albin mit hangenden Mundwinkeln und weltmannisch wegwerfenden Bewegungen die Karten handhabte. In einem Winkel sa? Dr. Krokowski, begriffen in frischem und herzlichem Gesprach mit einem Halbkreise von Damen, zu welchem Frau Stohr, Frau Iltis und Fraulein Levi gehorten. Die Inhaber des Guten Russentisches hatten sich in den ansto?enden kleineren Salon zuruckgezogen, der nur durch Portieren vom Spielzimmer getrennt war, und bildeten dort eine intime Clique. Es waren au?er Madame Chauchat:

ein blondbartiger, schlaffer Herr mit konkavem Brustkasten und glotzenden Augapfeln; ein tief brunettes Madchen von originellem und humoristischem Typus, mit goldenen Ohrringen und wirrem Wollhaar; ferner Dr. Blumenkohl, der sich ihnen zugesellt hatte, und noch zwei hangeschultrige Junglinge. Madame Chauchat trug ein blaues Kleid mit wei?em Spitzenkragen. Sie sa?, als Mittelpunkt ihrer Gruppe, auf dem Sofa hinter dem runden Tisch, im Hintergrunde des kleinen Gemaches, das Gesicht dem Spielzimmer zugewandt. Hans Castorp, der die ungezogene Frau nicht ohne Mi?billigung betrachten konnte, dachte bei sich: Sie erinnert mich an irgend etwas, doch kann ich nicht sagen, an was ... Ein langer Mensch von etwa drei?ig Jahren und mit gelichtetem Haupthaar spielte an dem kleinen braunen Pianoforte dreimal hintereinander den Hochzeitsmarsch aus dem "Sommernachtstraum", und als einige Damen ihn darum baten, begann er das melodiose Stuck zum viertenmal, nachdem er einer nach der anderen tief und schweigend in die Augen geblickt hatte.

"Ist es erlaubt, sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen, Ingenieur?" fragte Settembrini, welcher, die Hande in den Hosentaschen, zwischen den Gasten umhergeschlendert war und nun vor Hans Castorp hintrat ... Noch immer trug er seinen grauen, flausartigen Rock und die hell karierten Beinkleider. Er lachelte bei seiner Anrede, und wieder empfand Hans Castorp etwas wie Ernuchterung beim Anblick dieses fein und spottisch gekrauselten Mundwinkels unter der Biegung des schwarzen Schnurrbartes. Ubrigens blickte er den Italiener ziemlich blode, mit schlaffem Munde und rotgeaderten Augen an.

"Ach, Sie sind es", sagte er. "Der Herr vom Morgenspaziergang, den wir bei dieser Bank da oben ... beim Wasserlauf ... Naturlich, ich habe Sie sofort wieder erkannt. Wollen Sie glauben," fuhr er fort, obgleich er wohl einsah, da? er es nicht hatte sagen durfen, "da? ich Sie damals im ersten Augenblick fur einen Drehorgelmann gehalten habe? ... Das war naturlich der reine Unsinn," setzte er hinzu, da er sah, da? Settembrini's Blick einen kuhlforschenden Ausdruck annahm, "- eine furchtbare Dummheit mit einem Wort! Es ist mir sogar vollstandig unbegreiflich, wie in aller Welt ich ..."

"Beunruhigen Sie sich nicht, es hat nichts zu sagen", erwiderte Settembrini, nachdem er den jungen Mann noch einen Augenblick schweigend betrachtet hatte. "Und wie haben Sie also Ihren Tag verbracht, - den ersten Ihres Aufenthaltes an diesem Lustorte?"

"Ich danke sehr. Ganz vorschriftsma?ig", antwortete Hans Castorp. "Vorwiegend auf 'horizontale Art', wie Sie es mit Vorliebe nennen sollen."

Settembrini lachelte.

"Es mag sein, da? ich mich gelegentlich so ausgedruckt habe", sagte er. "Nun, und Sie fanden sie kurzweilig, diese Lebensweise?"

"Kurzweilig und langweilig, wie Sie nun wollen", erwiderte Hans Castorp. "Das ist zuweilen schwer zu unterscheiden, wissen Sie. Ich habe mich durchaus nicht gelangweilt, - dazu ist es doch ein allzu munterer Betrieb bei Ihnen hier oben. Man bekommt so viel Neues und Merkwurdiges zu horen und zu sehen ... Und doch ist mir auch andererseits wieder, als ob ich nicht nur einen Tag, sondern schon langere Zeit hier ware, - geradezu, als ob ich hier schon alter und kluger geworden ware, so kommt es mir vor."

"Kluger auch?" sagte Settembrini und zog die Brauen hoch. "Wollen Sie mir die Frage erlauben: Wie alt sind Sie eigentlich?"

Aber siehe da, Hans Castorp wu?te es nicht! Er wu?te im Augenblick nicht, wie alt er sei, trotz heftiger, ja verzweifelter Anstrengungen, sich darauf zu besinnen. Um Zeit zu gewinnen, lie? er sich die Frage wiederholen und sagte dann:

"... Ich ... wie alt? Ich bin naturlich im vierundzwanzigsten. Demnachst werde ich vierundzwanzig. Verzeihen Sie, ich bin mude!" sagte er. "Und Mudigkeit ist noch gar nicht der Ausdruck fur meinen Zustand. Kennen Sie das, wenn man traumt und wei?, da? man traumt und zu erwachen sucht und nicht aufwachen kann? Genau so ist mir zumut. Unbedingt mu? ich Fieber haben, anders kann ich es mir gar nicht erklaren. Wollen Sie glauben, da? ich bis zu den Knien hinauf kalte Fu?e habe? Wenn man so sagen darf, denn die Knie sind ja naturlich nicht mehr die Fu?e, - entschuldigen Sie, ich bin im hochsten Grade konfus, und das ist ja auch am Ende kein Wunder, wenn man schon am fruhen Morgen mit dem ... mit dem Pneumothorax angepfiffen wird und nachher die Reden dieses Herrn Albin mit anhort und obendrein in horizontaler Lage. Denken Sie, mir ist immer, als durfte ich meinen funf Sinnen nicht mehr recht trauen, und ich mu? sagen, das geniert mich noch mehr, als die Hitze im Gesicht und die kalten Fu?e. Sagen Sie mir offen: halten Sie es fur moglich, da? Frau Stohr achtundzwanzig Fischsaucen zu machen versteht?Ich meine nicht, ob sie sie wirklich machen kann - das halte ich fur ausgeschlossen - sondern ob sie es auch nur wirklich vorhin bei Tische behauptet hat oder ob es mir nur so vorkam, - nur das mochte ich wissen."

Settembrini sah ihn an. Er schien nicht zugehort zu haben. Wieder hatten seine Augen "sich festgesehen", waren in eine fixe und blinde Einstellung geraten, und wie heute morgen sagte er je dreimal "so, so, so" und "sieh, sieh, sieh", - spottisch-nachdenklich und mit scharfem S-Laut.

"Vierundzwanzig sagten Sie?" fragte er dann ...

"Nein, achtundzwanzig!" sagte Hans Castorp. "Achtundzwanzig Fischsaucen! Nicht Saucen im allgemeinen, sondern speziell Fischsaucen, das ist das Ungeheuerliche."

"Ingenieur!" sagte Settembrini zornig und ermahnend. "Nehmen Sie sich zusammen und lassen Sie mich mit diesem liederlichen Unsinn in Ruhe! Ich wei? nichts davon und will nichts davon wissen. - Im vierundzwanzigsten, sagten Sie? Hm ... gestatten Sie mir noch eine Frage oder einen unma?geblichen Vorschlag, wenn Sie so wollen. Da der Aufenthalt Ihnen nicht zutraglich zu sein scheint, da Sie sich korperlich und, wenn mich nicht alles tauscht, auch seelisch nicht wohl bei uns befinden, - wie ware es denn da, wenn Sie darauf verzichteten, hier alter zu werden, kurz, wenn Sie noch heute nacht wieder aufpackten und sich morgen mit den fahrplanma?igen Schnellzugen auf- und davonmachten?"

"Sie meinen, ich sollte abreisen?" fragte Hans Castorp ... "Wo ich gerade erst angekommen bin? Aber nein, wie will ich denn urteilen nach dem ersten Tage!"

Zufallig blickte er ins Nebenzimmer bei diesen Worten und sah dort Frau Chauchat von vorn, ihre schmalen Augen und breiten Backenknochen. Woran, dachte er, woran und an wen in aller Welt erinnert sie mich nur. Aber sein muder Kopf wu?te die Frage trotz einiger Anstrengung nicht zu beantworten.

"Naturlich fallt es mir nicht so ganz leicht, mich bei Ihnen hier oben zu akklimatisieren," fuhr er fort, "das war doch vorauszusehen, und deshalb gleich die Flinte ins Korn zu werfen, nur weil ich vielleicht ein paar Tage ein bi?chen verwirrt und hei? sein werde, da mu?te ich mich ja schamen, geradezu feig wurde ich mir vorkommen und au?erdem ginge es gegen alle Vernunft, - nein, sagen Sie selbst ..."

Er sprach auf einmal sehr eindringlich, mit erregten Schulterbewegungen, und schien den Italiener bestimmen zu wollen, seinen Vorschlag in aller Form zuruckzunehmen.

"Ich salutiere der Vernunft", antwortete Settembrini. "Ich salutiere ubrigens auch dem Mute. Was Sie sagen, la?t sich wohl horen, es durfte schwer sein, etwas Triftiges dagegen einzuwenden. Auch habe ich wirklich schone Falle von Akklimatisation beobachtet. Da war im vorigen Jahre Fraulein Kneifer, Ottilie Kneifer, durchaus von Familie, die Tochter eines hoheren Staatsfunktionars. Sie war wohl anderthalb Jahre hier undhatte sich so vortrefflich eingelebt, da? sie, als ihre Gesundheit vollkommen hergestellt war - denn das kommt vor, man wird zuweilen gesund hier oben -, da? sie auch dann noch um keinen Preis fort wollte. Sie bat den Hofrat von ganzer Seele, noch bleiben zu durfen, sie konne und moge nicht heim, hier sei sie zu Hause, hier sei sie glucklich; da aber lebhafter Zudrang herrschte und man ihr Zimmer benotigte, so war ihr Flehen umsonst, und man beharrte darauf, sie als gesund zu entlassen. Ottilie bekam hohes Fieber, sie lie? ihre Kurve tuchtig ansteigen. Allein man entlarvte sie, indem man ihr das gebrauchliche Thermometer mit einer 'Stummen Schwester' vertauschte, - Sie wissen noch nicht, was das ist, es ist ein Thermometer ohne Bezifferung, der Arzt kontrolliert ihn, indem er ein Ma? daran legt und zeichnet die Kurve dann selbst. Ottilie, mein Herr, hatte 36,9, Ottilie war fieberfrei. Da badete sie im See, - wir schrieben Anfang Mai damals, wir hatten Nachtfroste, der See war nicht geradezu eiskalt, er hatte genau genommen ein paar Grad uber Null. Sie blieb eine gute Weile im Wasser, um dies oder jenes abzubekommen, - allein der Erfolg? Sie war und blieb gesund. Sie schied in Schmerz und Verzweiflung, unzuganglich den Trostworten ihrer Eltern. 'Was soll ich da unten?' rief sie wiederholt. 'Hier ist meine Heimat!' Ich wei? nicht, was aus ihr geworden ist ... Aber mir scheint, Sie horen mich nicht, Ingenieur? Es kostet Sie Muhe, sich auf den Beinen zu halten, wenn mich nicht alles tauscht. Leutnant, hier haben Sie Ihren Vetter!" wandte er sich zu Joachim, der eben herantrat. "Fuhren Sie ihn zu Bette! Er vereinigt Vernunft und Mut, aber heute abend ist er ein wenig hinfallig."

"Nein, wirklich, ich habe alles verstanden!" beteuerte Hans Castorp. "Die Stumme Schwester ist also nur eine Quecksilbersaule, ganz ohne Bezifferung, - Sie sehen, ich habe es vollkommen aufgefa?t!" Aber dann fuhr er doch mit Joachim im Lift hinauf, zusammen mit mehreren anderen Patienten, - die Geselligkeit war beendet fur heute, man ging auseinander und suchte Hallen und Loggien auf, zur abendlichen Liegekur. Hans Castorp ging mit auf Joachims Zimmer. Der Boden des Korridors mit dem Kokoslaufer vollfuhrte sanfte Wellenbewegungen unter

seinen Fu?en, aber er empfand es nicht weiter unangenehm. Er setzte sich in Joachims gro?en geblumten Lehnstuhl - ein solcher Stuhl stand auch in seinem eigenen Zimmer - und zundete sich eine Maria Mancini an. Sie schmeckte nach Leim, nach Kohle und manchem anderen, nur nicht, wie sie sollte; doch fuhr er trotzdem fort, sie zu rauchen, wahrend er zusah, wie Joachim sich zur Liegekur fertig machte, seine litewkaartige Hausjoppe anlegte, daruber einen alterenPaletot zog und dann mit der Nachttischlampe und seinem russischen Ubungsbuch auf den Balkon hinausging, wo er das Lampchen einschaltete und auf dem Liegestuhl, das Thermometer im Munde, sich mit erstaunlicher Gewandtheit in zwei gro?e Kamelhaardecken zu wickeln begann, die uber den Stuhl gebreitet waren. Hans Castorp sah mit aufrichtiger Bewunderung, wie geschickt er es ausfuhrte. Er schlug die Decken, eine nach der anderen, zuerst von links der Lange nach bis unter die Achsel uber sich, hierauf von unten uber die Fu?e und dann von rechts, so da? er endlich ein vollkommen ebenma?iges und glattes Paket bildete, aus dem nur Kopf, Schultern und Arme hervorsahen.

"Das machst du ja ausgezeichnet", sagte Hans Castorp.

"Es ist die Ubung", antwortete Joachim, indem er beim Sprechen das Thermometer mit den Zahnen festhielt. "Du lernst es auch. Morgen mussen wir uns unbedingt ein paar Decken fur dich besorgen. Du kannst sie unten schon wieder brauchen, und hier bei uns sind sie unerla?lich, besonders da du ja keinen Pelzsack hast."

"Ich lege mich aber bei Nacht nicht auf den Balkon", erklarte Hans Castorp. "Das tue ich nicht, ich sage es dir gleich. Es wurde mir gar zu sonderbar vorkommen. Alles hat seine Grenzen. Und irgendwie mu? ich ja schlie?lich auch markieren, da? ich nur zu Besuch bin bei euch hier oben. Ich sitze hier noch etwas und rauche meine Zigarre, wie es sich gehort. Sie schmeckt miserabel, aber ich wei?, da? sie gut ist, und das mu? mir fur heute genugen. Jetzt ist die Uhr gleich neun, - allerdings, leider ist es noch nicht mal neun. Aber wenn es halb zehn ist, dann ist es ja schon so weit, da? man halbwegs normalerweise zu Bett gehen kann."

Ein Frostschauer uberlief ihn, - einer und dann mehrere rasch hintereinander. Hans Castorp sprang auf und lief zum Wandthermometer, als gelte es, ihn in flagranti ertappen. Nach Reaumur waren neun Grad im Zimmer. Er fa?te die Rohren an und fand sie tot und kalt. Er murmelte etwas Ungeordnetes, des Inhalts, wenn auch August sei, so sei es doch eine Schande, da? nicht geheizt werde, denn nicht auf

den Monatsnamen komme es an, den man eben schreibe, sondern auf die herrschende Temperatur, und die sei so, da? ihn friere wie einen Hund. Aber sein Gesicht brannte. Er setzte sich wieder, stand nochmals auf, bat murmelnd um Erlaubnis, Joachims Bettdecke nehmen zu durfen und breitete sie sich, im Stuhle sitzend, uber den Unterkorper. So sa? er, hitzig und frostelnd, und qualte sich mit der widerlich schmeckenden Zigarre. Ein gro?es Elendsgefuhl uberkam ihn; ihm war, als sei es ihm noch nie im Leben so schlecht ergangen. "Das ist ja einElend!" murmelte er. Dazwischen aber beruhrte ihn plotzlich ein ganz absonderlich ausschweifendes Gefuhl der Freude und Hoffnung, und als er es empfunden hatte, sa? er nur noch da, um zu warten, ob es nicht vielleicht wiederkame. Es kam aber nicht wieder; nur das Elend blieb. Und so stand er denn schlie?lich auf, warf Joachims Decke aufs Bett zuruck, murmelte verzerrten Mundes etwas wie "Gute Nacht!" und "Erfriere nur nicht!" und "Zum Fruhstuck holst du mich ja wohl wieder" und schwankte uber den Korridor in sein Zimmer hinuber.

Beim Auskleiden sang er vor sich hin, jedoch nicht aus Frohlichkeit. Mechanisch und ohne den rechten Bedacht erledigte er die kleinen Handgriffe und kulturellen Pflichten der Nachttoilette, go? hellrotes Mundwasser aus dem Reiseflakon ins Glas und gurgelte diskret, wusch sich die Hande mit seiner guten und milden Veilchenseife und zog das lange Batisthemd an, das auf der Brusttasche mit den Buchstaben H C bestickt war. Dann legte er sich und loschte das Licht, indem er seinen hei?en, verstorten Kopf auf das Sterbekissen der Amerikanerin zuruckfallen lie?.

Aufs bestimmteste hatte er erwartet, da? er sogleich in Schlaf sinken werde, doch stellte sich das als Irrtum heraus, und seine Lider, die er vorhin kaum offenzuhalten vermocht hatte, - jetzt wollten sie durchaus nicht geschlossen bleiben, sondern offneten sich unruhig zuckend, sobald er sie senkte. Es war noch nicht seine gewohnte Schlafenszeit, sagte er sich, und dann hatte er wohl taguber zuviel gelegen. Auch wurde drau?en ein Teppich geklopft, - was ja wenig wahrscheinlich und in der Tat uberhaupt nicht der Fall war; sondern es erwies sich, da? sein Herz es war, dessen Schlag er au?er sich und weit fort im Freien horte, genau so, als werde dort drau?en ein Teppich mit einem geflochtenen Rohrklopfer bearbeitet.

Es war im Zimmer noch nicht vollig dunkel geworden; der Schein der Lampchen drau?en in den Logen, bei Joachim und bei dem Paare vom

Schlechten Russentisch, fiel durch die offene Balkontur herein. Und wahrend Hans Castorp mit blinzelnden Lidern auf dem Rucken lag, erneute sich ihm plotzlich ein Eindruck, ein einzelner des Tages, eine Beobachtung, die er mit Schrecken und Zartgefuhl sogleich zu vergessen gesucht hatte. Es war der Ausdruck, den Joachims Gesicht angenommen hatte, als von Marusja und ihren korperlichen Eigenschaften die Rede gewesen war, - diese ganz eigentumlich klagliche Verzerrung seines Mundes nebst fleckigem Erblassen seiner gebraunten Wangen. Hans Castorp verstand und durchschaute, was es bedeutete, verstand und durchschaute es auf eine so neue, eingehende und intime Art, da? der Rohrklopfer da drau?en seine Schlage sowohl der Schnelligkeit wie der Starke nach verdoppelte und beinahe die Klange des Abendstandchens in "Platz" ubertaubte - denn es war wieder Konzert in jenemHotel dort unten; eine symmetrisch gebaute und abgeschmackte Operettenmelodie klang durch das Dunkel heruber, und Hans Castorp pfiff sie im Flustertone mit(man kann ja flusternd pfeifen), wahrend er mit seinen kalten Fu?en unter dem Federdeckbett den Takt dazu schlug.

Das war naturlich die rechte Art nicht einzuschlafen, und Hans Castorp spurte jetzt auch gar keine Neigung dazu. Seit er auf so neuartige und lebhafte Weise verstanden, warum Joachim sich verfarbt hatte, schien die Welt ihm neu, und jenes Gefuhl ausschweifender Freude und Hoffnung beruhrte ihn wieder in seinem Innersten. Ubrigens wartete er noch auf etwas, ohne sich recht zu fragen, worauf. Als er aber horte, wie die Nachbarn zur Rechten und Linken die abendliche Liegekur beendeten und ihre Zimmer aufsuchten, um die horizontale Lage drau?en mit derjenigen drinnen zu vertauschen, gab er vor sich selbst der Uberzeugung Ausdruck, da? das barbarische Ehepaar Frieden halten werde. Ich kann ruhig einschlafen, dachte er. Sie werden heute abend Frieden halten, das erwarte ich aufs Bestimmteste! Aber sie taten es nicht, und Hans Castorp hatte es auch gar nicht aufrichtig gedacht, ja, die Wahrheit zu sagen, hatte er es personlich und seinerseits nicht einmal verstanden, wenn sie Frieden gegeben hatten. Trotzdem erging er sich in tonlos hervorgesto?enen Ausrufen des heftigsten Erstaunens uber das, was er horte. "Unerhort!" rief er ohne Stimme. "Das ist enorm! Wer hatte dergleichen fur moglich gehalten?" Und zwischendurch beteiligte er sich wieder mit flusternden Lippen an der abgeschmackten Operettenmelodie, die hartnackig herubertonte.

Spater kam der Schlummer. Aber mit ihm kamen die krausen

Traumbilder, noch krausere, als in der ersten Nacht, aus denen er des ofteren schreckhaft oder einem wirren Einfall nachjagend emporfuhr. Ihm traumte, er sahe Hofrat Behrens mit krummen Knien und steif nach vorn hangenden Armen die Gartenpfade dahinwandeln, indem er seine langen und gleichsam ode anmutenden Schritte einer fernen Marschmusik anpa?te. Als der Hofrat vor Hans Castorp stehenblieb, trug er eine Brille mit dicken, kreisrunden Glasern und faselte Ungereimtes. "Zivilist naturlich", sagte er und zog, ohne um Erlaubnis zu bitten, Hans Castorps Augenlid mit Zeige- und Mittelfinger seiner riesigen Hand herunter. "Ehrsamer Zivilist, wie ich gleich bemerkte. Aber nicht ohne Talent, gar nicht ohne Talent zur erhohten Allgemeinverbrennung! Wurde mit den Jahrchen nicht geizen, den flotten Dienstjahrchen bei uns hier oben! Na, nun mal hoppla die Herren und los mit dem Lustwandel!" rief er, indem er seine beiden enormen Zeigefinger in den Mund steckte und so eigentumlich wohllautend darauf pfiff, da? von verschiedenen Seiten und in verkleinerter Gestalt die Lehrerin und Mi? Robinson durch die Lufte geflogen kamen und sich ihm rechts und links auf die Schultern setzten, wie sie im Speisesaal rechts und links von Hans Castorp sa?en.So ging der Hofrat mit hupfenden Tritten davon, wobei er mit einer Serviette hinter die Brille fuhr, um sich die Augen zu wischen, - man wu?te nicht, was da zu trocknen war, ob Schwei? oder Tranen.

Dann schien es dem Traumenden, als befinde er sich auf dem Schulhof, wo er so viele Jahre hindurch die Pausen zwischen den Unterrichtsstunden verbracht, und sei im Begriffe, sich von Madame Chauchat, die ebenfalls zugegen war, einen Bleistift zu leihen. Sie gab ihm den rotgefarbten, nur noch halblangen in einem silbernen Crayon steckenden Stift, indem sie Hans Castorp mit angenehm heiserer Stimme ermahnte, ihn ihr nach der Stunde bestimmt zuruckzugeben, und als sie ihn ansah, mit ihren schmalen blaugraugrunen Augen uber den breiten Backenknochen, da ri? er sich gewaltsam aus dem Traum empor, denn nun hatte er es und wollte es festhalten, woran und an wen sie ihn eigentlich so lebhaft erinnerte. Eilig brachte er die Erkenntnis fur morgen in Sicherheit, denn er fuhlte, da? Schlaf und Traum ihn wieder umfingen, und sah sich alsbald in der Lage, Zuflucht vor Dr. Krokowski suchen zu mussen, der ihm nachstellte, um Seelenzergliederung mit ihm vorzunehmen, wovor Hans Castorp eine tolle, eine wahrhaft unsinnige Angst empfand. Er floh vor dem Doktor behinderten Fu?es an den Glaswanden vorbei durch die Balkonlogen, sprang mit Gefahr seines Lebens in den Garten hinab, suchte in seiner Not sogar die rotbraune

Flaggenstange zu erklettern und erwachte schwitzend in dem Augenblick, als der Verfolger ihn am Hosenbein packte.

Kaum jedoch hatte er sich ein wenig beruhigt und war wieder eingeschlummert, als sich der Sachverhalt folgenderma?en fur ihn gestaltete. Er bemuhte sich, mit der Schulter Settembrini vom Fleck zu drangen, welcher dastand und lachelte, - fein, trocken und spottisch, unter dem vollen, schwarzen Schnurrbart, dort, wo er sich in schoner Rundung aufwarts bog, und dieses Lacheln eben war es, was Hans Castorp als Beeintrachtigung empfand. "Sie storen!" horte er sich deutlich sagen. "Fort mit Ihnen! Sie sind nur ein Drehorgelmann, und Sie storen hier!" Allein Settembrini lie? sich nicht von der Stelle drangen, und Hans Castorp stand noch, um nachzudenken, was hier zu tun sei, als ihm ganz unverhofft die ausgezeichnete Einsicht zuteil wurde, was eigentlich die Zeit sei: namlich nichts anderes, als einfach eine Stumme Schwester, eine Quecksilbersaule ganz ohne Bezifferung, fur diejenigen, welche mogeln wollten, - woruber er mit dem bestimmten Vorhaben erwachte, seinem Vetter Joachim morgen von diesem Funde Mitteilung zu machen.

Unter solchen Abenteuern und Entdeckungen verging die Nacht, und auch Hermine Kleefeld sowie Herr Albin und Hauptmann Miklosich, welch letzterer Frau Stohr in seinem Rachen davontrug und von Staatsanwalt Paravant mit einem Speere durchbohrt wurde, spielten ihre verworrene Rolle dabei.Einen Traum aber traumte Hans Castorp sogar zweimal in dieser Nacht und zwar beide Male genau in derselben Form, - das letztemal gegen Morgen. Er sa? im Saal mit den sieben Tischen, als unter dem gro?ten Geschmetter die Glastur ins Schlo? fiel und Madame Chauchat hereinkam, im wei?en Sweater, die eine Hand in der Tasche, die andere am Hinterkopf. Statt aber zum Guten Russentische zu gehen, bewegte die unerzogene Frau sich ohne Laut auf Hans Castorp zu und reichte ihm schweigend die Hand zum Kusse, - aber nicht den Handrucken reichte sie ihm, sondern das Innere, und Hans Castorp ku?te sie in die Hand, in ihre unveredelte, ein wenig breite und kurzfingerige Hand mit der aufgerauhten Haut zu Seiten der Nagel. Da durchdrang ihn wieder von Kopf bis zu Fu? jenes Gefuhl von wuster Su?igkeit, das in ihm aufgestiegen war, als er zur Probe sich des Druckes der Ehre ledig gefuhlt und die bodenlosen Vorteile der Schande genossen hatte, - dies empfand er nun wieder in seinem Traum, nur ungeheuer viel starker.

Viertes Kapitel

Notwendiger Einkauf

"Ist jetzt euer Sommer zu Ende?" fragte Hans Castorp am dritten Tage ironisch seinen Vetter ...

Es war ein schrecklicher Wettersturz.

Der zweite Tag, den der Hospitant vollstandig hier oben verlebt hatte, war prachtig-sommerlich gewesen. Tiefblau leuchtete der Himmel uber den lanzenartigen Wipfeltrieben der Fichten, wahrend die Ortschaft im Talgrunde grell in der Hitze schimmerte und das Gelaut der Kuhe, die umherwandelnd das kurze, erwarmte Mattengras der Lehnen rupften, heiter-beschaulich die Lufte erfullte. Die Damen waren schon zum ersten Fruhstuck in zarten Waschblusen erschienen, einige sogar mit durchbrochenen Armeln, was nicht alle gleich gut gekleidet hatte, - Frau Stohr zum Beispiel kleidete es entschieden schlecht, ihre Arme waren zu schwammig, Duftigkeit der Kleidung eignete sich nun einmal nicht fur sie. Auch die Herrenwelt des Sanatoriums hatte der schonen Witterung auf verschiedene Weise in ihrem Au?eren Rechnung getragen. Lusterjacken und leinene Anzuge waren aufgetaucht, und Joachim Ziem?en hatte elfenbeinfarbene Flanellhosen zu seinem blauen Rock getragen, eine Zusammenstellung, die seiner Erscheinung ein vollstandig militarisches Geprage verlieh. Was Settembrini betraf, so hatte er zwar wiederholt das Vorhaben geau?ert, den Anzug zu wechseln. "Teufel!" hatte er gesagt, als er nach dem Lunch mit den Vettern in den Ort hinunterpromenierte, "wie die Sonne brennt! Ich sehe, ich werde mich leichter kleiden mussen." Aber trotzdem es gewahlt ausgedruckt war, hatte er nach wie vor seinen langen Flaus mit den gro?en Aufschlagen und seine gewurfelten Beinkleider anbehalten, - wahrscheinlich war das alles, was er an Garderobe besa?.

Am dritten Tage jedoch war es genau, als ob die Natur zu Falle gebracht und jede Ordnung auf den Kopf gestellt wurde; Hans Castorp traute seinen Augen nicht.Es war nach der Hauptmahlzeit, und man befand sich seit zwanzig Minuten in der Liegekur, als die Sonne sich eilig verbarg, ha?lich torfbraunes Gewolk uber die sudostlichen Kamme heraufzog und ein Wind von fremder Luftbeschaffenheit, kalt und das Gebein erschreckend, als kame er aus unbekannten, eisigen Gegenden, plotzlich durch das Tal fegte, die Temperatur umsturzte und ein ganz

neues Regiment eroffnete.

"Schnee", sagte Joachims Stimme hinter der Glaswand.

"Was meinst du mit 'Schnee'?" fragte Hans Castorp darauf. "Du willst doch nicht sagen, da? es jetzt schneien wird?"

"Sicher", antwortete Joachim. "Den Wind, den kennen wir. Wenn der kommt, dann gibt es Schlittenbahn."

"Unsinn!" sagte Hans Castorp. "Wenn mir recht ist, so schreiben wir Anfang August."

Aber Joachim hatte wahr gesprochen, eingeweiht, wie er war in die Verhaltnisse. Denn binnen wenigen Augenblicken setzte unter wiederholten Gewitterschlagen ein gewaltiges Schneetreiben ein, - ein Gestober, so dicht, da? alles in wei?en Dampf gehullt erschien und man von Ortschaft und Tal fast nichts mehr erblickte.

Es schneite den ganzen Nachmittag fort. Die Zentralheizung ward angezundet, und wahrend Joachim seinen Pelzsack in Benutzung nahm und sich im Kurdienste nicht storen lie?, fluchtete sich Hans Castorp in das Innere seines Zimmers, ruckte einen Stuhl an die erwarmten Rohren und blickte von dort unter haufigem Kopfschutteln in das Unwesen hinaus. Am nachsten Morgen schneite es nicht mehr; aber obgleich das Au?enthermometer einige Warmegrade zeigte, war der Schnee doch fu?hoch liegen geblieben, so da? eine vollkommene Winterlandschaft sich vor Hans Castorps verwunderten Blicken ausbreitete. Man hatte die Heizung wieder ausgehen lassen. Die Zimmertemperatur betrug sechs Grad uber Null.

"Ist jetzt euer Sommer zu Ende?" fragte Hans Castorp seinen Vetter mit bitterer Ironie ...

"Das kann man nicht sagen", erwiderte Joachim sachlich. "Will's Gott, so wird es noch schone Sommertage geben. Selbst im September ist das noch sehr wohl moglich. Aber die Sache ist die, da? die Jahreszeiten hier nicht so sehr voneinander verschieden sind, wei?t du, sie vermischen sich sozusagen und halten sich nicht an den Kalender. Im Winter ist oft die Sonne so stark, da? man schwitzt und den Rock auszieht beim Spazierengehen, und im Sommer, nun, das siehst du ja schon, wie es im Sommer hier manchmal ist. Und dann der Schnee - er bringt alles durcheinander. Es schneit im Januar, aber im Mai nicht viel weniger, und im August schneit es auch, wie du bemerkst. Im ganzen kann man sagen, da? kein Monat vergeht, ohne da? es schneit, das ist ein Satz, an

dem man festhalten kann. Kurz, es gibt Wintertage und Sommertage und Fruhlings- und Herbsttage, aber so richtige Jahreszeiten, die gibt es eigentlich nicht bei uns hier oben."

"Das ist ja eine schone Konfusion", sagte Hans Castorp.Er ging in Uberschuhen und Winterpaletot mit seinem Vetter in den Ort hinab, um sich Decken fur die Liegekur zu besorgen, denn es war klar, da? er bei dieser Witterung mit seinem Plaid nicht auskommen werde. Vorubergehend erwog er sogar, ob er nicht zum Kauf eines Pelzsackes schreiten solle, nahm dann aber Abstand davon, ja, schreckte gewisserma?en vor dem Gedanken zuruck.

"Nein, nein," sagte er, "bleiben wir bei den Decken! Ich werde unten schon wieder Verwendung fur sie haben, und Decken hat man ja uberall, es ist weiter nichts so Besonderes oder Aufregendes dabei. Aber so ein Pelzsack ist etwas gar zu Spezielles, - versteh' mich recht, wenn ich mir einen Pelzsack anschaffe, kame ich mir selber vor, als ob ich mich hier hauslich niederlassen wollte und schon gewisserma?en zu euch gehorte ... Kurz, ich will nichts weiter sagen, als da? es ja absolut nicht lohnen wurde, fur die paar Wochen eigens einen Pelzsack zu kaufen."

Joachim stimmte dem zu, und so erstanden sie denn in einem hubschen, reichhaltigen Geschaft des Englischen Viertels zwei solche Kamelhaardecken, wie Joachim sie hatte, ein besonders langes und breites, angenehm weiches Fabrikat in Naturfarbe, und gaben Order, da? sie sofort ins Sanatorium gesandt werden sollten, ins Internationale Sanatorium "Berghof", Zimmertur 34. Gleich heute nachmittag wollte Hans Castorp sie zum erstenmal in Gebrauch nehmen.

Naturlich war es um die Zeit nach dem zweiten Fruhstuck, denn sonst bot die Tagesordnung keine Gelegenheit, in den Ort hinunterzugehen. Es regnete jetzt, und der Schnee auf den Stra?en hatte sich in spritzenden Eisbrei verwandelt. Auf dem Heimwege holten sie Settembrini ein, welcher unter einem Regenschirm, wenn auch barhauptig, ebenfalls dem Sanatorium zustrebte. Der Italiener sah gelb aus und befand sich ersichtlich in elegischer Stimmung. In reinen und wohlgeformten Worten jammerte er uber die Kalte, die Nasse, unter der er so bitter litt. Wenn wenigstens geheizt wurde! Aber diese elenden Machthaber lie?en die Heizung ja ausgehen, sobald es zu schneien aufhore, - eine stumpfsinnige Regel, ein Hohn auf alle Vernunft! Und als Hans Castorp einwandte, er denke sich, da? eine ma?ige Zimmertemperatur wohl zu den Kurprinzipien gehore, - man wolle einer Verwohnung der Patienten

offenbar damit vorbeugen, da antwortete Settembrini mit dem heftigsten Spott. Ei, in der Tat, die Kurprinzipien. Die hehren und unantastbaren Kurprinzipien! Hans Castorp spreche wahrhaftig in dem richtigen Tone von ihnen, namlich in dem der Religiositat und der Unterwurfigkeit. Nur auffallend - wenn auch in einem durchaus erfreulichen Sinne auffallend, - da? gerade diejenigen unter ihnen so unbedingte Verehrung genossen, die mit den okonomischen Interessen der Gewalthaber genau ubereinstimmten, - wahrend man denen gegenuber, bei denen dies weniger zutreffe, ein Auge zuzudrucken geneigt sei ... Und wahrend dieVettern lachten, kam Settembrini auf seinen verstorbenen Vater zu sprechen, im Zusammenhang mit der Warme, nach der er sich sehnte.

"Mein Vater," sagte er gedehnt und schwarmerisch, - "er war ein so feiner Mann, - empfindlich am Korper wie an der Seele! Wie liebte er im Winter sein kleines, warmes Studierstubchen, von Herzen liebte er es, stets mu?ten zwanzig Grad Reaumur darin herrschen, vermoge eines rotgluhenden Ofchens, und wenn man an na?kalten Tagen oder an solchen, wenn der schneidende Tramontanawind ging, vom Flure des Hauschens her eintrat, so legte die Warme sich einem wie ein linder Mantel um die Schultern, und die Augen fullten sich mit wohligen Tranen. Vollgepfropft war das Stubchen mit Buchern und Handschriften, worunter sich gro?e Kostbarkeiten befanden, und zwischen den Geistesschatzen stand er in seinem Schlafrock aus blauem Flanell am schmalen Pult und widmete sich der Literatur, - zierlich und klein von Person, einen guten Kopf kleiner als ich, stellen Sie sich vor! aber mit dicken Buscheln aus grauem Haar an den Schlafen und einer Nase, so lang und fein ... Welch ein Romanist, meine Herren! Einer der Ersten seiner Zeit, ein Kenner unserer Sprache wie wenige, ein lateinischer Stilist wie sonst keiner mehr, ein uomo letterato nach Boccaccios Herzen ... Von weither kamen die Gelehrten, um sich mit ihm zu besprechen, der eine aus Haparanda, ein anderer aus Krakau, sie kamen ausdrucklich nach Padua, unserer Stadt, um ihm Hochachtung zu erweisen, und er empfing sie mit freundlicher Wurde. Auch ein Dichter von Distinktion war er, welcher in seinen Mu?estunden Erzahlungen in der elegantesten toskanischen Prosa verfa?te, - ein Meister des idioma gentile", sagte Settembrini mit au?erstem Genu?, indem er die heimatlichen Silben langsam auf der Zunge zergehen lie? und den Kopf dabei hin und her bewegte. "Sein Gartchen baute er nach dem Beispiele Vergils," fuhr er fort, "und was er sprach, war gesund und schon. Aber warm, warm mu?te er es haben in

seinem Stubchen, sonst zitterte er und konnte wohl Tranen vergie?en vor Arger, da? man ihn frieren lie?. Und nun stellen Sie sich vor, Ingenieur, und Sie, Leutnant, was ich, der Sohn meines Vaters, an diesem verdammten und barbarischen Orte leiden mu?, wo der Korper im hohen Sommer vor Kalte zittert und erniedrigende Eindrucke bestandig die Seele foltern! Ach, es ist hart! Welche Typen, die uns umgeben! Dieser narrische Teufelsknecht von Hofrat. Krokowski" - und Settembrini tat, als musse er sich die Zunge zerbrechen - "Krokowski, dieser schamlose Beichtvater, der mich ha?t, weil meine Menschenwurde mir verbietet, mich zu seinem pfaffischen Unwesen herzugeben ... Und an meinem Tische ... Welche Gesellschaft, in der ich zu speisen gezwungen bin! Zu meiner Rechtensitzt ein Bierbrauer aus Halle - Magnus ist sein Name - mit einem Schnurrbart, der einem Heubundel ahnelt. 'Lassen Sie mich mit der Literatur in Ruhe!' sagt er. 'Was bietet sie? Schone Charaktere! Was fang ich mit schonen Charakteren an! Ich bin ein praktischer Mann, und schone Charaktere kommen im Leben fast gar nicht vor.' Dies ist die Vorstellung, die er sich von der Literatur gebildet hat. Schone Charaktere ... o Mutter Gottes! Seine Frau, ihm gegenuber, sitzt da und verliert Eiwei?, wahrend sie mehr und mehr in Stumpfsinn versinkt. Es ist ein schmutziger Jammer ..."

Ohne da? sie sich miteinander verstandigt hatten, waren Joachim und Hans Castorp eines Sinnes uber diese Reden: sie fanden sie wehleidig und unangenehm aufruhrerisch, freilich auch unterhaltsam, ja bildend in ihrer kecken und wortscharfen Aufsassigkeit. Hans Castorp lachte gutmutig uber das "Heubundel" und auch uber die "schonen Charaktere", oder vielmehr uber die drollig verzweifelte Art, in der Settembrini davon sprach. Dann sagte er:

"Gott, ja, die Gesellschaft ist wohl ein bi?chen gemischt in so einer Anstalt. Man kann sich die Tischnachbarn nicht aussuchen, - wohin sollte denn das auch fuhren. An unserem Tisch sitzt auch so eine Dame ... Frau Stohr, - ich denke mir, da? Sie sie kennen? Morderlich ungebildet ist sie, das mu? man ja sagen, und manchmal wei? man nicht recht, wo man hinsehen soll, wenn sie so plappert. Und dabei klagt sie sehr uber ihre Temperatur und da? sie so schlaff ist, und ist wohl leider gar kein ganz leichter Fall. Das ist so sonderbar, - krank und dumm - ich wei? nicht, ob ich mich richtig ausdrucke, aber mich mutet es ganz eigentumlich an, wenn einer dumm ist und dann auch noch krank, wenn das so

zusammenkommt, das ist wohl das Trubseligste auf der Welt. Man wei? absolut nicht, was man fur ein Gesicht dazu machen soll, denn einem Kranken mochte man doch Ernst und Achtung entgegenbringen, nicht wahr, Krankheit ist doch gewisserma?en etwas Ehrwurdiges, wenn ich so sagen darf. Aber wenn nun immer die Dummheit dazwischen kommt mit 'Fomulus' und 'kosmische Anstalt' und solchen Schnitzern, da wei? man wahrhaftig nicht mehr, ob man weinen oder lachen soll, es ist ein Dilemma fur das menschliche Gefuhl und so klaglich, da? ich es gar nicht sagen kann. Ich meine, es reimt sich nicht, es pa?t nicht zusammen, man ist nicht gewohnt, es sich zusammen vorzustellen. Man denkt, ein dummer Mensch mu? gesund und gewohnlich sein, und Krankheit mu? den Menschen fein und klug und besonders machen. So denkt man es sich in der Regel. Oder nicht? Ich sage da wohl mehr, als ich verantworten kann", schlo? er."Es ist nur, weil wir zufallig darauf kamen ..." Und er verwirrte sich.

Auch Joachim war etwas verlegen, und Settembrini schwieg mit erhobenen Augenbrauen, indem er sich den Anschein gab, als warte er aus Hoflichkeit das Ende der Rede ab. In Wirklichkeit hatte er es darauf abgesehen, Hans Castorp erst vollig aus dem Konzept kommen zu lassen, bevor er antwortete:

"Sapristi, Ingenieur, Sie legen da philosophische Gaben an den Tag, deren ich mich gar nicht von Ihnen versehen hatte! Ihrer Theorie zufolge mu?ten Sie weniger gesund sein, als Sie sich den Anschein geben, da Sie offenbar Geist besitzen. Erlauben Sie mir aber, Ihnen zu bemerken, da? ich Ihren Deduktionen nicht folgen kann, da? ich sie ablehne, ja ihnen in wirklicher Feindseligkeit gegenuberstehe. Ich bin, wie Sie mich da sehen, ein wenig unduldsam in geistigen Dingen und lasse mich lieber einen Pedanten schelten, als da? ich Ansichten unbekampft lie?e, die mir so bekampfenswert scheinen wie die von Ihnen entwickelten ..."

"Aber, Herr Settembrini ..."

"Ge-statten Sie mir ... Ich wei?, was Sie sagen wollen. Sie wollen sagen, da? Sie es so ernst nicht gemeint haben, da? die von Ihnen vertretenen Anschauungen nicht ohne Weiteres die Ihren sind, sondern da? Sie gleichsam nur eine der moglichen und in der Luft schwebenden Anschauungen aufgriffen, um sich unverantwortlicherweise einmal darin zu versuchen. So entspricht es Ihrem Alter, welches mannlicher Entschlossenheit noch entraten und vorderhand mit allerlei Standpunkten Versuche anstellen mag. Placet experiri", sagte er, indem

er das c von "Placet" weich, nach italienischer Mundart sprach. "Ein guter Satz. Was mich stutzig macht, ist eben nur die Tatsache, da? Ihr Experiment sich gerade in dieser Richtung bewegt. Ich bezweifle, da? hier Zufall waltet. Ich befurchte das Vorhandensein einer Neigung, die sich charakterma?ig zu befestigen droht, wenn man ihr nicht entgegentritt. Darum fuhle ich mich verpflichtet, Sie zu korrigieren. Sie au?erten, Krankheit mit Dummheit gepaart sei das Trubseligste auf der Welt. Ich kann Ihnen das zugeben. Auch mir ist ein geistreicher Kranker lieber als ein schwindsuchtiger Dummkopf. Aber mein Protest beginnt, wenn Sie Krankheit mit Dummheit im Verein gewisserma?en als einen Stilfehler betrachten, als eine Geschmacksverirrung der Natur und ein Dilemma fur das menschliche Gefuhl, wie Sie sich auszudrucken beliebten. Wenn Sie Krankheit fur etwas so Vornehmes und - wie sagten Sie doch - Ehrwurdiges zu halten scheinen, da? sie sich mit Dummheit schlechterdings nicht zusammenreimt. Dies war ebenfalls Ihr Ausdruck. Nun denn, nein! Krankheit ist durchaus nicht vornehm, durchaus nicht ehrwurdig, - diese Auffassung ist selbst Krankheit oder sie fuhrt dazu. Vielleicht rufe ich am sichersten Ihren Abscheu gegen sie wach, wenn ich Ihnen sage, da? sie betagt und ha?lich ist. Sie ruhrt aus aberglaubisch zerknirschten Zeiten her,in denen die Idee des Menschlichen zum Zerrbild entartet und entwurdigt war, angstvollen Zeiten, denen Harmonie und Wohlsein als verdachtig und teuflisch galten, wahrend Bresthaftigkeit damals einem Freibrief zum Himmelreich gleichkam. Vernunft und Aufklarung jedoch haben diese Schatten vertrieben, welche auf der Seele der Menschheit lagerten, - noch nicht vollig, sie liegen noch heute im Kampfe mit ihnen; dieser Kampf aber hei?t Arbeit, mein Herr, irdische Arbeit, Arbeit fur die Erde, fur die Ehre und die Interessen der Menschheit, und taglich aufs neue gestahlt in solchem Kampfe, werden jene Machte den Menschen vollends befreien und ihn auf den Wegen des Fortschrittes und der Zivilisation einem immer helleren, milderen und reineren Lichte entgegenleiten."

Donnerwetter, dachte Hans Castorp besturzt und beschamt, das ist ja eine Arie! Womit habe ich denn das herausgefordert? Etwas trocken kommt es mir ubrigens vor. Und was er nur immer mit der Arbeit will. Immer hat er es mit der Arbeit, obgleich es doch wenig hierher pa?t. Und er sagte:

"Sehr schon, Herr Settembrini. Es ist geradezu horenswert, wie Sie das so zu sagen wissen. Man konnte es gar nicht ... gar nicht plastischer

ausdrucken, meine ich."

"Ruckneigung," setzte Settembrini wieder ein, indem er seinen Regenschirm uber den Kopf eines Vorubergehenden hinweghob, "geistige Ruckneigung in die Anschauungen jener finsteren, gequalten Zeiten - glauben Sie mir, Ingenieur, das ist Krankheit, - eine sattsam erforschte Krankheit, fur welche die Wissenschaft verschiedene Namen besitzt, einen aus der Sprache der Schonheits- und Seelenlehre und einen aus der der Politik, - Schulausdrucke, die nichts zur Sache tun und deren Sie gern entraten mogen. Da aber im Geistesleben alles zusammenhangt und eines sich aus dem andern ergibt, da man dem Teufel nicht den kleinen Finger reichen darf, ohne da? er die ganze Hand nimmt und den ganzen Menschen dazu ... da andererseits ein gesundes Prinzip immer nur lauter Gesundes zeitigen kann, gleichviel, welches man nun an den Anfang stelle, - so pragen Sie es sich ein, da? Krankheit, weit entfernt, etwas Vornehmes, etwas allzu Ehrwurdiges zu sein, um mit Dummheit leidlicherweise verbunden sein zu durfen, vielmehr Erniedrigung bedeutet, - ja, eine schmerzliche, die Idee verletzende Erniedrigung des Menschen, die man im Einzelfalle schonen und betreuen moge, aber die geistig zu ehren Verirrung - pragen Sie sich das ein! - eine Verirrung und aller geistigen Verirrung Anfang ist. Diese Frau, deren Sie Erwahnung taten, - ich verzichte darauf, mich ihres Namens zu entsinnen - Frau Stohr also, ich danke sehr - kurzum, diese lacherliche Frau, - nicht ihr Fall ist es, wie mir scheint, der das menschliche Gefuhl, wie Sie sagten, in ein Dilemma versetzt. Krank und dumm, - in Gottes Namen, das ist dieMisere selbst, die Sache ist einfach, es bleibt nichts als Erbarmen und Achselzucken. Das Dilemma, mein Herr, die Tragik beginnt, wo die Natur grausam genug war, die Harmonie der Personlichkeit zu brechen - oder von vornherein unmoglich zu machen -, indem sie einen edlen und lebenswilligen Geist mit einem zum Leben nicht tauglichen Korper verband. Kennen Sie Leopardi, Ingenieur, oder Sie, Leutnant? Ein unglucklicher Dichter meines Landes, ein bucklichter, kranklicher Mann mit ursprunglich gro?er, durch das Elend seines Korpers aber bestandig gedemutigter und in die Niederungen der Ironie herabgezogener Seele, deren Klagen das Herz zerrei?en. Horen Sie dieses!"

Und Settembrini begann, italienisch zu rezitieren, indem er die schonen Silben auf der Zunge zergehen lie?, den Kopf hin und her bewegte und zuweilen die Augen schlo?, unbekummert darum, da? seine

Begleiter kein Wort verstanden. Sichtlich war es ihm darum zu tun, sein Gedachtnis und seine Aussprache selbst zu genie?en und vor den Zuhorern zur Geltung zu bringen. Endlich sagte er:

"Aber Sie verstehen nicht, Sie horen, ohne den schmerzlichen Sinn zu erfassen. Der Kruppel Leopardi, meine Herren, empfinden Sie dies ganz, entbehrte vor allem der Frauenliebe, und dies war es wohl namentlich, was ihn unfahig machte, der Verkummerung seiner Seele zu steuern. Der Glanz des Ruhmes und der Tugend verbla?te ihm, die Natur erschien ihm bose - ubrigens ist sie bose, dumm und bose, ich gebe ihm recht hierin - und er verzweifelte - es ist furchtbar zu sagen - er verzweifelte an Wissenschaft und Fortschritt! Hier haben Sie Tragik, Ingenieur. Hier haben Sie Ihr 'Dilemma fur das menschliche Gefuhl', - nicht bei jener Frau dort, - ich lehne es ab, mein Gedachtnis um ihren Namen zu bemuhen ... Sprechen Sie mir nicht von der 'Vergeistigung', die durch Krankheit hervorgebracht werden kann, um Gottes willen, tun Sie es nicht! Eine Seele ohne Korper ist so unmenschlich und entsetzlich, wie ein Korper ohne Seele, und ubrigens ist das erstere die seltene Ausnahme und das zweite die Regel. In der Regel ist es der Korper, der uberwuchert, der alle Wichtigkeit, alles Leben an sich rei?t und sich aufs widerwartigste emanzipiert. Ein Mensch, der als Kranker lebt, ist nur Korper, das ist das Widermenschliche und Erniedrigende, - er ist in den meisten Fallen nichts Besseres als ein Kadaver ..."

"Komisch", sagte Joachim plotzlich, indem er sich vorbeugte, um seinen Vetter anzusehen, der an Settembrinis anderer Seite ging. "Etwas ganz ahnliches hast du doch neulich auch gesagt."

"So?" sagte Hans Castorp. "Ja, es kann ja wohl sein, da? mir was ahnliches auch schon durch den Kopf ging."

Settembrini schwieg wahrend einiger Schritte. Dann sagte er:

"Desto besser, meine Herren. Desto besser, wenn dem so ist. Die Absichtlag mir fern, Ihnen irgendwelche Originalphilosophie vorzutragen, - das ist nicht meines Amtes. Wenn unser Ingenieur schon seinerseits Ubereinstimmendes angemerkt hat, so bestatigt dies nur meine Mutma?ung, da? er geistig dilettiert, da? er nach Art begabter Jugend mit den moglichen Anschauungen vorlaufig nur Versuche anstellt. Der begabte junge Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt, er ist vielmehr ein Blatt, auf dem gleichsam mit sympathetischer Tinte alles schon geschrieben steht, das Rechte wie das Schlechte, und Sache des Erziehers ist es, das Rechte entschieden zu entwickeln, das Falsche aber, das hervortreten

will, durch sachgema?e Einwirkung auf immer auszuloschen. Die Herren haben Einkaufe gemacht?" fragte er veranderten, leichten Tones ...

"Nein, nichts weiter," sagte Hans Castorp, "das hei?t ..."

"Wir haben ein paar Decken fur meinen Vetter besorgt", antwortete Joachim gleichgultig.

"Fur die Liegekur ... Bei dieser Hundekalte ... Ich soll ja mitmachen die paar Wochen", sagte Hans Castorp lachend und sah zu Boden.

"Ah, Decken, Liegekur", sagte Settembrini. "So, so, so. Ei, ei, ei. In der Tat: Placet experiri!" wiederholte er mit italienischer Aussprache und verabschiedete sich, denn sie hatten, begru?t von dem hinkenden Concierge, das Sanatorium betreten, und in der Halle schwenkte Settembrini in die Konversationsraume ab, um vor Tische die Zeitungen zu lesen, wie er sagte. Die zweite Liegekur schien er schwanzen zu wollen.

"Gott bewahre!" sagte Hans Castorp, als er mit Joachim im Lift stand. "Das ist wirklich ein Padagog, - er sagte es ja neulich schon selbst, da? er so eine Ader habe. Man mu? furchtbar aufpassen mit ihm, da? man kein Wort zu viel sagt, sonst gibt es ausfuhrliche Lehren. Aber horenswert ist es ja, wie er zu sprechen versteht, jedes Wort springt ihm so rund und appetitlich vom Munde, - ich mu? immer an frische Semmeln denken, wenn ich ihm zuhore."

Joachim lachte.

"Das sage ihm lieber nicht. Ich glaube doch, er ware enttauscht, zu erfahren, da? du an Semmeln denkst bei seinen Lehren."

"Meinst du? Ja, das ist noch gar nicht mal sicher. Ich habe immer den Eindruck, da? es ihm nicht ganz allein um die Lehren zu tun ist, vielleicht um sie erst in zweiter Linie, sondern besonders um das Sprechen, wie er die Worte springen und rollen la?t ... so elastisch, wie Gummiballe ... und da? es ihm gar nicht unangenehm ist, wenn man namentlich auch darauf achtet. Bierbrauer Magnus ist ja wohl etwas dumm mit seinen 'schonen Charakteren', aber Settembrini hatte doch sagen sollen, worauf es denn eigentlich ankommt in der Literatur. Ich mochte nicht fragen, um mir keine Blo?e zu geben, ich verstehe mich ja auch nicht weiter darauf und hatte bis jetzt noch nie einen Literaten gesehen. Aber wenn esnicht auf die schonen Charaktere ankommt, so kommt es offenbar auf die schonen Worte an, das ist mein Eindruck in Settembrinis Gesellschaft.

Was er fur Vokabeln gebraucht! Ganz ohne sich zu genieren spricht er von 'Tugend' - ich bitte dich! Mein ganzes Leben lang habe ich das Wort noch nicht in den Mund genommen, und selbst in der Schule haben wir immer blo? 'Tapferkeit' gesagt, wenn 'virtus' im Buche stand. Es zog sich etwas zusammen in mir, das mu? ich sagen. Und dann macht es mich etwas nervos, wenn er so schimpft, auf die Kalte und auf Behrens und auf Frau Magnus, weil sie Eiwei? verliert, und kurz, auf alles. Er ist ein Oppositionsmann, daruber war ich mir gleich im klaren. Er hackt auf alles Bestehende, und das hat immer etwas Verwahrlostes, ich kann mir nicht helfen."

"Das sagst du so", antwortete Joachim bedachtig. "Aber dann hat es doch wieder auch etwas Stolzes, was gar nicht verwahrlost anmutet, sondern im Gegenteil, er ist doch ein Mensch, der auf sich halt, oder auf die Menschen im allgemeinen, und das gefallt mir an ihm, das hat was Anstandiges in meinen Augen."

"Da hast du recht", sagte Hans Castorp. "Er hat sogar etwas Strenges, - es wird einem ofter ganz ungemutlich, weil man sich - sagen wir mal: kontrolliert fuhlt, doch, das ist gar keine schlechte Bezeichnung. Willst du glauben, da? ich immer das Gefuhl hatte, er ware nicht einverstanden damit, da? ich mir Decken zum Liegen gekauft habe, er hatte etwas dagegen und hielte sich irgendwie daruber auf?"

"Nein", sagte Joachim erstaunt und besonnen. "Wie konnte das wohl sein. Das kann ich mir doch nicht denken." Und dann ging er, das Thermometer im Munde, mit Sack und Pack in die Liegekur, wahrend Hans Castorp gleich begann, sich fur die Mittagsmahlzeit zu saubern und umzukleiden, - es war ohnedies nur noch ein knappes Stundchen bis dahin.

Exkurs uber den Zeitsinn

Als sie vom Essen wieder heraufkamen, lag das Paket mit den Decken schon in Hans Castorps Zimmer auf einem Stuhl, und zum erstenmal machte er an diesem Tage Gebrauch davon, - der geubte Joachim erteilte ihm Unterricht in der Kunst, sich einzupacken, wie es alle hier oben machten und jeder Neuling es gleich erlernen mu?te. Man breitete die Decken, eine und dann die andere, uber das Stuhllager, so da? sie am Fu?ende ein reichliches Stuck auf den Boden hingen. Dann nahm man Platz und begann, die innere um sich zu schlagen: zuerst der Lange

nach bis unter die Achsel, hierauf von unten uber die Fu?e, wobei man sich sitzend bucken und das gefaltete Ende doppelt fassen mu?te, und dann von der anderen Seite, wobeider doppelte Fu?zipfel gut an den Langsrand zu passen war, wenn die gro?tmogliche Glatte und Ebenma?igkeit erzielt werden sollte. Danach beobachtete man genau dasselbe Verfahren bei der au?eren Decke, - ihre Handhabung war etwas schwieriger, und Hans Castorp, als Stumper und Anfanger, achzte nicht wenig, indem er, sich buckend und wieder ausstreckend, die Griffe ubte, die man ihn lehrte. Nur einige wenige Altgediente, sagte Joachim, konnten beide Decken gleichzeitig mit drei sicheren Bewegungen um sich schleudern, aber das sei eine seltene und geneidete Fertigkeit, zu der nicht nur langjahrige Ubung, sondern auch eine naturliche Anlage gehore. Uber dies Wort mu?te Hans Castorp lachen, wahrend er mit schmerzendem Rucken sich zuruckfallen lie?, und Joachim, der nicht gleich verstand, was hier komisch war, sah ihn unsicher an, lachte dann aber auch.

"So," sagte er, als Hans Castorp ungegliedert und walzenformig, die nachgiebige Rolle im Nacken und erschopft von all der Gymnastik im Stuhle lag, "wenn es nun zwanzig Grad Kalte hatte, so konnte dir auch nichts passieren." Und dann ging er hinter die Glaswand, um sich ebenfalls einzupacken.

Das mit den zwanzig Grad Kalte bezweifelte Hans Castorp, denn ihn fror entschieden, Schauer uberliefen ihn wiederholt, wahrend er durch die Holzbogen in die sickernde, nieselnde Nasse dort drau?en blickte, die jeden Augenblick auf dem Punkte schien, wieder in Schneefall uberzugehen. Wie sonderbar ubrigens, da? er bei all der Feuchtigkeit immer noch so trockenhitzige Backen hatte, als sa?e er in einem uberheizten Zimmer. Auch fuhlte er sich lacherlich angegriffen von den Ubungen mit den Decken, - wahrhaftig, "Ocean steamships" zitterte ihm in den Handen, sobald er es vor die Augen fuhrte. So uberaus gesund war er doch eben auch nicht, - total anamisch, wie Hofrat Behrens gesagt hatte, und deswegen neigte er wohl auch so zum Froste. Die unangenehmen Empfindungen jedoch wurden aufgewogen durch die gro?e Bequemlichkeit seiner Lage, die schwer zu zergliedernden und fast geheimnisvollen Eigenschaften des Liegestuhles, die Hans Castorp beim ersten Versuche schon mit hochstem Beifall empfunden hatte, und die sich wieder und wieder aufs glucklichste bewahrten. Lag es an der Beschaffenheit der Polster, der richtigen Neigung der Ruckenlehne, der

passenden Hohe und Breite der Armstutzen oder auch nur der zweckma?igen Konsistenz der Nackenrolle, genug, es konnte fur das Wohlsein ruhender Glieder uberhaupt nicht humaner gesorgt sein, als durch diesen vorzuglichen Liegestuhl. Und so war denn Zufriedenheit in Hans Castorps Herzen daruber, da? zwei leere und sicher gefriedete Stunden vor ihm lagen, diese durch die Hausordnung geheiligten Stunden der Hauptliegekur, die er, obgleich nur zu Gaste hier oben, als eine ihm ganz gema?e Einrichtung empfand. Denn er war geduldig von Natur, konnte lange ohne Beschaftigung wohl bestehen und liebte, wie wir unserinnern, die freie Zeit, die von betaubender Tatigkeit nicht vergessen gemacht, verzehrt und verscheucht wird. Um vier erfolgte der Vespertee mit Kuchen und Eingemachtem, etwas Bewegung im Freien sodann, hierauf abermals Ruhe im Stuhl, um sieben das Abendessen, welches, wie uberhaupt die Mahlzeiten, gewisse Spannungen und Sehenswurdigkeiten mit sich brachte, auf die man sich freuen konnte, danach ein oder der andere Blick in den stereoskopischen Guckkasten, das kaleidoskopische Fernrohr und die kinematographische Trommel ... Hans Castorp hatte den Tageslauf bereits am Schnurchen, wenn es auch viel zu viel gesagt ware, da? er schon "eingelebt", wie man es nennt, gewesen sei.

Im Grunde hat es eine merkwurdige Bewandtnis mit diesem Sicheinleben an fremdem Orte, dieser - sei es auch - muhseligen Anpassung und Umgewohnung, welcher man sich beinahe um ihrer selbst willen und in der bestimmten Absicht unterzieht, sie, kaum da? sie vollendet ist, oder doch bald danach, wieder aufzugeben und zum vorigen Zustande zuruckzukehren. Man schaltet dergleichen als Unterbrechung und Zwischenspiel in den Hauptzusammenhang des Lebens ein, und zwar zum Zweck der "Erholung", das hei?t: der erneuernden, umwalzenden Ubung des Organismus, welcher Gefahr lief und schon im Begriffe war, im ungegliederten Einerlei der Lebensfuhrung sich zu verwohnen, zu erschlaffen und abzustumpfen. Worauf beruht dann aber diese Erschlaffung und Abstumpfung bei zu langer nicht aufgehobener Regel? Es ist nicht so sehr korperlich-geistige Ermudung und Abnutzung durch die Anforderungen des Lebens, worauf sie beruht(denn fur diese ware ja einfache Ruhe das wiederherstellende Heilmittel); es ist vielmehr etwas Seelisches, es ist das Erlebnis der Zeit, - welches bei ununterbrochenem Gleichma? abhanden zu kommen droht und mit dem Lebensgefuhle selbst so nahe verwandt und verbunden ist, da? das eine nicht geschwacht werden kann, ohne da? auch das andere

eine kummerliche Beeintrachtigung erfuhre. Uber das Wesen der Langenweile sind vielfach irrige Vorstellungen verbreitet. Man glaubt im ganzen, da? Interessantheit und Neuheit des Gehaltes die Zeit "vertreibe", das hei?t: verkurze, wahrend Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme. Das ist nicht unbedingt zutreffend. Leere und Monotonie mogen zwar den Augenblick und die Stunde dehnen und "langweilig" machen, aber die gro?en und gro?ten Zeitmassen verkurzen und verfluchtigen sie sogar bis zur Nichtigkeit. Umgekehrt ist ein reicher und interessanter Gehalt wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkurzen und zu beschwingen, ins Gro?e gerechnet jedoch verleiht er dem Zeitgange Breite, Gewicht und Soliditat, so da? ereignisreiche Jahre viel langsamer vergehen als jene armen, leeren, leichten, die der Wind vor sich her blast, und die verfliegen. Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: gro?e Zeitraume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichformigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen; wenn einTag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einformigkeit wurde das langste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein. Gewohnung ist ein Einschlafen oder doch ein Mattwerden des Zeitsinnes, und wenn die Jugendjahre langsam erlebt werden, das spatere Leben aber immer hurtiger ablauft und hineilt, so mu? auch das auf Gewohnung beruhen. Wir wissen wohl, da? die Einschaltung von Um- und Neugewohnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen, eine Verjungung, Verstarkung, Verlangsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefuhls uberhaupt zu erzielen. Dies ist der Zweck des Orts- und Luftwechsels, der Badereise, die Erholsamkeit der Abwechslung und der Episode. Die ersten Tage an einem neuen Aufenthalt haben jugendlichen, das hei?t starken und breiten Gang, - es sind etwa sechs bis acht. Dann, in dem Ma?e, wie man "sich einlebt", macht sich allmahliche Verkurzung bemerkbar: wer am Leben hangt oder, besser gesagt, sich ans Leben hangen mochte, mag mit Grauen gewahren, wie die Tage wieder leicht zu werden und zu huschen beginnen; und die letzte Woche, etwa von vieren, hat unheimliche Rapiditat und Fluchtigkeit. Freilich wirkt die Erfrischung des Zeitsinnes dann uber die Einschaltung hinaus, macht sich, wenn man zur Regel zuruckgekehrt ist, aufs neue geltend: die ersten Tage zu Hause werden ebenfalls, nach der Abwechslung, wieder neu, breit und jugendlich

erlebt, aber nur einige wenige: denn in die Regel lebt man sich rascher wieder ein, als in ihre Aufhebung, und wenn der Zeitsinn durch Alter schon mude ist oder - ein Zeichen von ursprunglicher Lebensschwache - nie stark entwickelt war, so schlaft er sehr rasch wieder ein, und schon nach vierundzwanzig Stunden ist es, als sei man nie weg gewesen, und als sei die Reise der Traum einer Nacht.

Diese Bemerkungen werden nur deshalb hier eingefugt, weil der junge Hans Castorp ahnliches im Sinne hatte, als er nach einigen Tagen zu seinem Vetter sagte(und ihn dabei mit rotgeaderten Augen ansah):

"Komisch ist und bleibt es, wie die Zeit einem lang wird zu Anfang, an einem fremden Ort. Das hei?t ... Selbstverstandlich kann keine Rede davon sein, da? ich mich langweile, im Gegenteil, ich kann wohl sagen, ich amusiere mich koniglich. Aber wenn ich mich umsehe, retrospektiv also, versteh' mich recht, kommt es mir vor, als ob ich schon wer wei? wie lange hier oben ware, und bis dahin zuruck, wo ich ankam und nicht gleich verstand, da? ich da war, und du noch sagtest: 'Steige nur aus!' - erinnerst du dich? - das scheint mir eine ganze Ewigkeit. Mit Messen und uberhaupt mit dem Verstand hat das ja absolut nichts zu tun, es ist eine reineGefuhlssache. Naturlich ware es albern, zu sagen: 'Ich glaube schon zwei Monate hier zu sein', - das ware ja Nonsens. Sondern ich kann eben nur sagen: 'Sehr lange'."

"Ja," antwortete Joachim, das Thermometer im Munde, "ich habe auch gut davon, ich kann mich gewisserma?en an dir festhalten, seit du da bist." Und Hans Castorp lachte daruber, da? Joachim dies so einfach, ohne Erklarung, sagte.

Er versucht sich in franzosischer Konversation

Nein, eingelebt war er noch keineswegs, weder was die Kenntnis des hiesigen Lebens in all seiner Eigentumlichkeit betraf, - eine Kenntnis, die er in so wenigen Tagen unmoglich gewinnen konnte und, wie er sich sagte(und es auch gegen Joachim aussprach), selbst in drei Wochen leider nicht wurde gewinnen konnen; noch auch in bezug auf die Anpassung seines Organismus an die so sehr eigentumlichen atmospharischen Verhaltnisse bei "denen hier oben", denn diese Anpassung wurde ihm sauer, uberaus sauer, ja, wie ihm schien, wollte sie uberhaupt nicht vonstatten gehen.

Der Normaltag war klar gegliedert und fursorglich organisiert, man

kam rasch in Trott und gewann Gelaufigkeit, wenn man sich seinem Getriebe einfugte. Im Rahmen der Woche jedoch und gro?erer Zeiteinheiten unterlag er gewissen regelma?igen Abwandlungen, die sich erst nach und nach einfanden, die eine zum erstenmal, nachdem die andere sich schon wiederholt hatte; und auch was die alltagliche Einzelerscheinung von Dingen und Gesichtern betraf, so hatte Hans Castorp noch auf Schritt und Tritt zu lernen, obenhin Angeschautes genauer zu bemerken und Neues mit jugendlicher Empfanglichkeit in sich aufzunehmen.

Jene bauchigen Gefa?e mit kurzen Halsen zum Beispiel, die auf den Gangen vor einzelnen Turen standen und auf die gleich am Abend seiner Ankunft sein Auge gefallen war, enthielten Sauerstoff, - Joachim erklarte es ihm auf Befragen. Reiner Sauerstoff war darin, zu sechs Franken der Ballon, und das belebende Gas wurde den Sterbenden zum Zweck einer letzten Anfeuerung und Hinhaltung ihrer Krafte zugefuhrt, - sie schlurften es durch einen Schlauch. Denn hinter den Turen, vor denen solche Ballons standen, lagen Sterbende oder "moribundi", wie Hofrat Behrens sagte, als Hans Castorp ihm einmal im ersten Stockwerk begegnete, - der Hofrat kam in wei?em Kittel und mit blauen Backen den Korridor entlanggerudert, und sie gingen zusammen die Treppe hinauf.

"Na, Sie unbeteiligter Zuschauer Sie!" sagte Behrens. "Was machen Sie denn, finden wir Gnade vor Ihren prufenden Blicken? Ehrt uns, ehrt uns. Ja, unsere Sommersaison, die hats in sich, die ist nicht von schlechten Eltern. Habe es mir auch was kosten lassen, um sie ein bi?chen zu poussieren. Aber schade ist es doch, da? Sie den Winter nicht mitmachen wollen bei uns, - Sie wollen ja blo? acht Wochen bleiben, hab ich gehort? Ach, drei? Das ist aber eine Stippvisite,das lohnt ja das Ablegen gar nicht; na, wie Sie meinen. Aber schade ist es doch, da? Sie den Winter nicht mitmachen, denn was so die Hotevoleh ist," sagte er mit scherzhaft unmoglicher Aussprache, "die internationale Hotevoleh da unten in Platz, die kommt doch nun mal erst im Winter, und die mu?ten Sie sehen, da taten Sie was fur Ihre Bildung. Zum Kugeln, wenn die Kerls so Sprunge machen auf ihren Fu?brettern. Und dann die Damen, herrje, die Damen! Bunt wie die Paradiesvogel, sag ich Ihnen, und machtig galant ... Nun mu? ich aber zu meinem Moribundus," sagte er, "auf siebenundzwanzig hier. Finales Stadium, wissen Sie. Durch die Mitte ab. Funf Dutzend Fiaskos Oxygen hat er gestern und heute noch ausgekneipt, der Schlemmer. Aber bis Mittag wird er wohl ad penates

gehen. Na, lieber Reuter," sagte er, indem er eintrat, "wie ware es, wenn wir noch einer den Hals brachen ..." Seine Worte verloren sich hinter der Tur, die er zuzog. Aber einen Augenblick hatte Hans Castorp im Hintergrunde des Zimmers auf dem Kissen das wachserne Profil eines jungen Mannes mit dunnem Kinnbart gesehen, der langsam seine sehr gro?en Augapfel zur Tur gerollt hatte.

Es war der erste Moribundus, den Hans Castorp in seinem Leben zu sehen bekam, denn seine Eltern sowohl wie der Gro?vater waren ja damals gleichsam hinter seinem Rucken gestorben. Wie wurdevoll der Kopf des jungen Mannes mit aufwarts geschobenem Kinnbart auf dem Kissen gelegen hatte! Wie bedeutend der Blick seiner ubergro?en Augen gewesen war, als er sie langsam zur Tur gedreht hatte! Hans Castorp, noch ganz vertieft in den fluchtigen Anblick, versuchte unwillkurlich, ebenso gro?e, bedeutende und langsame Augen wie der Moribundus zu machen, wahrend er weiter zur Treppe ging, und mit diesen Augen blickte er eine Dame an, die hinter ihm aus einer Tur getreten war und ihn am Treppenkopf uberholte. Er erkannte nicht gleich, da? es Madame Chauchat war. Sie lachelte leise uber die Augen, die er machte, stutzte dann mit der Hand die Flechte an ihrem Hinterkopf und ging vor ihm die Treppe hinunter, gerauschlos, schmiegsam und etwas vorgeschobenen Kopfes.

Bekanntschaften machte er fast keine in diesen ersten Tagen und auch spater noch lange nicht. Die Tagesordnung war dem im ganzen nicht gunstig; auch war Hans Castorp ja zuruckhaltenden Wesens, fuhlte sich uberdies als Gast und "unbeteiligter Zuschauer" hier oben, wie Hofrat Behrens gesagt hatte, und lie? sich an Joachims Gesprach und Gesellschaft in der Hauptsache gern genugen. Die Krankenschwester auf dem Korridor freilich reckte so lange den Hals nach ihnen, bis Joachim, der ihr schon fruher manchmal kleine Plaudereien gewahrt hatte, seinen Vetter mit ihr bekannt machte. Das Kneiferbandhinter dem Ohr, sprach sie nicht nur geziert, sondern geradezu gequalt und machte bei naherer Prufung den Eindruck, als habe unter der Folter der Langenweile ihr Verstand gelitten. Es war sehr schwer, wieder von ihr loszukommen, da sie vor der Beendigung des Gespraches eine krankhafte Furcht an den Tag legte und, sobald die jungen Leute Miene machten, weiterzugehen, sich mit hastigen Worten und Blicken, auch einem verzweifelten Lacheln an sie klammerte, so da? sie aus Erbarmen noch bei ihr stehen blieben. Sie sprach des langen und breiten von ihrem Papa, welcher Jurist, und

ihrem Cousin, der Arzt sei, - offenbar um sich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen und ihre Herkunft aus gebildeter Gesellschaftsschicht zu bekunden. Was ihren Pflegling dort hinter der Tur betraf, so war er der Sohn eines Koburger Puppenfabrikanten, Rotbein mit Namen, und neuerdings habe es sich bei dem jungen Fritz auf den Darm geworfen. Das sei hart fur alle Beteiligten, wie die Herren sich wohl vorstellen konnten; namentlich wenn man nun einmal aus akademischem Hause stamme und die Feinfuhligkeit der hoheren Klassen besitze, so sei es hart. Und nicht den Rucken durfe man kehren ... Neulich, was glaubten die Herren, komme sie von einem kurzen Ausgange zuruck, nichts als ein wenig Zahnpulver habe sie sich besorgt, und finde den Kranken in seinem Bette sitzend, vor sich ein Glas dickes, dunkles Bier, eine Salamiwurst, ein derbes Stuck Schwarzbrot und eine Gurke! All diese heimischen Leckerbissen hatten die Seinen ihm zugesandt zu seiner Kraftigung. Aber am nachsten Tage sei er naturlich mehr tot als lebendig gewesen. Er selbst beschleunige sein Ende. Aber das werde die Erlosung ja nur fur ihn bedeuten, nicht auch fur sie - Schwester Berta sei ubrigens ihr Name, in Wirklichkeit Alfreda Schildknecht -, denn sie komme dann eben zu einem anderen Kranken, in mehr oder weniger vorgeschrittenem Stadium, hier oder in einem anderen Sanatorium, das sei die Perspektive, die sich ihr eroffne, und eine andere eroffne sich eben nicht.

Ja, sagte Hans Castorp, ihr Beruf sei gewi? schwer, aber doch auch befriedigend, sollte er denken.

Gewi?, antwortete sie, befriedigend sei er, - befriedigend, aber sehr schwer.

Nun, alles Gute fur Herrn Rotbein. Und die Vettern wollten gehen.

Aber da klammerte sie sich an sie mit Worten und Blicken, und so jammervoll war es zu sehen, wie sie sich anstrengte, die jungen Leute ein wenig langer zu fesseln, da? es grausam gewesen ware, ihr nicht noch eine Frist zu gewahren.

"Er schlaft!" sagte sie. "Er braucht mich nicht. Da bin ich fur einige kurze Minuten auf den Gang hinausgetreten ..." Und sie begann uber Hofrat Behrens zu klagen und den Ton, in dem er mitihr verkehre und der allzu zwanglos sei, um ihrer Herkunft zu entsprechen. Bei weitem gab sie Herrn Dr. Krokowski den Vorzug, - ihn nannte sie seelenvoll. Dann kam sie wieder auf ihren Papa und ihren Cousin. Ihr Hirn gab nichts weiter her. Vergebens rang sie danach, die Vettern noch ein wenig zu fesseln,

indem sie plotzlich mit einem Anlauf die Stimme erhob und beinahe zu schreien begann, wenn sie gehen wollten, - sie entschlupften ihr endlich und gingen. Aber die Schwester sah ihnen noch eine Weile mit vorgebeugtem Oberkorper und saugenden Blicken nach, als wollte sie sie mit den Augen zu sich zuruckziehen. Dann entrang sich ein Seufzer ihrer Brust, und sie kehrte zu ihrem Pflegling ins Zimmer zuruck.

Sonst wurde Hans Castorp in diesen Tagen nur noch mit der schwarzbleichen Dame bekannt, jener Mexikanerin, die er im Garten gesehen hatte und die "Tous les deux" genannt wurde. Es geschah wirklich, da? auch er aus ihrem Munde die trubselige Formel horte, die ihr zum Spitznamen geworden war; aber da er sich vorbereitet hatte, so bewahrte er gute Haltung dabei und konnte nachher zufrieden mit sich sein. Die Vettern trafen sie vor dem Hauptportal, als sie nach dem ersten Fruhstuck den vorgeschriebenen Morgenspaziergang antraten. In ein schwarzes Kaschmirtuch gehullt, mit krummen Knien und langen, ruhelos wandernden Tritten erging sie sich dort, und gegen den schwarzen Schleier, der um ihr silbern durchzogenes Haar geschlungen und unter dem Kinn zusammengebunden war, schimmerte mattwei? ihr alterndes Gesicht mit dem gro?en, verharmten Munde. Joachim, ohne Hut wie gewohnlich, begru?te sie durch Verneigung, und sie dankte langsam, wahrend beim Schauen die Querfalten in ihrer engen Stirn sich vertieften. Sie blieb stehen, da sie ein neues Gesicht bemerkte, und erwartete, leise mit dem Kopfe nickend, die Annaherung der jungen Leute; denn offenbar hielt sie es fur notwendig zu horen, ob der Fremde von ihrem Schicksal wisse, und seine Au?erung daruber entgegenzunehmen. Joachim stellte seinen Vetter vor. Sie reichte dem Gast aus der Mantille heraus die Hand, eine magere, gelbliche, hoch geaderte, mit Ringen geschmuckte Hand, und fuhr fort, ihn nickend anzublicken. Dann kam es:

"Tous les de, monsieur", sagte sie. "Tous les de vous savez ..."

"Je le sais, madame", antwortete Hans Castorp gedampft. "Et je le regrette beaucoup."

Die schlaffen Hautsacke unter ihren jettschwarzen Augen waren so gro? und schwer, wie er es noch bei keinem Menschen gesehen. Ein leiser, welker Duft ging von ihr aus. Es war ihm sanft und ernst um das Herz.

"Merci", sagte sie mit einer rasselnden Aussprache, die sonderbar zu der Gebrochenheit ihres Wesens stimmte, und der eine Winkel ihres

gro?en Mundes hing tragisch tief hinab. Dann zog sie die Hand unter die Mantille zuruck, neigteden Kopf und machte sich wieder ans Wandern. Hans Castorp aber sagte im Weitergehen:

"Du siehst, es hat mir nichts gemacht, ich bin ganz gut mit ihr fertig geworden. Ich werde uberhaupt mit solchen Leuten ganz gut fertig, glaube ich, ich verstehe mich von Natur auf den Umgang mit ihnen, - meinst du nicht auch? Ich glaube sogar, ich komme mit traurigen Menschen im ganzen besser aus, als mit lustigen, wei? Gott, woran es liegt, vielleicht daran, da? ich doch Waise bin und meine Eltern so fruh verloren habe, aber wenn die Leute ernst und traurig sind und der Tod im Spiele ist, das bedruckt mich eigentlich nicht und macht mich nicht verlegen, sondern ich fuhle mich dabei in meinem Element und jedenfalls besser, als wenn es so forsch zugeht, das liegt mir weniger. Neulich dachte ich: Es ist doch eine Albernheit von den hiesigen Damen, sich derma?en vor dem Tode zu graulen und allem, was damit zusammenhangt, da? man sie angstlich davor bewahren mu? und das Viatikum bringt, wenn sie gerade essen. Nein, pfui, das ist lappisch. Siehst du nicht ganz gern einen Sarg? Ich sehe ganz gern mal einen. Ich finde, ein Sarg ist ein geradezu schones Mobel, schon wenn er leer ist, aber wenn jemand darin liegt, dann ist es direkt feierlich in meinen Augen. Begrabnisse haben so etwas Erbauliches, - ich habe schon manchmal gedacht, man sollte, statt in die Kirche, zu einem Begrabnis gehen, wenn man sich ein bi?chen erbauen will. Die Leute haben gutes schwarzes Zeug an und nehmen die Hute ab und sehen auf den Sarg und halten sich ernst und andachtig, und niemand darf faule Witze machen, wie sonst im Leben. Das habe ich sehr gern, wenn sie endlich mal ein bi?chen andachtig sind. Manchmal habe ich mich schon gefragt, ob ich nicht Pastor hatte werden sollen, - in gewisser Weise hatte das, glaube ich, nicht schlecht fur mich gepa?t ... Hoffentlich habe ich keinen Fehler im Franzosischen gemacht bei dem, was ich sagte?"

"Nein", sagte Joachim. "Je le regrette beaucoup war ja soweit ganz richtig."

Politisch verdachtig!

Regelma?ige Abwandlungen des Normaltages fanden sich ein: zuerst ein Sonntag - und zwar ein Sonntag mit Kurmusik auf der Terrasse, wie er vierzehntagig erschien, eine Markierung der Doppelwoche also, in deren

zweite Halfte Hans Castorp von au?en eingetreten war. An einem Dienstag war er gekommen, und so war es der funfte Tag, ein Tag von Fruhlingscharakter nach jenem abenteuerlichen Wettersturz und Ruckfall in den Winter, - zart und frisch, mit reinlichen Wolken am hellblauen Himmel und ma?igem Sonnenschein uber Hangen und Tal, die wieder ein ordnungsgema?es Sommergrun angenommen hatten, da der Neuschnee denn doch zuraschem Versickern verurteilt gewesen war.

Es war deutlich, da? jedermann sich befli?, den Sonntag zu ehren und auszuzeichnen; Verwaltung und Gaste unterstutzten einander in diesem Bestreben. Gleich zum Morgentee gab es Streu?elkuchen, an jedem Platz stand ein Glaschen mit ein paar Blumen, wilden Gebirgsnelken und sogar Alpenrosen, welche die Herren sich in das Knopfloch des Aufschlages steckten(Staatsanwalt Paravant aus Dortmund hatte sogar einen schwarzen Schwalbenschwanz mit punktierter Weste angelegt), die Damentoiletten trugen das Geprage festlicher Duftigkeit - Frau Chauchat erschien zum Fruhstuck in einer flie?enden Spitzenmatinee mit offenen Armeln, worin sie, wahrend die Glastur ins Schlo? schmetterte, erst einmal Front machte und sich dem Saal gleichsam anmutig prasentierte, bevor sie sich schleichenden Schrittes zu ihrem Tisch begab, und die sie so ausgezeichnet kleidete, da? Hans Castorps Nachbarin, die Lehrerin aus Konigsberg, sich ganz begeistert daruber zeigte - und sogar das barbarische Ehepaar vom Schlechten Russentisch hatte dem Gottestag Rechnung getragen, indem namlich der mannliche Teil seine Lederjoppe mit einer Art von kurzem Gehrock und die Filzstiefel mit Lederschuhwerk vertauscht hatte, sie freilich auch heute ihre unsaubere Federboa, darunter aber eine grunseidene Bluse mit Halskrause trug ... Hans Castorp runzelte die Brauen, als er der beiden ansichtig wurde, und verfarbte sich, wozu er hier auffallend neigte.

Gleich nach dem zweiten Fruhstuck begann die Kurmusik auf der Terrasse; allerlei Blech- und Holzblaser fanden sich dort ein und spielten abwechselnd flott und getragen, fast bis zum Mittagessen. Wahrend des Konzertes war die Liegekur nicht streng obligatorisch. Zwar genossen einige den Ohrenschmaus auf ihren Balkons, und auch in der Gartenhalle waren drei oder vier Stuhle besetzt; aber die Mehrzahl der Gaste sa? an den kleinen, wei?en Tischen auf der gedeckten Plattform, wahrend leichte Lebewelt, der es zu ehrbar scheinen mochte, auf Stuhlen zu sitzen, die steinernen Stufen besetzt hielt, die in den Garten hinunterfuhrten, und dort viel Frohsinn entfaltete: jugendliche Kranke

beiderlei Geschlechts, von denen Hans Castorp die meisten schon dem Namen nach oder von Ansehen kannte. Hermine Kleefeld gehorte dazu, sowie Herr Albin, der eine gro?e geblumte Schachtel mit Schokolade herumgehen und alle daraus essen lie?, wahrend er selbst nicht a?, sondern mit vaterlicher Miene Zigaretten mit goldenem Mundstuck rauchte; ferner der wulstlippige Jungling vom "Verein Halbe Lunge", Fraulein Levi, dunn und elfenbeinfarben, wie sie war, ein aschblonder junger Mann, der auf den Namen Rasmussen horte und seine Hande nach Art von Flossen aus schlaffen Gelenken in Brusthohe hangen lie?, Frau Salomon aus Amsterdam, eine rot gekleidete Frau von reicher Korperlichkeit, die sich ebenfalls der Jugend beigesellt hatte und in deren braunlichen Nacken jener lange Mensch mit gelichtetem Haar, der aus dem "Sommernachtstraum" spielen konnte und nun, mit den Armen seine spitzen Knie umschlingend, hinter ihr sa?, unablassig seinetruben Blicke gerichtet hielt; ein rothaariges Fraulein aus Griechenland, ein anderes unbekannter Herkunft mit dem Gesicht eines Tapirs, der gefra?ige Junge mit den dicken Brillenglasern, ein weiterer funfzehn- oder sechzehnjahriger Junge, der ein Monokel eingeklemmt hatte und beim Husteln den lang gewachsenen, salzloffelahnlichen Nagel seines kleinen Fingers zum Munde fuhrte, ein kapitaler Esel offenbar - und noch andere mehr.

Dieser Junge mit dem Fingernagel, erzahlte Joachim leise, sei nur ganz wenig leidend gewesen, als er gekommen sei, - ohne Temperatur, und nur der Vorsicht halber sei er von seinem Vater, einem Arzt, heraufgeschickt worden und habe nach des Hofrats Urteile etwa drei Monate bleiben sollen. Jetzt, nach drei Monaten, habe er 37,8 bis 38 und sei recht krank. Aber er lebe ja auch so unvernunftig, da? er Maulschellen verdiene.

Die Vettern hatten ein Tischchen fur sich, etwas abseits von den ubrigen, denn Hans Castorp rauchte zu seinem schwarzen Bier, das er vom Fruhstuck mit herausgenommen hatte, und von Zeit zu Zeit schmeckte ihm seine Zigarre ein wenig. Benommen vom Biere und von der Musik, die wie immer bewirkte, da? sein Mund sich offnete und sein Kopf sich auf die Seite legte, betrachtete er mit geroteten Augen das sorglose Badeleben ringsumher, wobei das Bewu?tsein ihn durchaus nicht storte, sondern im Gegenteil dem Ganzen eine erhohte Merkwurdigkeit, einen gewissen geistigen Reiz verlieh, da? alle diese Leute in ihrem Inneren von einem schwer aufzuhaltenden Zerfall

ergriffen waren und da? die meisten von ihnen in leichtem Fieber standen ... Man trank perlende Kunstlimonade an den Tischchen, und auf der Freitreppe wurde photographiert. Andere tauschten dort Briefmarken, und das rothaarige Fraulein aus Griechenland zeichnete Herrn Rasmussen auf einem Block, wollte ihm dann aber das Bild nicht zeigen, sondern wandte sich, mit breiten, weit auseinander stehenden Zahnen lachend, hin und her, so da? er es lange nicht vermochte, ihr den Block zu entrei?en. Hermine Kleefeld sa? mit nur halb geoffneten Augen auf ihrer Stufe und schlug mit einer zusammengerollten Zeitung den Takt zur Musik, wahrend sie sich von Herrn Albin ein Strau?chen Wiesenblumen an ihrer Bluse befestigen lie?, und der Wulstlippige, zu Frau Salomons Fu?en sitzend, plauderte gedrehten Halses zu ihr empor, indes der dunnhaarige Pianist ihr von hinten unverwandt in den Nacken blickte.

Die Arzte kamen und mischten sich unter die Kurgesellschaft, Hofrat Behrens in wei?em und Dr. Krokowski in schwarzem Kittel. Sie gingen die Reihe der Tischchen entlang, wobei der Hofrat beinahe an jedem ein gemutliches Witzwort fallen lie?, so da? ein Kielwasser heiterer Bewegung seinen Weg bezeichnete, und stiegen dann zur Jugend hinab, deren weiblicher Teil sich sofort mit Wippen und schragen Blicken um Dr. Krokowski scharte, wahrend der Hofrat dem Sonntage zu Ehrender Herrenwelt das Kunststuck mit seinem Schnurstiefel zeigte: er setzte seinen gewaltigen Fu? auf eine hohere Stufe, loste die Bander, ergriff sie nach einer besonderen Praktik mit einer Hand und wu?te sie, ohne die andere zu Hilfe zu nehmen, mit solcher Fertigkeit kreuzweise einzuhaken, da? alle sich wunderten und mehrere umsonst versuchten, es ihm gleichzutun.

Spater erschien auch Settembrini auf der Terrasse, - er kam, auf seinen Spazierstock gestutzt, aus dem Speisesaal, auch heute in seinem Flaus und seinen gelblichen Hosen, mit feiner, geweckter und kritischer Miene, sah sich um und naherte sich dem Tische der Vettern, indem er "Ah, bravo!" sagte und um die Erlaubnis bat, sich zu ihnen setzen zu durfen.

"Bier, Tabak und Musik", sagte er. "Da haben wir Ihr Vaterland! Ich sehe, Sie haben Sinn fur nationale Stimmung, Ingenieur. Sie sind in Ihrem Elemente, das freut mich. Lassen Sie mich etwas teilnehmen an der Harmonie Ihres Zustandes!"

Hans Castorp nahm seine Zuge zusammen, - hatte es schon getan, als er des Italieners nur ansichtig geworden war. Er sagte:

"Sie kommen aber spat zum Konzert, Herr Settembrini, es mu? ja bald aus sein. Horen Sie nicht gern Musik?"

"Nicht gern auf Kommando", erwiderte Settembrini. "Nicht nach dem Wochenkalender. Nicht gern, wenn sie nach Apotheke riecht und mir von oben herab aus sanitaren Grunden zugemessen wird. Ich halte ein wenig auf meine Freiheit oder doch auf jenen Rest von Freiheit und Menschenwurde, der unsereinem ubrigbleibt. Bei solchen Veranstaltungen hospitiere ich, wie Sie im gro?en bei uns hospitieren, - ich komme auf eine Viertelstunde und gehe wieder meiner Wege. Das gibt mir die Illusion der Unabhangigkeit ... Ich sage nicht, da? es mehr ist, als eine Illusion, aber was wollen Sie, wenn sie mir eine gewisse Genugtuung bereitet! Mit Ihrem Vetter, das ist etwas anderes. Fur ihn ist es Dienst. Nicht wahr, Leutnant, Sie betrachten es als zum Dienst gehorig. Oh, ich wei?, Sie kennen den Trick, in der Sklaverei Ihren Stolz zu bewahren. Ein verwirrender Trick. Nicht jedermann in Europa versteht sich darauf. Musik? Fragten Sie nicht, ob ich mich als Liebhaber der Musik bekenne? Nun, wenn Sie 'Liebhaber' sagen(eigentlich entsann Hans Castorp sich nicht, so gesagt zu haben), der Ausdruck ist nicht ubel gewahlt, er hat einen Anflug zartlicher Leichtfertigkeit. Gut denn, ich schlage ein. Ja, ich bin ein Liebhaber der Musik, - womit nicht gesagt sein soll, da? ich sie sonderlich achte, - so etwa, wie ich das Wort achte und liebe, den Trager des Geistes, das Werkzeug, die glanzende Pflugschar des Fortschritts ... Musik ... sie ist das halb Artikulierte, das Zweifelhafte, das Unverantwortliche, das Indifferente. Vermutlich werden Sie mir einwenden, da? sie klar sein konne.Aber auch die Natur kann klar sein, auch ein Bachlein kann klar sein, und was hilft uns das? Es ist nicht die wahre Klarheit, es ist eine traumerische, nichtssagende und zu nichts verpflichtende Klarheit, eine Klarheit ohne Konsequenzen, gefahrlich deshalb, weil sie dazu verfuhrt, sich bei ihr zu beruhigen ... Lassen Sie die Musik die Gebarde der Hochherzigkeit annehmen. Gut! Sie wird damit unser Gefuhl entflammen. Es kommt jedoch darauf an, die Vernunft zu entflammen! Die Musik ist scheinbar die Bewegung selbst, - gleichwohl habe ich sie im Verdachte des Quietismus. Lassen Sie mich die Sache auf die Spitze stellen: Ich hege eine politische Abneigung gegen die Musik."

Hier konnte Hans Castorp nicht umhin, sich aufs Knie zu schlagen und auszurufen, so etwas habe er denn doch in seinem Leben noch nicht gehort.

"Ziehen Sie es trotzdem in Erwagung!" sagte Settembrini lachelnd. "Die Musik ist unschatzbar als letztes Begeisterungsmittel, als aufwarts und vorwarts rei?ende Macht, wenn sie den Geist fur ihre Wirkungen vorgebildet findet. Aber die Literatur mu? ihr vorangegangen sein. Musik allein bringt die Welt nicht vorwarts. Musik allein ist gefahrlich. Fur Sie personlich, Ingenieur, ist sie unbedingt gefahrlich. Ich sah es sofort an Ihren Gesichtszugen, als ich kam."

Hans Castorp lachte.

"Ach, mein Gesicht durfen Sie nicht ansehen, Herr Settembrini. Sie glauben nicht, wie die Luft bei Ihnen hier oben mir zusetzt. Es fallt mir schwerer, als ich dachte, mich zu akklimatisieren."

"Ich furchte, Sie tauschen sich."

"Nein, wieso! Wei? der Teufel, wie mude und hei? ich noch immer bin."

"Ich finde doch, da? man der Direktion fur die Konzerte dankbar sein mu?", sagte Joachim besonnen. "Sie betrachten die Sache ja von einem hoheren Standpunkt, Herr Settembrini, sozusagen als Schriftsteller, und da will ich Ihnen nicht widersprechen. Aber ich finde doch, da? man hier dankbar sein mu? fur ein bi?chen Musik. Ich bin gar nicht besonders musikalisch, und dann sind die Stucke, die gespielt werden, ja auch nicht weiter gro?artig, - weder klassisch noch modern, sondern nur einfach Blechmusik. Aber es ist doch eine erfreuliche Abwechslung. Es fullt ein paar Stunden so anstandig aus, ich meine: es teilt sie ein und fullt sie im einzelnen aus, so da? doch etwas daran ist, wahrend man sich hier sonst die Stunden und Tage und Wochen so schauderhaft um die Ohren schlagt ... Sehen Sie, so eine anspruchslose Konzertnummer dauert vielleicht sieben Minuten, nicht wahr, und die sind etwas fur sich, sie haben Anfang und Ende, sie heben sich ab und sind gewisserma?en bewahrt davor, so unversehens im allgemeinen Schlendrian unterzugehen. Au?erdem sind sie ja wieder noch vielfach eingeteilt, durch die Figuren des Stuckes, und die wieder in Takte, so da? immer was los istund jeder Augenblick einen gewissen Sinn bekommt, an den man sich halten kann, wahrend sonst ... Ich wei? nicht, ob ich mich richtig ..."

"Bravo!" rief Settembrini. "Bravo, Leutnant! Sie bezeichnen sehr gut ein unzweifelhaft sittliches Moment im Wesen der Musik, namlich dieses, da? sie dem Zeitablaufe durch eine ganz eigentumlich lebensvolle Messung Wachheit, Geist und Kostbarkeit verleiht. Die Musik weckt die Zeit, sie weckt uns zum feinsten Genusse der Zeit, sie weckt ... insofern ist sie sittlich. Die Kunst ist sittlich, sofern sie weckt. Aber wie, wenn sie

das Gegenteil tut? Wenn sie betaubt, einschlafert, der Aktivitat und dem Fortschritt entgegenarbeitet? Auch das kann die Musik, auch auf die Wirkung der Opiate versteht sie sich aus dem Grunde. Eine teuflische Wirkung, meine Herren! Das Opiat ist vom Teufel, denn es schafft Dumpfsinn, Beharrung, Untatigkeit, knechtischen Stillstand ... Es ist etwas Bedenkliches um die Musik, meine Herren. Ich bleibe dabei, da? sie zweideutigen Wesens ist. Ich gehe nicht zu weit, wenn ich sie fur politisch verdachtig erklare."

Er sprach noch weiter in dieser Art, und Hans Castorp horte auch zu, vermochte aber so recht nicht zu folgen, erstens seiner Mudigkeit wegen, und dann auch, weil er abgelenkt war durch die geselligen Vorgange unter der leichten Jugend dort auf den Stufen. Sah er recht oder wie war das eigentlich? Das Fraulein mit dem Tapirgesicht war beschaftigt, dem Jungen mit dem Monokel einen Knopf an den Kniebund seiner Sporthose zu nahen! Und dabei ging ihr der Atem schwer und hei? vor Asthma, wahrend er seinen salzloffelahnlichen Fingernagel hustelnd zum Munde fuhrte! Sie waren ja krank, alle beide, aber trotzdem zeugte es von sonderbaren Verkehrssitten unter den jungen Leuten hier oben. Die Musik spielte eine Polka ...

Hippe

So hob der Sonntag sich ab. Sein Nachmittag war uberdies gekennzeichnet durch Wagenfahrten, die von verschiedenen Gastegruppen unternommen wurden: mehrere Zweispanner schleppten sich nach dem Tee die Wegschleife herauf und hielten vorm Hauptportal, um ihre Besteller aufzunehmen, Russen hauptsachlich, und zwar russische Damen.

"Russen fahren immer spazieren", sagte Joachim zu Hans Castorp, - sie standen zusammen vor dem Portal und sahen zu ihrer Unterhaltung den Abfahrten zu. "Nun fahren sie nach Clavadell oder nach dem See oder ins Fluelatal oder nach Klosters, das sind so die Ziele. Wir konnen auch mal fahren wahrend deiner Anwesenheit, wenn du Lust hast. Aber ich glaube, vorlaufig hast du genug zu tun, um dich einzuleben, und brauchst keine Unternehmungen."

Hans Castorp stimmte dem bei. Er hatte eine Zigarette im Munde und die Hande in den Hosentaschen. So sah er zu, wie die kleine, muntere, alte russische Dame mit ihrer mageren Gro?nichte und zwei anderen

Damen in einem Wagen Platz nahm; es warenMarusja und Madame Chauchat. Diese hatte einen dunnen Staubmantel, mit einem Gurt im Rucken, angelegt, war jedoch ohne Hut. Sie setzte sich neben die Alte in den Fond des Wagens, wahrend die jungen Madchen die Ruckplatze einnahmen. Alle vier waren lustig und regten unaufhorlich die Munder in ihrer weichen, gleichsam knochenlosen Sprache. Sie sprachen und lachten uber die Wagendecke, in die sie sich unter Schwierigkeiten teilten, uber das russische Konfekt, das die Gro?tante als Mundvorrat in einem mit Watte und Papierspitzen gepolsterten Holzkistchen mitfuhrte und schon jetzt prasentierte ... Hans Castorp unterschied mit Anteil Frau Chauchats verschleierte Stimme. Wie immer, wenn ihm die nachlassige Frau vor Augen kam, bekraftigte sich ihm aufs neue jene Ahnlichkeit, nach der er eine Weile gesucht hatte und die ihm im Traume aufgegangen war ... Marusjas Lachen aber, der Anblick ihrer runden, braunen Augen, die kindlich uber das Tuchlein hinwegblickten, womit sie den Mund bedeckte, und ihrer hohen Brust, die innerlich gar nicht wenig krank sein sollte, erinnerte ihn an etwas Anderes, Erschutterndes, was er neulich gesehen hatte, und so blickte er vorsichtig und ohne den Kopf zu bewegen zur Seite auf Joachim. Nein, gottlob, so fleckig im Gesicht sah Joachim nicht aus wie damals, und auch seine Lippen waren jetzt nicht so klaglich verzerrt. Aber er sah Marusja an - und zwar in einer Haltung, mit einem Augenausdruck, die unmoglich militarisch genannt werden konnten, vielmehr so trub und selbstvergessen erschienen, da? man sie als ausgemacht zivilistisch ansprechen mu?te. Dann raffte er sich ubrigens zusammen und blickte rasch nach Hans Castorp, so da? dieser eben noch Zeit hatte, seine Augen von ihm fortzutun und sie irgendwohin in die Lufte zu senden. Er fuhlte sein Herz klopfen dabei, - unmotiviert und auf eigene Hand, wie es das hier nun einmal tat.

Der Rest des Sonntags bot nichts Au?erordentliches, abgesehen vielleicht von den Mahlzeiten, die, da sie reicher als gewohnlich nicht wohl gestaltet werden konnten, wenigstens eine erhohte Feinheit der Gerichte aufwiesen.(Zum Mittagessen gab es ein Chaud-froid von Huhnern, mit Krebsen und halbierten Kirschen verziert; zum Gefrorenen Patisserie in Korbchen, die aus gesponnenem Zucker geflochten waren, und dann auch noch frische Ananas.) Abends, nachdem er sein Bier getrunken, fuhlte Hans Castorp sich noch erschopfter, frostiger und schwerer von Gliedern, als die Tage vorher, sagte seinem Vetter schon gegen neun Uhr gute Nacht, zog eilig das Federbett bis uber das Kinn und schlief ein wie erschlagen.

Allein schon der folgende Tag, der erste Montag also, den der Hospitant hier oben verlebte, brachte eine weitere regelma?ig wiederkehrende Abwandlung des Tageslaufes: namlich einen jener Vortrage, die Dr. Krokowski vierzehntagig im Speisesaal vor dem gesamten volljahrigen, der deutschen Sprache kundigenund nicht moribunden Publikum des "Berghofes" hielt. Es handelte sich, wie Hans Castorp von seinem Vetter horte, um eine Reihe zusammenhangender Kollegien, einen popular-wissenschaftlichen Kursus unter dem Generaltitel "Die Liebe als krankheitbildende Macht". Die belehrende Unterhaltung fand nach dem zweiten Fruhstuck statt, und es war, wie wiederum Joachim sagte, nicht zulassig, wurde zum mindesten hochst ungern gesehen, da? man sich davon ausschlosse, - weshalb es denn auch als erstaunliche Frechheit galt, da? Settembrini, obgleich des Deutschen machtiger als irgend jemand, die Vortrage nicht nur niemals besuchte, sondern sich auch in den abschatzigsten Au?erungen daruber erging. Was Hans Castorp betraf, so war er vor allem aus Hoflichkeit, dann aber auch aus unverhohlener Neugier sofort entschlossen, sich einzufinden. Vorher jedoch tat er etwas ganz Verkehrtes und Fehlerhaftes: er lie? sich einfallen, auf eigene Hand einen ausgedehnten Spaziergang zu machen, was ihm uber alles Vermuten schlecht bekam.

"Jetzt pa? auf!" waren seine ersten Worte, als Joachim morgens in sein Zimmer trat. "Ich sehe, da? es mit mir nicht so weitergeht. Ich habe die horizontale Lebensweise nun satt, - das Blut schlaft einem ja dabei ein. Mit dir ist es selbstverstandlich was anderes, du bist Patient, dich will ich durchaus nicht verfuhren. Aber ich will nun mal gleich nach dem Fruhstuck einen ordentlichen Spaziergang unternehmen, wenn du es mir nicht ubel nimmst, so ein paar Stunden aufs Geratewohl in die Welt hinein. Ich stecke mir einen Bissen zum Fruhstuck in die Tasche, dann bin ich unabhangig. Wir wollen doch sehen, ob ich nicht ein anderer Kerl bin, wenn ich nach Hause komme."

"Schon!" sagte Joachim, da er sah, da? es dem anderen ernst war mit seinem Begehren und Vorsatz. "Aber ubertreibe es nicht, das rate ich dir. Es ist hier anders als wie zu Hause. Und dann sei punktlich zum Vortrag zuruck!"

In Wirklichkeit waren es noch andere Grunde, als nur der korperliche, die dem jungen Hans Castorp sein Vorhaben eingegeben hatten. Ihm war, als ob an seinem hitzigen Kopf, dem schlechten Geschmack, den er meistens im Munde hatte, und dem willkurlichen Klopfen seines Herzens

viel weniger die Schwierigkeiten der Akklimatisation schuld seien, als solche Dinge, wie das Treiben des russischen Ehepaars nebenan, die Reden der kranken und dummen Frau Stohr bei Tische, des Herrenreiters weicher Husten, den er taglich auf den Korridoren vernahm, die Au?erungen Herrn Albins, die Eindrucke, die er von den Verkehrssitten der leidenden Jugend empfangen hatte, der Gesichtsausdruck Joachims, wenn er Marusja betrachtete, und dergleichen Wahrnehmungen mehr. Er dachte, es musse gut sein, dem Bannkreise des "Berghofes" einmal zu entkommen, im Freien tief aufzuatmen und sich tuchtig zu ruhren, um, wenn man abends mude war, doch wenigstens zu wissen, warum. Und sotrennte er sich denn unternehmend von Joachim, als dieser nach dem Fruhstuck seinen dienstlich abgemessenen Lustwandel nach der Bank an der Wasserrinne antrat, und marschierte stockschwenkend die Fahrstra?e hinab seine eigenen Wege.

Es war ein kuhler, bedeckter Morgen - gegen halb neun Uhr. Wie er es sich vorgenommen, atmete Hans Castorp tief die reine Fruhluft, diese frische und leichte Atmosphare, die muhelos einging und ohne Feuchtigkeitsduft, ohne Gehalt, ohne Erinnerungen war ... Er uberschritt den Wasserlauf und das Schmalspurgeleise, gelangte auf die unregelma?ig bebaute Stra?e, verlie? sie gleich wieder und schlug einen Wiesenpfad ein, der nur ein kurzes Stuck zu ebener Erde lief und dann schrag hin und ziemlich steil den rechtsseitigen Hang emporfuhrte. Das Steigen freute Hans Castorp, seine Brust weitete sich, er schob mit der Stockkrucke den Hut aus der Stirn, und als er, aus einiger Hohe zuruckblickend, in der Ferne den Spiegel des Sees gewahrte, an dem er auf der Herreise vorubergekommen war, begann er zu singen.

Er sang die Stucke, uber die er eben verfugte, allerlei volkstumlich empfindsame Lieder, wie sie in Kommers- und Turnliederbuchern stehen, unter anderem eines, worin die Zeilen vorkamen:

"Die Barden sollen Lieb und Wein,

Doch ofter Tugend preisen" -

sang sie anfangs leise und summend, dann laut und aus ganzer Kraft. Sein Bariton war sprode, aber heute fand er ihn schon, und das Singen begeisterte ihn mehr und mehr. Hatte er zu hoch eingesetzt, so verlegte er sich auf fistelnde Kopftone, und auch diese erschienen ihm schon. Wenn sein Gedachtnis ihn im Stiche lie?, so half er sich damit, da? er der Melodie irgendwelche sinnlose Silben und Worte unterlegte, die er nach Art der Kunstsanger formenden Mundes und mit prunkendem Gaumen-R

in die Lufte sandte, und ging schlie?lich dazu uber, sowohl was den Text als auch was die Tone betraf, nur noch zu phantasieren und seine Produktion sogar mit opernhaften Armbewegungen zu begleiten. Da es sehr anstrengend ist, zugleich zu steigen und zu singen, so wurde ihm bald der Atem knapp und fehlte ihm immer mehr. Aber aus Idealismus, um der Schonheit des Gesanges willen, bezwang er die Not und gab unter haufigen Seufzern sein Letztes her, bis er sich endlich in au?erster Kurzluftigkeit, blind, nur ein farbiges Flimmern vor Augen und mit fliegenden Pulsen unter einer dicken Kiefer niedersinken lie?, - nach so gro?er Erhebung plotzlich die Beute durchgreifender Verstimmung, eines Katzenjammers, der an Verzweiflung grenzte.

Als er mit leidlich wieder befestigten Nerven sich aufmachte, um seinen Spaziergang fortzusetzen, zitterte sein Genick sehr lebhaft, so da? er bei so jungen Jahren genau auf dieselbe Weise mit dem Kopfe wackelte, wie der alte Hans Lorenz Castorp es dereinst getan hatte. Er selbst fandsich durch die Erscheinung an seinen verstorbenen Gro?vater herzlich erinnert, und ohne sie als widerwartig zu empfinden, gefiel er sich darin, die ehrwurdige Kinnstutze nachzuahmen, womit der Alte dem Kopfzittern zu steuern gesucht und die dem Knaben einst so zugesagt hatte.

Er stieg noch hoher, in Serpentinen. Kuhglockengelaut zog ihn an, und er fand auch die Herde; sie graste in der Nahe einer Blockhutte, deren Dach mit Steinen beschwert war. Zwei bartige Manner kamen ihm entgegen, mit Axten auf den Schultern, und trennten sich, als sie nahe herangekommen. "Nun, so leb wohl und hab Dank!" sagte der eine zum andern mit tiefer, gaumiger Stimme, legte seine Axt auf die andere Schulter und begann ohne Weg und mit knackenden Tritten zwischen den Fichten zu Tal zu schreiten. Es hatte so sonderbar in der Einsamkeit geklungen, dieses "Leb wohl und hab Dank" und traumerisch Hans Castorps vom Steigen und Singen benommenen Sinn beruhrt. Er sprach es leise nach, indem er sich bemuhte, die gutturale und feierlich-unbeholfene Mundart des Gebirglers nachzuahmen, und stieg noch ein Stuck uber die Almhutte hinaus, da es ihm darum zu tun war, die Baumgrenze zu erreichen; doch lie? er nach einem Blick auf die Uhr von diesem Vorhaben ab.

Er folgte linkshin, in der Richtung gegen den Ort, einem Pfade, der eben lief und dann abwarts fuhrte. Hochstammiger Nadelwald nahm ihn auf, und indem er ihn durchwanderte, begann er sogar wieder ein wenig

zu singen, wenn auch mit Vorsicht und obgleich seine Knie beim Abstiege noch befremdlicher zitterten als vorher. Aber aus dem Geholz hervortretend, stand er uberrascht vor einer prachtigen Szenerie, die sich ihm offnete, einer intim geschlossenen Landschaft von friedlich-gro?artiger Bildma?igkeit.

In flachem, steinigem Bett kam ein Bergwasser die rechtsseitige Hohe herab, ergo? sich schaumend uber terrassenformig gelagerte Blocke und flo? dann ruhiger gegen das Tal hin weiter, von einem Stege mit schlicht gezimmertem Gelander malerisch uberbruckt. Der Grund war blau von den Glockenbluten einer staudenartigen Pflanze, die uberall wucherte. Ernste Fichten, riesig und ebenma?ig von Wuchs, standen einzeln und in Gruppen auf dem Boden der Schlucht sowie die Hohen hinan, und eine davon, zur Seite des Wildbaches schrag im Gehange wurzelnd, ragte schief und bizarr in das Bild hinein. Rauschende Abgeschiedenheit waltete uber dem schonen, einsamen Ort. Jenseits des Baches bemerkte Hans Castorp eine Ruhebank.

Er uberschritt den Steg und setzte sich, um sich vom Anblick des Wassersturzes, des treibenden Schaums unterhalten zu lassen, dem idyllisch gesprachigen, einformigen und doch innerlich abwechslungsvollen Gerausche zu lauschen; denn rauschendes Wasser liebte Hans Castorp ebensosehr wie Musik, ja vielleicht noch mehr. Aber kaum hatte er sichs bequem gemacht, als ein Nasenbluten ihn so plotzlich befiel, da? er seinen Anzug nicht ganzvor Verunreinigung schutzen konnte. Die Blutung war heftig, hartnackig und machte ihm wohl eine halbe Stunde lang zu schaffen, indem sie ihn zwang, bestandig zwischen Bach und Bank hin und her zu laufen, sein Schnupftuch zu spulen, Wasser aufzuschnauben und sich wieder flach auf den Brettersitz hinzustrecken, das feuchte Tuch auf der Nase. So blieb er liegen als endlich das Blut versiegte - lag still, die Hande hinter dem Kopf verschrankt, mit hochgezogenen Knien, die Augen geschlossen, die Ohren erfullt vom Rauschen, nicht unwohl, eher besanftigt vom reichlichen Aderla? und in einem Zustande sonderbar herabgesetzter Lebenstatigkeit; denn wenn er ausgeatmet hatte, fuhlte er lange kein Bedurfnis, neue Luft einzuholen, sondern lie? mit stillgestelltem Leibe ruhig sein Herz eine Reihe von Schlagen tun, bis er spat und trage wieder einen oberflachlichen Atemzug aufnahm.

Da fand er sich auf einmal in jene fruhe Lebenslage versetzt, die das Urbild eines nach neuesten Eindrucken gemodelten Traumes war, den er

vor einigen Nachten getraumt ... Aber so stark, so restlos, so bis zur Aufhebung des Raumes und der Zeit war er ins Dort und Damals entruckt, da? man hatte sagen konnen, ein lebloser Korper liege hier oben beim Gie?bache auf der Bank, wahrend der eigentliche Hans Castorp weit fort in fruherer Zeit und Umgebung stunde, und zwar in einer bei aller Einfachheit gewagten und herzberauschenden Situation.

Er war dreizehn Jahre alt, Untertertianer, ein Junge in kurzen Hosen, und stand auf dem Schulhof im Gesprach mit einem anderen, ungefahr gleichaltrigen Jungen aus einer anderen Klasse, - einem Gesprach, das Hans Castorp ziemlich willkurlich vom Zaune gebrochen hatte, und das ihn, obgleich es seines sachlichen und knapp umschriebenen Gegenstandes wegen nur ganz kurz sein konnte, doch im hochsten Grade erfreute. Es war die Pause zwischen der vorletzten und letzten Stunde, einer Geschichts- und einer Zeichenstunde fur Hans Castorps Klasse. Auf dem Hofe, der mit roten Klinkern gepflastert und von einer mit Schindeln gedeckten und mit zwei Eingangstoren versehenen Mauer gegen die Stra?e abgetrennt war, gingen die Schuler in Reihen auf und nieder, standen in Gruppen, lehnten halb sitzend an den glasierten Mauervorsprungen des Gebaudes. Es herrschte Stimmengewirr. Ein Lehrer im Schlapphut beaufsichtigte das Treiben, indem er in eine Schinkensemmel bi?.

Der Knabe, mit dem Hans Castorp sprach, hie? Hippe, mit Vornamen Pribislav. Als Merkwurdigkeit kam hinzu, da? das r dieses Vornamens wie sch auszusprechen war: es hie? "Pschibislav"; und dieser absonderliche Vorname stimmte nicht schlecht zu seinem Au?eren, das nicht ganz durchschnittsma?ig, entschieden etwas fremdartig war. Hippe, Sohn eines Historikers und Gymnasialprofessors, notorischer Musterschuler folglich und schon eine Klasse weiter als Hans Castorp, obgleich kaum alter als dieser, stammte aus Mecklenburg und war fur seine Person offenbar dasProdukt einer alten Rassenmischung, einer Versetzung germanischen Blutes mit wendisch-slawischem - oder auch umgekehrt. Zwar war er blond, - sein Haar war ganz kurz uber dem Rundschadel geschoren. Aber seine Augen, blaugrau oder graublau von Farbe - es war eine etwas unbestimmte und mehrdeutige Farbe, die Farbe etwa eines fernen Gebirges -, zeigten einen eigentumlichen, schmalen und genau genommen sogar etwas schiefen Schnitt, und gleich darunter sa?en die Backenknochen, vortretend und stark ausgepragt, - eine Gesichtsbildung, die in seinem Falle durchaus nicht entstellend, sondern

sogar recht ansprechend wirkte, die aber genugt hatte, ihm bei seinen Kameraden den Spitznamen "der Kirgise" einzutragen. Ubrigens trug Hippe schon lange Hosen und dazu eine hochgeschlossene, blaue, im Rucken gezogene Joppe, auf deren Kragen einige Schuppen von seiner Kopfhaut zu liegen pflegten.

Nun war die Sache die, da? Hans Castorp schon von langer Hand her sein Augenmerk auf diesen Pribislav gerichtet, - aus dem ganzen ihm bekannten und unbekannten Gewimmel des Schulhofes ihn erlesen hatte, sich fur ihn interessierte, ihm mit den Blicken folgte, soll man sagen: ihn bewunderte? auf jeden Fall ihn mit ausnehmendem Anteil betrachtete und sich schon auf dem Schulwege darauf freute, ihn im Verkehre mit seinen Klassengenossen zu beobachten, ihn sprechen und lachen zu sehen und von weitem seine Stimme zu unterscheiden, die angenehm belegt, verschleiert, etwas heiser war. Zugegeben, da? fur diese Teilnahme kein recht zureichender Grund vorhanden war, wenn man nicht etwa den heidnischen Vornamen, das Musterschulertum(das aber unmoglich ins Gewicht fallen konnte) oder endlich die Kirgisenaugen fur einen solchen nehmen wollte, - Augen, die sich zuweilen, bei einem gewissen Seitenblick, der nicht zum Sehen diente, auf eine schmelzende Weise ins Schleierig-Nachtige verdunkeln konnten - so machte Hans Castorp sich doch wenig Sorge um die geistige Rechtfertigung seiner Empfindungen oder gar darum, wie sie etwa notfalls zu benennen gewesen waren. Denn von Freundschaft konnte nicht gut die Rede sein, da er Hippe ja gar nicht "kannte". Aber erstens lag nicht die geringste Notigung zur Namengebung vor, da kein Gedanke daran war, da? der Gegenstand je zur Sprache gebracht werden konnte, - dazu eignete er sich nicht und verlangte auch nicht danach. Und zweitens bedeutet ein Name ja, wenn nicht Kritik, so doch Bestimmung, das hei?t Unterbringung im Bekannten und Gewohnten, wahrend Hans Castorp doch von der unbewu?ten Uberzeugung durchdrungen war, da? ein inneres Gut, wie dieses, vor solcher Bestimmung und Unterbringung ein fur allemal geschutzt sein sollte.

Aber gut oder schlecht begrundet, jedenfalls waren diese dem Namen und der Mitteilung so fernen Empfindungen von solcher Lebenskraft, da? Hans Castorp sich schon fast seit einem Jahr - ungefahr seit einem Jahr, denn genau waren ihre Anfange nicht aufzufinden - im stillen damittrug, was zum mindesten fur die Treue und Bestandigkeit seines Charakters sprach, wenn man erwagt, welche riesige Zeitmasse ein Jahr in diesem

Lebensalter bedeutet. Leider wohnt den Bezeichnungen von Charaktereigenschaften regelma?ig ein moralisches Urteil inne, sei es im lobenden oder tadelnden Sinn, obgleich sie alle ihre zwei Seiten haben. Hans Castorps "Treue", auf die er sich ubrigens weiter nichts zugute tat, bestand, ohne Wertung gesprochen, in einer gewissen Schwerfalligkeit, Langsamkeit und Beharrlichkeit seines Gemutes, einer erhaltenden Grundstimmung, die ihm Zustande und Lebensverhaltnisse der Anhanglichkeit und des Fortbestandes desto wurdiger erscheinen lie?, je langer sie bestanden. Auch war er geneigt, an die unendliche Dauer des Zustandes, der Verfassung zu glauben, worin er sich gerade befand, schatzte sie eben darum und war nicht auf Veranderung erpicht. So hatte er sich an sein stilles und fernes Verhaltnis zu Pribislav Hippe im Herzen gewohnt und hielt es im Grunde fur eine bleibende Einrichtung seines Lebens. Er liebte die Gemutsbewegungen, die es mit sich brachte, die Spannung, ob jener ihm heute begegnen, dicht an ihm vorubergehen, vielleicht ihn anblicken werde, die lautlosen, zarten Erfullungen, mit denen sein Geheimnis ihn beschenkte, und sogar die Enttauschungen, die zur Sache gehorten und deren gro?te war, wenn Pribislav "fehlte": dann war der Schulhof verodet, der Tag aller Wurze bar, aber die hinhaltende Hoffnung blieb.

Das dauerte ein Jahr, bis es auf jenen abenteuerlichen Hohepunkt gelangte, dann dauerte es noch ein Jahr, dank der bewahrenden Treue Hans Castorps, und dann horte es auf - und zwar ohne da? er mehr von der Lockerung und Auflosung der Bande merkte, die ihn an Pribislav Hippe knupften, als er von ihrer Entstehung gemerkt hatte. Auch verlie? Pribislav, infolge der Versetzung seines Vaters, Schule und Stadt; aber das beachtete Hans Castorp kaum noch; er hatte ihn schon vorher vergessen. Man kann sagen, da? die Gestalt des "Kirgisen" unmerklich aus Nebeln in sein Leben getreten war, langsam immer mehr Deutlichkeit und Greifbarkeit gewonnen hatte, bis zu jenem Augenblick der gro?ten Nahe und Korperlichkeit, auf dem Hofe, eine Weile so im Vordergrunde gestanden hatte und dann allmahlich wieder zuruckgetreten und ohne Abschiedsweh in den Nebeln entschwunden war.

Jener Augenblick aber, die gewagte und abenteuerliche Situation, in die Hans Castorp sich nun wieder versetzt fand, das Gesprach, ein wirkliches Gesprach mit Pribislav Hippe, kam folgenderma?en zustande. Die Zeichenstunde war an der Reihe, und Hans Castorp bemerkte, da? er

seinen Bleistift nicht bei sich hatte. Jeder seiner Klassengenossen brauchte den seinen; aber er hatte ja unter den Angehorigen anderer Klassen diesen und jenen Bekannten, den er um einen Stift hatte angehen konnen. Am bekanntesten jedoch, fand er, war ihm Pribislav, am nachsten stand ihm dieser, mit dem er im stillenschon so viel zu tun gehabt hatte; und mit einem freudigen Aufschwunge seines Wesens beschlo? er, die Gelegenheit - eine Gelegenheit nannte er es - zu benutzen und Pribislav um einen Bleistift zu bitten. Da? das ein ziemlich sonderbarer Streich sein werde, da er Hippe in Wirklichkeit ja nicht kannte, das entging ihm, oder er kummerte sich doch nicht darum, verblendet von merkwurdiger Rucksichtslosigkeit. Und so stand er denn nun im Gewuhle des Klinkerhofes wirklich vor Pribislav Hippe und sagte zu ihm:

"Entschuldige, kannst du mir einen Bleistift leihen?"

Und Pribislav sah ihn an mit seinen Kirgisenaugen uber den vorstehenden Backenknochen und sprach zu ihm mit seiner angenehm heiseren Stimme, ohne Verwunderung oder doch ohne Verwunderung an den Tag zu legen.

"Gern", sagte er. "Du mu?t ihn mir nach der Stunde aber bestimmt zuruckgeben." Und zog sein Crayon aus der Tasche, ein versilbertes Crayon mit einem Ring, den man aufwarts schieben mu?te, damit der rot gefarbte Stift aus der Metallhulse wachse. Er erlauterte den einfachen Mechanismus, wahrend ihre beiden Kopfe sich daruberneigten.

"Aber mach ihn nicht entzwei!" sagte er noch.

Wo dachte er hin? Als ob Hans Castorp die Absicht gehabt hatte, den Stift etwa nicht zuruckzuerstatten oder gar ihn fahrlassig zu behandeln.

Dann sahen sie einander lachelnd an, und da nichts mehr zu sagen blieb, so kehrten sie sich erst die Schultern und dann die Rucken zu und gingen.

Das war alles. Aber vergnugter war Hans Castorp in seinem Leben nie gewesen, als in dieser Zeichenstunde, da er mit Pribislav Hippes Bleistift zeichnete, - mit der Aussicht obendrein, ihn nachher seinem Besitzer wieder einzuhandigen, was als reine Dreingabe zwanglos und selbstverstandlich aus dem vorhergehenden folgte. Er war so frei, den Bleistift etwas zuzuspitzen, und von den rot lackierten Schnitzeln, die abfielen, bewahrte er drei oder vier fast ein ganzes Jahr lang in einer inneren Schublade seines Pultes auf, - niemand, der sie gesehen hatte,

wurde geahnt haben, wie Bedeutendes es damit auf sich hatte. Ubrigens vollzog die Ruckgabe sich in den einfachsten Formen, was aber ganz nach Hans Castorps Sinne war, ja, worauf er sich sogar etwas Besonderes zugute tat, - abgestumpft und verwohnt, wie er war, durch den intimen Verkehr mit Hippe.

"Da", sagte er. "Danke sehr."

Und Pribislav sagte gar nichts, sondern revidierte nur fluchtig den Mechanismus und schob das Crayon in die Tasche ...

Dann hatten sie nie wieder miteinander gesprochen, aber dies eine Mal, dank Hans Castorps Unternehmungsgeist, war es eben doch geschehen ...

Er ri? die Augen auf, verwirrt von der Tiefe seiner Entrucktheit. "Ich glaube, ich habe getraumt!" dachte er. "Ja, das war Pribislav. Lange habe ich nicht mehr an ihn gedacht. Wo sind die Schnitzel hingekommen? DasPult ist auf dem Boden, zu Hause bei Onkel Tienappel. Sie mussen noch in der inneren kleinen Schublade links hinten sein. Ich habe sie nie herausgenommen. Nicht einmal soviel Aufmerksamkeit, sie wegzuwerfen, erwies ich ihnen ... Es war ganz Pribislav, wie er leibte und lebte. Ich hatte nicht gedacht, da? ich ihn je so deutlich wiedersehen wurde. Wie merkwurdig ahnlich er ihr sah, - dieser hier oben! Darum also interessiere ich mich so fur sie? Oder vielleicht auch: habe ich mich darum so fur ihn interessiert? Unsinn! Ein schoner Unsinn. Ich mu? ubrigens gehen, und zwar schleunigst." Aber er blieb doch noch liegen, sinnend und sich erinnernd. Dann richtete er sich auf. "Nun, so leb wohl und hab Dank!" sagte er und bekam Tranen in die Augen, wahrend er lachelte. Damit wollte er aufbrechen; aber er setzte sich, Hut und Stock in der Hand, rasch noch einmal nieder, denn er hatte bemerken mussen, da? seine Knie ihn nicht recht trugen. "Hoppla," dachte er, "ich glaube, das wird nicht gehen! Und dabei soll ich Punkt elf Uhr zum Vortrag im E?saal sein. Das Spazierengehen hat hier sein Schones, aber auch seine Schwierigkeiten, wie es scheint. Ja, ja, aber hierbleiben kann ich nicht. Es ist nur, da? ich vom Liegen etwas lahm geworden bin; in der Bewegung wird es schon besser werden." Und er versuchte nochmals, auf die Beine zu kommen, und da er sich gehorig zusammennahm, so ging es.

Immerhin wurde es eine klagliche Heimkehr, nach einem so hochgemuten Auszug. Wiederholt mu?te er am Wege rasten, da er fuhlte, da? sein Gesicht plotzlich wei? wurde, kalter Schwei? ihm auf die Stirne trat und das regellose Verhalten seines Herzens ihm den Atem

benahm. Kummerlich kampfte er sich so die Serpentinen hinab; als er aber in der Nahe des Kurhauses das Tal erreichte, sah er klar und deutlich, da? er die gedehnte Wegstrecke zum "Berghof" unmoglich noch aus eigener Kraft werde uberwinden konnen, und da es keine Trambahn gab und kein Mietsfuhrwerk sich zeigte, so bat er einen Fuhrmann, der einen Stellwagen mit leeren Kisten gegen "Dorf" hin lenkte, ihn aufsitzen zu lassen. Rucken an Rucken mit dem Kutscher, die Beine vom Wagen hangend, von den Passanten mit verwunderter Teilnahme betrachtet, schwankend und nickend im Halbschlaf und unter den Sto?en des Gefahrtes, zog er dahin, stieg ab beim Bahnubergange, gab Geld hin, ohne zu sehen, wie viel und wie wenig, und hastete kopfuber die Wegschleife hinan.

"Depechez-vous, monsieur!" sagte der franzosische Turhuter. "La conference de M. Krokowski vient de commencer." Und Hans Castorp warf Hut und Stock in die Garderobe und zwangte sich hastig-behutsam, die Zunge zwischen den Zahnen, durch die kaum geoffneteGlastur in den Speisesaal, wo die Kurgesellschaft reihenweise auf Stuhlen sa?, wahrend an der rechten Schmalseite Dr. Krokowski im Gehrock hinter einem gedeckten und mit einer Wasserkaraffe geschmuckten Tische stand und sprach ...

Analyse

Ein freier Eckplatz winkte glucklicherweise in der Nahe der Tur. Er stahl sich seitlich darauf und nahm eine Miene an, als hatte er hier schon immer gesessen. Das Publikum, mit erster Aufmerksamkeit an Dr. Krokowskis Lippen hangend, beachtete ihn kaum; und das war gut, denn er sah schrecklich aus. Sein Gesicht war bleich wie Leinen und sein Anzug mit Blut befleckt, so da? er einem von frischer Tat kommenden Morder glich. Die Dame vor ihm freilich wandte den Kopf, als er sich setzte, und musterte ihn mit schmalen Augen. Es war Madame Chauchat, er erkannte sie mit einer Art von Erbitterung. Aber das war doch des Teufels! Sollte er denn nicht zur Ruhe kommen? Er hatte gedacht, hier still am Ziele sitzen und sich ein wenig erholen zu konnen, und da mu?te er sie nun gerade vor der Nase haben, - ein Zufall, uber den er sich unter anderen Umstanden ja moglicherweise gefreut hatte, aber mude und abgehetzt, wie er war, was sollte es ihm da? Es stellte nur neue Anforderungen an sein Herz und wurde ihn wahrend des ganzen Vortrags in Atem halten. Genau mit Pribislavs Augen hatte sie ihn

angesehen, in sein Gesicht und auf die Blutflecke seines Anzugs geblickt, - ziemlich rucksichtslos und zudringlich ubrigens, wie es zu den Manieren einer Frau pa?te, die mit den Turen warf. Wie schlecht sie sich hielt! Nicht wie die Frauen in Hans Castorps heimischer Sphare, die aufrechten Ruckens den Kopf ihrem Tischherrn zuwandten, indes sie mit den Spitzen der Lippen sprachen. Frau Chauchat sa? zusammengesunken und schlaff, ihr Rucken war rund, sie lie? die Schultern nach vorne hangen, und au?erdem hielt sie auch noch den Kopf vorgeschoben, so da? der Wirbelknochen im Nackenausschnitt ihrer wei?en Bluse hervortrat. Auch Pribislav hatte den Kopf so ahnlich gehalten; er jedoch war ein Musterschuler gewesen, der in Ehren gelebt hatte(obgleich nicht dies der Grund gewesen war, weshalb Hans Castorp sich den Bleistift von ihm geliehen hatte), - wahrend es klar und deutlich war, da? Frau Chauchats nachlassige Haltung, ihr Turenwerfen, die Rucksichtslosigkeit ihres Blickes mit ihrem Kranksein zusammenhingen, ja, es druckten sich darin die Ungebundenheit, jene nicht ehrenvollen, aber geradezu grenzenlosen Vorteile aus, deren der junge Herr Albin sich geruhmt hatte ...

Hans Castorps Gedanken verwirrten sich, wahrend er auf Frau Chauchats schlaffen Rucken blickte, sie horten auf, Gedanken zu sein, und wurden zur Traumerei, in welche Dr. Krokowskis schleppender Bariton, sein weich anschlagendes r wie aus weiter Ferne hereintonte.Aber die Stille im Saal, die tiefe Aufmerksamkeit, die ringsumher alles in Bann hielt, wirkte auf ihn, sie weckte ihn formlich aus seinem Dammern. Er blickte um sich ... Neben ihm sa? der dunnhaarige Pianist, den Kopf im Nacken und lauschte mit offenem Munde und gekreuzten Armen. Die Lehrerin, Fraulein Engelhart, weiter druben, hatte gierige Augen und rotflaumige Flecke auf beiden Wangen, - eine Hitze, die sich auf den Gesichtern anderer Damen wiederfand, die Hans Castorp ins Auge fa?te, auch auf dem der Frau Salomon dort, neben Herrn Albin, und der Bierbrauersgattin Frau Magnus, derselben, die Eiwei? verlor. Auf Frau Stohrs Gesicht, etwas weiter zuruck, malte sich eine so ungebildete Schwarmerei, da? es ein Jammer war, wahrend die elfenbeinfarbene Levi, mit halbgeschlossenen Augen und die flachen Hande im Scho? an der Stuhllehne ruhend, vollstandig einer Toten geglichen hatte, wenn nicht ihre Brust sich so stark und taktma?ig gehoben und gesenkt hatte, wodurch sie Hans Castorp vielmehr an eine weibliche Wachsfigur erinnerte, die er einst im Panoptikum gesehen und die ein mechanisches Triebwerk im Busen gehabt hatte. Mehrere Gaste

hielten die hohle Hand an die Ohrmuschel, oder deuteten dies wenigstens an, indem sie die Hand bis halbwegs zum Ohre erhoben hielten, als seien sie mitten in der Bewegung vor Aufmerksamkeit erstarrt. Staatsanwalt Paravant, ein brauner, scheinbar urkraftiger Mann, schuttelte sogar sein eines Ohr mit dem Zeigefinger, um es hellhoriger zu machen, und hielt es dann wieder Dr. Krokowskis Redeflusse hin.

Was redete denn Dr. Krokowski? In welchem Gedankengange bewegte er sich? Hans Castorp nahm seinen Verstand zusammen, um aufs laufende zu kommen, was ihm nicht gleich gelang, da er den Anfang nicht gehort und beim Nachdenken uber Frau Chauchats schlaffen Rucken Weiteres versaumt hatte. Es handelte sich um eine Macht ... jene Macht ... kurzum, es war die Macht der Liebe, um die es sich handelte. Selbstverstandlich! Das Thema lag ja im Generaltitel des Vortragszyklus, und wovon sollte Dr. Krokowski denn auch sonst wohl sprechen, da dies nun einmal sein Gebiet war. Etwas wunderlich war es ja, auf einmal ein Kolleg uber die Liebe zu horen, wahrend sonst immer nur von Dingen wie dem Ubersetzungsgetriebe im Schiffbau die Rede gewesen war. Wie fing man es an, einen Gegenstand von so sproder und verschwiegener Beschaffenheit am hellen Vormittag vor Damen und Herren zu erortern? Dr. Krokowski erorterte ihn in einer gemischten Ausdrucksweise, in zugleich poetischem und gelehrtem Stile, rucksichtslos wissenschaftlich, dabei aber gesanghaft schwingenden Tones, was den jungen Hans Castorp etwas unordentlich anmutete, obgleich gerade dies der Grund sein mochte, weshalb die Damen so hitzige Wangen hatten und die Herren ihre Ohren schuttelten. Insonderheit gebrauchte der Redner das Wort "Liebe" bestandigin einem leise schwankenden Sinn, so da? man niemals recht wu?te, woran man damit war, und ob es Frommes oder Leidenschaftlich-Fleischliches bedeute, - was ein leichtes Gefuhl von Seekrankheit erzeugte. Nie in seinem Leben hatte Hans Castorp dieses Wort so oft hintereinander aussprechen horen, wie hier und heute, ja, wenn er nachdachte, so schien ihm, da? er selbst es noch niemals ausgesprochen oder aus fremdem Munde vernommen habe. Das mochte ein Irrtum sein, - jedenfalls fand er nicht, da? so haufige Wiederholung dem Worte zustatten kame. Im Gegenteil, diese schlupfrigen anderthalb Silben mit dem Zungen-, dem Lippenlaut und dem dunnen Vokal in der Mitte wurden ihm auf die Dauer recht widerwartig, eine Vorstellung verband sich fur ihn damit wie von gewasserter Milch, - etwas Wei?blaulichem, Labberigem, zumal im Vergleich mit all dem Kraftigen, was Dr. Krokowski genau genommen daruber zum besten gab. Denn so viel

ward deutlich, da? man starke Stucke sagen konnte, ohne die Leute aus dem Saale zu treiben, wenn man es anfing wie er. Keineswegs begnugte er sich damit, allgemein bekannte, doch gemeinhin in Schweigen gehullte Dinge mit einer Art von berauschendem Takt zur Sprache zu bringen; er zerstorte Illusionen, er gab unerbittlich der Erkenntnis die Ehre, er lie? keinen Raum fur empfindsamen Glauben an die Wurde des Silberhaares und die Engelsreinheit des zarten Kindes. Ubrigens trug er auch zum Gehrock seinen weichen Fallkragen und seine Sandalen uber den grauen Socken, was einen grundsatzlichen und idealistischen Eindruck machte, wenn auch Hans Castorp etwas daruber erschrak. Indem er an der Hand von Buchern und losen Blattern, die vor ihm auf dem Tische lagen, seine Aufstellungen durch allerlei Beispiele und Anekdoten stutzte und mehrmals sogar Verse rezitierte, handelte Dr. Krokowski von erschreckenden Formen der Liebe, wunderlichen, leidvollen und unheimlichen Abwandlungen ihrer Erscheinung und Allgewalt. Unter allen Naturtrieben, sagte er, sei sie der schwankendste und gefahrdetste, von Grund aus zur Verirrung und heillosen Verkehrtheit geneigt, und das durfe nicht wundernehmen. Denn dieser machtige Impuls sei nichts Einfaches, er sei seiner Natur nach vielfach zusammengesetzt, und zwar, so rechtma?ig wie er als Ganzes auch immer sei, - zusammengesetzt sei er aus lauter Verkehrtheiten. Da man nun aber, und zwar mit Recht, so fuhr Dr. Krokowski fort, da man es nun aber richtigerweise ablehne, aus der Verkehrtheit der Bestandteile auf die Verkehrtheit des Ganzen zu schlie?en, so sei man unweigerlich genotigt, einen Teil der Rechtma?igkeit des Ganzen, wenn nicht seine ganze Rechtma?igkeit, auch fur die einzelne Verkehrtheit in Anspruch zu nehmen. Das sei eine Forderung der Logik, und daran bitte er seine Zuhorer festzuhalten. Seelische Widerstande und Korrektive seien es, anstandige und ordnende Instinkte von - fast hatte er sagen mogen burgerlicher Art, unterderen ausgleichender und einschrankender Wirkung die verkehrten Bestandteile zum regelrechten und nutzlichen Ganzen verschmolzen, - ein immerhin haufiger und begru?enswerter Proze?, dessen Ergebnis jedoch(wie Dr. Krokowski etwas wegwerfend hinzufugte) den Arzt und Denker weiter nichts angehe. In einem anderen Falle dagegen gelinge er nicht, dieser Proze?, wolle und solle er nicht gelingen, und wer, so fragte Dr. Krokowski, vermoge zu sagen, ob dies nicht vielleicht den edleren, seelisch kostbareren Fall bedeute? In diesem Falle namlich eigne beiden Kraftegruppen, dem Liebesdrange sowohl wie jenen gegnerischen Impulsen, unter denen Scham und Ekel besonders

zu nennen seien, eine au?erordentliche, das burgerlich-ubliche Ma? uberschreitende Anspannung und Leidenschaft, und, in den Untergrunden der Seele gefuhrt, verhindere der Kampf zwischen ihnen jene Einfriedung, Sicherung und Sittigung der irrenden Triebe, die zur ublichen Harmonie, zum vorschriftsma?igen Liebesleben fuhre. Dieser Widerstreit zwischen den Machten der Keuschheit und der Liebe - denn um einen solchen handle es sich -, wie gehe er aus? Er endige scheinbar mit dem Siege der Keuschheit. Furcht, Wohlanstand, zuchtiger Abscheu, zitterndes Reinheitsbedurfnis, sie unterdruckten die Liebe, hielten sie in Dunkelheiten gefesselt, lie?en ihre wirren Forderungen hochstens teilweise, aber bei weitem nicht nach ihrer ganzen Vielfalt und Kraft ins Bewu?tsein und zur Betatigung zu. Allein dieser Sieg der Keuschheit sei nur ein Schein- und Pyrrhussieg, denn der Liebesbefehl lasse sich nicht knebeln, nicht vergewaltigen, die unterdruckte Liebe sei nicht tot, sie lebe, sie trachte im Dunklen und Tiefgeheimen auch ferner sich zu erfullen, sie durchbreche den Keuschheitsbann und erscheine wieder, wenn auch in verwandelter, unkenntlicher Gestalt ... Und welches sei denn nun die Gestalt und Maske, worin die nicht zugelassene und unterdruckte Liebe wiedererscheine? So fragte Dr. Krokowski und blickte die Reihen entlang, als erwarte er die Antwort ernstlich von seinen Zuhorern. Ja, das mu?te er nun auch noch selber sagen, nachdem er schon so manches gesagt hatte. Niemand au?er ihm wu?te es, aber er wurde bestimmt auch dies noch wissen, das sah man ihm an. Mit seinen gluhenden Augen, seiner Wachsblasse und seinem schwarzen Bart, dazu den Monchssandalen uber grauwollenen Socken, schien er selbst in seiner Person den Kampf zwischen Keuschheit und Leidenschaft zu versinnbildlichen, von dem er gesprochen hatte. Wenigstens war dies Hans Castorps Eindruck, wahrend er wie alle Welt mit gro?ter Spannung die Antwort darauf erwartete, in welcher Gestalt die unzugelassene Liebe wiederkehre. Die Frauen atmeten kaum. Staatsanwalt Paravant schuttelte rasch noch einmal sein Ohr, damit es im entscheidenden Augenblick offen und aufnahmefahig ware. Da sagte Dr. Krokowski: In Gestalt der Krankheit! Das Krankheitssymptom sei verkappte Liebesbetatigung und alle Krankheit verwandelte Liebe.

Nun wu?te man es, wenn auch wohl nicht alle es ganz zu wurdigen vermochten. Ein Seufzer ging durch den Saal, und StaatsanwaltParavant nickte bedeutsamen Beifall, wahrend Dr. Krokowski fortfuhr, seine These zu entwickeln. Hans Castorp seinerseits senkte den Kopf, um zu bedenken, was er gehort hatte, und sich zu erforschen, ob er es

verstunde. Aber ungeubt, wie er war in solchen Gedankengangen, und au?erdem wenig geisteskraftig infolge seines unbekommlichen Spazierganges, war er leicht abzulenken und wurde dann auch sogleich abgelenkt durch den Rucken vor ihm und den zugehorigen Arm, der sich hob und ruckwarts bog, um mit der Hand, dicht vor Hans Castorps Augen, von unten das geflochtene Haar zu stutzen.

Es war beklemmend, die Hand so nahe vor Augen zu haben, - man mu?te sie betrachten, ob man wollte oder nicht, sie studieren in allen Makeln und Menschlichkeiten, die ihr anhafteten, als habe man sie unter dem Vergro?erungsglas. Nein, sie hatte durchaus nichts Aristokratisches, diese zu gedrungene Schulmadchenhand mit den schlecht und recht beschnittenen Nageln, - man war nicht einmal sicher, ob sie an den au?eren Fingergelenken ganz sauber war, und die Haut neben den Nageln war zerbissen, das konnte gar keinem Zweifel unterliegen. Hans Castorps Mund verzog sich, aber seine Augen blieben haften an Madame Chauchats Hand, und eine halbe und unbestimmte Erinnerung ging ihm durch den Sinn an das, was Dr. Krokowski uber die burgerlichen Widerstande, die sich der Liebe entgegenstellten, gesagt hatte ... Der Arm war schoner, dieser weich hinter den Kopf gebogene Arm, der kaum bekleidet war, denn der Stoff der Armel war dunner als der der Bluse, - die leichteste Gaze, so da? der Arm nur eine gewisse duftige Verklarung dadurch erfuhr und ganz ohne Umhullung wahrscheinlich weniger anmutig gewesen ware. Er war zugleich zart und voll - und kuhl, aller Mutma?ung nach. Es konnte hinsichtlich seiner von keinerlei burgerlichen Widerstanden die Rede sein.

Hans Castorp traumte, den Blick auf Frau Chauchats Arm gerichtet. Wie die Frauen sich kleideten! Sie zeigten dies und jenes von ihrem Nacken und ihrer Brust, sie verklarten ihre Arme mit durchsichtiger Gaze ... Das taten sie in der ganzen Welt, um unser sehnsuchtiges Verlangen zu erregen. Mein Gott, das Leben war schon! Es war schon gerade durch solche Selbstverstandlichkeit, wie da? die Frauen sich verlockend kleideten, - denn selbstverstandlich war es ja und so allgemein ublich und anerkannt, da? man kaum daran dachte und es sich unbewu?t und ohne Aufhebens gefallen lie?. Man sollte aber daran denken, meinte Hans Castorp innerlich, um sich des Lebens recht zu freuen, und sich vergegenwartigen, da? es eine begluckende und im Grunde fast marchenhafte Einrichtung war. Versteht sich, es war um eines gewissen Zweckes willen, da? die Frauen sich marchenhaft und begluckend kleiden

durften, ohne dadurch gegen die Schicklichkeit zu versto?en; es handelte sich umdie nachste Generation, um die Fortpflanzung des Menschengeschlechts, jawohl. Aber wie, wenn die Frau nun innerlich krank war, so da? sie gar nicht zur Mutterschaft taugte, - was dann? Hatte es dann einen Sinn, da? sie Gazearmel trug, um die Manner neugierig auf ihren Korper zu machen, - ihren innerlich kranken Korper? Das hatte offenbar keinen Sinn und hatte eigentlich fur unschicklich gelten und untersagt werden mussen. Denn da? ein Mann sich fur eine kranke Frau interessierte, dabei war doch entschieden nicht mehr Vernunft, als ... nun, als seinerzeit bei Hans Castorps stillem Interesse fur Pribislav Hippe gewesen war. Ein dummer Vergleich, eine etwas peinliche Erinnerung. Aber sie hatte sich ungerufen und ohne sein Zutun eingestellt. Ubrigens brach seine traumerische Betrachtung an diesem Punkte ab, hauptsachlich weil seine Aufmerksamkeit wieder auf Dr. Krokowski hingelenkt wurde, dessen Stimme sich auffallend erhoben hatte. Wahrhaftig, er stand da mit ausgebreiteten Armen und schrag geneigtem Kopf hinter seinem Tischchen und sah trotz seines Gehrockes beinahe aus wie der Herr Jesus am Kreuz!

Es stellte sich heraus, da? Dr. Krokowski am Schlusse seines Vortrages gro?e Propaganda fur die Seelenzergliederung machte und mit offenen Armen alle aufforderte, zu ihm zu kommen. Kommet her zu mir, sagte er mit anderen Worten, die ihr muhselig und beladen seid! Und er lie? keinen Zweifel an seiner Uberzeugung, da? alle ohne Ausnahme muhselig und beladen waren. Er sprach von verborgenem Leide, von Scham und Gram, von der erlosenden Wirkung der Analyse; er pries die Durchleuchtung des Unbewu?ten, lehrte die Wiederverwandlung der Krankheit in den bewu?t gemachten Affekt, mahnte zum Vertrauen, verhie? Genesung. Dann lie? er die Arme sinken, stellte seinen Kopf wieder gerade, raffte die Druckschriften zusammen, die ihm bei seinem Vortrage gedient hatten, und indem er das Packchen, ganz wie ein Lehrer, mit der linken Hand gegen die Schulter lehnte, entfernte er sich erhobenen Hauptes durch den Wandelgang.

Alle standen auf, ruckten die Stuhle und begannen, sich langsam gegen denselben Ausgang zu bewegen, durch den der Doktor den Saal verlassen hatte. Es sah aus, als drangten sie ihm konzentrisch nach, von allen Seiten, zogernd, doch willenlos und in benommener Einhelligkeit, wie das Gewimmel hinter dem Rattenfanger. Hans Castorp blieb stehen im Strom, seine Stuhllehne in der Hand. Ich bin nur zu Besuch hier,

dachte er; ich bin gesund und komme gottlob uberhaupt nicht in Betracht, und den nachsten Vortrag erlebe ich gar nicht mehr hier. Er sah Frau Chauchat hinausgehen, schleichend, mit vorgeschobenem Kopfe. Ob auch sie sich zergliedern la?t? dachte er, und sein Herz begann zu pochen ... Dabei bemerkte er nicht, da? Joachim zwischen den Stuhlen auf ihn zu kam, und zuckte nervos zusammen, als der Vetter dasWort an ihn richtete.

"Du kamst aber im letzten Augenblick", sagte Joachim. "Bist du weit gewesen? Wie war es denn?"

"Oh, nett", erwiderte Hans Castorp. "Doch, ich war ziemlich weit. Aber ich mu? gestehen, es hat mir weniger gut getan, als ich erwartete. Es war wohl verfruht oder uberhaupt verfehlt. Ich werde es vorlaufig nicht wieder tun."

Ob ihm der Vortrag gefallen, fragte Joachim nicht, und Hans Castorp au?erte sich nicht dazu. Wie nach schweigender Ubereinkunft erwahnten sie des Vortrages auch nachher mit keinem Worte.

Zweifel und Erwagungen

Am Dienstag war unser Held nun also seit einer Woche bei denen hier oben, und so fand er denn, als er vom Morgenspaziergang zuruckkehrte, in seinem Zimmer die Rechnung vor, seine erste Wochenrechnung, ein reinlich ausgefuhrtes kaufmannisches Dokument, in einen grunlichen Umschlag verschlossen, mit illustriertem Kopf(das Berghofgebaude war bestechend abgebildet dort oben) und links seitwarts geschmuckt mit einem in schmaler Kolonne angeordneten Auszuge aus dem Prospekt, worin auch der "psychischen Behandlung nach modernsten Prinzipien" in Sperrdruck Erwahnung geschah. Die kalligraphischen Aufstellungen selbst betrugen ziemlich genau 180 Franken, und zwar entfielen auf die Verpflegung nebst arztlicher Behandlung 12 und auf das Zimmer 8 Franken fur den Tag, ferner auf den Posten "Eintrittsgeld" 20 Franken und auf die Desinfektion des Zimmers 10 Franken, wahrend kleinere Sporteln fur Wasche, Bier und den zum ersten Abendessen genossenen Wein die Summe abrundeten.

Hans Castorp fand nichts zu beanstanden, als er mit Joachim die Addition uberprufte. "Ja, von der arztlichen Behandlung mache ich keinen Gebrauch," sagte er, "aber das ist meine Sache; sie ist einbegriffen in den Pensionspreis, und ich kann nicht verlangen, da? sie

in Abzug gebracht wird, wie sollte das auch geschehen? Bei der Desinfektion machen sie einen Schnitt, denn fur 10 Franken H?CO konnen sie unmoglich verpulvert haben, um die Amerikanerin auszurauchern. Aber im ganzen mu? ich sagen, ich finde es eher billig als teuer, in Anbetracht dessen, was geboten wird." Und so gingen sie denn vor dem zweiten Fruhstuck auf die "Verwaltung", um die Schuld zu bereinigen.

Die "Verwaltung" befand sich zu ebener Erde: wenn man, jenseits der Halle, an der Garderobe und den Kuchen- und Anrichteraumen voruber den Flurgang verfolgte, konnte man die Tur nicht verfehlen, zumal sie durch ein Porzellanschild ausgezeichnet war. Hans Castorp gewann dort mit Interesse einen gewissen Einblick in das kaufmannische Zentrum des Anstaltsbetriebes. Es war ein richtiges kleines Kontor: ein Schreibmaschinenfraulein war tatig, und drei mannliche Angestellte sa?en uber Pulte gebuckt, wahrend im ansto?enden Raum ein Herr von dem hoheren Ansehen eines Chefs oder Direktors an einem frei stehenden Zylinderbureau arbeitete und nur uber sein Augenglas hinweg einen kalten und sachlich musternden Blick auf die Klienten warf. Wahrend man sie am Schalter abfertigte, einenSchein wechselte, kassierte, quittierte, bewahrten sie eine ernst-bescheidene, schweigsame, ja botma?ige Haltung, wie junge Deutsche, die die Achtung vor der Behorde, der Amtsstube auf jedes Schreib- und Dienstlokal ubertragen; aber drau?en, auf dem Wege zum Fruhstuck und spater im Laufe des Tages plauderten sie einiges uber die Verfassung des Berghof-Instituts, wobei Joachim als der Eingesessene und Kundige die Fragen seines Vetters beantwortete.

Hofrat Behrens war keineswegs Inhaber und Besitzer der Anstalt, - obgleich man wohl diesen Eindruck gewinnen konnte. Uber und hinter ihm standen unsichtbare Machte, die sich eben nur in Gestalt des Bureaus bis zu einem gewissen Grade manifestierten: ein Aufsichtsrat, eine Aktiengesellschaft, der anzugehoren nicht ubel sein mochte, da sie nach Joachims glaubwurdiger Versicherung trotz hoher Arztegehalter und liberalster Wirtschaftsprinzipien alljahrlich eine saftige Dividende unter ihre Mitglieder verteilen konnte. Der Hofrat also war kein selbstandiger Mann, er war nichts als ein Agent, ein Funktionar, ein Verwandter hoherer Gewalten, der erste und oberste freilich, die Seele des Ganzen, von bestimmendem Einflu? auf die gesamte Organisation, die Intendantur nicht ausgeschlossen, obgleich er als dirigierender Arzt uber

jede Beschaftigung mit dem kaufmannischen Teil des Betriebes naturlich erhaben war. Aus dem Nordwesten Deutschlands geburtig, war er, wie man wu?te, wider Absicht und Lebensplan vor Jahren in diese Stellung gelangt: heraufgefuhrt durch seine Frau, deren Reste schon langst der Friedhof von "Dorf" umfing, - der malerische Friedhof von Dorf Davos dort oben am rechtsseitigen Hange, weiter zuruck gegen den Eingang des Tales. Sie war eine sehr liebliche, wenn auch uberaugige und asthenische Erscheinung gewesen, den Photographien nach zu urteilen, die uberall in des Hofrats Dienstwohnung standen, sowie auch den Olbildnissen zufolge, die, von seiner eigenen Liebhaberhand stammend, dort an den Wanden hingen. Nachdem sie ihm zwei Kinder geschenkt, einen Sohn und eine Tochter, war ihr leichter, von Hitze ergriffener Korper in diese Gegenden heraufgezogen worden, und in wenigen Monaten hatte seine Aus- und Aufzehrung sich vollendet. Man sagte, Behrens, der sie vergottert habe, sei durch den Schlag so schwer getroffen worden, da? er vorubergehend in Tiefsinn und Wunderlichkeit verfallen sei und sich auf der Stra?e durch Kichern, Gestenspiel und Selbstgesprach auffallig gemacht habe. Er war dann nicht mehr in seinen ursprunglichen Lebenskreis zuruckgekehrt, sondern an Ort und Stelle geblieben: gewi? auch darum, weil er sich von dem Grabe nicht trennen mochte; den Ausschlag aber hatte wohl der weniger sentimentale Grund gegeben, da? er selbst etwas abbekommen hatte und seiner eigenen wissenschaftlichen Einsicht nach einfach hierher gehorte. So hatte er sich eingeburgert als einer der Arzte, die Leidensgenossen derjenigen sind, deren Aufenthalt sie uberwachen; die nicht, von der Krankheit unabhangig, sie aus dem freien Stande personlicher Intaktheit bekampfen, sondern selber ihr Zeichen tragen, - ein eigentumlicher, aber durchausnicht vereinzelter Fall, der ohne Zweifel seine Vorzuge wie sein Bedenkliches hat. Kameradschaft des Arztes mit dem Patienten ist gewi? zu begru?en, und es la?t sich horen, da? nur der Leidende des Leidenden Fuhrer und Heiland zu sein vermag. Aber ist rechte geistige Herrschaft uber eine Macht denn moglich bei dem, der selber zu ihren Sklaven zahlt? Kann befreien, wer selbst unterworfen ist? Der kranke Arzt bleibt ein Paradoxon fur das einfache Gefuhl, eine problematische Erscheinung. Wird nicht vielleicht sein geistiges Wissen um die Krankheit durch das erfahrungsma?ige nicht so sehr bereichert und sittlich gestarkt als getrubt und verwirrt? Er blickt der Krankheit nicht in klarer Gegnerschaft ins Auge, er ist befangen, ist nicht eindeutig als Partei; und mit aller gebotenen Vorsicht mu? man

fragen, ob ein der Krankheitswelt Zugehoriger an der Heilung oder auch nur Bewahrung anderer eigentlich in dem Sinne interessiert sein kann, wie ein Mann der Gesundheit ...

Von diesen Zweifeln und Erwagungen sprach Hans Castorp auf seine Weise einiges aus, als er mit Joachim vom "Berghof" und seinem arztlichen Leiter schwatzte, aber Joachim bemerkte dagegen, man wisse ja gar nicht, ob Hofrat Behrens heute noch selber Patient sei, - wahrscheinlich sei er schon langst genesen. Da? er hier zu praktizieren begonnen hatte, war lange her, - er hatte es eine Weile auf eigene Hand getrieben und sich als feinhoriger Auskultator wie auch als sicherer Pneumotom rasch einen Namen gemacht. Dann hatte der "Berghof" sich seiner Person versichert, das Institut, mit dem er nun bald seit einem Jahrzehnt so eng verwachsen war ... Dort hinten, am Ende des nordwestlichen Flugels, lag seine Wohnung(Dr. Krokowski hauste nicht weit davon), und jene altadelige Dame, die Schwester-Oberin, von der Settembrini so hohnisch gesprochen und die Hans Castorp bisher nur fluchtig gesehen hatte, stand dem kleinen Witwerhaushalte vor. Im ubrigen war der Hofrat allein, denn sein Sohn studierte an reichsdeutschen Universitaten, und seine Tochter war schon vermahlt: namlich an einen Advokaten im franzosischen Teile der Schweiz. Der junge Behrens kam in den Ferien zuweilen zu Besuch, was sich wahrend Joachims Aufenthalt schon einmal ereignet hatte, und er sagte, die Damen der Anstalt seien dann sehr bewegt, die Temperaturen stiegen, Eifersuchteleien fuhrten zu Zank und Streit auf den Liegehallen, und erhohter Zudrang herrsche zu Dr. Krokowskis besonderer Sprechstunde ...

Dem Assistenten war fur seine Privatordinationen ein eigenes Zimmer eingeraumt, das, wie der gro?e Untersuchungsraum, das Laboratorium, der Operationssaal und das Durchstrahlungsatelier, in dem gut belichteten Kellergescho? des Anstaltsgebaudes gelegen war. Wir sprechen von einem Kellergescho?, weil die steinerne Treppe, die vom Erdgescho? dorthin fuhrte, in der Tat die Vorstellung erweckte, da? man sich in einen Keller begebe, - was aber beinahe ganz auf Tauschungberuhte. Denn erstens war das Erdgescho? ziemlich hoch gelegen, das Berghofgebaude aber zweitens, im ganzen, auf abschussigem Grunde, am Berge errichtet, und jene "Keller"-Raumlichkeiten schauten nach vorn, gegen den Garten und das Tal: Umstande, durch die Wirkung und Sinn der Treppe gewisserma?en

durchkreuzt und aufgehoben wurden. Denn man glaubte wohl uber ihre Stufen von ebener Erde hinabzusteigen, befand sich aber drunten immer noch und wiederum zu ebener Erde oder doch nur ein paar Schuh darunter, - ein belustigender Eindruck fur Hans Castorp, als er seinen Vetter, der sich vom Bademeister wiegen lassen sollte, nachmittags einmal in diese Sphare "hinunter"-begleitete. Es herrschte klinische Helligkeit und Sauberkeit dort; alles war wei? in wei? gehalten, und in wei?em Lack schimmerten die Turen, auch die zu Dr. Krokowskis Empfangszimmer, an der die Visitenkarte des Gelehrten mit einem Rei?nagel befestigt war, und zu der noch eigens zwei Stufen von der Hohe des Flurganges hinabfuhrten, so da? der dahinter liegende Raum einen gela?artigen Charakter erhielt. Sie lag rechts von der Treppe, diese Tur, am Ende des Ganges, und Hans Castorp hatte ein besonderes Auge auf sie, wahrend er, auf Joachim wartend, den Korridor auf und nieder ging. Er sah auch jemanden herauskommen, eine Dame, die kurzlich eingetroffen war und deren Namen er noch nicht kannte, eine Kleine, Zierliche mit Stirnlockchen und goldenen Ohrringen. Sie buckte sich tief, die Stufen ersteigend, und raffte ihren Rock, indes sie mit der anderen kleinen, beringten Hand ihr Tuchlein an den Mund pre?te und daruberhin aus ihrer gebuckten Haltung mit gro?en blassen, verstorten Augen ins Leere blickte. So eilte sie mit engen Trittchen, bei denen ihr Unterrock rauschte, zur Treppe, blieb plotzlich stehen, als besanne sie sich auf etwas, setzte sich trippelnd wieder in Lauf und verschwand im Stiegenhause, immer gebuckt und ohne das Tuchlein von den Lippen zu nehmen.

Hinter ihr, als die Tur sich geoffnet hatte, war es viel dunkler gewesen als auf dem wei?en Korridor: die klinische Helligkeit dieser unteren Raume reichte offenbar nicht bis dorthinein; verhulltes Halblicht, tiefe Dammerung herrschte, wie Hans Castorp bemerkte, in Dr. Krokowskis analytischem Kabinett.

Tischgesprache

Bei den Mahlzeiten im bunten Speisesaal bereitete es dem jungen Hans Castorp einige Verlegenheit, da? ihm von jenem auf eigene Hand unternommenen Spaziergang das gro?vaterliche Kopfzittern zuruckgeblieben war, - gerade bei Tisch stellte es sich fast regelma?ig wieder ein und war dann nicht zu verhindern und schwer zu verbergen.

Au?er der wurdigen Kinnstutze, die nicht dauernd festzuhalten war, machte er verschiedene Mittel ausfindig, die Schwache zu maskieren, - zum Beispiel hielt er tunlichst den Kopf in Bewegung, indem er nach rechts und links konversierte, oder er druckte, etwa wenn er den Suppenloffel zum Munde fuhrte, den linken Unterarm fest aufden Tisch, um sich Haltung zu geben, stellte auch wohl den Ellenbogen auf in den Pausen und stutzte den Kopf mit der Hand, obgleich dies eine Flegelei war in seinen eigenen Augen und nur in ungebundener Krankengesellschaft allenfalls durchgehen mochte. Aber das alles war lastig und es fehlte nicht viel, da? es ihm die Mahlzeiten vollstandig verleidet hatte, die er doch sonst, um der Spannungen und Sehenswurdigkeiten willen, die sie mit sich brachten, so wohl zu schatzen wu?te.

Es lag aber so - und Hans Castorp wu?te das auch genau -, da? die blamable Erscheinung, mit der er kampfte, nicht nur korperlicher Herkunft, nicht nur auf die hiesige Luft und die Anstrengung der Akklimatisation zuruckzufuhren war, sondern eine innere Erregung ausdruckte und mit jenen Spannungen und Sehenswurdigkeiten selbst unmittelbar zusammenhing.

Madame Chauchat kam fast immer zu spat zu Tische, und bis sie kam, sa? Hans Castorp und konnte die Fu?e nicht ruhig halten, denn er wartete auf das Schmettern der Glastur, von dem ihr Eintritt unweigerlich begleitet war, und wu?te, da? er dabei zusammenfahren und sein Gesicht wurde kalt werden fuhlen, was denn auch regelma?ig geschah. Anfangs hatte er jedesmal ergrimmt den Kopf herumgeworfen und die fahrlassige Nachzuglerin mit zornigen Augen zu ihrem Platze am "Guten" Russentisch begleitet, auch wohl ihr halblaut und zwischen den Zahnen ein Scheltwort, einen Ruf emporter Mi?billigung nachgesandt. Das unterlie? er jetzt, beugte den Kopf tiefer uber den Teller, wobei er sich wohl gar auf die Lippe bi?, oder wandte ihn absichtlich und kunstlich nach der anderen Seite; denn ihm war, als komme der Zorn ihm nicht mehr zu, als sei er zum Tadel nicht so recht frei, sondern mitschuldig an dem Argernis und mitverantwortlich dafur vor den anderen, - kurzum, er schamte sich, und zwar ware es ungenau gewesen, zu sagen, da? er sich fur Frau Chauchat schamte, sondern ganz personlich schamte er sich vor den Leuten, - was er sich ubrigens hatte sparen konnen, da niemand im Saale sich um Frau Chauchats Laster noch um Hans Castorps Scham daruber kummerte, ausgenommen etwa die Lehrerin, Fraulein Engelhart,

zu seiner Rechten.

Das kummerliche Wesen hatte begriffen, da? dank Hans Castorps Empfindlichkeit gegen das Turenwerfen eine gewisse affekthafte Beziehung des jungen Tischnachbarn zu der Russin entstanden war, ferner, da? es wenig auf den Charakter einer solchen Beziehung ankomme, wenn sie nur uberhaupt vorhanden war, und endlich, da? seine geheuchelte - und zwar aus Mangel an schauspielerischer Ubung und Begabung sehr schlecht geheuchelte - Gleichgultigkeit keine Abschwachung, sondern eine Verstarkung, eine hohere Phase des Verhaltnisses bedeutete. Ohne Anspruch und Hoffnung fur ihre eigene Person, erging Fraulein Engelhart sich bestandig in selbstlos entzuckten Reden uber Frau Chauchat, - wobei dasMerkwurdige war, da? Hans Castorp ihr hetzerisches Betreiben, wenn nicht sofort, so doch auf die Dauer, vollkommen klar erkannte und durchschaute, ja, da? es ihn sogar anwiderte, ohne da? er sich darum weniger willig hatte davon beeinflussen und betoren lassen.

"Pardauz!" sagte das alte Madchen. "Das ist sie. Man braucht nicht aufzusehen, um sich zu uberzeugen, wer da hereingekommen ist. Naturlich, da geht sie, - und wie reizend sie geht, - ganz wie ein Katzchen zur Milchschussel schleicht! Ich wollte, wir konnten die Platze tauschen, damit Sie sie so ungezwungen und bequem betrachten konnten, wie ich es kann. Ich verstehe es ja, da? Sie nicht immer den Kopf nach ihr drehen mogen, - Gott wei?, was sie sich schlie?lich einbilden wurde, wenn sie es merkte ... Jetzt sagt sie ihren Leuten Guten Tag ... Sie sollten doch einmal hinsehen, es ist so erquickend, sie zu beobachten. Wenn sie so lachelt und spricht wie jetzt, bekommt sie ein Grubchen in die eine Wange, aber nicht immer, nur wenn sie will. Ja, das ist ein Goldkind von einer Frau, ein verzogenes Geschopf, daher ist sie so lassig. Solche Menschen mu? man lieben, ob man will oder nicht, denn wenn sie einen argern durch ihre Lassigkeit, so ist auch der Arger nur ein Anreiz mehr, ihnen zugetan zu sein, es ist so begluckend, sich zu argern und dennoch lieben zu mussen ..."

So raunte die Lehrerin hinter der Hand und ungehort von den anderen, wahrend die flaumige Rote auf ihren Altjungferwangen an ihre ubernormale Korpertemperatur erinnerte; und ihre wollustigen Redereien gingen dem armen Hans Castorp in Mark und Blut. Eine gewisse Unselbstandigkeit schuf ihm das Bedurfnis, von dritter Seite bestatigt zu erhalten, da? Madame Chauchat eine entzuckende Frau sei, und

au?erdem wunschte der junge Mann, sich von au?en zur Hingabe an Empfindungen ermutigen zu lassen, denen seine Vernunft und sein Gewissen storende Widerstande entgegensetzten.

Ubrigens erwiesen sich diese Unterhaltungen in sachlicher Beziehung nur wenig fruchtbar, denn Fraulein Engelhart wu?te beim besten Willen nichts Naheres uber Frau Chauchat auszusagen, nicht mehr als jedermann im Sanatorium; sie kannte sie nicht, konnte sich nicht einmal einer Bekanntschaft ruhmen, die sie mit ihr gemeinsam gehabt hatte, und das einzige, womit sie sich vor Hans Castorp ein Ansehen geben konnte, war, da? sie in Konigsberg - also nicht gar so sehr weit von der russischen Grenze - zu Hause war und einige Brocken Russisch kannte, - durftige Eigenschaften, in denen Hans Castorp aber etwas wie weitlaufige personliche Beziehungen zu Frau Chauchat zu sehen bereit war.

"Sie tragt keinen Ring," sagte er, "keinen Ehering, wie ich sehe. Wie ist denn das? Sie ist doch eine verheiratete Frau, habenSie mir gesagt?"

Die Lehrerin geriet in Verlegenheit, als sei sie in die Enge getrieben und musse sich herausreden, so sehr verantwortlich fuhlte sie sich fur Frau Chauchat Hans Castorp gegenuber.

"Das durfen Sie nicht so genau nehmen", sagte sie. "Zuverlassig ist sie verheiratet. Daran ist kein Zweifel moglich. Da? sie sich Madame nennt, geschieht nicht nur der gro?eren Ansehnlichkeit wegen, wie auslandische Fraulein es machen, wenn sie ein wenig reifer sind, sondern wir alle wissen es, da? sie wirklich einen Mann hat irgendwo in Ru?land, das ist im ganzen Orte bekannt. Von Hause aus hat sie einen anderen Namen, einen russischen und keinen franzosischen, einen auf -anow oder -ukow, ich habe ihn schon gewu?t und nur wieder vergessen; wenn Sie wollen, erkundige ich mich danach; es gibt sicher mehrere Personen hier, die den Namen kennen. Einen Ring? Nein, sie tragt keinen, es ist mir auch schon aufgefallen. Lieber Himmel, vielleicht kleidet er sie nicht, vielleicht macht er ihr eine breite Hand. Oder sie findet es spie?burgerlich, einen Ehering zu tragen, so einen glatten Reif ... es fehlt nur der Schlusselkorb ... nein, dazu ist sie gewi? zu gro?zugig ... Ich kenne das, die russischen Frauen haben alle so etwas Freies und Gro?zugiges in ihrem Wesen. Au?erdem hat so ein Ring etwas geradezu Abweisendes und Ernuchterndes, er ist doch ein Symbol der Horigkeit, mochte ich sagen, er gibt einer Frau direkt etwas Nonnenhaftes, das reine Blumchen Ruhrmichnichtan macht er aus ihr. Ich wundere mich gar nicht, wenn das nicht nach Frau

Chauchats Sinne ist ... Eine so reizende Frau, in der Blute der Jahre ... Wahrscheinlich hat sie weder Grund noch Lust, jeden Herrn, dem sie die Hand gibt, gleich ihre eheliche Gebundenheit fuhlen zu lassen ..."

Gro?er Gott, wie die Lehrerin sich ins Zeug legte! Hans Castorp sah ihr ganz erschreckt ins Gesicht, aber sie trotzte seinem Blick mit einer Art von wilder Verlegenheit. Dann schwiegen beide eine Weile, um sich zu erholen. Hans Castorp a? und unterdruckte das Zittern seines Kopfes. Endlich sagte er:

"Und der Mann? Er kummert sich gar nicht um sie? Er besucht sie niemals hier oben? Was ist er denn eigentlich?"

"Beamter. Russischer Administrationsbeamter, in einem ganz entlegenen Gouvernement, Daghestan, wissen Sie, das liegt ganz ostlich uber den Kaukasus hinaus, dahin ist er kommandiert. Nein, ich sagte Ihnen ja, da? noch nie ihn jemand hier oben gesehen hat. Und dabei ist sie schon wieder im dritten Monat hier."

"Sie ist also nicht zum erstenmal hier?"

"O nein, schon das drittemal. Und zwischendurch ist sie wieder wo anders, an ahnlichen Orten. - Umgekehrt, sie besucht ihn zuweilen, nicht oft, einmal im Jahre auf einige Zeit. Sie leben getrennt,kann man sagen, und sie besucht ihn zuweilen."

"Nun ja, da sie krank ist ..."

"Gewi?, krank ist sie. Aber doch nicht so. Doch nicht so ernstlich krank, da? sie geradezu immer in Sanatorien und von ihrem Manne getrennt leben mu?te. Das mu? schon weitere und andere Grunde haben. Hier nimmt man allgemein an, da? es noch andere hat. Vielleicht gefallt es ihr nicht in Daghestan hinter dem Kaukasus, einer so wilden, entfernten Gegend, das ware am Ende nicht zu verwundern. Aber ein wenig mu? es doch auch an dem Manne liegen, wenn es ihr so gar nicht bei ihm gefallt. Er hat ja einen franzosischen Namen, aber darum ist er doch ein russischer Beamter, und das ist ein roher Menschenschlag, wie Sie mir glauben konnen. Ich habe einmal einen davon gesehen, er hatte so einen eisenfarbenen Backenbart und so ein rotes Gesicht ... Im hochsten Grade bestechlich sind sie, und dann haben sie es alle mit dem Wutki, dem Branntwein, wissen Sie ... Anstandshalber lassen sie sich eine Kleinigkeit zu essen geben, ein paar marinierte Pilze oder ein Stuckchen Stor, und dazu trinken sie - einfach im Uberma?. Das nennen sie dann einen Imbi? ..."

"Sie schieben alles auf ihn", sagte Hans Castorp. "Wir wissen aber doch nicht, ob es nicht vielleicht an ihr liegt, wenn sie nicht gut miteinander leben. Man mu? gerecht sein. Wenn ich sie mir so ansehe und diese Unmanier mit dem Turenwerfen ... ich halte sie fur keinen Engel, das nehmen Sie mir, bitte, nicht ubel, ich traue ihr nicht uber den Weg. Aber Sie sind nicht unparteiisch, Sie sitzen ja bis uber die Ohren in Vorurteilen zu ihren Gunsten ..."

So machte er es zuweilen. Mit einer Schlauheit, die seiner Natur eigentlich fremd war, stellte er es so hin, als bedeute Fraulein Engelharts Schwarmerei fur Frau Chauchat nicht das, was sie, wie er sehr wohl wu?te, in Wirklichkeit bedeutete, sondern als sei diese Schwarmerei eine selbstandige, drollige Tatsache, mit welcher er, der unabhangige Hans Castorp, die alte Jungfer aus kuhlem und humoristischem Abstande necken konnte. Und da er sicher war, da? seine Helfershelferin diese dreiste Verdrehung gelten und sich gefallen lassen werde, so war nichts damit gewagt.

"Guten Morgen!" sagte er. "Haben Sie wohl geruht? Ich hoffe, Sie haben von Ihrer schonen Minka getraumt? ... Nein, wie Sie gleich rot werden, wenn man sie nur erwahnt! Ganz vernarrt sind Sie in sie, das leugnen Sie nur lieber nicht!"

Und die Lehrerin, die wirklich errotet war und sich tief uber ihre Tasse beugte, raunte aus ihrem linken Mundwinkel:

"Aber nein, pfui, Herr Castorp! Das ist nicht schon von Ihnen, da? Sie michso in Verlegenheit bringen mit Ihren Anspielungen. Alle merken es ja, da? wir es auf sie abgesehen haben, und da? Sie mir Dinge sagen, uber die ich rot werden mu? ..."

Es war sonderbar, was die beiden Tischnachbarn da trieben. Beide wu?ten, da? sie doppelt und dreifach logen, da? Hans Castorp nur, um von Frau Chauchat sprechen zu konnen, die Lehrerin mit ihr neckte, dabei aber ein ungesundes und ubertragenes Vergnugen darin fand, mit dem alten Madchen zu schakern, - welches ihrerseits darauf einging: erstens aus kupplerischen Grunden, dann auch, weil sie sich dem jungen Manne zu Gefallen wohl wirklich etwas in Frau Chauchat vergafft hatte, und endlich, weil sie es kummerlich geno?, sich irgendwie von ihm necken und rot machen zu lassen. Dies wu?ten sie beide von sich und vom anderen und wu?ten auch, da? jeder es von sich und vom anderen wisse, und das alles war verwickelt und unsauber. Aber obgleich Hans Castorp von verwickelten und unsauberen Dingen im ganzen angewidert wurde

und sich auch in diesem Falle davon angewidert fuhlte, so fuhr er doch fort, in dem truben Elemente zu platschern, indem er sich zur Beruhigung sagte, da? er ja nur zu Besuch hier oben sei und demnachst wieder abreisen werde. Mit erkunstelter Sachlichkeit beurteilte er kennerhaft das Au?ere der "lassigen" Frau, stellte fest, da? sie von vorn gesehen entschieden junger und hubscher wirke als im Profil, da? ihre Augen zu weit auseinander lagen und ihre Haltung viel zu wunschen ubriglasse, wofur allerdings ihre Arme schon und "weich geformt" seien. Und indem er dies sagte, suchte er das Zittern seines Kopfes zu verbergen, wobei er aber nicht nur erkennen mu?te, da? die Lehrerin seine vergebliche Anstrengung bemerkte, sondern auch mit dem gro?ten Widerwillen die Wahrnehmung machte, da? sie selber ebenfalls mit dem Kopfe zitterte. Auch war es nichts als Politik und unnaturliche Schlauheit gewesen, da? er Frau Chauchat als "schone Minka" bezeichnet hatte; denn so konnte er weiter fragen:

"Ich sage 'Minka', aber wie hei?t sie denn eigentlich in Wirklichkeit. Ich meine mit Vornamen. So vernarrt, wie Sie unstreitig in sie sind, mussen Sie doch unbedingt ihren Vornamen wissen."

Die Lehrerin dachte nach.

"Warten Sie, ich wei? ihn", sagte sie. "Ich habe ihn gewu?t. Hei?t sie nicht Tatjana? Nein, das war es nicht, und auch nicht Natascha. Natascha Chauchat? Nein, so habe ichs nicht gehort. Halt, ich habe es! Awdotja hei?t sie. Oder es war doch etwas in diesem Charakter. Denn Katjenka oder Ninotschka hei?t sie nun einmal bestimmt nicht. Es ist mir wahrhaftig entfallen. Aber ich kann es mit Leichtigkeit in Erfahrung bringen, wenn Ihnen daran gelegen ist."

Wirklich wu?te sie am nachsten Tage denNamen. Sie sprach ihn beim Mittagessen aus, als die Glastur ins Schlo? schmetterte. Frau Chauchat hie? Clawdia.

Hans Castorp verstand nicht gleich. Er lie? sich den Namen wiederholen und buchstabieren, bevor er ihn auffa?te. Dann sprach er ihn mehrmals nach, indem er dabei mit rot geaderten Augen zu Frau Chauchat hinuberblickte und ihn ihr gewisserma?en anprobierte.

"Clawdia," sagte er, "ja, so mag sie wohl hei?en, es stimmt ganz gut." Er machte kein Hehl aus seiner Freude uber die intime Kenntnis und sprach jetzt nur noch von "Clawdia", wenn er Frau Chauchat meinte. "Ihre Clawdia dreht ja Brotkugeln, habe ich eben gesehen. Fein ist das nicht." "Es kommt darauf an, wer es tut", antwortete die Lehrerin.

"Clawdia steht es."

Ja, die Mahlzeiten im Saal mit den sieben Tischen hatten den allergro?ten Reiz fur Hans Castorp. Er bedauerte es, wenn eine davon zu Ende ging, aber sein Trost war, da? er sehr bald, in zwei oder zweieinhalb Stunden, wieder hier sitzen werde, und wenn er wieder hier sa?, so war es, als sei er nie aufgestanden. Was lag dazwischen? Nichts. Ein kurzer Spaziergang zum Wasserlauf oder ins Englische Viertel, ein wenig Ruhe im Stuhl. Das war keine ernste Unterbrechung, kein schwer zu nehmendes Hindernis. Etwas anderes, wenn Arbeit, irgendwelche Sorgen und Muhen sich vorgelagert hatten, die im Geiste nicht leicht zu ubersehen, zu ubergehen gewesen waren. Dies war jedoch nicht der Fall im klug und glucklich geregelten Leben des "Berghofs". Hans Castorp konnte sich, wenn er von einer gemeinsamen Mahlzeit aufstand, ganz unmittelbar auf die nachste freuen, - sofern namlich "sich freuen" das richtige Wort war fur die Art von Erwartung, mit der er dem neuen Zusammensein mit der kranken Frau Clawdia Chauchat entgegensah, und nicht ein zu leichtes, vergnugtes, einfaltiges und gewohnliches. Moglicherweise ist der Leser geneigt, nur solche Ausdrucke, namlich vergnugte und gewohnliche, in bezug auf Hans Castorps Person und sein Innenleben als passend und zulassig zu erachten; aber wir erinnern daran, da? er sich als ein junger Mann von Vernunft und Gewissen auf den Anblick und die Nahe Frau Chauchats nicht einfach "freuen" konnte und, da wir es wissen mussen, stellen wir fest, da? er dies Wort, wenn man es ihm angeboten hatte, achselzuckend verworfen haben wurde.

Ja, er wurde hochnasig gegen gewisse Ausdrucksmittel, - das ist eine Einzelheit, die angemerkt zu werden verdient. Er ging umher, indes seine Wangen in trockener Hitze standen, und sang vor sich hin, sang in sich hinein, denn sein Befinden war musikalisch und sensitiv. Er summte ein Liedchen, das er, wer wei? wo und wann, in einer Gesellschaft oder bei einem Wohltatigkeitskonzert einmal von einer kleinen Sopranstimme gehort und jetzt in sich vorgefundenhatte, - einen sanften Unsinn, der anfing:

"Wie beruhrt mich wundersam

Oft ein Wort von dir",

und er war im Begriffe, hinzuzusetzen:

"Das von deiner Lippe kam

Und zum Herzen mir!" -

als er plotzlich die Achseln zuckte, "lacherlich" sagte und das zarte Liedchen als abgeschmackt und lappisch empfindsam verwarf und von sich wies, - es mit einer gewissen Melancholie und Strenge von sich wies. An solchem innigen Liedchen mochte irgendein junger Mann Genuge und Gefallen finden, der "sein Herz", wie man zu sagen pflegt, erlaubter-, friedlicher- und aussichtsreicherweise irgendeinem gesunden Ganschen dort unten im Flachlande "geschenkt" hatte und sich nun seinen erlaubten, aussichtsreichen, vernunftigen und im Grunde vergnugten Empfindungen uberlie?. Fur ihn und sein Verhaltnis zu Madame Chauchat - das Wort "Verhaltnis" kommt auf seine Rechnung, wir lehnen die Verantwortung dafur ab - schickte sich ein solches Gedichtchen entschieden nicht; in seinem Liegestuhl fand er sich bewogen, das asthetische Urteil "albern!" daruber zu fallen und brach in der Mitte ab, indem er die Nase rumpfte, obgleich er nichts Geeigneteres dafur einzusetzen wu?te.

Eins aber bereitete ihm Genugtuung, wenn er lag und auf sein Herz, sein korperliches Herz achtete, das rasch und vernehmlich in der Stille pochte, - der vorschriftsma?igen Hausordnungsstille, die wahrend der Haupt- und Schlafliegekur uber dem ganzen "Berghof" waltete. Es pochte hartnackig und vordringlich, sein Herz, wie es das fast bestandig tat, seitdem er hier oben war; doch nahm Hans Castorp neuerdings weniger Ansto? daran als in den ersten Tagen. Man konnte jetzt nicht mehr sagen, da? es auf eigene Hand, grundlos und ohne Zusammenhang mit der Seele klopfte. Ein solcher Zusammenhang war vorhanden oder doch unschwer herzustellen; eine rechtfertigende Gemutsbewegung lie? sich der exaltierten Korpertatigkeit zwanglos unterlegen. Hans Castorp brauchte nur an Frau Chauchat zu denken - und er dachte an sie -, so besa? er zum Herzklopfen das zugehorige Gefuhl.

Aufsteigende Angst. Von den beiden Gro?vatern und der Kahnfahrt im Zwielicht

Das Wetter war spottschlecht, - in dieser Beziehung hatte Hans Castorp kein Gluck mit seinem fluchtigen Aufenthalt in diesen Gegenden. Es schneite nicht gerade, aber es regnete tagelang schwer und ha?lich, dicke Nebel erfullten das Tal, und Gewitter von lacherlicher Uberflussigkeit - denn es war ohnehin so kalt, da? man im Speisesaal

sogar geheizt hatte - entluden sich mit umstandlich ausrollendem Widerhall.

"Schade", sagte Joachim. "Ich hatte gedacht, wir wollten mal mit dem Fruhstuck auf die Schatzalp oder sonst etwas unternehmen. Aber es scheint, es soll nicht sein. Hoffentlich wird deine letzte Woche besser."

Aber Hans Castorp antwortete:

"La? nur. Ich brenne gar nicht auf Unternehmungen. Meine erste ist mir nicht sonderlich bekommen. Ich erhole mich am besten, wenn ich so in den Tag hineinlebe, ohne viel Abwechslung. Abwechslung ist fur die Langjahrigen. Aberich mit meinen drei Wochen, was brauche ich Abwechslung."

So war es, er fuhlte sich ausgefullt und beschaftigt an Ort und Stelle. Wenn er Hoffnungen hegte, so bluhten Erfullung wie Enttauschung ihm hier, und nicht auf irgendeiner Schatzalp. Langeweile war es nicht, was ihn plagte; im Gegenteil begann er zu furchten, das Ende seines Aufenthalts mochte allzu beschwingt erscheinen. Die zweite Woche schritt vor, zwei Drittel seiner Zeit wurden bald abgelebt sein, und brach erst das dritte an, so dachte man schon an den Koffer. Die erste Auffrischung von Hans Castorps Zeitsinn war langst vorbei; schon begannen die Tage dahinzufliegen, und das taten sie, obgleich jeder einzelne von ihnen sich in immer erneuter Erwartung dehnte und von stillen, verschwiegenen Erlebnissen schwoll ... Ja, die Zeit ist ein ratselhaftes Ding, es hat eine schwer klarzustellende Bewandtnis mit ihr!

Wird es notig sein, jene verschwiegenen Erlebnisse, die Hans Castorps Tage zugleich beschwerten und beschwingten, naher zu kennzeichnen? Aber jedermann kennt sie, es waren durchaus die gewohnlichen in ihrer sensiblen Nichtigkeit, und in einem vernunftiger und aussichtsreicher gelagerten Fall, auf den das abgeschmackte Liedchen "Wie beruhrt mich wundersam" anwendbar gewesen ware, hatten sie sich auch nicht anders abspielen konnen.

Unmoglich, da? Madame Chauchat von den Faden, die sich von einem gewissen Tische zu ihrem spannen, nicht irgend etwas hatte bemerken sollen; und da? sie etwas, ja moglichst viel davon bemerke, lag zugelloserweise durchaus in Hans Castorps Absichten. Wir nennen das zugellos, weil er sich uber die Vernunftwidrigkeit seines Falles vollig im klaren war. Aber um wen es steht, wie es um ihn stand oder zu stehen begann, der will, da? man druben von seinem Zustande Kenntnis habe, auch wenn kein Sinn und Verstand bei der Sache ist. So ist der Mensch.

Nachdem also Frau Chauchat sich zwei- oder dreimal zufallig oder unter magnetischer Einwirkung beim Essen nach jenem Tisch umgewandt hatte und jedesmal den Augen Hans Castorps begegnet war, blickte sie zum viertenmal mit Vorbedacht hinuber und begegnete seinen Augen auch diesmal. In einem funften Fall ertappte sie ihn zwar nicht unmittelbar; er war gerade nicht auf dem Posten. Doch fuhlte er es sofort, da? sie ihn ansah, und blickte ihr so eifrig entgegen, da? sie sich lachelnd abwandte. Mi?trauen und Entzucken erfullten ihn angesichts dieses Lachelns. Wenn sie ihn fur kindlich hielt, so tauschte sie sich. Sein Bedurfnis nach Verfeinerung war bedeutend. Bei sechster Gelegenheit, als er ahnte, spurte, die innere Kunde gewann, da? sie heruberblickte, tat er, als betrachte er mit eindringlichem Mi?fallen eine finnige Dame, die an seinen Tisch getreten war, um mit der Gro?tante zu plaudern, hielt eisern durch, wohl zwei oder drei Minuten lang, und gab nicht nach,bis er sicher war, da? die Kirgisenaugen dort druben von ihm abgelassen hatten, - eine wunderliche Schauspielerei, die Frau Chauchat nicht nur durchschauen mochte, sondern ausdrucklich durchschauen sollte, damit Hans Castorps gro?e Feinheit und Selbstbeherrschung sie nachdenklich stimme ... Es kam zu folgendem. In einer E?pause wandte Frau Chauchat sich nachlassig um und musterte den Saal. Hans Castorp war auf dem Posten gewesen: ihre Blicke trafen sich. Indes sie einander ansehen - die Kranke unbestimmt spahend und spottisch, Hans Castorp mit erregter Festigkeit(er bi? sogar die Zahne zusammen, wahrend er ihren Augen standhielt) - will ihr die Serviette entfallen, ist im Begriffe, ihr vom Scho?e zu Boden zu gleiten. Nervos zusammenzuckend greift sie danach, aber auch ihm fahrt es in die Glieder, es rei?t ihn halbwegs vom Stuhle empor, und blindlings will er uber acht Meter Raum hinweg und um einen zwischenstehenden Tisch herum ihr zu Hilfe sturzen, als wurde es eine Katastrophe bedeuten, wenn die Serviette den Boden erreichte ... Knapp uber dem Estrich wird sie ihrer noch habhaft. Aber aus ihrer gebuckten Haltung, uberquer zu Boden geneigt, die Serviette am Zipfel und mit verfinsterter Miene, offenbar argerlich uber die unvernunftige kleine Panik, der sie unterlegen und an der sie ihm, wie es scheint, die Schuld gibt, - blickt sie noch einmal nach ihm zuruck, bemerkt seine Sprungstellung, seine emporgerissenen Brauen und wendet sich lachelnd ab.

Uber dies Vorkommnis triumphierte Hans Castorp bis zur Ausgelassenheit. Jedoch blieb der Ruckschlag nicht aus, denn Madame Chauchat wandte sich nun volle zwei Tage lang, also wahrend der Dauer

von zehn Mahlzeiten, uberhaupt nicht mehr nach dem Saale um, ja, unterlie? es sogar, sich bei ihrem Eintritt, wie es sonst ihre Gepflogenheiten gewesen, dem Publikum zu "prasentieren". Das war hart. Aber da diese Unterlassungen sich ganz ohne Zweifel auf ihn bezogen, so war eine Beziehung eben doch deutlich vorhanden, wenn auch in negativer Gestalt; und das mochte genugen.

Er sah wohl, da? Joachim vollstandig recht gehabt hatte mit seiner Bemerkung, es sei gar nicht leicht, hier Bekanntschaft zu machen, au?er mit Tischgenossen. Denn wahrend der einzigen knappen Stunde nach dem Diner, in der eine gewisse Geselligkeit regelma?ig statthatte, die aber oft auf zwanzig Minuten zusammenschrumpfte, sa? Madame Chauchat ohne Ausnahme mit ihrer Umgebung, dem hohlbrustigen Herrn, der humoristischen Wollhaarigen, dem stillen Dr. Blumenkohl und den hangeschultrigen Junglingen, im Hintergrunde des kleinen Salons, der dem "Guten Russentisch" vorbehalten schien. Auch drangte Joachim stets bald zum Aufbruch, um die Abendliegekur nicht zu verkurzen, wie er sagte, und vielleicht noch aus anderen diatetischen Grunden, die er nicht anfuhrte, die aber Hans Castorp ahnte und achtete. Wir erhoben den Vorwurf der Zugellosigkeit gegen ihn, aber wohin seine Wunsche nun immergehen mochten, die gesellschaftliche Bekanntschaft mit Frau Chauchat war es nicht, was er anstrebte, und mit den Umstanden, die dagegen wirkten, war er im Grunde einverstanden. Die unbestimmt gespannten Beziehungen, die sein Schauen und Betreiben zwischen ihm und der Russin hergestellt hatte, waren au?ergesellschaftlicher Natur, sie verpflichteten zu nichts und durften zu nichts verpflichten. Denn ein betrachtliches Ma? von gesellschaftlicher Ablehnung vertrug sich wohl mit ihnen, auf seiner Seite, und die Tatsache, da? er den Gedanken an "Clawdia" dem Klopfen seines Herzens unterlegte, genugte bei weitem nicht, den Enkel Hans Lorenz Castorps in der Uberzeugung wankend zu machen, da? er mit dieser Fremden, die ihr Leben getrennt von ihrem Mann und ohne Trauring am Finger an allen moglichen Kurorten verbrachte, sich mangelhaft hielt, die Tur hinter sich zufallen lie?, Brotkugeln drehte und zweifellos an den Fingern kaute, - da? er, sagen wir, in Wirklichkeit, das hei?t: uber jene geheimen Beziehungen hinaus, nichts mit ihr zu schaffen haben konne, da? tiefe Klufte ihre Existenz von der seinen trennten, und da? er vor keiner Kritik, die er anerkannte, mit ihr bestehen wurde. Einsichtigerweise war Hans Castorp ganz ohne personlichen Hochmut; aber ein Hochmut allgemeiner und weiter hergeleiteter Art stand ihm ja auf der Stirn und um die etwas schlafrig

blickenden Augen geschrieben, und aus ihm entsprang das Uberlegenheitsgefuhl, dessen er sich beim Anblick von Frau Chauchats Sein und Wesen nicht entschlagen konnte noch wollte. Es war sonderbar, da? er sich dieses weitlaufigen Uberlegenheitsgefuhls besonders lebhaft und vielleicht uberhaupt zum erstenmal bewu?t wurde, als er Frau Chauchat eines Tages Deutsch sprechen horte, - sie stand, beide Hande in den Taschen ihres Sweaters, nach Schlu? einer Mahlzeit im Saale, und muhte sich, wie Hans Castorp im Vorubergehen wahrnahm, im Gesprach mit einer anderen Patientin, einer Liegehallengenossin wahrscheinlich, auf ubrigens reizende Art um die deutsche Sprache, Hans Castorps Muttersprache, wie er mit plotzlichem und nie gekanntem Stolze empfand, - wenn auch nicht ohne gleichzeitige Neigung, diesen Stolz dem Entzucken aufzuopfern, womit ihr anmutiges Stumpern und Radebrechen ihn erfullte.

Mit einem Worte: Hans Castorp sah in seinem stillen Verhaltnis zu dem nachlassigen Mitgliede Derer hier oben ein Ferienabenteuer, das vor dem Tribunal der Vernunft - seines eigenen vernunftigen Gewissens - keinerlei Anspruch auf Billigung erheben konnte: hauptsachlich deshalb nicht, weil Frau Chauchat ja krank war, schlaff, fiebrig und innerlich wurmstichig, ein Umstand, der mit der Zweifelhaftigkeit ihrer Gesamtexistenz nahe zusammenhing und auch an Hans Castorps Vorsichts- und Abstandsgefuhlen stark beteiligt war ... Nein, ihre wirkliche Bekanntschaft zu suchen, kam ihm nicht in den Sinn, und was das andere betraf, so wurde es ja in anderthalb Wochen, wenn er bei Tunder & Wilms in die Praxis trat, wohl oderubel folgenlos beendet sein.

Vorderhand allerdings stand es so mit ihm, da? er angefangen hatte, die Gemutsbewegungen, Spannungen, Erfullungen und Enttauschungen, die ihm aus seinen zarten Beziehungen zu der Patientin erwuchsen, als den eigentlichen Sinn und Inhalt seines Ferienaufenthaltes zu betrachten, ganz ihnen zu leben und seine Laune von ihrem Gedeihen abhangig zu machen. Die Umstande leisteten ihrer Pflege den wohlwollendsten Vorschub, denn man lebte bei feststehender und jedermann bindender Tagesordnung auf beschranktem Raum beieinander, und wenn auch Frau Chauchat in einem anderen Stockwerk - im ersten - zu Hause war(sie hielt ubrigens ihre Liegekur, wie Hans Castorp von der Lehrerin horte, in einer gemeinsamen Liegehalle, namlich der, die sich auf dem Dache befand, derselben, in der Hauptmann Miklosich neulich das Licht abgedreht hatte), so war doch

allein schon durch die funf Mahlzeiten, aber auch sonst auf Schritt und Tritt, vom Morgen bis zum Abend die Moglichkeit, ja Unumganglichkeit der Begegnung gegeben. Und auch dies, ebenso wie das andere, da? keine Sorgen und Muhen die Aussicht versperrten, fand Hans Castorp famos, wenn auch solches Eingesperrtsein mit dem gunstigen Ungefahr zugleich etwas Beklemmendes hatte.

Doch half er sogar noch ein bi?chen nach, rechnete und stellte seinen Kopf in den Dienst der Sache, um das Gluck zu verbessern. Da Frau Chauchat gewohnheitsma?ig verspatet zu Tische kam, so legte er es darauf an, ebenfalls zu spat zu kommen, um ihr unterwegs zu begegnen. Er versaumte sich bei der Toilette, war nicht fertig, wenn Joachim eintrat, um ihn abzuholen, lie? den Vetter vorangehen und sagte, er kame gleich nach. Beraten von dem Instinkt seines Zustandes, wartete er einen gewissen Augenblick ab, der ihm der richtige schien, und eilte ins erste Stockwerk hinab, wo er nicht die Treppe benutzte, die die Fortsetzung derjenigen bildete, die ihn herabgefuhrt hatte, sondern den Korridor fast bis ans Ende, bis zur anderen Treppe verfolgte, die einer langst bekannten Zimmertur - es war die von Nr. 7 - nahegelegen war. Auf diesem Wege, den Korridor entlang, von einer Treppe zur anderen, bot sozusagen jeder Schritt eine Chance, denn jeden Augenblick konnte die bewu?te Tur sich offnen, - und das tat sie wiederholt: krachend fiel sie hinter Frau Chauchat zu, die fur ihre Person lautlos hervorgetreten war und lautlos zur Treppe glitt ... Dann ging sie vor ihm her und stutzte das Haar mit der Hand, oder Hans Castorp ging vor ihr her und fuhlte ihren Blick in seinem Rucken, wobei er ein Rei?en in den Gliedern sowie ein Ameisenlaufen den Rucken hinunter verspurte, in dem Wunsche aber, sich vor ihr aufzuspielen, so tat, als wisse er nichts von ihr und fuhre sein Einzelleben in kraftiger Unabhangigkeit, - die Handein die Rocktaschen grub und ganz unnotigerweise die Schultern rollte oder sich heftig rausperte und sich dabei mit der Faust vor die Brust schlug, - alles, um seine Unbefangenheit zu bekunden.

Zweimal trieb er die Abgefeimtheit noch weiter. Nachdem er am E?tisch schon Platz genommen, sagte er besturzt und argerlich, indem er sich mit beiden Handen betastete: "Da, ich habe mein Taschentuch vergessen! Jetzt hei?t es, sich noch einmal hinaufbequemen." Und er ging zuruck, damit er und "Clawdia" einander begegneten, was denn doch noch etwas anderes, gefahrlicher und von scharferen Reizen war, als wenn sie vor oder hinter ihm ging. Das erstemal, als er dies Manover

ausgefuhrt, ma? sie ihn zwar aus einiger Entfernung mit den Augen, und zwar recht rucksichtslos und ohne Verschamtheit, von oben bis unten, wandte aber, herangekommen, gleichgultig das Gesicht ab und ging so voruber, so da? das Ergebnis dieses Zusammentreffens nicht hoch zu veranschlagen war. Beim zweitenmal aber sah sie ihn an, und nicht nur von weitem, - die ganze Zeit sah sie ihn an, wahrend des ganzen Vorganges, blickte ihm fest und sogar etwas finster in das Gesicht und drehte im Vorubergehen sogar noch den Kopf nach ihm, - es ging dem armen Hans Castorp durch Mark und Bein. Ubrigens sollte man ihn nicht bedauern, da er es nicht anders gewollt und alles selbst in die Wege geleitet hatte. Aber die Begegnung ergriff ihn gewaltig, sowohl wahrend sie sich abspielte wie namentlich noch nachtraglich; denn erst als alles voruber war, sah er recht deutlich, wie es gewesen. Noch niemals hatte er Frau Chauchats Gesicht so nahe, so in allen Einzelheiten klar erkennbar vor sich gehabt: er hatte die kurzen Harchen unterscheiden konnen, die sich aus dem Geflecht ihres blonden, ein wenig ins Metallisch-Rotliche spielenden und einfach um den Kopf geschlungenen Zopfes losten, und nur ein paar Handbreit Raum war gewesen zwischen seinem Gesicht und dem ihren in seiner wundersamen, ihm aber von langer Hand her vertrauten Bildung, die ihm zusagte wie nichts in der Welt: einer Bildung, fremdartig und charaktervoll(denn nur das Fremde scheint uns Charakter zu haben), von nordlicher Exotik und geheimnisreich, zur Ergrundung auffordernd, insofern ihre Merkmale und Verhaltnisse nicht leicht zu bestimmen waren. Das Entscheidende war wohl die Betontheit der hochsitzenden Wangenknochenpartie: sie bedrangte die ungewohnt flach, ungewohnt weit voneinander liegenden Augen und trieb sie ein wenig ins Schiefe, wahrend sie zugleich die Ursache abgab fur das weiche Konkav der Wangen, das wiederum, von seiner Seite und mittelbar, die leicht aufgeworfene Uppigkeit der Lippen bewirkte. Dann aber waren da namentlich die Augen selbst gewesen, diese schmal und(so fand Hans Castorp) schlechthin zauberhaft geschnittenen Kirgisenaugen, deren Farbe das Graublau oder Blaugrauferner Berge war, und die sich zuweilen, bei einem gewissen Seitenblick, der nicht zum Sehen diente, auf eine schmelzende Weise vollig ins Schleierig-Nachtige verdunkeln konnten, - Clawdias Augen, die ihn rucksichtslos und etwas finster aus nachster Nahe betrachtet hatten und nach Stellung, Farbe, Ausdruck denen Pribislav Hippes so auffallend und erschreckend ahnlich waren! "Ahnlich" war gar nicht das richtige Wort, - es waren dieselben Augen;

und auch die Breite der oberen Gesichtshalfte, die eingedruckte Nase, alles, bis auf die gerotete Wei?e der Haut, die gesunde Farbe der Wangen, die bei Frau Chauchat ja aber Gesundheit nur vortauschte und, wie bei allen hier oben, nichts als ein oberflachliches Erzeugnis der Liegekur im Freien war, - alles war ganz wie bei Pribislav, und nicht anders hatte dieser ihn angesehen, wenn sie auf dem Schulhof aneinander vorubergingen.

Das war erschutternd in jedem Sinn; Hans Castorp war begeistert von der Begegnung, und zugleich spurte er etwas wie aufsteigende Angst, eine Beklemmung derselben Art, wie das Eingesperrtsein mit dem gunstigen Ungefahr auf engem Raum ihm verursachte: auch dies, da? der langst vergessene Pribislav ihm hier oben als Frau Chauchat wieder begegnete und ihn mit Kirgisenaugen ansah, war wie ein Eingesperrtsein mit Unumganglichem oder Unentrinnbarem, - in begluckendem und angstlichem Sinn Unentrinnbarem. Es war hoffnungsreich und zugleich auch unheimlich, ja bedrohlich, und ein Gefuhl der Hilfsbedurftigkeit kam den jungen Hans Castorp an, - in seinem Inneren vollzogen sich unbestimmte und instinktma?ige Bewegungen, die man als ein Sichumsehen, als ein Tasten und Suchen nach Hilfe, nach Rat und Stutze hatte ansprechen mogen; er dachte nacheinander an verschiedene Personen, an die zu denken etwa zutraglich sein mochte.

Da war Joachim, der gute, ehrenfeste Joachim an seiner Seite, dessen Augen in diesen Monaten einen so traurigen Ausdruck angenommen, und der zuweilen so wegwerfend-heftig mit den Achseln zuckte, wie er es fruher nie und nimmer getan, - Joachim mit dem "Blauen Heinrich" in der Tasche, wie Frau Stohr dies Gerat zu bezeichnen pflegte: mit einem so storrisch schamlosen Gesicht, da? es Hans Castorp jedesmal in der Seele entsetzte ... Der redliche Joachim also war da, der Hofrat Behrens tirrte und plagte, um fortzukommen und in der "Ebene" oder im "Flachlande", wie man hier die Welt der Gesunden mit einem leisen, aber deutlichen Akzent von Geringschatzung nannte, seinen ersehnten Dienst tun zu konnen. Damit er schneller dazu gelange und Zeit spare, mit der man hier so verschwenderisch umging, hielt er denn vorerst einmal mit aller Gewissenhaftigkeit den Kurdienst ein, - tat es um seiner baldigen Genesung willen, ohne Frage, aber, wie Hans Castorp manchmal zu spuren glaubte, ein wenig doch auch um des Kurdienstes willen, der am Ende ein Dienst warwie ein anderer, und Pflichterfullung war Pflichterfullung. So drangte denn Joachim abends schon nach einer

Viertelstunde aus der Geselligkeit fort in die Liegekur, und das war gut, denn seine militarische Genauigkeit kam dem zivilen Sinn Hans Castorps gewisserma?en zu Hilfe, der sich sonst wohl, sinn- und aussichtsloserweise, gern noch des langeren an der Geselligkeit beteiligt hatte, mit Aussicht auf den kleinen Russensalon. Da? aber Joachim so dringlich darauf bedacht war, die Abendgeselligkeit abzukurzen, das hatte noch einen anderen, verschwiegenen Grund, auf den sich Hans Castorp genau verstand, seit er Joachims fleckiges Erblassen und jene eigentumlich klagliche Art, in der sein Mund sich in gewissen Augenblicken verzerrte, so genau verstehen gelernt hatte. Denn auch Marusja, die ewig lachlustige Marusja mit dem kleinen Rubin an ihrem schonen Finger, dem Apfelsinenparfum und der hohen, wurmstichigen Brust war ja bei der Geselligkeit meistens zugegen, und Hans Castorp begriff, da? dieser Umstand Joachim forttrieb, weil er ihn allzusehr, auf eine schreckliche Weise anzog. War auch Joachim "eingesperrt", - noch enger und beklemmender sogar als er selbst, da ja Marusja mit ihrem Apfelsinentuchlein zu allem Uberflu? auch noch funfmal am Tage mit ihnen zusammen an demselben E?tisch sa?? Jedenfalls hatte Joachim viel zu viel mit sich selbst zu tun, als da? sein Dasein eigentlich innerlich hilfreich fur Hans Castorp hatte sein konnen. Seine tagliche Flucht aus der Geselligkeit wirkte zwar ehrenhaft, aber nichts weniger als beruhigend auf diesen, und dann kam es ihm augenblicksweise auch vor, als ob Joachims gutes Beispiel in bezug auf die Pflichttreue im Kurdienst, die kundige Anleitung dazu, die er ihm zuteil werden lie?, ihr Bedenkliches hatten.

Hans Castorp war noch nicht zwei Wochen an Ort und Stelle, aber es schien ihm langer, und die Tagesordnung Derer hier oben, die Joachim an seiner Seite so dienstfromm beobachtete, hatte angefangen, in seinen Augen das Geprage einer heilig-selbstverstandlichen Unverbruchlichkeit anzunehmen, so da? ihm das Leben im Flachlande drunten, von hier gesehen, fast sonderbar und verkehrt erschien. Schon hatte er in der Handhabung der beiden Decken, mit denen man bei kalter Witterung in der Liegekur ein ebenma?ig Paket, eine richtige Mumie aus sich machte, schone Gewandtheit gewonnen; es fehlte nicht viel, so tat er es Joachim gleich in der sicheren Fertigkeit und Kunst, sie vorschriftsma?ig um sich zu schlagen, und fast mu?te er sich wundern bei dem Gedanken, da? in der Ebene drunten niemand etwas von dieser Kunst und Vorschrift wu?te. Ja, das war wunderlich; - aber zugleich wunderte sich Hans Castorp daruber, da? er es wunderlich fand, und jene Unruhe, die ihn innerlich

nach Rat und Stutze sich umsehen lie?, stieg neuerdings in ihm auf.

Er mu?te an Hofrat Behrens denken und an seinensine pecunia erteilten Rat, ganz so zu leben wie die Patientenschaft und sich sogar auch zu messen, - und an Settembrini, der uber diesen Rat so laut in die Luft hinein gelacht und dann etwas aus der "Zauberflote" zitiert hatte. Ja, auch an diese beiden dachte er probeweise, um zu sehen, ob es ihm gut tate. Hofrat Behrens war ja ein wei?haariger Mann, er hatte Hans Castorps Vater sein konnen. Dazu war er Vorsteher der Anstalt, die hochste Autoritat, - und vaterliche Autoritat war es, wonach der junge Hans Castorp ein unruhiges Herzensbedurfnis empfand. Und doch wollte es ihm nicht gelingen, wenn er es versuchte, des Hofrats mit kindlichem Vertrauen zu gedenken. Er hatte hier seine Frau begraben, ein Kummer, von dem er vorubergehend etwas wunderlich geworden war, und dann war er am Orte geblieben, weil das Grab ihn band, und au?erdem weil er selbst etwas abbekommen hatte. War es nun vorbei damit? War er gesund und unzweideutig gesonnen, die Leute gesund zu machen, damit sie recht bald ins Flachland zuruckkehren und Dienst tun konnten? Seine Backen waren bestandig blau, und eigentlich sah er aus, als hatte er Ubertemperatur. Aber das mochte auf Tauschung beruhen und nur die Luft schuld sein an dieser Gesichtsfarbe: Hans Castorp selber spurte hier ja tagein, tagaus eine trockene Hitze, ohne Fieber zu haben, soweit er es ohne Thermometer beurteilen konnte. Zwar, wenn man den Hofrat reden horte, konnte man wieder zuweilen an Ubertemperatur glauben; es war nicht ganz richtig mit seiner Redeweise: sie klang so forsch und fidel und gemutlich, aber es war etwas Sonderbares darin, etwas Exaltiertes, besonders wenn man die blauen Backen mit in Betracht zog, sowie die tranenden Augen, die aussahen, als weine er immer noch uber seine Frau. Hans Castorp erinnerte sich dessen, was Settembrini uber des Hofrats "Schwermut" und "Lasterhaftigkeit" ausgesagt, und da? er ihn eine "verworrene Seele" genannt hatte. Das mochte Bosheit sein und Windbeutelei; aber er fand trotzdem, da? es nicht sonderlich starkend sei, an Hofrat Behrens zu denken.

Aber da war denn freilich noch dieser Settembrini selbst, der Oppositionsmann, Windbeutel und "homo humanus", wie er sich selber nannte, der es ihm mit vielen prallen Worten verwiesen hatte, Krankheit und Dummheit zusammen einen Widerspruch und ein Dilemma fur das menschliche Gefuhl zu nennen. Wie stand es mit ihm? Und war es zutraglich, an ihn zu denken? Hans Castorp erinnerte sich wohl, wie er in

mehreren der uberma?ig lebhaften Traume, die hier oben seine Nachte erfullten, Argernis genommen an dem feinen, trockenen Lacheln des Italieners, das sich unter der schonen Rundung seines Schnurrbartes krauselte, wie er ihn einen Drehorgelmann gescholten und ihn wegzudrangen versucht hatte, weil erhier store. Aber das war im Traum gewesen, und der wachende Hans Castorp war ein anderer, weniger ungehemmt als der des Traumes. Im Wachen mochte es etwas anderes sein, - vielleicht tat er gut daran, es innerlich mit Settembrinis neuartigem Wesen zu versuchen, - mit seiner Aufsassigkeit und Kritik, obgleich sie larmoyant und geschwatzig war. Er selbst hatte sich ja einen Padagogen genannt; offenbar wunschte er Einflu? zu nehmen; und den jungen Hans Castorp verlangte es herzlich, beeinflu?t zu werden, - was ja freilich so weit nicht zu gehen brauchte, da? er sich von Settembrini bestimmen lie?, seinen Koffer zu packen und vor der Zeit abzureisen, wie jener es neulich allen Ernstes in Vorschlag gebracht hatte.

Placet experiri, dachte er bei sich lachelnd, denn so viel Latein verstand er auch noch, ohne sich einen homo humanus nennen zu durfen. Und so hatte er denn ein Auge auf Settembrini und horte bereitwillig und nicht ohne prufende Aufmerksamkeit auf das, was er alles zum besten gab bei Begegnungen, wie sie bei den gemessenen Kurpromenaden zur Bank an der Bergwand oder nach "Platz" hinab sich beilaufig ereigneten, oder bei anderer Gelegenheit, zum Beispiel wenn Settembrini nach beendeter Mahlzeit sich als erster erhob und in seinen karierten Beinkleidern, einen Zahnstocher zwischen den Lippen, durch den Saal mit den sieben Tischen schlenderte, um gegen alle Vorschrift und Ubung ein wenig am Tische der Vettern zu hospitieren. Er tat es, indem er in anmutiger Haltung, mit gekreuzten Fu?en, Aufstellung nahm und mit dem Zahnstocher gestikulierend plauderte. Oder er zog auch einen Stuhl heran, nahm Platz an einer Ecke zwischen Hans Castorp und der Lehrerin einerseits oder zwischen Hans Castorp und Mi? Robinson andererseits und sah zu, wie die neun Tischgenossen ihren Nachtisch verzehrten, auf den er verzichtet zu haben schien.

"Ich bitte um Zutritt in diesen edlen Kreis", sagte er, indem er den Vettern die Hand schuttelte und die ubrigen Personen mit einer Verbeugung umfa?te. "Dieser Bierbrauer dort druben ... von dem verzweiflungsvollen Anblick der Bierbrauerin zu schweigen. Aber dieser Herr Magnus, - soeben hat er einen volkerpsychologischen Vortrag gehalten. Wollen Sie horen? 'Unser liebes Deutschland ist eine gro?e

Kaserne, gewi?. Aber es steckt viel Tuchtigkeit dahinter, und ich tausche unsere Gediegenheit fur die Hoflichkeit der andern nicht ein. Was hilft mir alle Hoflichkeit, wenn ich vorn und hinten betrogen werde?' In diesem Stile. Ich bin am Rand meiner Krafte. Dann sitzt da mir gegenuber ein armes Wesen mit Friedhofsrosen auf den Backen, eine alte Jungfer aus Siebenburgen, die ohne Unterbrechung von ihrem 'Schwager' spricht, einem Menschen, von dem niemand etwas wei?, noch wissen will. Kurzum, ich kann nicht mehr, ich habe mich aus dem Staub gemacht."

"Fluchtartig habenSie das Panier ergriffen," sagte Frau Stohr; "das kann ich mir denken."

"Exakt!" rief Settembrini. "Das Panier! Ich sehe, hier weht ein anderer Wind, - kein Zweifel, ich bin vor die rechte Schmiede gekommen. Fluchtartig also ergriff ich es ... Wer so seine Worte zu setzen wu?te! - Darf ich mich nach den Fortschritten Ihrer Gesundheit erkundigen, Frau Stohr?"

Es war entsetzlich, wie Frau Stohr sich zierte. "Gro?er Gott," sagte sie, "es ist immer dasselbe, der Herr wissen ja selbst. Man tut zwei Schritte vorwarts und drei zuruck, - hat man funf Monate abgesessen, so kommt der Alte und legt einem ein halbes Jahr zu. Ach, es sind Tantalusqualen. Man schiebt und schiebt, und glaubt man, oben zu sein ..."

"Oh, das ist schon von Ihnen! Sie gonnen dem armen Tantalus endlich einige Abwechslung! Sie lassen ihn austauschweise einmal den beruhmten Marmor walzen! Das nenne ich wahre Herzensgute. Aber wie ist es, Madame, es gehen geheimnisvolle Dinge mit Ihnen vor. Man hat Geschichten von Doppelgangerei, Astralleibern ... Ich habe daran nicht geglaubt bisher, aber was sich mit Ihnen zutragt, macht mich irre ..."

"Es scheint, der Herr will seine Ergotzlichkeit mit mir treiben."

"Durchaus nicht! Ich denke nicht daran! Beruhigen Sie mich zuerst uber gewisse dunkle Seiten Ihrer Existenz, und wir werden von Ergotzlichkeit reden konnen! Ich mache mir gestern abend zwischen halb zehn und zehn Uhr ein wenig Bewegung im Garten - ich blicke dabei die Balkons entlang - das elektrische Lampchen auf dem Ihren gluht durch das Dunkel. Sie befanden sich folglich in der Liegekur, nach Pflicht, Vernunft und Vorschrift. 'Da liegt unsere schone Kranke', sage ich zu mir selbst, 'und beobachtet treulich die Verordnung, um baldigst heimkehren zu konnen in die Arme des Herrn Stohr.' Und vor wenigen Minuten, was hore ich? Da? Sie zu derselben Stunde im cinematografo(Herr

Settembrini sprach das Wort italienisch aus, mit dem Akzent auf der vierten Silbe) - im cinematografo der Kurhausarkaden gesehen worden sind und hernach noch in der Konditorei bei Su?wein und irgendwelchen Baisers, und zwar ..."

Die Stohr wand sich in den Schultern, kicherte in ihre Serviette, stie? Joachim Ziem?en und den stillen Dr. Blumenkohl mit den Ellenbogen in die Seiten, zwinkerte listig-vertraulich und gab auf alle Weise eine stockdumme Selbstgefalligkeit zu erkennen. Sie pflegte abends zur Tauschung der Aufsicht ihr brennendes Tischlampchen auf den Balkon hinauszustellen, sich heimlich davonzumachen und drunten im Englischen Viertel ihrer Zerstreuung nachzugehen. Ihr Mann wartete in Cannstatt auf sie. Ubrigens war sie nicht der einzige Patient, der diese Praktik ubte.

"... und zwar," fuhr Settembrini fort, "hatten Sie diese Baisers - in wessen Gesellschaft gekostet? In der Gesellschaft des Hauptmanns Miklosich aus Bukarest! Man versichert mir,er trage ein Korsett, aber mein Gott, wie wenig fallt das hier ins Gewicht! Ich beschwore Sie, Madame, wo waren Sie? Sie sind doppelt! Jedenfalls waren Sie eingeschlafen, und wahrend der irdische Teil Ihres Wesens einsam Liegekur machte, erlustierte sich der spirituelle in der Gesellschaft des Hauptmanns Miklosich und an seinen Baisers ..."

Frau Stohr wand und straubte sich, wie jemand, den man kitzelt.

"Man wei? nicht, ob man das Umgekehrte wunschen soll", sagte Settembrini. "Da? Sie die Baisers allein genossen und die Liegekur mit dem Hauptmann Miklosich ausgeubt hatten ..."

"Hi, hi, hi ..."

"Kennen die Herrschaften die vorgestrige Geschichte?" fragte der Italiener unvermittelt. "Jemand ist abgeholt worden, - vom Teufel geholt, oder eigentlich von seiner Frau Mutter, einer tatkraftigen Dame, sie hat mir gefallen. Es ist der junge Schneermann, Anton Schneermann, der dort vorn am Tische von Mademoiselle Kleefeld sa?, - Sie sehen, sein Platz ist leer. Er wird bald genug wieder besetzt sein, ich mache mir keine Sorge, aber Anton ist fort auf Sturmesschwingen, im Hui und eh ers gedacht. Anderthalb Jahre war er hier - mit seinen sechzehn; es waren ihm eben noch sechs Monate zugelegt worden. Und was geschieht? Ich wei? nicht, wer Madame Schneermann ein Wort hatte zuflie?en lassen, auf jeden Fall hatte sie Wind bekommen von dem Wandel ihres Sohnchens in Baccho et ceteris. Unangemeldet erscheint

sie auf dem Plan, eine Matrone - drei Kopfe gro?er als ich, wei?haarig und zornmutig, zieht Herrn Anton, ohne zu reden, ein paar Ohrfeigen herunter, nimmt ihn beim Kragen und setzt ihn auf die Bahn. 'Soll er zu Grund gehen,' sagt sie, 'so kann ers auch unten.' Und fort gehts nach Hause."

Man lachte, soweit man in Horweite sa?, denn Herr Settembrini erzahlte drollig. Er zeigte sich auf dem Laufenden uber die letzten Neuigkeiten, obgleich er sich doch gegen das Gemeinschaftsleben Derer hier oben so kritisch-spottisch verhielt. Er wu?te alles. Er kannte die Namen und ungefahr auch die Lebensumstande Neuangekommener; er berichtete, da? gestern bei dem und dem oder der und der eine Rippenresektion vorgenommen worden und hatte es aus bester Quelle, da? vom Herbst an Kranke uber 38,5 Grad nicht mehr aufgenommen werden wurden. In der letzten Nacht hatte sich, seiner Erzahlung nach, das Hundchen der Madame Capatsoulias aus Mytilene auf den Knopf des elektrischen Lichtsignals auf dem Nachttisch seiner Herrin gesetzt, woraus viel Rennerei und Tumult entstanden war, besonders, da man Madame Capatsoulias nicht allein, sondern in Gesellschaft des Assessors Dustmund aus Friedrichshagen gefunden habe. Selbst Dr. Blumenkohl mu?te lacheln uber diese Geschichte, die hubsche Marusja wollte in ihrem Orangentuchlein fast ersticken, und Frau Stohr schrie gellend, indem sie die linke Brust mit beiden Handen pre?te.

Aber mitden Vettern sprach Lodovico Settembrini auch von sich selbst und seiner Herkunft, sei es auf den Spaziergangen, gelegentlich der Abendgeselligkeit oder nach beendetem Mittagstisch, wenn die gro?e Mehrzahl der Patienten den Saal schon verlassen hatte und die drei Herren noch eine Weile an ihrem Tafelende sitzenblieben, wahrend die Saaltochter abraumten und Hans Castorp seine Maria Mancini rauchte, deren Wurze er in der dritten Woche wieder ein wenig zu schmecken begann. Aufmerksam prufend, befremdet, aber willig sich beeinflussen zu lassen, horte er den Erzahlungen des Italieners zu, die ihm eine sonderbare, durchaus neuartige Welt eroffneten.

Settembrini sprach von seinem Gro?vater, der zu Mailand Advokat, hauptsachlich aber ein gro?er Patriot gewesen und etwas wie einen politischen Agitator, Redner und Zeitschriften-Mitarbeiter vorgestellt hatte, - auch er ein Oppositionsmann, gleich dem Enkel, doch hatte er das Ding in gro?erem, kuhnerem Stile betrieben. Denn wahrend Lodovico, wie er selber mit Bitterkeit bemerkte, sich darauf angewiesen

fand, das Leben und Treiben im Internationalen Sanatorium Berghof zu hecheln, hohnische Kritik daran zu uben und im Namen einer schonen und tatfrohen Menschlichkeit Verwahrung dagegen einzulegen, hatte jener den Regierungen zu schaffen gemacht, gegen Osterreich und die Heilige Allianz konspiriert, die damals sein zerstuckeltes Vaterland im Banne dumpfer Knechtschaft gehalten hatten, und war eifriges Mitglied gewisser, uber Italien verbreiteter geheimer Gesellschaften gewesen, - ein Carbonaro, wie Settembrini mit plotzlich gesenkter Stimme erklarte, als sei es auch jetzt noch gefahrlich, davon zu sprechen. Kurz, dieser Giuseppe Settembrini stellte sich, nach den Erzahlungen des Enkels, den beiden Zuhorern als eine dunkle, leidenschaftliche und wuhlerische Existenz, als ein Radelsfuhrer und Verschworer dar, und bei aller Achtung, deren sie sich hoflicherweise beflei?igten, gelang es ihnen nicht ganz, einen Ausdruck mi?trauischer Abneigung, ja des Widerwillens aus ihren Zugen zu verbannen. Freilich lagen die Dinge besonders: was sie horten, war lange her, fast hundert Jahre, es war Geschichte, und aus der Geschichte, namentlich der alten, war ihnen das Wesen, von dem sie hier vernahmen, die Erscheinung verzweifelten Freiheitsmutes und unbeugsamen Tyrannenhasses theoretisch vertraut, obwohl sie nie gedacht hatten, so menschlich unmittelbar mit ihm in Beruhrung zu kommen. Auch hatte sich mit dem Aufruhrer- und Konspirantentum dieses Gro?vaters, wie sie horten, eine gro?e Liebe zu seinem Vaterlande verbunden, das er einig und frei wissen wollte, - ja, sein umsturzlerisches Betreiben war Frucht und Ausflu? dieser achtbaren Verbundenheit gewesen, und wie sonderbar die Mischung von Aufruhrerei und Patriotismus die Vettern, einen wie den andern, auch anmutete - denn sie waren gewohnt, vaterlandische Gesinnung mit einem erhaltenden Ordnungssinn gleichzusetzen -, so mu?ten sie bei sich selber doch zugeben, da?, wie dort und damals alles sich verhalten hatte, Rebellion mit Burgertugend und loyale Gesetztheit mit trager Gleichgultigkeit gegen das offentliche Wesen mochte gleichbedeutendgewesen sein.

Aber nicht nur ein italienischer Patriot war Gro?vater Settembrini gewesen, sondern Mitburger und Mitstreiter aller nach Freiheit durstenden Volker. Denn nach dem Scheitern eines gewissen Hand- und Staatsstreichversuches, den man in Turin unternommen, und an dem er mit Wort und Tat beteiligt gewesen, nur mit genauer Not den Haschern des Fursten Metternich entkommen, hatte er die Zeit seiner Verbannung dazu benutzt, in Spanien fur die Konstitution und in Griechenland fur die Unabhangigkeit des hellenischen Volkes zu kampfen und zu bluten. Hier

war Settembrinis Vater zur Welt gekommen, - weshalb er denn wohl auch ein so gro?er Humanist und Liebhaber des klassischen Altertums geworden war, - geboren ubrigens von einer Mutter deutschen Blutes, denn Giuseppe hatte das Madchen in der Schweiz geheiratet und bei seinen weiteren Abenteuern mit sich gefuhrt. Spater, nach zehnjahriger Landfluchtigkeit, hatte er in die Heimat zuruckkehren konnen und zu Mailand als Advokat gewirkt, keineswegs aber darauf verzichtet, die Nation durch das gesprochene und geschriebene Wort, in Vers und Prosa zur Freiheit und zur Herstellung der einheitlichen Republik aufzurufen, staatsumwalzende Programme mit leidenschaftlich diktatorischem Schwung zu entwerfen und klaren Stiles die Vereinigung der befreiten Volker zur Errichtung des allgemeinen Gluckes zu verkunden. Eine Einzelheit, deren Settembrini, der Enkel, erwahnte, machte besonderen Eindruck auf den jungen Hans Castorp: da? namlich Gro?vater Giuseppe sich zeit seines Lebens ausschlie?lich in schwarzer Trauerkleidung unter seinen Mitburgern gezeigt habe, denn er sei ein Leidtragender, habe er gesagt, um Italien, sein Vaterland, das in Elend und Knechtschaft dahinschmachte. Bei dieser Nachricht mu?te Hans Castorp, wie er es ubrigens schon vorher ein paarmal vergleichend getan hatte, an seinen eigenen Gro?vater denken, der ebenfalls, solange der Enkel ihn kannte, sich allezeit schwarz getragen hatte, aber in grundlich anderem Sinne, als dieser Gro?vater hier: an die altmodische Tracht dachte er, mit der Hans Lorenz Castorps eigentliches, einer vergangenen Zeit angehoriges Wesen sich behelfsweise und unter Andeutung seiner Unzugehorigkeit der Gegenwart angepa?t hatte, bis es im Tode zu seiner wahren und angemessenen Gestalt(mit der Tellerkrause) feierlich eingegangen war. Zwei auffallend verschiedenartige Gro?vater waren das wahrhaftig gewesen! Hans Castorp dachte daruber nach, indes seine Augen sich festsahen und er vorsichtig den Kopf schuttelte, so, da? es ebensogut als ein Zeichen der Bewunderung fur Giuseppe Settembrini, wie auch als Befremdung und Verneinung gedeutet werden konnte. Auch hutete er sich redlich, das Fremdartige zu verurteilen, sondern hielt sich an, es bei Vergleich und Feststellung bewenden zu lassen. Er sah den schmalen Kopf des alten Hans Lorenz im Saale sich sinnend uber das schwachgoldene Rund der Taufschale, des stehend-wandernden Erbstuckes neigen, - gerundeten Mundes, denn seine Lippen bildeten die Vorsilbe "Ur", diesen dumpfen und frommen Laut, der an Orte erinnerte, an denen manin eine ehrerbietig vorwarts wiegende Gangart verfiel. Und er sah Giuseppe Settembrini, die Trikolore im Arm, mit geschwungenem

Sabel und den schwarzen Blick gelobend gen Himmel gewandt, einer Schar von Freiheitskampfern voran gegen die Phalanx des Despotismus sturmen. Beides hatte wohl seine Schonheit und Ehre, dachte er, um Billigkeit desto mehr bemuht, als er sich personlich oder halb personlich ein wenig Partei fuhlte. Denn Gro?vater Settembrini hatte ja um politische Rechte gestritten, seinem eigenen Gro?vater aber oder doch dessen Vorvatern hatten ursprunglich alle Rechte gehort, und die Krapule hatte sie ihnen im Laufe von vier Jahrhunderten mit Gewalt und Redensarten entrissen ... Da waren sie nun beide immer in Schwarz gegangen, der Gro?vater im Norden und der im Suden, und beide zu dem Zweck, einen strengen Abstand zwischen sich und die schlechte Gegenwart zu legen. Aber der eine hatte es aus Frommigkeit getan, der Vergangenheit und dem Tode zu Ehren, denen sein Wesen angehorte; der andere dagegen aus Rebellion und zu Ehren eines frommigkeitsfeindlichen Fortschritts. Ja, das waren zwei Welten oder Himmelsgegenden, dachte Hans Castorp, und wie er gleichsam zwischen ihnen stand, wahrend Herr Settembrini erzahlte, und prufend bald in die eine, bald in die andere blickte, so, meinte er, habe er es schon einmal erfahren. Er erinnerte sich einer einsamen Kahnfahrt im Abendzwielicht auf einem holsteinischen See, im Spatsommer, vor einigen Jahren. Um sieben Uhr war es gewesen, die Sonne war schon hinab, der annahernd volle Mond im Osten uber den buschigen Ufern schon aufgegangen. Da hatte zehn Minuten lang, wahrend Hans Castorp sich uber die stillen Wasser dahinruderte, eine verwirrende und traumerische Konstellation geherrscht. Im Westen war heller Tag gewesen, ein glasig nuchternes, entschiedenes Tageslicht; aber wandte er den Kopf, so hatte er in eine ebenso ausgemachte, hochst zauberhafte, von feuchten Nebeln durchsponnene Mondnacht geblickt. Das sonderbare Verhaltnis hatte wohl eine knappe Viertelstunde bestanden, bevor es sich zugunsten der Nacht und des Mondes ausgeglichen, und mit heiterem Staunen waren Hans Castorps geblendete und vexierte Augen von einer Beleuchtung und Landschaft zur anderen, vom Tage in die Nacht und aus der Nacht wieder in den Tag gegangen. Daran also mu?te er denken.

Ein gro?er Rechtsgelehrter, dachte er ferner, konnte Advokat Settembrini bei seiner Lebensfuhrung und seinem ausgedehnten Betreiben nicht gut geworden sein. Aber der allgemeine Grundsatz des Rechtes hatte ihn, wie der Enkel glaubhaft machte, von Kindesbeinen bis an sein Lebensende beseelt, und Hans Castorp, obgleich zur Zeit nicht eben scharf im Kopfe und von einer sechsgangigen Berghof-Mahlzeit

organisch stark in Anspruch genommen, bemuhte sich, zu verstehen, wie Settembrini es meinte, wenn er diesen Grundsatz "die Quelle der Freiheit und des Fortschritts" nannte. Unter dem letzteren hatte Hans Castorpbisher so etwas verstanden, wie die Entwicklung des Hebezeug-Wesens im neunzehnten Jahrhundert; und er fand denn auch, da? Herr Settembrini solche Dinge nicht niedrig einschatzte, was offenbar auch sein Gro?vater nicht getan. Der Italiener erzeigte dem Vaterlande seiner beiden Zuhorer hohe Ehre in Hinsicht darauf, da? dort das Schie?pulver erfunden worden sei, welches den Harnisch des Feudalismus zum Gerumpel gemacht habe, sowie die Druckerpresse: denn diese habe die demokratische Verbreitung der Ideen - das hei?e: die Verbreitung der demokratischen Ideen ermoglicht. Er lobte also Deutschland in diesem Betracht und, soweit die Vergangenheit in Frage kam, wenn er auch seinem eigenen Lande billig die Palme glaubte reichen zu sollen, da es, wahrend die anderen Volker noch in Aberglauben und Knechtschaft dammerten, als erstes die Fahne der Aufklarung, Bildung und Freiheit entrollt habe. Wenn er aber der Technik und dem Verkehr, Hans Castorps personlichem Arbeitsgebiet, viel Reverenz erwies, wie er es schon bei seiner ersten Begegnung mit den Vettern bei der Bank am Abhange getan, so schien es doch nicht um dieser Machte selbst willen zu geschehen, sondern in Anbetracht ihrer Bedeutung fur die moralische Vervollkommnung der Menschen, - denn eine solche Bedeutung erklarte er freudig ihnen beizumessen. Indem die Technik, sagte er, mehr und mehr die Natur sich unterwerfe, durch die Verbindungen, welche sie schaffe, den Ausbau der Stra?ennetze und Telegraphen, die klimatischen Unterschiede besiege, erweise sie sich als das verlassigste Mittel, die Volker einander nahe zu bringen, ihre gegenseitige Bekanntschaft zu fordern, menschlichen Ausgleich zwischen ihnen anzubahnen, ihre Vorurteile zu zerstoren und endlich ihre allgemeine Vereinigung herbeizufuhren. Das Menschengeschlecht komme aus Dunkel, Furcht und Ha?, jedoch auf glanzendem Wege bewege es sich vorwarts und aufwarts einem Endzustande der Sympathie, der inneren Helligkeit, der Gute und des Gluckes entgegen, und auf diesem Wege sei die Technik das forderlichste Vehikel, sagte er. Aber indem er so sprach, fa?te er in einer Auslassung des Atems Kategorien zusammen, die Hans Castorp bisher nur weit voneinander getrennt zu denken gewohnt gewesen war. Technik und Sittlichkeit! sagte er. Und dann sprach er wahrhaftig vom Heilande des Christentums, der das Prinzip der Gleichheit und der Vereinigung zuerst offenbart, worauf die Druckerpresse die Verbreitung

dieses Prinzipes machtig gefordert und endlich die gro?e franzosische Staatsumwalzung es zum Gesetz erhoben habe. Das mutete den jungen Hans Castorp, wenn auch aus unbestimmten Grunden, so doch in der Tat auf das allerbestimmteste konfus an, obwohl Herr Settembrini es in so klare und pralle Worte fa?te. Einmal, erzahlte dieser, einmal in seinem Leben, und zwar zu Beginn seines besten Mannesalters, habe sein Gro?vater sich recht von Herzen glucklich gefuhlt, und das sei zur Zeit der Pariser Juli-Revolution gewesen. Laut und offentlich habe er damals dasWort gesprochen, da? alle Menschen dereinst jene drei Tage von Paris neben die sechs Tage der Weltschopfung stellen wurden. Hier konnte Hans Castorp nicht umhin, mit der Hand auf den Tisch zu schlagen und sich bis in den Grund seiner Seele zu wundern. Da? man drei Sommertage des Jahres 1830, an welchen die Pariser sich eine neue Verfassung gegeben, neben die sechs stellen solle, in denen Gott der Herr die Feste von den Wassern geschieden und die ewigen Himmelslichter sowie Blumen, Baume, Vogel, Fische und alles Leben geschaffen hatte, schien ihm stark, und noch nachher, allein mit seinem Vetter Joachim, ausdrucklich und gesprachsweise, fand er es uberaus stark, ja geradezu ansto?ig.

Aber er war guten Willens, sich beeinflussen zu lassen, im Sinne des Wortes, da? es angenehm sei, Versuche anzustellen, und so legte er dem Proteste, den seine Pietat und sein Geschmack gegen die Settembrinische Anordnung der Dinge erhoben, Zugel an, in der Erwagung, da?, was ihm lasterlich vorkam, Kuhnheit genannt werden konne und, was ihn abgeschmackt anmutete, Hochherzigkeit und edelmutiger Uberschwang wenigstens dort und damals gewesen sein mochte: so zum Beispiel, wenn Gro?vater Settembrini die Barrikaden den "Volksthron" genannt und erklart hatte, es gelte, "die Pike des Burgers am Altar der Menschheit zu weihen".

Hans Castorp wu?te, warum er Herrn Settembrini zuhorte, nicht ausdrucklich, aber er wu?te es. Etwas wie Pflichtgefuhl war dabei, au?er jener Ferien-Verantwortungslosigkeit des Reisenden und Hospitanten, der sich gegen keinen Eindruck verhartet und die Dinge an sich herankommen la?t, in dem Bewu?tsein, da? er morgen oder ubermorgen wieder die Flugel luften und in die gewohnte Ordnung zuruckkehren wird: - etwas wie eine Gewissensvorschrift also, und zwar, um genau zu sein, die Vorschrift und Mahnung eines irgendwie schlechten Gewissens, bestimmte ihn, dem Italiener zuzuhoren, ein Bein uber das andere

geschlagen und an seiner Maria Mancini ziehend, oder wenn sie zu dritt vom Englischen Viertel gegen den Berghof emporstiegen.

Nach Settembrinis Anordnung und Darstellung lagen zwei Prinzipien im Kampf um die Welt: die Macht und das Recht, die Tyrannei und die Freiheit, der Aberglaube und das Wissen, das Prinzip des Beharrens und dasjenige der garenden Bewegung, des Fortschritts. Man konnte das eine das asiatische Prinzip, das andere aber das europaische nennen, denn Europa war das Land der Rebellion, der Kritik und der umgestaltenden Tatigkeit, wahrend der ostliche Erdteil die Unbeweglichkeit, die untatige Ruhe verkorperte. Gar kein Zweifel, welcher der beiden Machte endlich der Sieg zufallen wurde, - es war die der Aufklarung, der vernunftgema?en Vervollkommnung. Denn immer neue Volker raffte die Menschlichkeit auf ihrem glanzenden Wege mit fort, immer mehr Erde eroberte sie in Europa selbst und begann, nach Asien vorzudringen. Doch fehlte noch viel an ihrem vollen Siege,und noch gro?e und edelmutige Anstrengungen waren von den Wohlgesinnten, von denen, welche das Licht erhalten hatten, zu machen, bis nur erst der Tag kam, wo auch in den Landern unseres Erdteils, die in Wahrheit weder ein achtzehntes Jahrhundert noch ein 1789 erlebt hatten, die Monarchien und Religionen zusammensturzen wurden. Aber dieser Tag werde kommen, sagte Settembrini und lachelte fein unter seinem Schnurrbart, - er werde, wenn nicht auf Taubenfu?en, so auf Adlersschwingen kommen und anbrechen als die Morgenrote der allgemeinen Volkerverbruderung im Zeichen der Vernunft, der Wissenschaft und des Rechtes; die heilige Allianz der burgerlichen Demokratie werde er bringen, das leuchtende Gegenstuck zu jener dreimal infamen Allianz der Fursten und Kabinette, deren personlicher Todfeind Gro?vater Giuseppe gewesen, - mit einem Worte die Weltrepublik. Zu diesem Endziele aber war vor allem erforderlich, das asiatische, das knechtische Prinzip der Beharrung im Mittelpunkte und Lebensnerv seines Widerstandes zu treffen, namlich in Wien. Osterreich gelte es aufs Haupt zu schlagen und zu zerstoren, einmal um Rache zu nehmen fur Vergangenes und dann, um die Herrschaft des Rechtes und Gluckes auf Erden in die Wege zu leiten.

Diese letzte Wendung und Schlu?folgerung von Settembrinis wohllautenden Ergie?ungen interessierte Hans Castorp nun gar nicht mehr, sie mi?fiel ihm, ja beruhrte ihn peinlich wie eine personliche oder nationale Verbissenheit, sooft sie wiederkehrte, - von Joachim Ziem?en

zu schweigen, der, wenn der Italiener in dieses Fahrwasser geriet, mit verfinsterten Brauen den Kopf abwandte und nicht mehr zuhorte, auch wohl zum Kurdienste mahnte oder das Gesprach abzulenken suchte. Auch Hans Castorp fuhlte sich nicht gehalten, solchen Abwegigkeiten Aufmerksamkeit zu schenken, - offenbar lagen sie au?er der Grenze dessen, wovon versuchsweise sich beeinflussen zu lassen eine Gewissensvorschrift ihn mahnte, und zwar so vernehmbar mahnte, da? er selbst, wenn Herr Settembrini sich zu ihnen setzte oder im Freien sich ihnen anschlo?, ihn aufforderte, sich uber seine Ideen zu au?ern.

Diese Ideen, Ideale und Willensstrebungen, bemerkte Settembrini, seien Familienuberlieferung in seinem Hause. Denn alle drei hatten sie ihnen ihr Leben und ihre Geisteskrafte gewidmet, der Gro?vater, Vater und Enkel, ein jeder nach seiner Art: der Vater nicht weniger als der Gro?vater Giuseppe, obgleich er nicht, wie dieser, ein politischer Agitator und Freiheitskampfer, sondern ein stiller und zarter Gelehrter, ein Humanist an seinem Pulte gewesen sei. Was aber sei denn der Humanismus? Liebe zum Menschen sei er, nichts weiter, und damit sei er auch Politik, sei er auch Rebellion gegen alles, was die Idee des Menschen besudele und entwurdige. Man habe ihm eine ubertriebene Schatzung der Form zum Vorwurf gemacht; aber auch die schone Form pflege er lediglich um der Wurde des Menschen willen, im glanzenden Gegensatze zum Mittelalter, das nicht allein in Menschenfeindschaftund Aberglauben, sondern auch in schimpfliche Formlosigkeit versunken gewesen sei, und von allem Anbeginn habe er die Sache des Menschen, die irdischen Interessen, habe er Gedankenfreiheit und Lebensfreude verfochten und dafur gehalten, da? der Himmel billig den Spatzen zu uberlassen sei. Prometheus! Er sei der erste Humanist gewesen, und er sei identisch mit jenem Satanas, auf den Carducci seine Hymne gedichtet ... Ach, mein Gott, die Vettern hatten den alten Kirchenfeind zu Bologna gegen die christliche Empfindsamkeit der Romantiker sollen sticheln und wettern horen! Gegen Manzonis heilige Gesange! Gegen die Schatten- und Mondscheinpoesie des Romanticismo, den er der "bleichen Himmelsnonne Luna" verglichen habe! Per Bacco, es sei ein Hochgenu? gewesen! Und horen sollen hatten sie auch, wie er, Carducci, Dante ausgelegt habe, - als Burger einer Gro?stadt habe er ihn gefeiert, der gegen Askese und Weltverneinung die Tatkraft, die umwalzende und weltverbessernde, verteidigt habe. Denn nicht den kranklichen und mystagogischen Schatten der Beatrice habe der Dichter mit dem Namen der "Donna gentile e pietosa" geehrt; so hei?e vielmehr seine Gattin, die

im Gedicht das Prinzip der diesseitigen Erkenntnis, der praktischen Lebensarbeit verkorpere ...

Da hatte Hans Castorp nun auch dies und das uber Dante gehort, und zwar aus bester Quelle. Ganz fest verlie? er sich nicht darauf, in Anbetracht der Windbeutelei des Vermittlers; aber horenswert war es immerhin, da? Dante ein geweckter Gro?stadter gewesen sei. Und dann horte er weiter zu, wie Settembrini von sich selber sprach und erklarte, in seiner, des Enkels Lodovico, Person nun aber hatten die Tendenzen seiner unmittelbaren Vorfahren, die staatsburgerliche des Gro?vaters und die humanistische des Vaters, sich vereinigt, indem er namlich ein Literat, ein freier Schriftsteller geworden sei. Denn die Literatur sei nichts anderes als eben dies: sie sei die Vereinigung von Humanismus und Politik, welche sich um so zwangloser vollziehe, als ja Humanismus selber schon Politik und Politik Humanismus sei ... Hier horchte Hans Castorp auf und gab sich Muhe, es recht zu verstehen; denn er durfte nun hoffen, Bierbrauer Magnussens ganze Unbelehrtheit einzusehen und zu erfahren, inwiefern die Literatur denn doch noch etwas anderes sei als "schone Charaktere". Ob, fragte Settembrini, seine Zuhorer je von Herrn Brunetto gehort hatten, Brunetto Latini, Stadtschreiber von Florenz um 1250, der ein Buch uber die Tugenden und die Laster geschrieben? Dieser Meister zuerst habe den Florentinern Schliff gegeben und sie das Sprechen gelehrt sowie die Kunst, ihre Republik nach den Regeln der Politik zu lenken. "Da haben Sie es, meine Herren!" rief Settembrini. "Da haben Sie es!" Und er sprach vom "Worte", vom Kultus des Wortes, der Eloquenz, die er den Triumph der Menschlichkeit nannte. Denn das Wort sei die Ehre des Menschen, und nur dieses machedas Leben menschenwurdig. Nicht nur der Humanismus, - Humanitat uberhaupt, alle Menschenwurde, Menschenachtung und menschliche Selbstachtung sei untrennbar mit dem Worte, mit Literatur verbunden -("Siehst du wohl," sagte Hans Castorp spater zu seinem Vetter, "siehst du wohl, da? es in der Literatur auf die schonen Worte ankommt? Ich habe es gleich gemerkt."), - und so sei auch die Politik mit ihr verbunden, oder vielmehr: sie gehe hervor aus dem Bundnis, der Einheit von Humanitat und Literatur, denn das schone Wort erzeuge die schone Tat. "Sie hatten in Ihrem Lande," sagte Settembrini, "vor zweihundert Jahren einen Dichter, einen prachtigen alten Plauderer, der gro?es Gewicht auf eine schone Handschrift legte, weil er meinte, da? eine solche zum schonen Stile fuhre. Er hatte ein wenig weiter gehen sollen und sagen, da? ein schoner Stil zu schonen Handlungen fuhre." Schon schreiben, das hei?e

beinahe auch schon schon denken, und von da sei nicht weit mehr zum schonen Handeln. Alle Sittigung und sittliche Vervollkommnung entstamme dem Geiste der Literatur, diesem Geiste der Menschenehre, welcher zugleich auch der Geist der Humanitat und der Politik sei. Ja, dies alles sei eins, sei ein und dieselbe Macht und Idee, und in einen Namen konne man es zusammenfassen. Wie dieser Name laute? Nun, dieser Name setze sich aus vertrauten Silben zusammen, deren Sinn und Majestat die Vettern aber gewi? so recht noch niemals begriffen hatten, - er laute: Zivilisation! Und indem Settembrini dies Wort von den Lippen lie?, warf er seine kleine, gelbe Rechte empor, wie jemand, der einen Toast ausbringt.

Dies alles fand der junge Hans Castorp horenswert, zwar unverbindlicherweise und mehr zum Versuch, doch horenswert auf alle Falle fand er, da? es sei, und sprach sich in diesem Sinne auch gegen Joachim Ziem?en daruber aus, der aber gerade das Thermometer im Munde hatte und also nur undeutlich antworten konnte, danach auch allzu beschaftigt war, die Ziffer abzulesen und in die Tabelle einzutragen, um sich zu Settembrinis Aspekten au?ern zu konnen. Hans Castorp, wie wir sagten, nahm gutwillig Kenntnis davon und offnete ihnen zur Prufung sein Inneres: woraus vor allem erhellt, wie vorteilhaft der wachende Mensch sich von dem blode traumenden unterscheidet, - als welcher Hans Castorp Herrn Settembrini schon mehrmals ins Gesicht hinein einen Drehorgelmann geschimpft und ihn aus allen Kraften von der Stelle zu drangen versucht hatte, weil er "hier store"; als Wachender aber horte er ihm hoflich und aufmerksam zu und suchte rechtlich gesinnt die Widerstande auszugleichen und niederzuhalten, die sich gegen des Mentors Anordnungen und Darstellungen in ihm erheben wollten. Denn da? gewisse Widerstande in seiner Seele sich regten, soll nicht geleugnet werden: es waren solche, die von fruher her, ursprunglich und immer schon darinvorhanden gewesen, wie auch solche, die sich aus der gegenwartigen Sachlage besonders ergaben, aus seinen teils mittelbaren, teils verschwiegenen Erlebnissen bei Denen hier oben.

Was ist der Mensch, wie leicht betrugt sich doch sein Gewissen! Wie versteht er es, noch aus der Stimme der Pflicht die Erlaubnis zur Leidenschaft herauszuhoren! Aus Pflichtgefuhl, um der Billigkeit, des Gleichgewichts willen horte Hans Castorp Herrn Settembrini zu und prufte wohlmeinend seine Aspekten uber die Vernunft, die Republik und

den schonen Stil, bereit, sich davon beeinflussen zu lassen. Desto statthafter aber fand er es hinterdrein, seinen Gedanken und Traumen wieder in anderer, in entgegengesetzter Richtung freien Lauf zu lassen, - ja, um unseren ganzen Verdacht oder unsere ganze Einsicht auszusprechen, so hatte er wohl gar Herrn Settembrini nur zu dem Zwecke gelauscht, von seinem Gewissen einen Freibrief zu erlangen, den es ihm ursprunglich nicht hatte ausfertigen wollen. Was oder wer aber befand sich auf dieser anderen, dem Patriotismus, der Menschenwurde und der schonen Literatur entgegengesetzten Seite, wohin Hans Castorp sein Sinnen und Betreiben nun wieder lenken zu durfen glaubte? Dort befand sich ... Clawdia Chauchat, - schlaff, wurmstichig und kirgisenaugig; und indem Hans Castorp ihrer gedachte(ubrigens ist "gedenken" ein allzu gezugelter Ausdruck fur seine Art, sich ihr innerlich zuzuwenden), war es ihm wieder, als sa?e er im Kahn auf jenem holsteinischen See und blicke aus der glasigen Tageshelle des westlichen Ufers vexierten und geblendeten Auges hinuber in die nebeldurchsponnene Mondnacht der ostlichen Himmel.

Das Thermometer

Hans Castorps Woche lief hier von Dienstag bis Dienstag, denn an einem Dienstag war er ja angekommen. Da? er im Bureau seine zweite Wochenrechnung beglichen hatte, lag schon ein paar Tage zuruck, - die bescheidene Wochenrechnung von rund 160 Franken, bescheiden und billig nach seinem Urteil, selbst wenn man die Unbezahlbarkeiten des hiesigen Aufenthalts, eben ihrer Unbezahlbarkeit wegen, uberhaupt nicht in Anschlag brachte, auch nicht gewisse Darbietungen, die wohl berechenbar gewesen waren, wenn man gewollt hatte, wie zum Exempel die vierzehntagige Kurmusik und die Vortrage Dr. Krokowskis, sondern allein und ausschlie?lich die eigentliche Bewirtung und gasthausma?ige Leistung, das bequeme Logis, die funf ubergewaltigen Mahlzeiten.

"Es ist nicht viel, es ist eher billig, du kannst nicht klagen, da? man dich uberfordert hier oben", sagte der Hospitant zu dem Eingesessenen. "Du brauchst also rund 650 Franken den Monat fur Wohnung und Essen, und dabei ist ja die arztliche Behandlung schon einbegriffen. Gut. Nimm an, du wirfst im Monat noch drei?ig Franken fur Trinkgelder aus, wenn du anstandig bist und Wert legst auf freundliche Gesichter. Das sind 680 Franken. Gut. Du wirst mir sagen, da? es noch Spesen und Sporteln gibt. Man hat Auslagen fur Getranke, fur Kosmetik, fur Zigarren, man macht

mal einen Ausflug, eine Wagenfahrt, wenndu willst, und dann und wann gibt es eine Schuster- oder Schneiderrechnung. Gut, aber bei alldem bringst du mit dem besten Willen noch keine tausend Franken im Monat unter! Noch keine achthundert Mark! Das sind noch keine 10000 Mark im Jahr. Mehr ist es auf keinen Fall. Davon lebst du."

"Kopfrechnen lobenswert", sagte Joachim. "Ich wu?te gar nicht, da? du so gewandt darin bist. Und da? du gleich die Jahreskalkulation aufstellst, das finde ich gro?zugig von dir, entschieden hast du schon etwas gelernt hier oben. Ubrigens rechnest du zu hoch. Ich rauche ja keine Zigarren, und Anzuge hoffe ich mir hier auch nicht machen lassen zu mussen, ich danke!"

"Also sogar noch zu hoch", sagte Hans Castorp etwas verwirrt. Aber wie es nun gekommen sein mochte, da? er seinem Vetter Zigarren und neue Anzuge in Rechnung gestellt hatte, - was sein behendes Kopfrechnen betraf, so war das nichts weiter als Blendwerk und Irrefuhrung uber seine naturlichen Gaben. Denn wie in allen Stucken, war er auch hierin eher langsam und bar des Feuers, und seine rasche Ubersicht in diesem Falle war keine Stegreifleistung, sondern beruhte auf Vorbereitung, und zwar auf schriftlicher Vorbereitung, indem namlich Hans Castorp eines Abends wahrend der Liegekur(denn er legte sich abends nun doch hinaus, da alle es taten) eigens von seinem vorzuglichen Liegestuhl aufgestanden war, um sich, einem plotzlichen Einfall folgend, aus dem Zimmer Papier und Bleistift zum Rechnen zu holen. Damit hatte er denn festgestellt, da? sein Vetter, oder vielmehr, da? man uberhaupt hier alles in allem 12000 Franken pro Jahr benotige und sich zum Spa?e innerlich klargemacht, da? er fur seine Person dem Leben hier oben wirtschaftlich mehr als gewachsen sei, da er sich als einen Mann von 18-19000 Franken jahrlich betrachten durfte.

Seine zweite Wochenrechnung also war vor drei Tagen gegen Dank und Quittung geregelt worden, was so viel hei?en will, wie da? er sich mitten in der dritten und plangema? letzten Woche seines Aufenthaltes hier oben befand. Am kommenden Sonntag wurde er noch eines der vierzehntagig wiederkehrenden Kurkonzerte hier miterleben und am Montag noch einem der ebenfalls vierzehntagig sich wiederholenden Vortrage Dr. Krokowskis beiwohnen, - sagte er zu sich selbst und zu seinem Vetter; am Dienstag oder Mittwoch aber wurde er reisen und Joachim wieder allein hier zurucklassen, den armen Joachim, dem Radamanth noch wer wei? wie viele Monate zudiktiert hatte, und dessen

sanfte, schwarze Augen sich jedesmal wehmutig verschleierten, wenn von Hans Castorps rapid heranruckender Abreise die Rede war. Ja, gro?er Gott, wo war diese Ferienzeit geblieben! Verronnen, verflogen, enteilt, - man wu?te wahrhaftig nicht recht zu sagen, wie. Es waren doch schlie?lich einundzwanzig Tage gewesen, die sie hatten miteinander verleben sollen, einelange Reihe, nicht leicht zu ubersehen am Anfang. Und nun waren auf einmal nur noch drei, vier geringfugige Tage davon ubrig, ein wenig betrachtlicher Restbestand, etwas beschwert allerdings durch die beiden periodischen Abwandlungen des Normaltages, aber schon erfullt von Pack- und Abschiedsgedanken. Drei Wochen waren eben so gut wie nichts hier oben, - sie hatten es ihm ja alle gleich gesagt. Die kleinste Zeiteinheit war hier der Monat, hatte Settembrini gesagt, und da Hans Castorps Aufenthalt sich unter dieser Gro?e hielt, so war er eben ein Nichts von einem Aufenthalt und eine Stippvisite, wie Hofrat Behrens sich ausgedruckt hatte. Ob es vielleicht an der erhohten Allgemeinverbrennung lag, da? die Zeit hier so im Handumdrehen verging? Solche Raschlebigkeit war ja ein Trost fur Joachim in Hinsicht auf die funf Monate, die ihm noch bevorstanden, falls es bei funfen sein Bewenden haben wurde. Aber wahrend dieser drei Wochen hatten sie der Zeit etwas besser aufpassen sollen, so, wie es wahrend des Messens geschah, wo dann die vorgeschriebenen sieben Minuten zu einer so bedeutenden Zeitspanne wurden ... Hans Castorp fuhlte herzliches Mitleid mit seinem Vetter, dem die Trauer uber den nahe bevorstehenden Verlust des menschlichen Gesellschafters in den Augen zu lesen war, - fuhlte in der Tat das starkste Mitleid mit ihm, wenn er bedachte, da? der Arme nun immerfort ohne ihn hierbleiben sollte, wahrend er selbst wieder im Flachland lebte und im Dienste der volkerverbindenden Verkehrstechnik tatig war: ein geradezu brennendes Mitleid, schmerzhaft fur die Brust in gewissen Augenblicken und, kurz, so lebhaft, da? er zuweilen ernstlich daran zweifelte, ob er es uber sich gewinnen und Joachim allein wurde hier oben lassen konnen. So sehr also brannte ihn manchmal das Mitleid, und dies war denn auch wohl der Grund, weshalb er selbst, von sich aus, weniger und weniger von seiner Abreise sprach: Joachim war es, der hin und wieder das Gesprach darauf brachte; Hans Castorp, wie wir sagten, schien aus naturlichem Takt und Feingefuhl bis zum letzten Augenblick nicht daran denken zu wollen.

"Nun wollen wir wenigstens hoffen," sagte Joachim, "da? du dich erholt hast bei uns und die Erfrischung spurst, wenn du hinunterkommst."

"Ja, ich werde also allerseits gru?en," erwiderte Hans Castorp, "und sagen, da? du spatestens in funf Monaten nachkommst. Erholt? Du meinst, ob ich mich erholt habe in diesen paar Tagen? Das will ich doch annehmen. Eine gewisse Erholung mu? selbst in so kurzer Zeit doch am Ende wohl stattgefunden haben. Allerdings waren es ja so neuartige Eindrucke hier oben, neuartig in jeder Beziehung, sehr anregend, aber auch anstrengend fur den Geist und den Korper, ich habe nicht das Gefuhl, mit ihnen schon fertig geworden zu sein und michakklimatisiert zu haben, was doch wohl die Vorbedingung aller Erholung ware. Maria ist gottlob die alte, seit einigen Tagen bin ich ihr wieder auf den Geschmack gekommen. Aber von Zeit zu Zeit wird immer noch mein Taschentuch rot, wenn ich es benutze, und die verdammte Hitze im Gesicht mitsamt dem sinnlosen Herzklopfen werde ich auch, wie es scheint, bis zum Schlu? nicht mehr loswerden. Nein, nein, von Akklimatisation kann man bei mir nicht gut reden, wie sollte man auch nach so kurzer Zeit. Da brauchte es langer, um sich hier zu akklimatisieren und mit den Eindrucken fertig zu werden, und dann konnte die Erholung beginnen und das Ansetzen von Eiwei?. Schade. Ich sage 'schade', weil es entschieden fehlerhaft war, da? ich mir nicht mehr Zeit fur diesen Aufenthalt vorbehielt, - zur Verfugung war sie ja schlie?lich gewesen. So ist mir zumute, als ob ich mich zu Hause im Flachland vor allem einmal von der Erholung werde erholen mussen und drei Wochen schlafen, so abgearbeitet komme ich mir manchmal vor. Und nun kommt ja argerlicherweise dieser Katarrh hinzu ..."

Es hatte namlich den Anschein gewonnen, als ob Hans Castorp mit einem Schnupfen erster Klasse im Flachlande wieder eintreffen sollte. Er hatte sich erkaltet, wahrscheinlich in der Liegekur, und zwar, um nochmals zu mutma?en, in der Abendliegekur, an der er sich seit etwa einer Woche beteiligte, trotz des na?kalten Wetters, das sich vor seiner Abreise nicht mehr bessern zu wollen schien. Er hatte aber erfahren, da? es als schlecht nicht anerkannt wurde; der Begriff des schlechten Wetters bestand uberhaupt nicht zu Recht hier oben, man furchtete kein Wetter, man nahm kaum Rucksicht darauf, und mit der weichen Gelehrigkeit der Jugend, ihrer ganzen Anpassungswilligkeit an die Gedanken und Gebrauche der Umgebung, in die sie sich eben versetzt findet, hatte Hans Castorp angefangen, sich diese Gleichgultigkeit zu eigen zu machen. Wenn es wie aus Kannen go?, so durfte man nicht glauben, da? deshalb die Luft weniger trocken sei. Das war sie wohl wirklich nicht, denn nach wie vor hatte man einen so hei?en Kopf davon,

wie von der einer uberheizten Stube, oder als ob man viel Wein getrunken. Was aber die Kalte anging, die erheblich war, so hatte es wenig Vernunft gehabt, sich vor ihr ins Zimmer zu fluchten; denn da es nicht schneite, wurde nicht geheizt, und im Zimmer zu sitzen war keineswegs behaglicher, als, im Winterpaletot und nach der Kunst in seine zwei guten Kamelhaardecken verpackt, in der Balkonloge zu liegen. Im Gegenteile und umgekehrt: dies letztere war das ganz unvergleichlich Behaglichere, es war, schlechthin geurteilt, die ansprechendste Lebenslage, die Hans Castorp je erprobt zu haben sich erinnerte, - einUrteil, in dem er sich dadurch nicht beirren lie?, da? irgendein Schriftsteller und Carbonaro sie mit einem boshaften Unter- und Nebensinn die "horizontale" Lebenslage nannte. Namentlich am Abend fand er sie ansprechend, wenn neben einem auf dem Tischchen das Lampchen gluhte und man, warm in den Decken, die wieder schmeckende Maria zwischen den Lippen und im Genu? aller schwer bestimmbaren Vorzuge des hiesigen Liegestuhltypus, mit freilich eisiger Nasenspitze und ein Buch - es war immer noch "Ocean steamships" - in den freilich arg verklammten, rot angelaufenen Handen, durch die Bogen der Loggia uber das dunkelnde, mit hier zerstreuten, dort dicht zusammentretenden Lichtern geschmuckte Tal hinblickte, aus welchem fast jeden Abend und wenigstens eine Stunde lang, Musik herauftonte, angenehm abgedampfte, vertraut melodische Klange: Opernfragmente waren es, Stucke aus "Carmen", aus dem "Troubadour" oder dem "Freischutz", wohlgebaute, zugige Walzer sodann, Marsche, bei denen man hochgemut den Kopf hin und her wandte, und muntere Mazurken. Mazurka? Marusja hie? sie eigentlich, die mit dem kleinen Rubin, und in der Nachbarloge, hinter der dicken Milchglaswand, lag Joachim, - dann und wann wechselte Hans Castorp ein vorsichtiges Wort mit ihm, unter voller Rucksichtnahme auf die anderen Horizontalen. Joachim hatte es in seiner Loge ebensogut wie Hans Castorp, wenn er auch unmusikalisch war und sich an den Abendkonzerten nicht so zu freuen verstand. Schade fur ihn; er las wohl statt dessen in seiner russischen Grammatik. Hans Castorp aber lie? "Ocean steamships" auf der Decke liegen und lauschte mit herzlicher Teilnahme auf die Musik, blickte wohlgefallig in die durchsichtige Tiefe ihrer Faktur und empfand so inniges Vergnugen an einer charakter- und stimmungsvollen melodischen Eingebung, da? er sich zwischendurch nur mit Feindseligkeit an Settembrinis Au?erungen uber die Musik erinnerte, Au?erungen, so argerlich wie die, da? die Musik politisch verdachtig sei, - was in der Tat nicht viel besser war, als

Gro?vater Giuseppes Redensart von der Julirevolution und den sechs Tagen der Weltschopfung ...

Joachim also war des musikalischen Genusses nicht so teilhaftig, und auch die wurzige Unterhaltung des Rauchens war ihm fremd; sonst aber lag er ebenso wohlgeborgen in seiner Loge, geborgen und befriedet. Der Tag war zu Ende, fur diesmal war alles zu Ende, man war sicher, da? heute nichts mehr geschehen, keine Erschutterungen sich mehr ereignen, keine Zumutungen an die Herzmuskulatur mehr gestellt werden wurden. Zugleich aber war man sicher, da? morgen dies alles mit all der Wahrscheinlichkeit, die sich aus der Enge, Gunst und Regelma?igkeit der Umstande ergab, wieder der Fall sein und von vorn beginnen werde; und diese doppelte Sicherheit und Geborgenheit war uberaus behaglich, sie gestaltete zusammen mit der Musik und der wiedergefundenen Wurze Marias die Abendliegekur fur Hans Castorp zu einer wahrhaft glucklichen Lebenslage.

Das allesnun aber hatte also nicht gehindert, da? der Hospitant und weiche Neuling sich in der Liegekur(oder wie und wo nun immer) tuchtig erkaltet hatte. Ein schwerer Schnupfen schien im Anzuge, er sa? ihm in der Stirnhohle und druckte, das Zapfchen im Halse war weh und wund, die Luft ging ihm nicht wie sonst durch den von der Natur hierzu vorgesehenen Kanal, sondern strich kalt, behindert und Hustenkrampf unaufhorlich erregend hindurch; seine Stimme hatte uber Nacht die Klangfarbe eines dumpfen und wie von starken Getranken verbrannten Basses angenommen, und seiner Aussage nach hatte er in eben dieser Nacht kein Auge zugetan, da eine erstickende Trockenheit des Schlundes ihn je und je hatte vom Kissen auffahren lassen.

"Hochst argerlich," sagte Joachim, "ist das und beinahe peinlich. Erkaltungen, mu?t du wissen, sind hier nicht recus, man leugnet sie, sie kommen offiziell bei der gro?en Lufttrockenheit nicht vor, und als Patient wurde man ubel anlaufen bei Behrens, wenn man sich erkaltet melden wollte. Aber bei dir ist es ja etwas anderes, du hast am Ende das Recht dazu. Es ware doch gut, wenn wir den Katarrh noch abschneiden konnten, im Flachlande kennt man ja Praktiken, hier aber - ich zweifle, ob man sich hier genugend dafur interessieren wird. Krank soll man hier lieber nicht werden, es kummert sich niemand darum. Das ist eine alte Lehre, du erfahrst es nun auch noch zu guter Letzt. Als ich ankam, war hier eine Dame, die hielt sich die ganze Woche ihr Ohr und jammerte uber Schmerzen, und schlie?lich sah Behrens es an. 'Sie konnen ganz

beruhigt sein,' sagt' er, 'tuberkulos ist es nicht.' Dabei hatte es sein Bewenden. Ja, wir mussen sehn, was sich tun la?t. Ich werde es morgen fruh dem Bademeister sagen, wenn er zu mir kommt. Das ist der Dienstweg, und er wird es schon weitergeben, so da? dann doch vielleicht etwas fur dich geschieht."

So Joachim; und der Dienstweg bewahrte sich. Schon als Hans Castorp am Freitag von der Morgenmotion in sein Zimmer zuruckkehrte, klopfte es bei ihm, und es ergab sich fur ihn die personliche Bekanntschaft mit dem Fraulein von Mylendonk oder der "Frau Oberin", wie sie genannt wurde, - bisher hatte er die offenbar Vielbeschaftigte immer nur von weitem erblickt, wie sie, aus einem Krankenzimmer kommend, den Korridor uberquerte, um in ein gegenuberliegendes einzutreten, oder sie fluchtig im Speisesaal auftauchen sehen und ihre quakende Stimme vernommen. Nun also galt ihm selbst ihr Besuch; durch seinen Katarrh herbeigezogen, klopfte sie knochern hart und kurz an seine Stubentur und trat ein, fast bevor er Herein gesagt, indem sie sich auf der Schwelle noch einmal zuruckbeugte, um sich der Zimmernummer gewi?zu machen.

"Dreiundvierzig", quakte sie ungedampft. "Es stimmt. Menschenskind, on me dit, que vous avez pris froid, I hear, you have caught a cold, Wy, kaschetsja, prostudilisj, ich hore, Sie sind erkaltet? Wie soll ich reden mit Ihnen? Deutsch, ich sehe schon. Ach, der Besuch vom jungen Ziem?en, ich sehe schon. Ich mu? in den Operationssaal. Da ist einer, der wird chloroformiert und hat Bohnensalat gegessen. Wenn man seine Augen nicht uberall hat ... Und Sie, Menschenskind, wollen sich hier erkaltet haben?"

Hans Castorp war verblufft uber diese Redeweise einer altadligen Dame. Wahrend sie sprach, ging sie uber ihre eigenen Worte hinweg, indem sie unruhig, in rollender, schleifenformiger Bewegung den Kopf mit suchend erhobener Nase hin und her wandte, wie Raubtiere im Kafig tun, und ihre sommersprossige Rechte, leicht geschlossen und den Daumen nach oben, vor sich im Handgelenk schlenkerte, als wollte sie sagen: "Rasch, rasch, rasch! Horen Sie nicht auf das, was ich sage, sondern reden Sie selbst, da? ich fortkomme!" Sie war eine Vierzigerin, kummerlichen Wuchses, ohne Formen, angetan mit einem wei?en, gegurteten, klinischen Schurzenkleid, auf dessen Brust ein Granatkreuz lag. Unter ihrer Schwesternhaube kam sparliches rotliches Haar hervor, ihre wasserblauen, entzundeten Augen, an deren einem zum Uberflu?

ein in der Entwicklung sehr weit vorgeschrittenes Gerstenkorn sa?, waren unsteten Blicks, die Nase aufgeworfen, der Mund froschma?ig, au?erdem mit schief vorstehender Unterlippe, die sie beim Sprechen schaufelnd bewegte. Indessen Hans Castorp betrachtete sie mit all der bescheiden duldsamen und vertrauensvollen Menschenfreundlichkeit, die ihm angeboren war.

"Was ist denn das fur eine Erkaltung, he?" fragte die Oberin wieder, indem sie ihre Augen durchdringend zu machen suchte, was aber nicht gelang, da sie abschweiften. "Wir lieben solche Erkaltungen nicht. Sind Sie ofter erkaltet? War Ihr Vetter nicht auch so oft erkaltet? Wie alt sind Sie denn? Vierundzwanzig? Das Alter hat's in sich. Und nun kommen Sie hier herauf und sind erkaltet? Wir sollten hier nicht von 'Erkaltung' reden, geehrtes Menschenskind, das ist so ein Schnickschnack von unten.(Das Wort "Schnickschnack" nahm sich ganz abscheulich und abenteuerlich aus in ihrem Munde, wie sie es mit der Unterlippe schaufelnd hervorbrachte.) Sie haben den wunderschonsten Katarrh der Luftwege, das gebe ich zu, das sieht man Ihnen an den Augen an -(Und wieder machte sie den sonderbaren Versuch, ihm durchdringend in die Augen zu blicken, ohne da? es ihr recht gelingen wollte.) Aber Katarrhe kommen nicht von der Kalte, sondern sie kommen von einer Infektion, fur die man aufnahmelustig war, und es fragt sich nur, ob eine unschuldige Infektion vorliegt oder eine weniger unschuldige, alles andere ist Schnickschnack.(Schon wieder das schauderhafte "Schnickschnack"!) Ist ja moglich, da? Ihre Aufnahmelustigkeit mehr zum Harmlosen neigt", sagte sie und sah ihn an mitihrem vorgeschrittenen Gerstenkorn, er wu?te nicht, wie. "Hier haben Sie ein harmloses Antiseptikum. Wird Ihnen moglicherweise gut tun." Und sie holte aus der schwarzen Ledertasche, die ihr am Gurtel hing, ein Packchen hervor, das sie auf den Tisch stellte. Es war Formamint. "Ubrigens sehen Sie angeregt aus; als ob Sie Hitze hatten." Und sie lie? nicht ab, ihm in das Gesicht zu blicken, aber immer mit etwas beiseite gehenden Augen. "Haben Sie sich gemessen?"

Er verneinte.

"Warum nicht?" fragte sie und lie? ihre schrag vorgeschobene Unterlippe in der Luft stehen ...

Er verstummte. Der Gute war noch so jung, er hatte sich noch das Verstummen des Schuljungen bewahrt, der in der Bank steht, nichts wei? und schweigt.

"Messen Sie sich etwa uberhaupt nie?"

"Doch, Frau Oberin. Wenn ich Fieber habe."

"Menschenskind, man mi?t sich in erster Linie, um zu sehen, ob man Fieber hat. Und jetzt haben Sie Ihrer Meinung nach keins?"

"Ich wei? nicht recht, Frau Oberin; ich kann es nicht recht unterscheiden. Ein bi?chen hei? und frostig bin ich schon seit meiner Ankunft hier oben."

"Aha. Und wo haben Sie Ihr Thermometer?"

"Ich habe keins bei mir, Frau Oberin. Wozu, ich bin ja nur zu Besuch hier, ich bin gesund."

"Schnickschnack! Haben Sie mich gerufen, weil Sie gesund sind?"

"Nein," lachte er hoflich, "sondern weil ich mich etwas -"

"- Erkaltet habe. Solche Erkaltungen sind uns schon ofter vorgekommen. Hier!" sagte sie und kramte wieder in ihrer Tasche, um zwei langliche Lederetuis zum Vorschein zu bringen, ein schwarzes und ein rotes, die sie ebenfalls auf den Tisch legte. "Dieser hier kostet drei Franken funfzig und der hier funf Franken. Besser fahren Sie naturlich mit dem zu funf. Das ist etwas furs Leben, wenn Sie ordentlich damit umgehen."

Er nahm lachelnd das rote Etui vom Tisch und offnete es. Schmuck wie ein Geschmeide lag das glaserne Gerat in die genau nach seiner Figur ausgesparte Vertiefung der roten Samtpolsterung gebettet. Die ganzen Grade waren mit roten, die Zehntelgrade mit schwarzen Strichen markiert. Die Bezifferung war rot, der untere, verjungte Teil mit spiegelig glanzendem Quecksilber gefullt. Die Saule stand tief und kuhl, weit unter dem Normalgrade tierischer Warme.

Hans Castorp wu?te, was er sich und seinem Ansehen schuldig war.

"Ich nehme diesen", sagte er, ohne dem anderen nur Beachtung zu schenken. "Den hier zu funf. Darf ich Ihnen sofort ..."

"Abgemacht!" quakte die Oberin. "Nur nicht knausern bei wichtigen Anschaffungen! Eilt nicht, es kommt auf die Rechnung. Geben Sie her, wir wollen ihn erst noch recht klein machen, ganz hinunterjagen - so." Und sie nahm ihm das Thermometer aus der Hand, stie? es wiederholt in die Luft und trieb so das Quecksilber noch tiefer, bis unter 35 hinab."Wird schon steigen, wird schon emporwandern, der Merkurius!" sagte sie. "Hier haben Sie Ihre Erwerbung! Sie wissen doch wohl, wie es

gemacht wird bei uns? Unter die werte Zunge damit, auf sieben Minuten, viermal am Tag, und gut die geschatzten Lippen drum schlie?en. Adieu, Menschenskind! Wunsche gute Ergebnisse!" Und sie war aus dem Zimmer.

Hans Castorp, der sich verbeugt hatte, stand am Tische und sah auf die Tur, durch die sie verschwunden war, und auf das Instrument, das sie zuruckgelassen. "Das war nun die Oberin von Mylendonk", dachte er. "Settembrini mag sie nicht, und wahr ist es, sie hat ihre Unannehmlichkeiten. Das Gerstenkorn ist nicht schon, ubrigens hat sie es ja wohl nicht immer. Aber warum nennt sie mich immer 'Menschenskind', noch dazu mit einem s in der Mitte? Es ist burschikos und sonderbar. Und da hat sie mir nun ein Thermometer verkauft, sie hat immer ein paar in der Tasche. Es soll ja hier uberall welche geben, in allen Laden, auch da, wo man es gar nicht erwarten sollte, Joachim sagte es. Aber ich habe mich nicht zu bemuhen brauchen, es ist mir von selbst in den Scho? gefallen." Er nahm das zierliche Gerat aus dem Futteral, betrachtete es und ging dann mehrmals in Unruhe damit durch das Zimmer. Sein Herz klopfte rasch und stark. Er sah sich nach der offenen Balkontur um und machte eine Bewegung gegen die Zimmertur, aus dem Antriebe, Joachim aufzusuchen, unterlie? es aber dann und blieb wieder am Tische stehen, indem er sich rausperte, um die Dumpfheit seiner Stimme zu prufen. Hierauf hustete er. "Ja, ich mu? nun sehn, ob ich Schnupfenfieber habe", sagte er und fuhrte rasch das Thermometer in den Mund, die Quecksilberspitze unter die Zunge, so da? das Instrument ihm schrag aufwarts zwischen den Lippen hervorragte, die er fest darum schlo?, um keine Au?enluft zuzulassen. Dann sah er nach seiner Armbanduhr: es war sechs Minuten nach halb zehn. Und er begann, auf den Ablauf von sieben Minuten zu warten.

"Keine uberflussige Sekunde," dachte er, "und keine zu wenig. Auf mich ist Verla?, nach oben wie nach unten. Man braucht ihn mir nicht mit einer Stummen Schwester zu vertauschen, wie der Person, von der Settembrini erzahlte, Ottilie Kneifer." Und er ging im Zimmer umher, das Instrument mit der Zunge niederdruckend.

Die Zeit schlich, die Frist schien endlos. Erst zweiundeinehalbe Minute waren verstrichen, als er nach den Zeigern sah, schon besorgt, er konnte den Augenblick verpassen. Er tat tausend Dinge, nahm Gegenstande auf und setzte sie nieder, trat auf den Balkon hinaus, ohne sich seinem Vetter bemerklich zu machen, uberblickte die Landschaft, dies Hochtal,

seinem Sinn schon urvertraut in allen Gestaltungen: mitseinen Hornern, Kammlinien und Wanden, mit der links vorgelagerten Kulisse des "Brembuhl", dessen Rucken schrag gegen den Ort hin abfiel und dessen Flanke der rauhe Mattenwald bedeckte, mit den Bergformationen zur Rechten, deren Namen ihm ebenfalls gelaufig geworden waren, und der Alteinwand, die das Tal, von hier aus gesehen, im Suden zu schlie?en schien, - sah hinab auf die Wege und Beete der Gartenplattform, die Felsengrotte, die Edeltanne, lauschte auf ein Flustern, das aus der Liegehalle drang, wo Kur gemacht wurde, und wandte sich ins Zimmer zuruck, wobei er die Lage des Instrumentes im Munde zu verbessern suchte, um dann wieder durch Vorrecken des Armes den Armel vom Handgelenk zu ziehen und den Unterarm vor das Gesicht zu biegen. Mit Muhe und Anstrengung, unter Schieben, Sto?en und Fu?tritten gleichsam, waren sechs Minuten vertrieben. Da er nun aber, mitten im Zimmer stehend, ins Traumen verfiel und seine Gedanken wandern lie?, so verhuschte die letzte noch ubrige ihm unvermerkt auf Katzenpfotchen, eine neue Armbewegung offenbarte ihm ihr heimliches Entkommen, und es war ein wenig zu spat, die achte lag schon zu einem Dritteile im Vergangenen, als er mit dem Gedanken, da? das nichts schade, fur das Ergebnis nichts ausmache und zu bedeuten habe, das Thermometer aus dem Munde ri? und mit verwirrten Augen darauf niederstarrte.

Er ward nicht unmittelbar klug aus seiner Angabe, der Glanz des Quecksilbers fiel mit dem Lichtreflex des flachrunden Glasmantels zusammen, die Saule schien bald ganz hoch oben zu stehen, bald uberhaupt nicht vorhanden zu sein, er fuhrte das Instrument nahe vor die Augen, drehte es hin und her und erkannte nichts. Endlich, nach einer glucklichen Wendung, wurde das Bild ihm deutlich, er hielt es fest und bearbeitete es hastig mit dem Verstande. In der Tat, Merkurius hatte sich ausgedehnt, er hatte sich stark ausgedehnt, die Saule war ziemlich hoch gestiegen, sie stand mehrere Zehntelstriche uber der Grenze normaler Blutwarme, Hans Castorp hatte 37,6.

Am hellen Vormittag zwischen zehn und halb elf Uhr 37,6, - das war zuviel, es war "Temperatur", Fieber als Folge einer Infektion, fur die er aufnahmelustig gewesen, und es fragte sich nur, was fur eine Art Infektion das war. 37,6, - mehr hatte auch Joachim nicht, mehr hatte hier niemand, der nicht als schwerkrank oder moribund das Bett hutete, weder die Kleefeld mit dem Pneumothorax noch ... noch auch Madame

Chauchat. Es war naturlich in seinem Falle wohl nicht ganz das Rechte, - blo?es Schnupfenfieber, wie man es unten nannte. Aber genau zu unterscheiden und auseinanderzuhalten war das nicht, Hans Castorp bezweifelte, da? er diese Temperatur erst bekommen, seit er sich erkaltet hatte, und er mu?te bedauern, Merkurius nicht schon fruher befragt zuhaben, gleich anfangs, wie der Hofrat es ihm nahegelegt hatte. Ganz vernunftig war dieser Ratschlag gewesen, das zeigte sich nun, und Settembrini hatte vollig unrecht getan, so hohnisch daruber in die Lufte zu lachen, - Settembrini mit der Republik und dem schonen Stil. Hans Castorp verachtete die Republik und den schonen Stil, wahrend er immer wieder die Aussage des Thermometers prufte, die ihm mehrmals durch die Blendung verloren ging und die er dann durch eifriges Drehen und Wenden des Instruments wieder herstellte: sie lautete auf 37,6, und das am fruhesten Vormittag!

Seine Bewegung war machtig. Er ging ein paarmal durch das Zimmer, das Thermometer in der Hand, wobei er es jedoch wagerecht hielt, um nicht durch senkrechte Erschutterung eine Storung hervorzurufen, legte es dann mit aller Bewahrsamkeit auf die Waschtischplatte nieder und ging vorerst einmal mit Paletot und Decken in die Liegekur. Sitzend warf er die Decken um sich, wie er es gelernt hatte, von den Seiten und von unten, eine nach der anderen, mit schon geubter Hand, und lag dann still, die Stunde des zweiten Fruhstucks und Joachims Eintritt erwartend. Zuweilen lachelte er, und es war, als lachle er jemandem zu. Zuweilen hob sich seine Brust mit einem beklommenen Beben, und dann mu?te er husten aus seiner katarrhalischen Brust.

Joachim fand ihn noch liegend, als er um elf Uhr, nach dem Tonen des Gongs, zu ihm heruberkam, um ihn zum Fruhstuck abzuholen.

"Nun?" fragte er verwundert, indem er neben den Stuhl trat ...

Hans Castorp schwieg noch eine Weile und sah vor sich hin. Dann gab er zur Antwort:

"Ja, das Neueste ist also, da? ich etwas Temperatur habe."

"Was soll das hei?en?" fragte Joachim. "Fuhlst du dich fiebrig?"

Hans Castorp lie? wieder ein wenig auf die Antwort warten und gab hierauf mit einer gewissen Tragheit die folgende:

"Fiebrig, mein Lieber, fuhle ich mich schon langst, schon die ganze Zeit. Aber jetzt handelt es sich nicht um subjektive Empfindungen, sondern um eine exakte Feststellung. Ich habe mich gemessen."

"Du hast dich gemessen?! Womit?!" rief Joachim erschrocken.

"Selbstverstandlich mit einem Thermometer", antwortete Hans Castorp nicht ohne Spott und Strenge. "Die Oberin hat mir eines verkauft. Warum sie einen immer 'Menschenskind' anredet, das wei? ich nicht; korrekt ist es nicht. Aber ein sehr gutes Thermometer hat sie mir in aller Eile verkauft, und wenn du dich uberzeugen willst, wieviel es zeigt, so liegt es da drinnen auf dem Waschtisch. Es ist eine minimale Erhohung."

Joachim machte kurz kehrt und ging ins Zimmer. Als er zuruckkehrte, sagte er zogernd:

"Ja, das sind 37 Komma 5?."

"Dann ist es etwas zuruckgegangen!" versetzte Hans Castorp rasch. "Es waren sechs."

"Keinesfalls kann man das minimal nennen fur denVormittag", sagte Joachim. "Eine schone Bescherung", sagte er und stand an seines Vetters Lager, wie man eben vor einer "schonen Bescherung" steht, die Arme in die Seiten gestemmt und mit gesenktem Kopfe. "Du wirst ins Bett mussen."

Hans Castorp hatte darauf seine Antwort bereit.

"Ich sehe nicht ein," sagte er, "warum ich mich mit 37,6 ins Bett legen soll, wo doch du und so viele andere, die auch nicht weniger haben, - wo ihr alle hier frei herumlauft."

"Das ist aber doch etwas anderes", sagte Joachim. "Bei dir ist es akut und harmlos. Du hast Schnupfenfieber."

"Erstens," erwiderte Hans Castorp und teilte seine Rede nun sogar in erstens und zweitens ein, "verstehe ich nicht, warum man mit harmlosem Fieber - ich will einmal annehmen, da? es so etwas gibt - mit harmlosem Fieber das Bett huten mu?, mit anderem aber nicht. Und zweitens sage ich dir ja, da? der Schnupfen mich nicht hei?er gemacht hat, als ich schon vorher war. Ich stehe auf dem Standpunkt," schlo? er, "da? 37,6 gleich 37,6 ist. Konnt ihr damit herumlaufen, kann ich es auch."

"Ich habe aber vier Wochen liegen mussen, als ich ankam," wandte Joachim ein; "und erst als sich zeigte, da? die Temperatur durch Bettruhe nicht verschwand, durfte ich aufstehen."

Hans Castorp lachelte.

"Nun und?" fragte er. "Ich denke, bei dir war es etwas anderes? Mir scheint, du verwickelst dich in Widerspruche. Erst unterscheidest du, und dann stellst du gleich. Das ist doch Schnickschnack ..."

Joachim drehte sich auf dem Absatz um, und als er sich seinem Vetter wieder zukehrte, sah man, da? sein gebrauntes Gesicht noch eine Schattierung dunkler geworden war.

"Nein," sagte er, "ich stelle nicht gleich, du bist ein Konfusionsrat. Ich meine nur, du bist elend erkaltet, man hort es ja an deiner Stimme, und du solltest dich legen, um den Proze? abzukurzen, da du nachste Woche nach Hause willst. Wenn du aber nicht willst, - ich meine: wenn du dich nicht legen willst, so kannst du es ja lassen. Ich mache dir keine Vorschriften. Jedenfalls mussen wir jetzt zum Fruhstuck. Mach, es ist uber die Zeit!"

"Richtig. Los!" sagte Hans Castorp und warf die Decken von sich. Er ging ins Zimmer, um sich mit der Burste ubers Haar zu fahren, und wahrend er es tat, sah Joachim noch einmal nach dem Thermometer auf dem Waschtisch, wobei Hans Castorp ihn von weitem beobachtete. Dann gingen sie, schweigend, und sa?en wieder einmal an ihren Platzen im Speisesaal, wo es, wie immer um diese Stunde, wei? schimmerte vor lauter Milch.

Als die Zwergin das Kulmbacher Bier fur Hans Castorp brachte, lehnte er es mit ernstem Verzichte ab. Er trinke heute lieber kein Bier,trinke uberhaupt nichts, nein, danke sehr, hochstens einen Schluck Wasser. Das erregte Aufsehen. Wieso? Was fur Neuerungen! Warum kein Bier? - Er habe ein bi?chen Temperatur, warf Hans Castorp hin. 37,6. Minimal.

Da drohten sie ihm mit den Zeigefingern, - es war sehr sonderbar. Sie wurden schelmisch, legten den Kopf auf die Seite, kniffen ein Auge zu und ruhrten die Zeigefinger in Hohe des Ohres, als kamen kecke, pikante Dinge an den Tag von einem, der den Unschuldigen gespielt hatte. "Na, na, Sie", sagte die Lehrerin, und der Flaum ihrer Wangen rotete sich, indes sie lachelnd drohte. "Saubere Geschichten hort man, ausgelassene. Wart, wart, wart." - "Ei, ei, ei", machte auch Frau Stohr und drohte mit ihrem kurzen und roten Stummel, indem sie ihn neben die Nase hielt. "Tempus hat er, der Herr Besuch. Sie sind mir einer, - der Rechte sind Sie mir, ein Bruder Lustig!" - Selbst die Gro?tante am oberen Tischende drohte ihm scherzhaft und verschlagen zu, als die Nachricht zu ihr drang; die hubsche Marusja, die ihm bisher kaum je Beachtung geschenkt, beugte sich gegen ihn vor und sah ihn, das

Apfelsinentuchlein gegen die Lippen gepre?t, mit ihren kugelrunden braunen Augen an, indes sie drohte; auch Dr. Blumenkohl, dem Frau Stohr die Sache erzahlte, konnte nicht umhin, sich der allgemeinen Gebarde anzuschlie?en, ohne freilich Hans Castorp dabei anzusehen, und nur Mi? Robinson zeigte sich teilnahmslos und verschlossenen Sinnes wie immer. Joachim hielt mit anstandiger Miene die Augen gesenkt.

Hans Castorp, geschmeichelt von so viel Neckerei, glaubte bescheiden ablehnen zu mussen. "Nein, nein," sagte er, "Sie irren sich, mein Fall ist der denkbar harmloseste, ich habe Schnupfen, Sie sehen: die Augen gehen mir uber, meine Brust ist verstockt, ich huste die halbe Nacht, es ist unangenehm genug ..." Aber sie nahmen seine Entschuldigungen nicht an, sie lachten und winkten ihm mit den Handen ab, rufend: "Ja, ja, ja, Flausen, Ausreden, Schnupfenfieber, kennen wir, kennen wir!" Und dann forderten sie alle auf einmal, da? Hans Castorp sich unverzuglich zur Untersuchung melde. Sie waren belebt von der Nachricht; unter den sieben Tischen war an diesem wahrend des Fruhstucks die Unterhaltung am muntersten. Frau Stohr insbesondere, hochroten, storrischen Gesichts uber ihrer Halsrusche und kleine Sprunge in der Wangenhaut, legte eine fast wilde Gesprachigkeit an den Tag und erging sich uber die Vergnuglichkeit des Hustens, - ja, es habe unbedingt eine unterhaltliche und genu?reiche Bewandtnis damit, wenn in den Grunden der Brust der Kitzel sich mehre und wachse und man mit Krampf und Pressung so recht tief hinunterlange, um dem Reiz zu genugen: ein ahnlicher Spa? sei das wie das Niesen, wenn die Lust dazu gewaltig anschwelle und unwiderstehlichwerde und man mit berauschter Miene ein paarmal sturmisch aus- und einatme, sich wonnig ergabe und uber dem gesegneten Ausbruch die ganze Welt verga?e. Und manchmal komme es zwei-, dreimal hintereinander. Das seien kostenfreie Genusse des Lebens, wie beispielsweise auch noch, sich im Fruhling die Frostbeulen zu kratzen, wenn sie so su?lich juckten, - sich so recht innig und grausam zu kratzen bis aufs Blut in Wut und Vergnugen, und wenn man zufallig in den Spiegel sahe dabei, dann sahe man eine Teufelsfratze.

So schauderhaft eingehend redete die ungebildete Stohr, bis die kurze, wenn auch reichhaltige Zwischenmahlzeit beendigt war und die Vettern ihren zweiten Vormittagsgang antraten, den Gang hinunter nach Platz Davos. Joachim war in sich gekehrt unterwegs, und Hans Castorp achzte vor Schnupfen und rausperte sich aus rostiger Brust. Auf dem Heimwege

sagte Joachim:

"Ich mache dir einen Vorschlag. Heute ist Freitag, - morgen nach Tische habe ich Monatsuntersuchung. Es ist keine Generaluntersuchung, aber Behrens klopft mich ein bi?chen ab und la?t Krokowski ein paar Notizen machen. Da konntest du mitkommen und bitten, dich auch bei der Gelegenheit rasch zu behorchen. Es ist ja lacherlich, - wenn du zu Hause warst, du lie?est Heidekind kommen. Und hier, wo zwei Spezialisten im Hause sind, laufst du herum und wei?t nicht, woran du bist, und wie tief es sitzt bei dir, und ob du nicht besser tatest, dich hinzulegen."

"Schon", sagte Hans Castorp. "Wie du meinst. Naturlich, so kann ich es machen. Und es ist ja auch interessant fur mich, mal einer Untersuchung beizuwohnen."

So kamen sie uberein; und als sie hinauf vor das Sanatorium gelangten, wollte es der Zufall, da? sie mit Hofrat Behrens personlich zusammentrafen und gunstige Gelegenheit fanden, stehenden Fu?es ihr Anliegen vorzubringen.

Behrens kam aus dem Vorbau, lang und hochnackig, einen steifen Hut auf dem Hinterkopf und eine Zigarre im Munde, blaubackig und quellaugig, so recht im Zuge der Tatigkeit, im Begriffe, seiner Privatpraxis nachzugehen, Besuche im Ort zu machen, nachdem er soeben im Operationssaal am Werke gewesen, wie er erklarte.

"Mahlzeit, die Herren!" sagte er. "Immer auf der Walze? War wohl fein in der gro?en Welt? Ich komme gerade von einem ungleichen Zweikampf auf Messer und Knochensage, - gro?e Sache, wissen Sie, Rippenresektion. Fruher blieben funfzig Prozent dabei auf dem Tisch des Hauses. Jetzt haben wirs besser raus, aber ofters mu? man doch mortis causa vorzeitig einpacken. Na, der von heute konnte ja Spa? verstehen, blieb fur den Augenblick ganz stramm bei der Stange ... Doll, so ein Menschenthorax, der keiner mehr ist. Weichteil, wissen Sie, unkleidsam, leichte Trubung der Idee, sozusagen. Na, und Sie? Was macht die werte Befinditat? Ist wohl ein fidelerer Lebenswandel zu zweien, was, Ziem?en,alter Schlauberger? Warum weinen Sie denn, Sie Vergnugungsreisender?" wandte er sich auf einmal an Hans Castorp. "Offentliches Weinen ist hier nicht erlaubt. Hausordnungsverbot. Da konnte jeder kommen."

"Das ist mein Schnupfen, Herr Hofrat", antwortete Hans Castorp. "Ich wei? nicht, wie es moglich war, aber ich habe mir einen enormen Katarrh

geholt. Husten habe ich auch, und ordentlich auf der Brust liegt es mir."

"So?" sagte Behrens. "Dann sollten Sie mal einen verstandigen Arzt zu Rate ziehen."

Die beiden lachten, und Joachim antwortete, indem er die Absatze zusammenzog:

"Wir sind im Begriffe, Herr Hofrat. Ich habe ja morgen Untersuchung, und da wollten wir fragen, ob Sie die Gute hatten, auch meinen Vetter gleich einmal dranzunehmen. Es handelt sich darum, ob er Dienstag wird reisen konnen ..."

"M. w.!" sagte Behrens. "M. w. m. F.! Machen wir mit Vergnugen! Hatten wir langst mal machen sollen. Wenn man schon hier ist, soll man das immer mitnehmen. Aber man mag sich ja naturlich nicht aufdrangen. Also morgen um zwei, gleich wenn Sie von der Krippe kommen!"

"Denn ich habe namlich auch etwas Fieber", merkte Hans Castorp noch an.

"Was Sie sagen!" rief Behrens. "Sie wollen mir wohl Neuigkeiten erzahlen? Glauben Sie, ich habe keine Augen im Kopf?" Und er deutete mit dem gewaltigen Zeigefinger auf seine beiden blutunterlaufenen, blau quellenden, tranenden Augapfel. "Wieviel ist es denn ubrigens?"

Hans Castorp nannte bescheiden die Ziffer.

"Vormittags? Hm, nicht ubel. Fur den Anfang gar nicht so unbegabt. Na, also paarweise angetreten morgen um zwei! Soll mir eine Auszeichnung sein. Gesegnete Nahrungsaufnahme!" Und mit krummen Knien und rudernden Handen begann er den abschussigen Weg hinabzustapfen, indes eine Rauchfahne von seiner Zigarre ruckwarts wehte.

"Das ware also nach deinem Wunsche verabredet", sagte Hans Castorp. "Glucklicher konnte es sich ja gar nicht treffen, und nun bin ich gemeldet. Er wird ja weiter auch nicht viel tun konnen in der Sache, als mir vielleicht einen Lakritzensaft oder Brusttee verschreiben, aber angenehm ist es doch, ein bi?chen arztlichen Zuspruch zu haben, wenn man sich fuhlt wie ich. Aber warum er nur immer so unma?ig forsch daherredet!" sagte er. "Anfangs machte es mir Spa?, aber auf die Lange ist es mir unlieb. 'Gesegnete Nahrungsaufnahme'! Was fur ein Kauderwelsch. Man kann sagen: 'Gesegnete Mahlzeit'! denn 'Mahlzeit' ist

ein poetisches Wort sozusagen, wie 'tagliches Brot', und vertragt sich ganz gut mit 'gesegnet'. Aber 'Nahrungsaufnahme' ist ja die reine Physiologie, und dazu Segen zu wunschen, das ist doch ein hohnisches Gerede. Ich sehe es auch nicht gern, wenn er raucht, es hat etwas Beangstigendes fur mich, weil ich wei?, da? es ihm nicht bekommt und ihn melancholisch macht. Settembrini sagte von ihm, seine Lustigkeit sei gezwungen, und Settembrini ist ein Kritiker, einMann des Urteils, das mu? man ihm lassen. Ich sollte vielleicht auch mehr urteilen und nicht alles nehmen, wie es ist, er hat ganz recht. Aber manchmal fangt man mit Urteil und Tadel und gerechtem Argernis an, und dann kommt ganz anderes dazwischen, was mit Urteilen gar nichts zu tun hat, und dann ist es aus mit der Sittenstrenge, und die Republik und der schone Stil kommen einem auch nur noch abgeschmackt vor ..."

Er murmelte Undeutliches, schien selbst nicht ganz klar uber das, was er meinte. Auch sah ihn sein Vetter denn nur von der Seite an und sagte "Auf Wiedersehn", worauf ein jeder auf sein Zimmer und in seine Balkonloge ging.

"Wieviel?" fragte Joachim nach einer Weile gedampft, obgleich er nicht gesehen, da? Hans Castorp sein Thermometer wieder zu Rate gezogen hatte ... Und Hans Castorp antwortete gleichgultigen Tones:

"Nichts Neues."

Wirklich hatte er gleich bei seinem Eintritt seinen zierlichen Erwerb von heute morgen vom Waschtisch genommen, hatte die 37,6, die nun ihre Rolle ausgespielt hatten, durch senkrechte Sto?e zerstort und sich ganz wie ein Alter, die glaserne Zigarre im Munde, in die Liegekur verfugt. Aber allzu hochfliegenden Erwartungen entgegen und obgleich er das Instrument volle acht Minuten unter der Zunge behalten, hatte Merkurius sich nicht weiter ausgedehnt, als wieder nur bis 37,6, - was ja ubrigens Fieber war, wenn auch kein hoheres, als schon am fruheren Vormittage vorhanden gewesen. Nach Tische stieg das schimmernde Saulchen auf 37,7, verharrte abends, als der Patient nach den Erregungen und Neuigkeiten des Tages sehr mude war, auf 37,5, und zeigte in der nachsten Morgenfruhe gar nur auf 37, um gegen Mittag die gestrige Hohe wieder zu erreichen. Unter diesen Ergebnissen kam die Hauptmahlzeit des folgenden Tages und mit ihrer Beendigung die Stunde des Rendezvous heran.

Hans Castorp erinnerte sich spater, da? Madame Chauchat wahrend dieser Mahlzeit einen goldgelben Sweater mit gro?en Knopfen und

bordierten Taschen getragen hatte, der neu, jedenfalls neu fur Hans Castorp gewesen war, und worin sie bei ihrem wie immer verspateten Eintritt, in der Art, die Hans Castorp so wohl an ihr kannte, einen Augenblick Front gegen den Saal gemacht hatte. Dann war sie, wie taglich funfmal, zu ihrem Tische geglitten, hatte sich mit weichen Bewegungen niedergelassen und plaudernd zu essen begonnen: Hans Castorp hatte, wie jeden Tag, aber doch mit besonderer Aufmerksamkeit, ihren Kopf sich beim Sprechen bewegen sehen und aufs neue die Rundung ihres Nackens, die schlaffe Haltung ihres Ruckens bemerkt, wenn er hinter dem Settembrinis vorbei, der am Ende des schrag zwischenstehenden Tisches sa?, zum Guten Russentisch hinubergeblickt hatte. Frau Chauchat ihrerseits hatte sich wahrend des Mittagessens kein einziges Mal nach dem Saale umgeblickt. Als aber derNachtisch eingenommen gewesen war und die gro?e Ketten- und Pendeluhr an der rechten Schmalseite des Saals, dort, wo der Schlechte Russentisch stand, zwei geschlagen hatte, da war es zu Hans Castorps ratselhafter Erschutterung dennoch geschehen: wahrend die Uhr zwei schlug - eins und zwei - hatte die anmutige Kranke langsam den Kopf und ein wenig auch den Oberkorper gewandt und uber die Schulter deutlich und unverhohlen zu Hans Castorps Tische - und nicht nur im allgemeinen zu seinem Tische, nein, unmi?verstandlich und streng personlich zu ihm herubergeblickt, ein Lacheln um die geschlossenen Lippen und in ihren schmalgeschnittenen Pribislav-Augen, als wollte sie sagen: "Nun? Es ist Zeit. Wirst du gehen?"(denn wenn nur die Augen sprechen, geht ja die Rede per Du, auch wenn der Mund noch nicht einmal "Sie" gesagt hat) - und das war ein Zwischenfall gewesen, der Hans Castorp in tiefster Seele verwirrt und entsetzt hatte, - kaum hatte er seinen Sinnen getraut und entgeistert zuerst in Frau Chauchats Angesicht und dann, die Augen hebend, uber ihre Stirn und ihr Haar hin ins Leere geblickt. Wu?te sie denn, da? er sich auf zwei Uhr zur Untersuchung hatte bestellen lassen? Genau so hatte es ausgesehen. Und doch war es fast ebenso unwahrscheinlich, wie da? sie hatte wissen sollen, da? er soeben noch, in der jungstvergangenen Minute, sich gefragt hatte, ob er nicht dem Hofrat durch Joachim sagen lassen sollte, seine Erkaltung habe sich schon gebessert und er betrachte die Untersuchung als uberflussig: ein Gedanke, dessen Vorzuge unter jenem fragenden Lacheln freilich dahingewelkt waren und sich in lauter absto?ende Langweiligkeit verwandelt hatten. In der nachsten Sekunde hatte denn Joachim auch schon seine gerollte Serviette auf den Tisch gelegt, hatte ihm mit

erhobenen Brauen zugewinkt, sich gegen die Umsitzenden verneigt und den Tisch verlassen, - worauf Hans Castorp innerlich taumelnd, wenn auch au?erlich festen Schrittes, und mit dem Gefuhl, da? jenes Blicken und Lacheln immer noch auf ihm lage, dem Vetter zum Saal hinaus folgte.

Sie hatten seit gestern vormittag nicht mehr uber ihr heutiges Vorhaben gesprochen, und auch jetzt gingen sie in schweigendem Einverstandnis. Joachim beeilte sich: es war schon uber die vereinbarte Stunde, und Hofrat Behrens bestand auf Punktlichkeit. Es ging vom Speisesaal den ebenerdigen Korridor entlang, an der "Verwaltung" vorbei und die reinliche, mit gebohntem Linoleum belegte Treppe zum Kellergescho? "hinab". Joachim klopfte an die Tur, die sich, der Treppe gleich gegenuber, durch ein Porzellanschild als Eingang zum Ordinationszimmer zu erkennen gab.

"Herein!" rief Behrens, indem er die erste Silbe stark betonte. Er stand inmitten des Raumes, im Kittel, in der Rechten das schwarze Horrohr, mit dem er sich gegen den Schenkel klopfte.

"Tempo, Tempo", sagte er und richteteseine quellenden Augen auf die Wanduhr. "Un poco piu presto, Signori! Wir sind nicht ganz ausschlie?lich fur Eure Hochwohlgeboren vorhanden."

Am doppelten Schreibtisch vorm Fenster sa? Dr. Krokowski, bleich gegen sein schwarzes Lusterhemd, die Ellenbogen auf der Platte, in der einen Hand die Feder, die andere im Bart, vor sich Papiere, wahrscheinlich den Krankenakt, und blickte den Eintretenden mit dem stumpfen Ausdruck einer Personlichkeit, die nur assistierenderweise anwesend ist, entgegen.

"Na, her mit der Konduite!" antwortete der Hofrat auf Joachims Entschuldigungen und nahm ihm die Fieberkurve aus der Hand, um sie durchzusehen, wahrend der Patient sich beeilte, seinen Oberkorper freizumachen und die abgelegten Kleidungsstucke an den neben der Tur stehenden Garderobestander zu hangen. Um Hans Castorp kummerte man sich nicht. Er stand eine Weile zuschauend und lie? sich spater auf einem altmodischen kleinen Fauteuil mit Troddeln an den Armlehnen zur Seite eines Tischchens mit Wasserkaraffe nieder. Bucherschranke mit breitruckigen medizinischen Werken und Aktenfaszikeln standen an den Wanden. An Mobeln war sonst nur noch eine mit wei?em Wachstuch uberzogene, hoher und niedriger zu kurbelnde Chaiselongue vorhanden, uber deren Kopfpolster eine Papierserviette gebreitet war.

"Komma 7, Komma 9, Komma 8", sagte Behrens, die Wochenkarten durchblatternd, in die Joachim die Ergebnisse seiner taglich funfmaligen Messungen treulich eingetragen. "Immer noch ein bi?chen illuminiert, lieber Ziem?en, konnen nicht gerade behaupten, da? Sie seit neulich solider geworden sind.("Neulich", das war vor vier Wochen gewesen.) Nicht entgiftet, nicht entgiftet", sagte er. "Na, das geht naturlich nicht so von heute auf morgen, hexen konnen wir auch nicht."

Joachim nickte und zuckte mit seinen blo?en Schultern, obgleich er hatte einwenden konnen, da? er ja keineswegs erst seit gestern hier oben sei.

"Wie steht es denn mit den Stichen am rechten Hilus, wo es immer verscharft klang? Besser? Na, kommen Sie her! Wollen mal hoflich bei Ihnen anklopfen." Und die Auskultation begann.

Hofrat Behrens, breitbeinig und ruckwarts geneigt, den Horer unter dem Arme, klopfte zuerst ganz oben an Joachims rechter Schulter, klopfte aus dem Handgelenk, indem er sich des gewaltigen Mittelfingers seiner Rechten als Hammer bediente und die Linke zur Stutze gebrauchte. Dann ging er unter das Schulterblatt hinab und klopfte seitlich am mittleren und unteren Rucken, worauf Joachim, der wohlabgerichtet war, den Arm hob, um auch unter der Achsel klopfen zu lassen. Hierauf wiederholte das Ganze sich linkerseits, und damit fertig, kommandierte der Hofrat "Kehrt!" zur Beklopfung der Brustseite. Er klopfte gleich unter dem Halse beim Schlusselbein, klopfte uber und unter der Brust, zuerst rechts und dann links. Als er aber sattsam geklopft hatte, ging er zum Horchen uber, indem er sein Horrohr, das Ohr an der Muschel, auf Joachims Brust und Rucken setzte, uberallhin, wo er vorhin geklopft hatte. Dabei mu?te Joachim abwechselnd starkatmen und kunstlich husten, was ihn sehr anzustrengen schien, denn er geriet au?er Atem, und in die Augen traten ihm Tranen. Hofrat Behrens aber meldete alles, was er dort innen horte, dem Assistenten in kurzen, feststehenden Worten zum Schreibtisch hinuber, derart, da? Hans Castorp nicht umhin konnte, an den Vorgang beim Schneider zu denken, wenn der wohlgekleidete Herr einem zu einem Anzuge das Ma? nimmt, in herkommlicher Reihenfolge dem Besteller das Meterband da und dort um den Rumpf und an die Glieder legt und dem gebuckt sitzenden Gehilfen die gewonnenen Ziffern in die Feder diktiert. "Kurz", "verkurzt", diktierte Hofrat Behrens. "Vesikular", sagte er, und abermals: "Vesikular"(das war gut, offenbar). "Rauh", sagte er und schnitt ein

Gesicht. "Sehr rauh." "Gerausch." Und Dr. Krokowski trug alles ein, wie der Angestellte die Ziffern des Zuschneiders.

Hans Castorp folgte den Vorgangen seitwarts geneigten Kopfes, nachdenklich versunken in die Betrachtung von Joachims Oberkorper, dessen Rippen(gottlob war er im Besitz seiner Rippen) sich beim Schnaufen unter der gespannten Haut hoch uber den zuruckfallenden Magen hoben, - diesem schlanken, gelblich-brunetten Junglingsoberkorper mit den schwarzen Haaren am Brustknochen und an den ubrigens kraftigen Armen, deren einer ein goldenes Kettenarmband um das Handgelenk trug. Turnerarme sind das, dachte Hans Castorp; er hat immer gern geturnt, wahrend ich mir nichts daraus machte, und das hing mit seiner Lust zum Soldatenstande zusammen. Immer war er gut korperlich gesinnt, viel mehr als ich, oder doch auf andere Weise; denn ich war immer ein Zivilist, und es war mir mehr um warm baden und gut essen und trinken zu tun, ihm aber um mannliche Anforderungen und Leistungen. Und nun ist auf so ganz andere Weise sein Korper in den Vordergrund getreten und hat sich selbstandig und wichtig gemacht, namlich durch Krankheit. Illuminiert ist er und will sich nicht entgiften und solide werden, so gern der arme Joachim auch Soldat sein mochte im Flachland. Sieh an, er ist gewachsen, wie es im Buche steht, der reine Apollo von Belvedere, bis auf die Haare. Aber innerlich ist er krank und au?en zu warm vor Krankheit; denn Krankheit macht den Menschen viel korperlicher, sie macht ihn ganzlich zum Korper ... Und wie er dies dachte, erschrak er und blickte rasch und forschend von Joachims blo?em Oberleib zu seinen Augen hinauf, seinen gro?en, schwarzen und sanften Augen, die vom kunstlichen Atmen und Husten in Tranen standen und bei der Untersuchung mit traurigem Ausdruck uber den Zuschauer hin ins Leere sahen.

Unterdessen aber war Hofrat Behrens zu Ende gekommen.

"Na, is gut, Ziem?en", sagte er. "Alles in Ordnung, so weit es moglich ist. Nachstes Mal"(das war in vier Wochen), "wird es gewi? uberall wieder ein bi?chen besser sein."

"Wie langemeinen Herr Hofrat, da? -"

"Wollen Sie schon wieder drangeln? Sie konnen Ihre Kerls doch nicht in angeheitertem Zustand kujonieren! Ein halbes Jahrchen habe ich neulich gesagt, - rechnen Sie meinetwegen von neulich an, aber betrachten Sie es als Minimum. Schlie?lich la?t sich ja leben hier, Sie mussen auch hoflich sein. Wir sind ja doch kein Bagno und kein ... sibirisches

Bergwerk! Oder wollen Sie sagen, da? wir mit so was Ahnlichkeit haben? Is gut, Ziem?en! Wegtreten! Weiter, wer da noch Lust hat!" rief er und sah in die Luft. Mit ausgestrecktem Arme reichte er dabei sein Horrohr zu Dr. Krokowski hinuber, der aufstand und es ergriff, um eine kleine Assistenten-Nachprufung bei Joachim vorzunehmen.

Auch Hans Castorp war aufgesprungen, und die Augen an die Person des Hofrats gefesselt, der, breitbeinig dastehend, offenen Mundes in Gedanken versunken schien, begann er, sich eilig in Bereitschaft zu setzen. Er uberhastete sich, fand nicht gleich aus seinem punktierten Manschettenhemd heraus, als er es sich uber den Kopf zog. Und dann stand er, wei?, blond und schmal, vor Hofrat Behrens, - von zivilerer Bildung schien er als Joachim Ziem?en.

Aber der Hofrat lie? ihn stehen, in Gedanken noch immer. Dr. Krokowski hatte schon wieder Platz genommen und Joachim sich ans Ankleiden gemacht, als Behrens sich endlich entschlo?, von dem, der da auch noch Lust hatte, Notiz zu nehmen.

"Ach so, das waren nun Sie!" sagte er, fa?te Hans Castorp mit seiner riesigen Hand am Oberarm, ruckte ihn von sich und betrachtete ihn scharf. Nicht ins Gesicht blickte er ihm, wie man einen Menschen ansieht, sondern auf den Korper; drehte ihn um, wie man einen Korper umdreht, und betrachtete auch seinen Rucken. "Hm", sagte er. "Na, wollen mal sehen, wie Sie sich anspielen." Und wie vorhin begann er sein Klopfen.

Er klopfte uberall, wo er es bei Joachim Ziem?en getan, und kehrte zu verschiedenen Stellen mehrmals zuruck. Langere Zeit klopfte er abwechselnd und zu Vergleichszwecken links oben beim Schlusselbein und etwas weiter unten.

"Horen Sie?" fragte er dabei zu Dr. Krokowski hinuber ... Und Dr. Krokowski, funf Schritte entfernt am Schreibtisch sitzend, bekundete durch eine Kopfneigung, da? er hore: ernst senkte er das Kinn auf die Brust, so da? sein Bart eingedruckt wurde und die Spitzen sich aufwarts bogen.

"Tief atmen! Husten!" kommandierte der Hofrat, der nun das Horrohr wieder zur Hand genommen; und Hans Castorp arbeitete schwer, wohl acht oder zehn Minuten lang, wahrend der Hofrat ihn abhorchte. Er sprach kein Wort dabei, setzte das Horrohr nur dahin und dorthin und horchte namentlich und wiederholt an den Punkten, wo er vorhin schon mit Klopfen verweilt hatte. Dann schob er das Instrument unter den Arm,

legtedie Hande auf den Rucken und blickte zwischen sich und Hans Castorp auf den Fu?boden nieder.

"Ja, Castorp," sagte er - und es geschah zum erstenmal, da? er den jungen Mann einfach mit Nachnamen nannte -, "die Sache verhalt sich so praeter-propter, wie ich sie mir schon immer gedacht hatte. Ich habe Sie auf dem Strich gehabt, Castorp, nun kann ichs Ihnen ja sagen, - von vornherein, schon seit ich zuerst die unverdiente Auszeichnung hatte, Sie kennenzulernen, - und ziemlich sicher vermutet, da? Sie im stillen ein Hiesiger waren und das auch noch einsehen wurden, wie schon so mancher, der zum Spa? hier heraufkam und sich mit erhobener Nase umsah und eines Tages erfuhr, da? er gut tate - und nicht blo? 'gut tate', bitte mich wohl zu verstehen - hier ganz ohne unbeteiligte Neugiersallure eine etwas ausgiebigere Station zu machen."

Hans Castorp hatte sich verfarbt, und Joachim, im Begriffe, sich die Hosentrager zu knopfen, hielt inne, wie er da eben stand, und lauschte ...

"Sie haben da einen so netten, sympathischen Vetter," fuhr der Hofrat fort, indem er mit dem Kopfe nach Joachims Seite deutete und sich dabei auf Fu?ballen und Absatzen schaukelte, "- der nun ja hoffentlich bald wird sagen konnen, da? er einmal krank gewesen ist, aber wenn wir so weit sind, so wird er doch eben immer noch fruher einmal krank gewesen sein, Ihr Herr rechter Vetter, und das wirft a priori, wie der Denker sagt, so ein gewisses Licht auch auf Sie, lieber Castorp ..."

"Er ist aber nur ein Stiefvetter von mir, Herr Hofrat."

"Nanu, nanu. Sie werden doch Ihren Cousin nicht verleugnen wollen. Stief oder nicht, er bleibt doch immer ein Blutsverwandter. Von welcher Seite denn?"

"Von mutterlicher, Herr Hofrat. Er ist der Sohn einer Stief-"

"Und Ihre Frau Mama ist vergnugt?"

"Nein, sie ist tot. Sie starb, als ich noch klein war."

"Oh, warum denn?"

"An einem Blutpfropf, Herr Hofrat."

"Blutpfropf? Na, es ist ja schon lange her. Und Ihr Herr Vater?"

"Der ist an der Lungenentzundung gestorben -," sagte Hans Castorp, "und mein Gro?vater auch -", setzte er hinzu.

"So, der auch? Na, soviel von Ihren Vorfahren. Was nun Sie betrifft, so

waren Sie ja wohl immer ziemlich bleichsuchtig, nicht? Aber mude wurden Sie gar nicht leicht bei korperlicher und geistiger Arbeit? Doch? Und haben viel Herzklopfen? Neuerdings erst? Schon, und au?erdem liegt ja offenbar eine lebhafte Neigung zu Katarrhen der Luftwege vor. Wissen Sie, da? Sie fruher schon krank waren?"

"Ich?"

"Ja, ich habe Sie personlich im Auge. Horen Sie den Unterschied?" Und der Hofrat klopfte abwechselnd links oben an der Brust und etwas weiter unten.

"Da klingt es etwas dumpfer als hier", sagte HansCastorp.

"Sehr gut. Sie sollten Spezialist werden. Das ist also eine Dampfung, und Dampfungen beruhen auf veralteten Stellen, wo schon Verkalkung eingetreten ist, Vernarbung, wenn Sie wollen. Sie sind ein alter Patient, Castorp, aber wir wollen es niemandem ubelnehmen, da? Sie es nicht erfuhren. Die Fruhdiagnose ist schwierig, - zumal fur die Herren Kollegen im Flachland. Ich will nicht mal sagen, da? wir feinere Ohren haben, obgleich ja die Spezialubung einiges ausmacht. Aber die Luft hilft uns horen, verstehen Sie, die dunne, trockene Luft hier oben."

"Gewi?, naturlich", sagte Hans Castorp.

"Schon, Castorp. Und nun horen Sie mal zu, mein Junge, ich will nun mal mehrere goldene Worte sprechen. Wenn es weiter nichts ware mit Ihnen, verstehen Sie, und es bei den Dampfungen und Narben an Ihrem Aolusschlauch da drinnen und mit den kalkigen Fremdkorpern darin sein Bewenden hatte, so wurde ich Sie zu Ihren Laren und Penaten schicken und mich auch keinen Deut mehr um Sie kummern, verstehen Sie wohl? Wie aber die Dinge liegen und weiterhin noch der Befund ist, und wo Sie nun einmal hier bei uns sind, - so lohnt es die Heimreise nicht, Hans Castorp, - in kurzem mu?ten Sie doch wieder antreten."

Hans Castorp fuhlte aufs neue sein Blut zum Herzen stromen, so da? es hammerte, und Joachim stand immer noch, die Hande an hinteren Knopfen, und hatte die Augen niedergeschlagen.

"Denn au?er den Dampfungen," sagte der Hofrat, "haben Sie da links oben auch eine Rauhigkeit, die beinahe schon ein Gerausch ist und zweifellos von einer frischen Stelle kommt, - ich will noch nicht von einem Erweichungsherd reden, aber es ist bestimmt eine feuchte Stelle, und wenn Sie's da unten so weiter treiben, mein Lieber, so geht Ihnen, was hast du was kannst du, der ganze Lungenlappen zum Teufel."

Hans Castorp stand ohne Regung, um seinen Mund zuckte es sonderbar, und deutlich konnte man sein Herz gegen die Rippen pulsieren sehen. Er blickte zu Joachim hinuber, dessen Augen er nicht fand, und dann wieder in des Hofrats Gesicht mit den blauen Backen, den ebenfalls blauen Quellaugen und dem einseitig geschurzten Schnurrbartchen.

"Als objektive Bestatigung," fuhr Behrens fort, "haben wir da noch Ihre Temperatur: 37,6 zehn Uhr fruh, das entspricht so ziemlich den akustischen Wahrnehmungen."

"Ich dachte nur," sagte Hans Castorp, "das Fieber kame von meinem Katarrh."

"Und der Katarrh?" versetzte der Hofrat ... "Wovon kommt der? Lassen Sie sich mal was erzahlen, Castorp, und passen Sie auf, Sie verfugen ja uber hinlanglich zahlreiche Hirnwindungen, soviel ich wei?. Also die Luft hier bei uns, die ist gut gegen die Krankheit, meinen Sie, nicht wahr? Und das ist auch so. Aber sie ist auch gut fur die Krankheit, verstehenSie mich, sie fordert sie erst einmal, sie revolutioniert den Korper, sie bringt die latente Krankheit zum Ausbruch, und so ein Ausbruch, nichts fur ungut, ist Ihr Katarrh. Ich wei? nicht, ob Sie schon unten im Tieflande febril gewesen sind, aber hier oben sind Sie es jedenfalls gleich am ersten Tage geworden und nicht erst durch Ihren Katarrh, - um meine Meinung zu sagen."

"Ja," sagte Hans Castorp, "ja, das glaube ich wirklich auch."

"Sofort waren Sie wahrscheinlich beschwipst", bekraftigte der Hofrat. "Das sind die loslichen Gifte, die von den Bakterien erzeugt werden; die wirken berauschend auf das Zentralnervensystem, verstehen Sie, und dann kriegt man heitere Backchen. Sie gehen nun erst einmal in die Klappe, Castorp; wir mussen sehen, ob wir Sie durch ein paar Wochen Bettruhe nuchtern kriegen. Das Weitere kann nachher kommen. Wir nehmen eine schone Innenansicht von Ihnen auf - es wird Ihnen Spa? machen, so Einblick zu gewinnen in Ihre eigne Person. Das sage ich Ihnen aber gleich: ein Fall wie Ihrer heilt nicht von heute bis ubermorgen, Reklameerfolge und Wunderkuren sind dabei nicht aufzuweisen. Es kam mir doch gleich so vor, als ob Sie ein besserer Patient sein wurden, mit mehr Talent zum Kranksein, als der Brigadegeneral da, der immer gleich weg will, wenn er mal ein paar Striche weniger hat. Als ob Stillgelegen nicht ein ebenso gutes Kommando ware wie Stillgestanden! Ruhe ist die erste Burgerpflicht, und Ungeduld schadet blo?. Da? Sie mich also nicht

enttauschen, Castorp, und meine Menschenkenntnis nicht Lugen strafen, bitt' ich mir aus! Und nun marsch, in die Remise mit Ihnen!"

Damit schlo? Hofrat Behrens die Unterredung und setzte sich an den Schreibtisch, um als Mann von vielen Geschaften die Pause bis zur nachsten Untersuchung mit schriftlicher Arbeit auszufullen. Dr. Krokowski aber erhob sich von seinem Platze, schritt auf Hans Castorp zu, und, den Kopf schrag zuruckgelegt, eine Hand auf der Schulter des jungen Mannes und kernig lachelnd, so da? in seinem Barte die gelblichen Zahne sichtbar wurden, schuttelte er ihm herzhaft die Rechte.

Funftes Kapitel

Ewigkeitssuppe und plotzliche Klarheit

Hier steht eine Erscheinung bevor, uber die der Erzahler sich selbst zu wundern gut tut, damit nicht der Leser auf eigene Hand sich allzusehr daruber wundere. Wahrend namlich unser Rechenschaftsbericht uber die ersten drei Wochen von Hans Castorps Aufenthalt bei denen hier oben(einundzwanzig Hochsommertage, auf die sich menschlicher Voraussicht nach dieser Aufenthalt uberhaupt hatte beschranken sollen) Raume und Zeitmengen verschlungen hat, deren Ausdehnung unseren eigenen halb eingestandenen Erwartungen nur zu sehr entspricht, - wird die Bewaltigung der nachsten drei Wochen seines Besuches an diesem Orte kaum so viele Zeilen, ja Worte und Augenblicke erfordern, als jener Seiten, Bogen, Stunden und Tagewerke gekostethat: im Nu, das sehen wir kommen, werden diese drei Wochen hinter uns gebracht und beigesetzt sein.

Dies also konnte wundernehmen; und doch ist es in der Ordnung und entspricht den Gesetzen des Erzahlens und Zuhorens. Denn in der Ordnung ist es und diesen Gesetzen entspricht es, da? uns die Zeit genau so lang oder kurz wird, fur unser Erlebnis sich genau ebenso breit macht oder zusammenschrumpft, wie dem auf so unerwartete Art vom Schicksal mit Beschlag belegten Helden unserer Geschichte, dem jungen Hans Castorp; und es mag nutzlich sein, den Leser in Ansehung des Zeitgeheimnisses auf noch ganz andere Wunder und Phanomene, als das hier auffallende, vorzubereiten, die uns in seiner Gesellschaft zusto?en werden. Fur jetzt genugt es, da? jedermann sich erinnert, wie rasch eine Reihe, ja eine "lange" Reihe von Tagen vergeht, die man als Kranker im

Bette verbringt: es ist immer derselbe Tag, der sich wiederholt; aber da es immer derselbe ist, so ist es im Grunde wenig korrekt, von "Wiederholung" zu sprechen; es sollte von Einerleiheit, von einem stehenden Jetzt oder von der Ewigkeit die Rede sein. Man bringt dir die Mittagssuppe, wie man sie dir gestern brachte und sie dir morgen bringen wird. Und in demselben Augenblick weht es dich an - du wei?t nicht, wie und woher; dir schwindelt, indes du die Suppe kommen siehst, die Zeitformen verschwimmen dir, rinnen ineinander, und was sich als wahre Form des Seins dir enthullt, ist eine ausdehnungslose Gegenwart, in welcher man dir ewig die Suppe bringt. Mit Bezug auf die Ewigkeit aber von Langerweile zu sprechen, ware sehr paradox; und Paradoxe wollen wir meiden, besonders im Zusammenleben mit diesem Helden.

Hans Castorp also war bettlagrig seit Sonnabendnachmittag, da Hofrat Behrens, die oberste Autoritat in der Welt, die uns einschlie?t, es so angeordnet hatte. Da lag er, sein Monogramm auf der Brusttasche seines Nachthemds, die Hande hinter dem Kopf gefaltet, in seinem reinlichen, wei?en Bett, dem Totenbett der Amerikanerin und wahrscheinlich noch mancher anderen Person, und blickte mit einfachen, vom Schnupfen getrubten blauen Augen zur Zimmerdecke empor, die Sonderbarkeit seiner Lebenslage betrachtend. Dabei ist nicht anzunehmen, da? seine Augen ohne Schnupfen klar, hell und unzweideutig geblickt hatten, denn so sah es in seinem Inneren, wie einfach dieses auch sein mochte, nicht aus, sondern in der Tat sehr trube, verworren, undeutlich-halbaufrichtig und zweifelhaft. Bald erschutterte, wie er so dalag, ein tolles, tief aufsteigendes Triumphgelachter von innen her seine Brust, und sein Herz stockte und schmerzte von einer nie gekannten, ausschweifenden Freude und Hoffnung; bald wieder erbla?te er vor Schrecken und Bangen, und es waren die Schlage des Gewissens selbst, mit denen sein Herz in raschem, fliegendem Takt gegendie Rippen pochte.

Joachim lie? ihn am ersten Tage ganz in Ruhe und vermied jede Erorterung. Schonend trat er ein paarmal ins Krankenzimmer, nickte dem Liegenden zu und fragte der guten Form wegen, ob ihm was abgehe. Ubrigens fiel es ihm um so leichter, Hans Castorps Scheu vor einer Auseinandersetzung zu erkennen und zu achten, als er sie teilte und sich nach seiner Auffassung sogar in einer peinlicheren Lage befand als dieser.

Aber am Sonntagvormittag, nach seiner Ruckkehr von dem wie fruher

allein zuruckgelegten Morgenspaziergang, verschob er es trotzdem nicht langer, das nun unmittelbar Notwendigste mit seinem Vetter zu beraten. Er stellte sich an dessen Bett und sagte aufseufzend:

"Ja, es hilft alles nichts, es mussen nun Schritte geschehen. Sie erwarten dich ja zu Hause."

"Noch nicht", antwortete Hans Castorp.

"Nein, aber in den nachsten Tagen, Mittwoch oder Donnerstag."

"Ach," sagte Hans Castorp, "sie erwarten mich uberhaupt nicht so genau auf den Tag. Die haben anderes zu tun, als auf mich zu warten und die Tage zu zahlen, bis ich wiederkomme. Wenn ich komme, so bin ich da, und Onkel Tienappel sagt: 'Da bist du ja auch wieder!' und Onkel James sagt: 'Na, war's schon.' Und wenn ich nicht komme, so dauert es lange, bis es ihnen auffallt, da kannst du sicher sein. Selbstverstandlich mu?te man sie mit der Zeit benachrichtigen ..."

"Du kannst dir denken," sagte Joachim und seufzte wieder, "wie unangenehm mir die Sache ist! Was soll denn jetzt werden? Naturlich fuhle ich mich doch sozusagen verantwortlich. Du kommst hier herauf, um mich zu besuchen, und ich fuhre dich ein hier oben, und nun sitzst du fest, und niemand wei?, wann du wieder loskommst und deine Stelle antreten kannst. Du mu?t einsehen, da? mir das im hochsten Grade peinlich ist."

"Erlaube mir!" sagte Hans Castorp, immer die Hande unter dem Kopf. "Was machst denn du dir fur Kopfzerbrechen? Das ist doch Unsinn. Bin ich heraufgekommen, um dich zu besuchen? Auch; aber in erster Linie doch schlie?lich, um mich zu erholen, auf Vorschrift von Heidekind. Na, und nun zeigt sich eben, da? ich erholungsbedurftiger bin, als er und wir alle uns haben traumen lassen. Ich bin ja wohl nicht der erste, der glaubte, hier eine Stippvisite zu machen, und fur den es dann anders kam. Denke doch nur zum Beispiel an Tous les deux' zweiten Sohn, und wie es den hier denn doch noch ganz anders getroffen hat, - ich wei? nicht, ob er noch lebt, vielleicht haben sie ihn abgeholt wahrend einer Mahlzeit. Da? ich etwas krank bin, ist mir ja eine Uberraschung, ich mu? mich erst darein finden, mich hier als Patient und richtig als einer von euchzu fuhlen, statt, wie bisher, nur als Gast. Und dann uberrascht es mich doch auch wieder fast gar nicht, denn so recht prachtvoll instand habe ich mich eigentlich niemals gefuhlt, und wenn ich denke, wie fruh meine beiden Eltern gestorben sind, - woher sollte die Pracht denn schlie?lich auch kommen! Da? du einen kleinen Knacks hast, nicht wahr,

wenn er nun auch so gut wie kuriert ist, daruber machen wir uns ja alle nichts vor, und also kann es ja sein, da? es ein bi?chen in unsrer Familie liegt, Behrens wenigstens machte so eine Bemerkung. Jedenfalls liege ich hier schon seit gestern und uberlege mir, wie mir doch eigentlich immer zumute war und wie ich mich zu dem Ganzen verhielt, zum Leben, wei?t du, und seinen Anforderungen. Ein gewisser Ernst und eine gewisse Abneigung gegen robustes und lautes Wesen lag immer in meiner Natur, - wir sprachen noch neulich davon, und da? ich manchmal fast Lust gehabt hatte, geistlich zu werden, aus Interesse fur traurige und erbauliche Dinge, - so ein schwarzes Tuch, wei?t du, mit einem silbernen Kreuz darauf oder R. I. P. ... Requiescat in pace ... das ist eigentlich das schonste Wort und mir viel sympathischer als 'Hoch soll er leben', was doch mehr ein Radau ist. Das alles, denke ich mir, kommt wohl daher, da? ich selbst einen Knacks habe und mich von Anfang an auf die Krankheit verstehe, - es zeigt sich bei dieser Gelegenheit. Aber wenn es sich nun doch so verhalt, so kann ich ja von Gluck sagen, da? ich heraufgekommen bin und mich habe untersuchen lassen; du brauchst dir nicht die geringsten Vorwurfe deswegen zu machen. Denn du hast ja gehort: wenn ich es im Flachland noch eine Weile so weiter getrieben hatte, so ware womoglich mir nichts dir nichts mein ganzer Lungenlappen zum Teufel gegangen."

"Das kann man nicht wissen!" sagte Joachim. "Das ist es ja eben, da? man das gar nicht wissen kann! Du sollst ja fruher schon Stellen gehabt haben, um die sich niemand gekummert hat und die ganz von selbst verheilt sind, so da? du jetzt nur noch ein paar gleichgultige Dampfungen davon hast. So ware es moglicherweise auch mit der feuchten Stelle gegangen, die du jetzt haben sollst, wenn du nicht zufallig zu mir heraufgekommen warst, - man kann es nicht wissen!"

"Nein, wissen kann man gar nichts", antwortete Hans Castorp. "Und darum hat man kein Recht, das Argerlichste in Ansatz zu bringen, zum Beispiel auch was die Dauer meines Kuraufenthaltes betrifft. Du sagst, niemand wei?, wann ich loskomme und auf der Werft eintreten kann, aber du sagst es im pessimistischen Sinn, und dasfinde ich voreilig, da man es ja eben nicht wissen kann. Behrens hat keinen Termin genannt, er ist ein besonnener Mann und spielt nicht den Wahrsager. Es hat ja auch die Durchleuchtung und photographische Aufnahme noch gar nicht stattgefunden, die erst den Sachverhalt objektiv klarstellen wird, und wer wei?, ob da etwas Nennenswertes zutage kommt und ob ich nicht

vorher schon fieberfrei bin und euch Adieu sagen kann. Ich bin dafur, da? wir uns nicht vor der Zeit aufspielen und denen zu Hause nicht gleich die gro?ten Raubergeschichten erzahlen. Es genugt, wenn wir nachstens mal schreiben - ich kann selbst schreiben, mit der Fullfeder hier, wenn ich mich etwas aufsetze -, da? ich stark erkaltet und febril und bettlagrig bin und vorderhand noch nicht reisen kann. Das Weitere findet sich."

"Gut," sagte Joachim, "so konnen wir's vorlaufig machen. Und dann konnen wir ja auch mit dem anderen noch etwas zuwarten."

"Mit welchem anderen?"

"Sei nicht so gedankenlos! Du bist doch nur auf drei Wochen eingerichtet mit deinem Kajutenkoffer. Du brauchst Wasche, Unter- und Oberwasche und Winterkleider, und brauchst mehr Schuhzeug. Schlie?lich, auch Geld mu?t du dir kommen lassen."

"Wenn," sagte Hans Castorp, "wenn ich das alles brauche."

"Gut, warten wir's ab. Aber wir sollten ... nein," sagte Joachim und ging in Bewegung durchs Zimmer, "wir sollten uns keine Illusionen machen! Ich bin zu lange hier, um nicht Bescheid zu wissen. Wenn Behrens sagt, da? da eine rauhe Stelle ist, beinah ein Gerausch ... Aber selbstverstandlich, wir konnen ja zusehen!" -

Dabei blieb es fur diesmal, und vorderhand traten die acht- und vierzehntagigen Abwandlungen des Normaltages in ihre Rechte, - auch in seiner gegenwartigen Lage hatte Hans Castorp teil daran, wo nicht durch unmittelbaren Mitgenu?, so durch Berichte, die Joachim abstattete, wenn er ihn besuchte und sich fur eine Viertelstunde auf seine Bettkante setzte.

Das Teebrett, worauf man ihm am Sonntagmorgen sein Fruhstuck brachte, war mit einem Blumenvaschen geschmuckt, und man hatte nicht versaumt, ihm von dem Feingeback zu schicken, das heute im Saale gereicht wurde. Spater wurde es drunten im Garten und auf der Terrasse lebendig, und mit Trara und Klarinettengenasel setzte das vierzehntagige Sonntagskonzert ein, zu dem Joachim sich bei seinem Vetter einfand: er nahm die Darbietung bei offener Balkontur drau?en in der Loge entgegen, wahrend Hans Castorp von seinem Bette aus, halb sitzend, den Kopf auf die Seite gelegt und liebevoll-andachtig verschwimmenden Blickes den heraufdrangenden Harmonien lauschte, nicht ohne innerlich achselzuckend der Redereien Settembrinis von der

"politischen Verdachtigkeit" der Musik zu gedenken.

Im ubrigen, wie wir sagten, lie? er sich von Joachim uber die Erscheinungen und Veranstaltungen dieser Tage Bericht erstatten, fragte ihn aus, ob der Sonntag festliche Toiletten gebracht habe, Spitzenmatinees oder dergleichen(fur Spitzenmatineeswar es jedoch zu kalt gewesen); auch ob nachmittags Wagenfahrten stattgefunden hatten(wirklich waren welche unternommen worden: der Verein "Halbe Lunge" war in corpore nach Clavadell ausgeflogen); und am Montag verlangte er, von Dr. Krokowskis Conference zu horen, als Joachim davon zuruckkehrte und, bevor er in die Mittagsliegekur ging, bei ihm vorsprach. Joachim zeigte sich mundfaul und abgeneigt, uber den Vortrag zu berichten, - wie ja auch von dem vorigen weiter nicht zwischen den beiden die Rede gewesen war. Aber Hans Castorp bestand darauf, Einzelheiten zu horen. "Ich liege hier und zahle den vollen Preis", sagte er. "Ich will auch etwas haben von dem, was geboten wird." Er erinnerte sich an den Montag vor vierzehn Tagen, an seinen selbstandigen Spaziergang, der ihm so wenig gut getan, und gab der bestimmten Vermutung Ausdruck, da? er es eigentlich gewesen sei, der revolutionierend auf seinen Korper gewirkt und die still vorhandene Krankheit zum Ausbruch gebracht habe. "Aber wie die Leute hier reden," rief er; "das niedere Volk, - so wurdig und feierlich: es klingt zuweilen wie Poesie. 'Nun, so leb' wohl und hab' Dank!'" wiederholte er, indem er die Sprechweise des Holzknechtes nachahmte. "So habe ich es im Walde gehort, und ich vergesse es meiner Lebtage nicht. Dergleichen verbindet sich dann mit anderen Eindrucken oder Erinnerungen, wei?t du, und man behalt es bis an sein Lebensende im Ohr. - Und Krokowski hat also wieder von 'Liebe' gesprochen?" fragte er und schnitt ein Gesicht bei dem Wort.

"Selbstredend", sagte Joachim. "Wovon denn sonst. Es ist ja nun einmal sein Thema."

"Was sagte er denn heute davon?"

"Ach, nichts Besonderes. Du wei?t ja selbst, vom vorigen Mal, wie er sich ausdruckt."

"Aber was gab er denn Neues zum besten?"

"Nichts weiter Neues ... Ja, es war die reine Chemie, was er heute verzapfte", lie? Joachim sich widerstrebend herbei, zu berichten. Es handele sich "dabei" um eine Art von Vergiftung, von Selbstvergiftung des Organismus, habe Dr. Krokowski gesagt, die so entstehe, da? ein

noch unbekannter, im Korper verbreiteter Stoff Zersetzung erfahre; und die Produkte dieser Zersetzung wirkten berauschend auf gewisse Ruckenmarkszentren ein, nicht anders, als wie es sich bei der gewohnheitsma?igen Einfuhrung von fremden Giftstoffen, Morphin oder Kokain, verhalte.

"Und dann kriegt man heitere Backchen!" sagte Hans Castorp. "Sieh an, das ist ja horenswert. Was der nicht alles wei? -. Er hat es mit Loffeln gegessen. Warte nur, eines Tages entdeckt er dir noch den unbekannten Stoff, der im ganzen Korper verbreitet ist, und stellt die loslichen Gifte her, die berauschend aufs Zentrum wirken, dann kann er die Leute auf eine besondere Weise beschwipsen. Vielleicht war man fruher schon einmal so weit. Wenn man ihn hort, so konnte mandenken, da? etwas Wahres ist an den Geschichten von Liebestranken und solchem Zeug, wovon in den Sagenbuchern die Rede ist ... Gehst du schon?"

"Ja," sagte Joachim, "ich mu? unbedingt noch etwas liegen. Ich habe ansteigende Kurve seit gestern. Die Sache mit dir hat mir doch etwas zugesetzt." -

Das war der Sonntag, der Montag. Aus Abend und Morgen wurde der dritte Tag von Hans Castorps Aufenthalt in der "Remise", ein Wochentag ohne Auszeichnung, der Dienstag. Es war aber der Tag seiner Ankunft hier oben, er war nun rund drei Wochen an diesem Ort, und so trieb es ihn doch, den Brief nach Hause zu schreiben und seine Onkel wenigstens obenhin und fur den Augenblick uber den Stand der Dinge zu unterrichten. Sein Plumeau im Rucken, schrieb er auf einem Briefbogen der Anstalt, da? seine Abreise von hier sich planwidrig verzogere. Er liege mit einer fieberigen Erkaltung, die von Hofrat Behrens, ubergewissenhaft, wie er wohl sei, offenbar nicht ganz auf die leichte Achsel genommen werde, da er sie mit seiner, des Schreibers, Konstitution uberhaupt in Zusammenhang bringe. Denn gleich bei der ersten Bekanntschaft habe der dirigierende Arzt ihn stark anamisch gefunden, und alles in allem scheine es, als ob ma?geblicherseits die von ihm, Hans Castorp, zu seiner Erholung angesetzte Frist nicht fur recht ausreichend erachtet werde. Weiteres ehetunlichst. - So ist es gut, dachte Hans Castorp. Da ist kein Wort zu viel und doch halt es auf jeden Fall eine Weile vor. - Der Brief wurde dem Hausdiener ubergeben, der ihn unter Vermeidung des Umweges uber den Kasten unmittelbar zum nachsten fahrplanma?igen Zug beforderte.

Hiernach schien unserem Abenteurer vieles geordnet, und mit

beschwichtigtem Gemut, wenn auch geplagt von Husten und Schnupfendumpfheit, lebte er abwartend in den Tag hinein, den vielfach in kurze Stuckchen geteilten und in seiner feststehenden Einformigkeit weder kurz- noch langweiligen Normaltag, der immer derselbe war. Morgens trat nach machtigem Anklopfen der Bademeister herein, ein nerviges Individuum namens Turnherr, mit aufgerollten Hemdarmeln, hochgeaderten Unterarmen und einer gurgelnden, schwer behinderten Sprechart, der Hans Castorp, wie alle Patienten, mit seiner Zimmernummer anredete und ihn mit Alkohol abrieb. Nicht lange nach seinem Abgang erschien Joachim, fertig angezogen, um Guten Morgen zu sagen, nach seines Vetters Sieben-Uhr-fruh-Temperatur zu fragen und seine eigene mitzuteilen. Wahrend er drunten fruhstuckte, tat Hans Castorp, sein Plumeau im Rucken, mit dem Appetit, den eine neue Lebenslage erzeugt, dasselbe -, kaum gestort durch den geschaftig-geschaftsma?igen Einbruch der Arzte, die um diese Zeit den Speisesaal passiert hatten und ihren Rundgang durch die Zimmer der Bettlagrigen und Moribunden im Geschwindschritt zurucklegten. Den Mund voll Eingemachtem, bekundete er, "schon" geschlafen zu haben, sah uber den Rand seiner Tasse hin zu, wie der Hofrat, derseine Fauste auf die Platte des Mitteltisches stemmte, rasch die dort aufliegende Fiebertabelle prufte, und erwiderte gleichmutig gedehnten Tones den Morgengru? der Abziehenden. Dann zundete er sich eine Zigarette an und sah Joachim schon von seinem morgendlichen Dienstgang wieder zuruckkehren, wenn er kaum gedacht hatte, da? er fortgegangen sei. Wieder plauderten sie dies und das, und der Zeit-Zwischenraum bis zum zweiten Fruhstuck - Joachim hielt Liegekur unterdessen - war so kurz, da? selbst ein ausgemachter Hohlkopf und Geistesarmer es nicht zur Langenweile gebracht haben wurde, - wahrend doch Hans Castorp an den Eindrucken seiner ersten drei Wochen hier oben reichlich zu zehren, auch seine gegenwartige Lebenslage und was etwa daraus werden mochte, innerlich zu bearbeiten hatte und der beiden dicken Bande einer illustrierten Zeitschrift kaum bedurft hatte, die, der Anstaltsbibliothek entstammend, auf seinem Nachttisch lagen.

Nichts anderes gilt fur die Zeitspanne, wahrend der Joachim seinen zweiten Gang nach Platz Davos absolvierte, ein leichtes Stundchen. Er sprach dann wieder vor bei Hans Castorp und erzahlte von dem und jenem, was ihm im Spazieren auffallig geworden, stand oder sa? einen Augenblick am Krankenbette, bevor er in die Mittagsliegekur ging, - und wie lange dauerte die? Nur wieder ein Stundchen! Man hatte kaum, die

Hande hinter dem Kopf gefaltet, ein wenig zur Decke geblickt und einem Gedanken nachgehangen, so drohnte das Gong, das die nicht Bettlagrigen und Moribunden aufforderte, sich zur gro?en Mahlzeit instandzusetzen.

Joachim ging, und es kam die "Mittagssuppe": ein einfaltig symbolischer Name fur das, was kam! Denn Hans Castorp war nicht auf Krankenkost gesetzt, - warum auch hatte man ihn darauf setzen sollen? Krankenkost, schmale Kost war auf keine Art indiziert bei seinem Zustande. Er lag hier und zahlte den vollen Preis, und was man ihm bringt in der stehenden Ewigkeit dieser Stunde, das ist keine "Mittagssuppe", es ist das sechsgangige Berghof-Diner ohne Abzug und in aller Ausfuhrlichkeit, - am Alltage uppig, am Sonntage ein Gala-, Lust- und Parademahl, von einem europaisch erzogenen Chef in der Luxushotelkuche der Anstalt bereitet. Die Saaltochter, deren Amt es war, die Bettlagrigen zu versorgen, brachte es ihm unter vernickelten Hohldeckeln und in leckeren Tiegeln; sie schob den Krankentisch, der sich eingefunden, dies einbeinige Wunder von Gleichgewichtskonstruktion, quer uber sein Bett vor ihn hin, und Hans Castorp tafelte daran wie der Sohn des Schneiders am Tischlein deck dich.

Kaum hatte er abgespeist, so kehrte auch Joachim zuruck, und bis dieser in seine Loggia ging und die Stille der gro?en Liegekur sich uber Haus "Berghof" senkte, war es soviel wie halb drei geworden. Nicht ganz, vielleicht; genau genommen wohl erst ein Viertel uber zwei. Aber solche uberzahligen Viertelstunden au?erhalb runder Einheiten werden nicht mitgerechnet, sondern nebenbei verschlungen, wogro?zugige Zeitwirtschaft herrscht, wie etwa auf Reisen, bei vielstundiger Bahnfahrt oder sonst in leerem, wartendem Zustande, wenn alles Streben und Leben aufs Hinbringen und Zurucklegen von Zeit zuruckgefuhrt ist. Ein Viertel uber zwei Uhr - das gilt fur halb drei; es gilt in Gottes Namen auch gleich fur drei Uhr, da schon die Drei im Spiele ist. Die drei?ig Minuten werden als Auftakt zur runden Stunde von drei bis vier Uhr verstanden und innerlich beseitigt: so macht man es unter solchen Umstanden. Und so beschrankte sich denn die Dauer der gro?en Liegekur schlie?lich und eigentlich wieder auf eine Stunde, - die ubrigens an ihrem Ende vermindert, weggestutzt und gleichsam apostrophiert wurde. Der Apostroph war Dr. Krokowski.

Ja, Dr. Krokowski beschrieb auf seinem selbstandigen

Nachmittagsrundgang keinen Bogen mehr um Hans Castorp. Dieser zahlte nun mit, er war nicht langer ein Intervall und Hiatus, er war Patient, er wurde gefragt und nicht links liegengelassen, wie es zu seinem geheimen und leichten, aber taglich wieder empfundenen Arger so lange geschehen war. Es war am Montag gewesen, da? Dr. Krokowski zum erstenmal im Zimmer erschienen war, - wir sagen "erschienen", denn das ist das rechte Wort fur den sonderbaren und sogar etwas entsetzlichen Eindruck, dessen Hans Castorp sich damals nicht hatte erwehren konnen. Er hatte im Halb- oder Viertelschlummer gelegen, als er aufschreckend gewahrte, da? der Assistent im Zimmer war, ohne durch die Tur hereingelangt zu sein, und von der Au?enseite her auf ihn zuschritt. Denn sein Weg war nicht uber den Korridor, sondern durch die au?eren Loggien gewesen, und durch die offene Balkontur war er eingetreten, so da? sich die Vorstellung aufdrangte, als sei er durch die Lufte gekommen. Da hatte er nun jedenfalls an Hans Castorps Lager gestanden, schwarzbleich, breitschultrig und stammig, der Apostroph der Stunde, und in seinem geteilten Bart waren gelblich und mannhaft lachelnd die Zahne zu sehen gewesen.

"Sie scheinen uberrascht, mich zu sehen, Herr Castorp," hatte er mit baritonaler Milde, schleppend, unbedingt etwas geziert und mit einem exotischen Gaumen-r gesprochen, das er jedoch nicht rollte, sondern durch ein nur einmaliges Anschlagen der Zunge gleich hinter den oberen Vorderzahnen erzeugte; "ich erfulle aber lediglich eine angenehme Pflicht, wenn ich bei Ihnen nun auch nach dem Rechten sehe. Ihr Verhaltnis zu uns ist in eine neue Phase getreten, uber Nacht ist aus dem Gaste ein Kamerad geworden ..."(Das Wort "Kamerad" hatte Hans Castorp etwas geangstigt.) "Wer hatte es gedacht!" hatte Dr. Krokowski kameradschaftlich gescherzt ... "Wer hatte es gedacht an dem Abend, als ich Sie zuerst begru?en durfte und Sie meiner irrigen Auffassung - damals war sie irrig - mit der Erklarung begegneten, Sie seien vollkommen gesund. Ich glaube, ichdruckte damals etwas wie einen Zweifel aus, aber, ich versichere Sie, ich meinte es nicht so! Ich will mich nicht scharfsichtiger hinstellen, als ich bin, ich dachte damals an keine feuchte Stelle, ich meinte es anders, allgemeiner, philosophischer, ich verlautbarte meinen Zweifel daran, da? 'Mensch' und 'vollkommene Gesundheit' uberhaupt Reimworte seien. Und auch heute noch, auch nach dem Verlauf Ihrer Untersuchung, kann ich, wie ich nun einmal bin, und im Unterschiede von meinem verehrten Chef, diese feuchte Stelle da" - und er hatte mit der Fingerspitze leicht Hans Castorps Schulter

beruhrt - "nicht als im Vordergrunde des Interesses stehend erachten. Sie ist fur mich eine sekundare Erscheinung ... Das Organische ist immer sekundar ..."

Hans Castorp war zusammengezuckt.

"... Und also ist Ihr Katarrh in meinen Augen eine Erscheinung dritter Ordnung", hatte Dr. Krokowski sehr leicht hinzugefugt. "Wie steht es damit? Die Bettruhe wird in dieser Hinsicht gewi? rasch das ihre tun. Was haben Sie heute gemessen?" Und von da an hatte der Besuch des Assistenten den Charakter einer harmlosen Kontrollvisite getragen, wie er ihn denn auch in den folgenden Tagen und Wochen bestandig trug: Dr. Krokowski kam ?4 Uhr oder auch schon etwas fruher uber den Balkon herein, begru?te den Liegenden auf mannhaft heitere Art, stellte die einfachsten arztlichen Fragen, leitete auch wohl ein kurzes, personlicher bestimmtes Geplauder ein, scherzte kameradschaftlich, - und wenn alles dies eines Anfluges von Bedenklichkeit nicht entbehrte, so gewohnt man sich endlich auch an das Bedenkliche, falls es in seinen Grenzen bleibt, und Hans Castorp fand bald nichts mehr gegen das regelma?ige Erscheinen Dr. Krokowskis zu erinnern, das nun einmal zum stehenden Normaltage gehorte und die Stunde der gro?en Liegekur apostrophierte.

Es war also 4 Uhr, wenn der Assistent wieder auf den Balkon zurucktrat, - das hei?t tiefer Nachmittag! Plotzlich und eh mans gedacht, war es tiefer Nachmittag, - der sich ubrigens ungesaumt ins annahernd Abendliche vertiefte: denn bis der Tee getrunken war, drunten im Saal und auf Nummer 34, ging es starkstens auf 5 Uhr und, bis Joachim von seinem dritten Dienstgange zuruckkehrte und bei seinem Vetter wieder vorsprach, immerhin so stark auf 6, da? sich die Liegekur bis zum Abendessen, wenn man nur ein wenig rund rechnete, wieder auf eine Stunde beschrankte, - eine spielend aus dem Felde zu schlagende Zeitgegnerschaft, wenn man Gedanken im Kopf und au?erdem einen ganzen orbis pictus auf dem Nachttische hat.

Joachim verabschiedete sich zur Mahlzeit. Das Essen wurde gebracht. Das Tal hatte sich langst mit Schatten gefullt, und wahrend Hans Castorp a?, dunkelte es zusehens im wei?en Zimmer. Er sa?, wenn er fertig war, in sein Plumeau gelehnt, vor dem abgegessenen Tischleindeckdich und blickte in die rasch zunehmende Dammerung,die Dammerung von heute, die von der gestrigen, vorgestrigen oder der vor acht Tagen nur schwer zu unterscheiden war. Es war Abend, - nachdem es eben noch Morgen gewesen. Der zerkleinerte und kunstlich kurzweilig gemachte

Tag war ihm buchstablich unter den Handen zerbrockelt und zunichte geworden, wie er mit heiterer Verwunderung oder allenfalls nachdenklich bemerkte; denn Grauen hiervor war seinen Jahren noch fremd. Ihm war nur, als blicke er "immer noch".

Eines Tages, es mochten zehn oder zwolf vergangen sein, seit Hans Castorp bettlagrig geworden war, pochte es um diese Stunde, das hei?t: bevor Joachim vom Abendessen und von der Geselligkeit zuruckgekehrt war, an die Stubentur, und auf Hans Castorps fragendes Herein erschien Lodovico Settembrini auf der Schwelle, - wobei es mit einem Schlage blendend hell im Zimmer wurde. Denn des Besuchers erste Bewegung, bei noch offener Tur, war gewesen, da? er das Deckenlicht eingeschaltet hatte, welches, von dem Wei? der Decke, der Mobel zuruckgeworfen, den Raum im Nu mit zitternder Klarheit uberfullte.

Der Italiener war die einzige Personlichkeit unter den Kurgasten, nach der Hans Castorp sich in diesen Tagen ausdrucklich und namentlich bei Joachim erkundigt hatte. Joachim berichtete ihm ja ohnedies, sooft er fur zehn Minuten auf seines Vetters Bettrand sa? oder neben ihm stand - und das geschah zehnmal am Tage - von den kleinen Vorkommnissen und Schwankungen im Alltagsleben der Anstalt, und soweit Hans Castorp Fragen gestellt hatte, waren sie allgemeiner und unpersonlicher Art gewesen. Die Neugier des Isolierten ging dahin, zu wissen, ob etwa neue Gaste angekommen oder von den vertrauten Physiognomien jemand abgereist sei; und es schien ihn zu befriedigen, da? nur jenes der Fall war. Ein "Neuer" war eingetroffen, ein junger Mann, grunlich und hohl von Gesicht, und hatte seinen Platz am Tische der elfenbeinernen Levi und der Frau Iltis, gleich rechts von dem der Vettern erhalten. Nun, Hans Castorp konnte es erwarten, ihn in Augenschein zu nehmen. Abgereist war also niemand? Joachim verneinte kurz, indem er die Augen niederschlug. Aber er mu?te die Frage mehrmals beantworten, eigentlich jeden zweiten Tag, obgleich er schlie?lich, eine gewisse Ungeduld in der Stimme, ein fur allemal Bescheid zu geben versucht und gesagt hatte, seines Wissens stehe niemand vor der Abreise, so schlankerhand werde hier uberhaupt ja nicht abgereist.

Was Settembrini betraf, so hatte also Hans Castorp personlich nach ihm gefragt und zu horen verlangt, was jener "dazu gesagt" habe. Wozu? "Nun, da? ich hier liege und krank sein soll." Wirklich hatte Settembrini sich geau?ert, wenn auch sehr knapp. Gleich am Tage von Hans Castorps Verschwinden war er an Joachim mit der Frage nach dem Verbleib des

Gastes herangetreten, wobei er sichtlich zu erfahren bereit gewesen war, da? HansCastorp abgereist sei. Auf Joachims Erklarungen hatte er nur mit zwei italienischen Wortern erwidert: zuerst hatte er "Ecco" und dann "Poveretto" gesagt, zu deutsch: "da haben wir's" und "armer Kleiner", - man brauchte nicht mehr Italienisch zu verstehen als die beiden jungen Leute, um den Sinn dieser beiden Au?erungen zu erfassen. "Wieso 'poveretto'?" hatte Hans Castorp gesagt. "Er sitzt doch auch hier oben mit seiner Literatur, die aus Humanismus und Politik besteht, und kann die irdischen Lebensinteressen wenig fordern. Er sollte mich nur nicht so von oben herab bemitleiden, ich komme immer noch fruher ins Flachland als er."

Nun also stand Herr Settembrini im jah erleuchteten Zimmer, - Hans Castorp, der sich auf den Ellbogen gestutzt und zur Tur gewandt hatte, erkannte ihn blinzelnd und errotete, als er ihn erkannte. Wie immer trug Settembrini seinen dicken Rock mit den gro?en Aufschlagen, einen etwas schadhaften Umlegekragen dazu und die karierten Hosen. Da er vom Essen kam, hielt er nach seiner Gewohnheit einen holzernen Zahnstocher zwischen den Lippen. Sein Mundwinkel unter der schonen Schnurrbartbiegung war zu dem bekannten feinen, nuchternen und kritischen Lacheln gespannt.

"Guten Abend, Ingenieur! Ist es erlaubt, sich nach Ihnen umzusehen? Wenn ja, so bedarf es dazu des Lichtes, - verzeihen Sie meine Eigenmachtigkeit!" sagte er, indem er die kleine Hand schwunghaft zur Deckenlampe emporwarf. "Sie kontemplierten, - ich mochte beileibe nicht storen. Neigung zur Nachdenklichkeit ware mir ganz begreiflich in Ihrem Fall, und zum Plaudern haben Sie schlie?lich Ihren Vetter. Sie sehen, meine Uberflussigkeit ist mir vollkommen deutlich. Trotzdem, man lebt auf so engem Raum beieinander, man fa?t Teilnahme von Mensch zu Mensch, geistige Teilnahme, Herzensteilnahme ... Es ist eine gute Woche, da? man Sie nicht sieht. Ich fing wahrhaftig an, mir einzubilden, Sie seien abgereist, als ich Ihren Platz drunten im Refektorium leer sah. Der Leutnant belehrte mich eines Besseren, hm, eines weniger Guten, wenn das nicht unhoflich klingt ... Kurz, wie geht es? Was treiben Sie? Wie fuhlen Sie sich? Doch nicht allzu niedergeschlagen?"

"Sie sind es, Herr Settembrini! Das ist ja freundlich. Ha, ha, 'Refektorium'? Da haben Sie gleich wieder einen Witz gemacht. Nehmen Sie den Stuhl, bitte. Sie storen mich keine Spur. Ich lag da und sinnierte,

- sinnieren ist schon viel zu viel gesagt. Ich war einfach zu faul, das Licht anzudrehen. Danke vielmals, es geht mir subjektiv so gut wie normal. Mein Schnupfen ist beinahe behoben durch die Bettruhe, aber er soll ja eine sekundare Erscheinung sein, wie ich allgemein hore. Die Temperatur ist eben immer noch nicht, wie sie sein sollte, mal 37,5, mal 37,7, das hat sich in diesen Tagen noch nicht geandert."

"Sie nehmen regelma?ig Messungen vor?"

"Ja, sechsmal am Tage,ganz wie sie alle hier oben. Haha, entschuldigen Sie, ich mu? noch lachen daruber, da? Sie unsern Speisesaal 'Refektorium' nannten. So sagt man doch im Kloster, nicht? Davon hat es hier wirklich etwas, - ich war ja noch nie in einem Kloster, aber so ahnlich stelle ich es mir vor. Und die 'Regeln' habe ich auch schon am Schnurchen und beobachte sie ganz genau."

"Wie ein frommer Bruder. Man kann sagen, Ihr Noviziat ist beendet, Sie haben Profe? getan. Meine feierliche Gratulation. Sie sagen ja auch schon 'unser Speisesaal'. Ubrigens - ohne Ihrer Manneswurde zu nahe treten zu wollen - erinnern Sie mich fast mehr an ein junges Nonnlein als an einen Monch, - an so ein eben geschorenes, unschuldiges Brautchen Christi mit gro?en Opferaugen. Ich habe fruher hie und da solche Lammer gesehen nie ohne ... nie ohne eine gewisse Sentimentalitat. Ah, ja, ja, Ihr Herr Vetter hat mir alles erzahlt. Sie haben sich also im letzten Moment noch untersuchen lassen."

"Da ich febril war -. Ich bitte Sie, Herr Settembrini, bei einem solchen Katarrh hatte ich mich in der Ebene an unseren Arzt gewandt. Und hier, wo man sozusagen an der Quelle sitzt, wo zwei Spezialisten im Hause sind, - es ware doch komisch gewesen ..."

"Versteht sich, versteht sich. Und gemessen hatten Sie sich also schon, bevor man es Ihnen aufgetragen. Man hatte es Ihnen ubrigens sofort empfohlen. Das Thermometer hat Ihnen die Mylendonk zugesteckt?"

"Zugesteckt? Da der Bedarfsfall vorlag, habe ich ihr eines abgekauft."

"Ich verstehe. Ein einwandfreies Handelsgeschaft. Und wieviel Monate hat der Chef Ihnen aufgebrummt? ... Gro?er Gott, so habe ich Sie schon einmal gefragt! Erinnern Sie sich? Sie waren frisch angekommen. Sie antworteten so keck damals ..."

"Naturlich wei? ich das noch, Herr Settembrini. Viel Neues habe ich seitdem erlebt, aber das wei? ich doch noch wie heute. Gleich damals waren Sie so amusant und machten Hofrat Behrens zum Hollenrichter ...

Rhadames ... Nein, warten Sie, das ist was anderes ..."

"Rhadamanthys? Mag sein, da? ich ihn beilaufig so nannte. Ich behalte nicht alles, was mein Kopf gelegentlich hervorsprudelt."

"Rhadamanthys, naturlich! Minos und Rhadamanthys! Auch von Carducci erzahlten Sie uns damals gleich ..."

"Erlauben Sie, lieber Freund, den wollen wir beiseite lassen. Der Name nimmt sich in diesem Augenblick gar zu fremdartig aus in Ihrem Munde!"

"Auch gut", lachte Hans Castorp. "Ich habe durch Sie aber doch viel uber ihn gelernt. Ja, damals hatte ich keine Ahnung und antwortete Ihnen, ich sei auf drei Wochen gekommen, anders wu?te ich's nicht. Gerade hatte die Kleefeld mich zur Begru?ung mit dem Pneumothorax angepfiffen, davon war ich etwas au?er mir. Aber auch febril fuhlte ich mich damals gleich, denn dieLuft hier ist ja nicht nur gut gegen die Krankheit, sie ist auch gut fur die Krankheit, manchmal bringt sie sie erst zum Ausbruch, und das ist am Ende wohl notig, wenn Heilung eintreten soll."

"Eine bestechende Hypothese. Hat Hofrat Behrens Ihnen auch von der Deutschrussin erzahlt, die wir voriges Jahr, - nein: vorvoriges Jahr funf Monate hier hatten? Nicht? Das hatte er tun sollen. Eine liebenswurdige Dame, deutschrussisch ihrer Abstammung nach, verheiratet, junge Mutter. Sie kam aus dem Osten hierher, lymphatisch, blutarm, es lag auch wohl etwas Ernsthafteres vor. Nun, sie lebt einen Monat hier und klagt, sie fuhle sich schlecht. Nur Geduld! Es vergeht ein zweiter Monat, und sie behauptet fortgesetzt, da? es ihr nicht besser, sondern schlechter geht. Ihr wird bedeutet, wie es ihr gehe, konne einzig und allein der Arzt beurteilen; sie konne nur angeben, wie sie sich fuhle, - und daran sei wenig gelegen. Mit ihrer Lunge sei man zufrieden. Gut, sie schweigt, sie macht Kur und verliert allwochentlich an Gewicht. Im vierten Monat wird sie bei Untersuchungen ohnmachtig. Das schade nichts, erklart Behrens; mit ihrer Lunge sei er recht wohl zufrieden. Als sie aber im funften Monat nicht mehr gehen kann, schreibt sie dies ihrem Manne nach Osten, und Behrens bekommt einen Brief von ihm, - es stand 'Personlich' und 'Dringlich' darauf in markiger Schrift, ich habe ihn selbst gesehen. Ja, sagt Behrens nun und zuckt die Achseln, es scheine sich ja herauszustellen, da? sie offenbar das Klima hier nicht vertrage. Die Frau war au?er sich. Das hatte er ihr doch fruher sagen mussen, rief sie, sie habe es immer gefuhlt, ganz und gar verdorben habe sie sich! ... Wir wollen hoffen, da? sie bei ihrem Mann im Osten

wieder zu Kraften gekommen ist."

"Ausgezeichnet! Sie erzahlen so hubsch, Herr Settembrini, geradezu plastisch ist jedes Ihrer Worte. Auch uber die Geschichte mit dem Fraulein, das im See badete, und der man die Stumme Schwester gab, habe ich noch oft im stillen lachen mussen. Ja, was alles vorkommt. Man lernt gewi? nicht aus. Mein eigener Fall liegt ubrigens noch ganz im Ungewissen. Der Hofrat will ja eine Kleinigkeit bei mir gefunden haben, - die alten Stellen, wo ich fruher schon krank war, ohne es zu wissen, habe ich selbst beim Klopfen gehort, und nun soll auch eine frische hier irgendwo zu horen sein - ha, 'frisch' ist ubrigens eigentumlich gesagt in diesem Zusammenhang. Aber bis jetzt handelt es sich ja nur um akustische Wahrnehmungen, und die rechte diagnostische Sicherheit werden wir erst haben, wenn ich wieder auf bin und die Durchleuchtung und photographische Aufnahme stattgefunden hat. Dann werden wir positiv Bescheid wissen."

"Meinen Sie?- Wissen Sie, da? die photographische Platte oft Flecken zeigt, die man fur Kavernen halt, wahrend sie blo? Schatten sind, und da? sie da, wo etwas ist, zuweilen keine Flecken zeigt? Madonna, die photographische Platte! Hier war ein junger Numismatiker, der fieberte; und da er fieberte, sah man deutlich Kavernen auf der photographischen Platte. Man wollte sie sogar gehort haben! Er wurde auf Phthisis behandelt, und daruber starb er. Die Obduktion lehrte, da? seiner Lunge nichts fehlte, und da? er an irgendwelchen Kokken gestorben war."

"Nun, horen Sie, Herr Settembrini, gleich von Obduktion reden Sie! Soweit ist es mit mir denn doch wohl noch nicht."

"Ingenieur, Sie sind ein Schalk."

"Und Sie sind durch und durch ein Kritiker und Zweifler, das mu? man sagen! Nicht einmal an die exakte Wissenschaft glauben Sie. Zeigt denn bei Ihnen die Platte Flecken?"

"Ja, sie zeigt welche."

"Und sind Sie wirklich etwas krank?"

"Ja, ich bin leider ziemlich krank", erwiderte Herr Settembrini und lie? das Haupt sinken. Es trat eine Pause ein, in der er hustelte. Hans Castorp blickte aus seiner Ruhelage auf den zum Schweigen gebrachten Gast. Ihm war, als hatte er mit seinen beiden sehr einfachen Fragen alles mogliche widerlegt und zum Verstummen gebracht, sogar die Republik und den schonen Stil. Von seiner Seite tat er nichts, um das Gesprach

wieder in Gang zu bringen.

Nach einer Weile richtete Herr Settembrini sich lachelnd wieder auf.

"Erzahlen Sie mir nun, Ingenieur," sagte er, "wie haben die Ihren die Nachricht aufgenommen?"

"Das hei?t, welche Nachricht? Von der Verzogerung meiner Abreise? Ach, die Meinen, wissen Sie, die Meinen zu Hause bestehen aus drei Onkels, einem Gro?onkel und zwei Sohnen von ihm, zu denen ich mehr in Vetternverhaltnis stehe. Weiter habe ich keine Meinen, ich bin ja sehr fruh Doppelwaise geworden. Aufgenommen? Sie wissen ja noch nicht viel, nicht mehr, als ich selbst. Zu Anfang, als ich mich legen mu?te, habe ich ihnen geschrieben, ich sei stark erkaltet und konne nicht reisen. Und gestern, da es nun doch ein bi?chen lange dauerte, habe ich noch einmal geschrieben und gesagt, Hofrat Behrens sei durch den Katarrh auf den Zustand meiner Brust aufmerksam geworden und dringe darauf, da? ich meinen Aufenthalt verlangere, bis Klarheit daruber geschaffen ist. Davon werden sie sehr ruhigen Blutes Kenntnis genommen haben."

"Und Ihr Posten? Sie sprachen von einem praktischen Wirkungskreis, in den Sie eben einzutreten gedachten."

"Ja, als Volontar. Ich habe gebeten, mich vorlaufig auf der Werft zu entschuldigen. Sie mussen nicht denken, da? deswegen da Verzweiflung herrscht. Die konnen sich beliebig lange auch ohne Volontar behelfen."

"Sehr gut! Von dieser Seite betrachtet, ist also alles in Ordnung. Phlegma auf der ganzen Linie. Man ist uberhaupt phlegmatisch bei Ihnen zuLande, nicht wahr? Aber auch energisch!"

"O ja, energisch auch, doch, sehr energisch", sagte Hans Castorp. Er prufte die heimatliche Lebensstimmung aus der Entfernung und fand, da? sein Unterredner sie richtig kennzeichne. "Phlegmatisch und energisch, so sind sie wohl."

"Nun," fuhr Herr Settembrini fort, "sollten Sie langer bleiben, so wird es ja nicht fehlen, da? wir hier oben die Bekanntschaft Ihres Herrn Onkels - ich meine den Gro?onkel - machen. Zweifellos wird er heraufkommen, sich nach Ihnen umzusehen."

"Ausgeschlossen!" rief Hans Castorp. "Unter gar keinen Umstanden! Keine zehn Pferde bringen ihn hier herauf! Mein Onkel ist stark apoplektisch, wissen Sie, er hat fast keinen Hals. Nein, der braucht einen vernunftigen Luftdruck, es wurde ihm hier noch schlimmer ergehen als Ihrer Dame aus dem Osten, alle Zustande wurde er kriegen."

"Das enttauscht mich. Apoplektisch also? Was nutzen mir da Phlegma und Energie. - Ihr Herr Onkel ist wohl reich? Auch Sie sind reich? Man ist reich bei Ihnen zu Hause."

Hans Castorp lachelte uber Herrn Settembrinis schriftstellerische Verallgemeinerung, und dann blickte er wieder aus seiner Ruhelage ins Weite, in die heimatliche Sphare, der er entruckt war. Er erinnerte sich, er versuchte, unpersonlich zu urteilen, die Distanz ermunterte und befahigte ihn dazu. Er antwortete:

"Man ist reich, ja, - oder man ist es nicht. Und wenn nicht, - desto schlimmer. Ich? Ich bin kein Millionar, aber das meine ist mir sichergestellt, ich bin unabhangig, ich habe zu leben. Sehen wir von mir mal ab. Wenn Sie gesagt hatten: Man mu? reich sein da hinten, - dann hatte ich Ihnen zugestimmt. Denn angenommen, man ist nicht reich, oder hort auf, es zu sein, - dann wehe. 'Der? Hat der denn noch Geld?' fragen sie ... Wortlich so und mit genau solchem Gesicht; ich habe es oft gehort, und ich merke, da? es sich mir eingepragt hat. Also mu? es mir doch wohl sonderbar vorgekommen sein, obgleich ich gewohnt war, es zu horen, - sonst hatte es sich mir nicht eingepragt. Oder wie meinen Sie. Nein, ich glaube nicht, da? es zum Beispiel Ihnen, als homo humanus, zusagen wurde bei uns; selbst mir, der ich doch dort zu Hause bin, ist es ofters kra? vorgekommen, wie ich nachtraglich merke, obgleich ich personlich ja nicht darunter zu leiden gehabt habe. Wer nicht die besten, teuersten Weine servieren la?t bei seinen Diners, zu dem geht man uberhaupt nicht, und seine Tochter bleiben sitzen. So sind die Leute. Wie ich hier so liege und es von weitem sehe, kommt es mir kra? vor. Was brauchten Sie fur Ausdrucke, - phlegmatisch und? Und energisch! Gut, aber was hei?t das? Das hei?t hart, kalt. Und was hei?t hart undkalt? Das hei?t grausam. Es ist eine grausame Luft da unten, unerbittlich. Wenn man so liegt und es von weitem sieht, kann es einem davor grauen."

Settembrini horte ihm zu und nickte. Er tat dies noch, als Hans Castorp vorlaufig mit seiner Kritik zu Rande gekommen war und nicht mehr sprach. Dann atmete er auf und sagte:

"Ich will die besonderen Erscheinungsformen, die die naturliche Grausamkeit des Lebens innerhalb Ihrer Gesellschaft annimmt, nicht beschonigen. Einerlei, der Vorwurf der Grausamkeit bleibt ein ziemlich sentimentaler Vorwurf. Sie wurden ihn an Ort und Stelle kaum erhoben haben, aus Furcht, vor sich selber lacherlich zu werden. Sie haben ihn

mit Recht den Druckebergern des Lebens uberlassen. Da? Sie ihn jetzt erheben, zeugt von einer gewissen Entfremdung, die ich ungern anwachsen sehen wurde, denn wer sich gewohnt, ihn zu erheben, kann ganz leicht dem Leben, der Lebensform, fur die er geboren ist, verloren gehen. Wissen Sie, Ingenieur, was das hei?t: 'Dem Leben verloren gehen'? Ich, ich wei? es, ich sehe es hier alle Tage. Spatestens nach einem halben Jahr hat der junge Mensch, der heraufkommt(und es sind fast lauter junge Menschen, die heraufkommen), keinen anderen Gedanken mehr im Kopf als Flirt und Temperatur. Und spatestens nach einem Jahr wird er auch nie wieder einen anderen fassen konnen, sondern jeden anderen als 'grausam' oder, besser gesagt, als fehlerhaft und unwissend empfinden. Sie lieben Geschichten, - ich konnte Ihnen aufwarten. Ich konnte Ihnen von dem Sohn und Ehemann erzahlen, der elf Monate hier war, und den ich kannte. Er war ein wenig alter als Sie, glaube ich, - sogar schon etwas alter. Man entlie? ihn probeweise als gebessert, er kehrte nach Hause zuruck in die Arme seiner Lieben; es waren keine Onkel, es waren Mutter und Gattin. Den ganzen Tag lag er mit dem Thermometer im Munde und wu?te von nichts anderem. 'Das versteht ihr nicht', sagte er. 'Dazu mu? man oben gelebt haben, um zu wissen, wie es sein mu?. Hier unten fehlen die Grundbegriffe.' Es endete damit, da? seine Mutter entschied: 'Geh nur wieder hinauf. Mit dir ist nichts mehr anzufangen.' Und er ging wieder hinauf. Er kehrte in die 'Heimat' zuruck, - Sie wissen doch, man nennt dies 'Heimat', wenn man einmal hier gelebt hat. Seiner jungen Frau war er vollig entfremdet, es fehlten ihr die 'Grundbegriffe', und sie verzichtete. Sie sah ein, da? er in der Heimat eine Genossin mit ubereinstimmenden 'Grundbegriffen' finden und dableiben werde."

Hans Castorp schien nur mit halbem Ohre zugehort zu haben. Noch immer schaute er in die Gluhlichtklarheit des wei?en Zimmers hinein wie in eine Weite. Er lachte verspatet und sagte:

"Die Heimat nannte er es?Das ist wohl wirklich etwas sentimental, wie Sie sagen. Ja, Geschichten wissen Sie ohne Zahl. Ich dachte eben noch weiter nach uber das, was wir von Harte und Grausamkeit sprachen, ich habe es mir in diesen Tagen schon verschiedentlich durch den Kopf gehen lassen. Sehen Sie, man mu? wohl eine ziemlich dicke Haut haben, um von Natur so ganz einverstanden zu sein mit der Denkungsart der Leute da unten im Tieflande und mit solchen Fragen, wie 'Hat der denn noch Geld?' und dem Gesicht, das sie dazu machen. Mir war es

eigentlich nie ganz naturlich, obgleich ich nicht einmal ein homo humanus bin, - ich merke nachtraglich, da? es mir immer auffallend vorgekommen ist. Vielleicht hing es mit meiner unbewu?ten Neigung zur Krankheit zusammen, da? es mir nicht naturlich war, - ich habe die alten Stellen ja selbst gehort, und nun hat Behrens angeblich eine frische Kleinigkeit bei mir gefunden. Es kam mir wohl uberraschend, und doch habe ich mich im Grunde nicht sehr daruber gewundert. Geradezu felsenfest habe ich mich eigentlich nie gefuhlt; und dann sind meine beiden Eltern so fruh gestorben, - ich bin von Kind auf Doppelwaise, wissen Sie ..."

Herr Settembrini beschrieb mit Kopf, Schultern und Handen eine einheitliche Gebarde, die die Frage "Nun, und? Was weiter?" heiter und artig anschaulich machte.

"Sie sind doch Schriftsteller," sagte Hans Castorp, "- Literat; Sie mussen sich auf so etwas doch verstehen und einsehen, da? man unter diesen Umstanden nicht so recht derb gesinnt sein und die Grausamkeit der Leute ganz naturlich finden kann, - der gewohnlichen Leute, wissen Sie, die herumgehen und lachen und Geld verdienen und sich den Bauch vollschlagen ... Ich wei? nicht, ob ich mich richtig ..."

Settembrini verbeugte sich. "Sie wollen sagen," erlauterte er, "da? die fruhe und wiederholte Beruhrung mit dem Tode eine Grundstimmung des Gemutes zeitigt, die gegen die Harten und Kruditaten des unbedachten Weltlebens, sagen wir: gegen seinen Zynismus reizbar und empfindlich macht."

"Genau so!" rief Hans Castorp in aufrichtiger Begeisterung. "Tadellos ausgedruckt bis aufs i-Tupfelchen, Herr Settembrini! Mit dem Tode -! Ich wu?te es ja, da? Sie als Literat ..."

Settembrini streckte die Hand gegen ihn aus, indem er den Kopf auf die Seite legte und die Augen schlo?, - eine sehr schone und sanfte Gebarde des Einhalttuns und der Bitte um weiteres Gehor. Er verharrte mehrere Sekunden in dieser Stellung, auch als Hans Castorp schon lange schwieg und in einiger Verlegenheit der Dinge wartete, die da kommen sollten. Endlich schlug er seine schwarzen Augen - die Augen der Drehorgelmanner - wieder auf und sprach:

"Gestatten Sie. Gestatten Sie mir, Ingenieur, Ihnen zu sagen und Ihnen ans Herz zu legen, da?die einzig gesunde und edle, ubrigens auch - ich will das ausdrucklich hinzufugen - auch die einzig religiose Art, den Tod zu betrachten, die ist, ihn als Bestandteil und Zubehor, als heilige

Bedingung des Lebens zu begreifen und zu empfinden, nicht aber - was das Gegenteil von gesund, edel, vernunftig und religios ware - ihn geistig irgendwie davon zu scheiden, ihn in Gegensatz dazu zu bringen und ihn etwa gar widerwartigerweise dagegen auszuspielen. Die Alten schmuckten ihre Sarkophage mit Sinnbildern des Lebens und der Zeugung, sogar mit obszonen Symbolen, - das Heilige war der antiken Religiositat ja sehr haufig eins mit dem Obszonen. Diese Menschen wu?ten den Tod zu ehren. Der Tod ist ehrwurdig als Wiege des Lebens, als Mutterscho? der Erneuerung. Vom Leben getrennt gesehen, wird er zum Gespenst, zur Fratze - und zu etwas noch Schlimmerem. Denn der Tod als selbstandige geistige Macht ist eine hochst liederliche Macht, deren lasterhafte Anziehungskraft zweifellos sehr stark ist, aber mit der zu sympathisieren ebenso unzweifelhaft die graulichste Verirrung des Menschengeistes bedeutet."

Hier schwieg Herr Settembrini. Er blieb bei dieser Allgemeinheit stehen und endete auf das bestimmteste. Es war ihm Ernst; nicht unterhaltungsweise hatte er geredet, hatte es verschmaht, seinem Partner Gelegenheit zur Anknupfung und Gegenrede zu bieten, sondern am Ende seiner Aufstellungen die Stimme sinken lassen und einen Punkt gemacht. Er sa? geschlossenen Mundes, die gekreuzten Hande im Scho?, ein Bein in der karierten Hose uber das andere geschlagen, und wippte nur leicht mit dem in der Luft schwebenden Fu?, den er streng betrachtete.

Auch Hans Castorp schwieg denn also. In seinem Plumeau sitzend, wandte er den Kopf zur Wand und trommelte leicht mit den Fingerspitzen auf der Steppdecke. Er kam sich belehrt, zurechtgewiesen, ja gescholten vor, und in seinem Schweigen lag viel kindliche Verstocktheit. Die Gesprachspause dauerte ziemlich lange.

Endlich hob Herr Settembrini wieder das Haupt und sagte lachelnd:

"Erinnern Sie sich wohl, Ingenieur, da? wir einen ahnlichen Disput schon einmal gefuhrt haben - man kann sagen: denselben? Wir plauderten damals - ich glaube, es war auf einem Spaziergang - uber Krankheit und Dummheit, deren Vereinigung Sie fur eine Paradoxie erklarten, und zwar aus Hochachtung vor der Krankheit. Ich nannte diese Hochachtung eine dustere Grille, mit der man den Gedanken des Menschen entehre, und Sie schienen zu meinem Vergnugen denn doch nicht ganz abgeneigt, meinen Einwand in Erwagung zu ziehen. Wir sprachen auch von der Neutralitat und geistigen Unschlussigkeit der

Jugend, von ihrer Wahlfreiheit, ihrer Neigung, mit den moglichen Standpunkten Versuche anzustellen, und davon, da? man solche Versuche noch nicht als endgultige und lebensernste Optionen betrachten durfe, - zu betrachten brauche. Wollen Sie mir -," und Herr Settembrini beugte sich lachelnd aufseinem Stuhle vor, die Fu?e nebeneinander am Boden, die zusammengelegten Hande zwischen den Knien, den Kopf gleichfalls etwas schrag vorgeschoben - "wollen Sie mir auch fernerhin," sagte er, und es war eine leichte Bewegung in seiner Stimme, "erlauben, Ihnen bei Ihren Ubungen und Experimenten ein wenig zur Hand zu gehen und berichtigend auf Sie einzuwirken, wenn die Gefahr verderblicher Fixierungen droht?"

"Aber gewi?, Herr Settembrini!" Hans Castorp beeilte sich, seine befangene und halb trotzige Abkehr aufzugeben, das Trommeln auf der Bettdecke zu unterlassen und sich seinem Gaste mit besturzter Freundlichkeit zuzuwenden. "Es ist sogar au?erordentlich liebenswurdig von Ihnen ... Ich frage mich wirklich, ob ich ... Das hei?t, ob es sich bei mir ..."

"Ganz sine pecunia", zitierte Herr Settembrini, indem er aufstand. "Wer will sich denn lumpen lassen." Sie lachten. Man horte die au?ere Doppeltur gehen, und im nachsten Augenblick wurde auch die innere geklinkt. Es war Joachim, der aus der Abendgeselligkeit zuruckkehrte. Beim Anblick des Italieners errotete auch er, wie Hans Castorp fur sein Teil es vorhin getan: die verbrannte Dunkelheit seines Gesichtes vertiefte sich um eine Schattierung.

"Oh, du hast Besuch", sagte er. "Wie angenehm fur dich. Ich bin aufgehalten worden. Sie haben mich zu einer Partie Bridge gepre?t, - Bridge nennen sie das nach au?en hin," sagte er kopfschuttelnd, "und dabei war es schlie?lich ganz was anderes. Ich habe funf Mark gewonnen ..."

"Da? das nur keine lasterhafte Anziehungskraft fur dich bekommt", sagte Hans Castorp. "Hm, hm. Herr Settembrini hat mir unterdessen so schon die Zeit vertrieben ... was ubrigens gar kein Ausdruck ist. Es gilt allenfalls von euerem falschen Bridge, aber Herr Settembrini hat mir die Zeit so bedeutend ausgefullt ... Als anstandiger Mensch mu?te man ja mit Handen und Fu?en trachten, hier fortzukommen, - wo es nun schon mit falschem Bridge losgeht in euerer Mitte. Aber um Herrn Settembrini noch recht oft zu horen und mir von ihm gesprachsweise zur Hand gehen zu lassen, konnte ich beinahe wunschen, unabsehbar lange febril zu

bleiben und hier bei euch festzusitzen ... Am Ende mu? man mir noch eine Stumme Schwester geben, damit ich nicht mogle."

"Ich wiederhole, Ingenieur, da? Sie ein Schalk sind", sagte der Italiener. Er empfahl sich in den angenehmsten Formen. Mit seinem Vetter allein geblieben, seufzte Hans Castorp auf.

"Ist das ein Padagog!" sagte er ... "Ein humanistischer Padagog, das mu? man gestehen. Immerfort wirkt er berichtigend auf dich ein, abwechselnd in Form von Geschichten und in abstrakter Form. Und auf Dinge kommt man mit ihm zu sprechen, - nie hatte man gedacht, da? man daruber reden oder sie auch nur verstehen konnte. Und wenn ich unten im Flachlande mit ihm zusammengetroffen ware, so wurde ichsie auch nicht verstanden haben", fugte er hinzu.

Joachim blieb um diese Zeit eine Weile bei ihm; er opferte zwei, drei Viertelstunden von seiner Abendliegekur. Manchmal spielten sie Schach auf Hans Castorps E?tischplatte, - Joachim hatte ein Spiel von unten heraufgebracht. Spater begab er sich mit Sack und Pack, das Thermometer im Munde, auf seinen Balkon, und auch Hans Castorp ma? sich ein letztes Mal, wahrend leichte Musik von naher oder fernher aus dem nachtlichen Tale heraufklang. Um zehn Uhr wurde die Liegekur beendigt; man horte Joachim; man horte das Ehepaar vom Schlechten Russentisch ... Und Hans Castorp nahm Seitenlage ein, in Erwartung des Schlafes.

Die Nacht war die schwierigere Halfte des Tages, denn Hans Castorp erwachte oft und lag nicht selten stundenlang wach, sei es, weil seine nicht ganz korrekte Blutwarme ihn munter hielt, oder weil Lust und Kraft zum Schlafe durch seine derzeit vollig horizontale Lebensweise Einbu?e erlitten. Dafur waren die Stunden des Schlummers von abwechslungsreichen und sehr lebensvollen Traumen belebt, denen er nachhangen konnte, wahrend er wach lag. Und wenn die vielfache Gliederung und Einteilung des Tages diesen kurzweilig machte, so war es bei Nacht die verschwimmende Einformigkeit der schreitenden Stunden, was in der gleichen Richtung wirkte. Nahte sich aber erst einmal der Morgen, so war es unterhaltend, das allmahliche Ergrauen und Erscheinen des Zimmers, das Hervortreten und Entschleiertwerden der Dinge zu beobachten, den Tag drau?en in trub schwelender oder heiterer Glut sich entzunden zu sehen; und eh mans gedacht, war wieder der Augenblick da, wo das handfeste Klopfen des Bademeisters das Inkrafttreten der Tagesordnung verkundete.

Hans Castorp hatte keinen Kalender auf seinen Ausflug mitgenommen, und so fand er sich in betreff des Datums nicht immer ganz genau auf dem laufenden. Dann und wann forderte er Auskunft von seinem Vetter, der aber in diesem Punkte auch nicht jederzeit seiner Sache eben sicher war. Immerhin boten die Sonntage, besonders der zweite, vierzehntagige mit Konzert, den Hans Castorp auf diese Weise verbrachte, einigen Anhalt, und so viel war gewi?, da? der September nachgerade ziemlich weit, bis gegen seine Mitte hin, vorgeschritten war. Drau?en im Tale war, seitdem Hans Castorp Bettlage eingenommen, das trube und kalte Wetter, das damals geherrscht hatte, herrlichen Hochsommertagen gewichen, ungezahlten solcher Tage, einer ganzen Serie davon, so da? Joachim allmorgendlich in wei?en Hosen bei seinem Vetter eingetreten war und dieser ein redliches Bedauern, ein Bedauern der Seele und seiner jungen Muskeln, uber den Verlust solcher Prachtzeit nicht hatte unterdrucken konnen. Sogar eine "Schande" hatte er es einmal mit leiser Stimme genannt, da? er sie solcherart versaume, - dann aber zu seiner Beschwichtigung hinzugefugt, da? er ja auf freiem Fu?e auch nicht viel mehr als jetzt damitanzufangen gewu?t hatte, da sich ihm ausgiebige Bewegung hier erfahrungsgema? verbiete. Und einigen Anteil an dem warmen Schimmer dort drau?en gewahrte die breite, weit offene Balkontur ihm immerhin.

Aber gegen das Ende der ihm auferlegten Zuruckgezogenheit schlug wieder das Wetter um. Uber Nacht war es neblig und kalt geworden, das Tal hullte sich in nasses Schneegestober, und der trockene Hauch der Dampfheizung erfullte das Zimmer. So war es auch an dem Tage, als Hans Castorp bei der Morgenvisite der Arzte den Hofrat erinnerte, da? er heute drei Wochen liege, und um die Erlaubnis bat, aufzustehen.

"Was Kuckuck, sind Sie schon fertig?" sagte Behrens. "Lassen Sie mal sehen; wahrhaftig, es stimmt. Gott, wie man alt wird. Geandert hat sich mit Ihnen ja nicht gerade viel unterdessen. Was, gestern war es normal? Ja, bis auf die 6-Uhr-Nachmittagsmessung. Na, Castorp, dann will ich ja auch nicht so sein und will Sie der menschlichen Sozietat zuruckerstatten. Stehen Sie auf und wandeln Sie, Mann! In den gegebenen Grenzen und Ma?en naturlich. Wir machen nachstens Ihr Innenkonterfei. Vormerken!" sagte er im Hinausgehen zu Dr. Krokowski, indem er mit seinem riesigen Daumen uber die Schulter auf Hans Castorp deutete und den bleichen Assistenten mit seinen blutigen, tranenden blauen Augen ansah ... Hans Castorp verlie? die "Remise".

Mit hochgeschlagenem Mantelkragen und in Gummischuhen begleitete er seinen Vetter zum ersten Male wieder zur Bank am Wasserlauf und zuruck, nicht ohne unterwegs die Frage aufzuwerfen, wie lange der Hofrat ihn wohl hatte liegen lassen, wenn er die Frist nicht als abgelaufen gemeldet hatte. Und Joachim, gebrochenen Blickes, den Mund wie zu einem hoffnungslosen "Ach" geoffnet, machte in die Luft hinein die Gebarde des Unabsehbaren.

"Mein Gott, ich sehe!"

Es dauerte eine Woche, bis Hans Castorp durch die Oberin von Mylendonk ins Durchleuchtungslaboratorium bestellt wurde. Er mochte nicht drangen. Man war beschaftigt im Hause "Berghof", offenbar hatten Arzte und Personal alle Hande voll zu tun. Neue Gaste waren in den letzten Tagen angelangt: zwei russische Studenten mit dickem Haar und geschlossenen schwarzen Blusen, die keinen Schimmer von Wasche sehen lie?en; ein hollandisches Ehepaar, dem an Settembrinis Tische Platze angewiesen wurden; ein buckliger Mexikaner, der die Tischgesellschaft durch furchtbare Anfalle von Atemnot in Schrecken setzte: er klammerte sich dabei mit ehernem Griff seiner langen Hande an seine Nachbarn, ob Herr oder Dame, hielt fest wie ein Schraubstock und zog die entsetzt Widerstrebenden, um Hilfe Rufenden so in seine Angste hinein. Kurzum, der Speisesaal war beinahe voll besetzt, obgleich die Wintersaison erst mit dem Oktober begann. Und die Schwere von Hans Castorps Fall, sein Krankheitsgrad, gab ihm kaum ein Recht, besonderen Anspruch auf Beachtung zu erheben. Frau Stohr etwa war in all ihrer Dummheit und Unbildungohne Zweifel viel kranker als er, von Dr. Blumenkohl ganz zu schweigen. Man hatte jedes Sinnes fur Rangordnung und Abstand entbehren mussen, um in Hans Castorps Fall nicht bescheidene Zuruckhaltung zu uben, - besonders da eine solche Gesinnung zum Geiste des Hauses gehorte. Leichtkranke galten nicht viel, er hatte es ofters aus den Gesprachen herausgehort. Man sprach mit Geringschatzung von ihnen, nach dem hierorts geltenden Ma?stab, sie wurden uber die Achsel angesehen, und zwar nicht allein von den Hoher- und Hochgradigen, sondern auch von solchen, die selbst nur "leicht" waren: womit diese freilich Geringschatzung auch ihrerselbst an den Tag legten, aber eine hohere Selbstachtung retteten, indem sie dem Ma?stab sich unterwarfen. So ist es menschlich. "Ach, der!" konnten sie wohl voneinander sagen, "dem fehlt eigentlich nichts, kaum da? er das

Recht hat, hier zu sein. Nicht mal eine Kaverne hat er ..." Dies war der Geist; er war aristokratisch in seinem besonderen Sinn, und Hans Castorp salutierte ihn aus angeborener Achtung vor Gesetz und Ordnung jeder Art. Landlich, sittlich, hei?t es. Reisende zeigen sich wenig gebildet, wenn sie uber die Sitten und Werte ihrer Wirtsvolker sich lustig machen, und der Eigenschaften, die Ehre schaffen, gibt es diese und jene. Sogar gegen Joachim selbst beobachtete Hans Castorp eine gewisse Ehrerbietung und Rucksicht, - nicht sowohl, weil dieser der langer Eingesessene war und sein Anleiter und Cicerone in dieser Welt -, sondern namentlich, weil er der zweifellos "Schwerere" war. Da aber alles so lag, war es begreiflich, da? man dazu neigte, aus seinem Falle das Mogliche zu machen und in Hinsicht auf ihn auch wohl zu ubertreiben, um zur Aristokratie zu gehoren oder ihr naher zu kommen. Auch Hans Castorp, wenn er bei Tische gefragt wurde, nannte wohl ein paar Striche mehr, als er in Wahrheit gemessen, und konnte unmoglich umhin, sich geschmeichelt zu fuhlen, wenn man ihm mit dem Finger drohte, wie einem, der es faustdick hinter den Ohren hat. Aber auch, wenn er ein wenig auftrug, blieb er immer noch, eigentlich gesprochen, eine Person von geringen Graden, und so waren Geduld und Zuruckhaltung denn sicherlich das ihm zukommende Betragen.

Er hatte die Lebensweise seiner ersten drei Wochen, dies schon vertraute, gleichma?ige und genau geregelte Leben an Joachims Seite wieder aufgenommen, und es ging wie am Schnurchen vom ersten Tage an, als sei es nie unterbrochen worden. In der Tat war diese Unterbrechung nichtig gewesen; er bekam es gleich gelegentlich seines ersten Wiedererscheinens bei Tische deutlich zu spuren. Zwar hatte Joachim, der auf solche Markierungen ein ganz bestimmtes und geflissentliches Gewicht legte, Sorge getragen, da? ein paar Blumen den Platz des Erstandenen schmuckten. Aber die Begru?ung durch die Tischgenossen war wenigfestlich, unterschied sich von fruheren, denen eine Trennung nicht von drei Wochen, sondern von drei Stunden vorangegangen war, nur unwesentlich: weniger aus Gleichgultigkeit gegen seine einfache und sympathische Person und weil diese Leute allzusehr mit sich selbst, das hei?t: mit ihrem interessanten Korper beschaftigt waren, als darum, weil ihnen die Zwischenzeit nicht bewu?t geworden war. Und Hans Castorp konnte ihnen darin ohne Schwierigkeit folgen, denn er selbst sa? an seinem Platz am Tischende, zwischen der Lehrerin und Mi? Robinson, nicht anders, als habe er spatestens gestern zuletzt hier gesessen.

Wenn man aber am Tische selbst von der Beendigung seiner Zuruckgezogenheit nicht viel Aufhebens gemacht hatte, - wie hatte man im weiteren Saal welches davon machen sollen? Dort hatte buchstablich niemand auch nur Notiz davon genommen, - mit alleiniger Ausnahme Settembrinis, der nach Schlu? der Mahlzeit zu spa?haft-freundschaftlicher Begru?ung herangekommen war. Hans Castorp hatte freilich noch eine weitere Einschrankung gemacht, deren Berechtigung wir dahinstellen mussen. Er behauptete bei sich, da? Clawdia Chauchat sein Wiedererscheinen bemerkt -, gleich bei ihrem, wie immer, verspateten Eintreten, nach dem Zufallen der Glastur, ihren schmalen Blick habe auf ihm ruhen lassen, dem er mit seinem begegnet war, und kaum, da? sie sich niedergesetzt, noch einmal uber die Schulter sich lachelnd nach ihm umgesehen habe: lachelnd, wie vor drei Wochen, bevor er zur Untersuchung gegangen. Und eine so unverhohlene und rucksichtslose Bewegung war das gewesen - rucksichtslos in betreff seinerselbst wie auch der ubrigen Gasteschaft -, da? er nicht gewu?t hatte, ob er sich daruber entzucken oder es als ein Zeichen von Geringschatzung verstehen und sich daruber argern sollte. Auf jeden Fall hatte sein Herz sich zusammengekrampft unter diesen Blicken, welche die zwischen der Kranken und ihm obwaltende gesellschaftliche Unbekanntschaft auf eine in seinen Augen ungeheuerliche und berauschende Weise verleugnet und Lugen gestraft hatte, - sich fast schmerzhaft zusammengekrampft schon, als die Glastur klirrte, denn auf diesen Augenblick hatte er mit kurz gehendem Atem gewartet.

Es will nachgetragen sein, da? Hans Castorps innere Beziehungen zu der Patientin vom Guten Russentisch, die Teilnahme seiner Sinne und seines bescheidenen Geistes an ihrer mittelgro?en, weich schleichenden, kirgisenaugigen Person, kurzum seine Verliebtheit(das Wort habe Statt, obgleich es ein Wort von "unten", ein Wort der Ebene ist und die Vorstellung erwecken konnte, als sei das Liedchen "Wie beruhrt mich wundersam" hier irgendwie anwendbar gewesen) - wahrend seiner Zuruckgezogenheit sehr starke Fortschritte gemacht hatte. Ihr Bild hatte ihm vorgeschwebt, wenn er, fruhwach, in das sich zogernd entschleiernde Zimmer, oder, am Abend, in die dichter werdende Dammerung geblickt hatte(auch zu jener Stunde, als Settembrini unter plotzlichem Aufflammen des Lichtes bei ihm eingetreten war, hatte es ihm uberaus deutlich vorgeschwebt, und dies war der Grund gewesen, weshalb er beidem Anblick des Humanisten errotet war); an ihren Mund, ihre Wangenknochen, ihre Augen, deren Farbe, Form, Stellung ihm in die

Seele schnitt, ihren schlaffen Rucken, ihre Kopfhaltung, den Halswirbel im Nackenausschnitt ihrer Bluse, ihre von dunnster Gaze verklarten Arme hatte er gedacht wahrend der einzelnen Stunden des zerkleinerten Tages, - und wenn wir verschwiegen, da? dies das Mittel gewesen, wodurch ihm die Stunden so muhelos vergingen, so geschah es, weil wir sympathisch teilnehmen an der Gewissensunruhe, die sich in das erschreckende Gluck dieser Bilder und Gesichte mischte. Ja, es war Schreck, Erschutterung damit verbunden, eine ins Unbestimmte, Unbegrenzte und vollstandig Abenteuerliche ausschweifende Hoffnung, Freude und Angst, die namenlos war, aber des jungen Mannes Herz - sein Herz im eigentlichen und korperlichen Sinn - zuweilen so jah zusammenpre?te, da? er die eine Hand in die Gegend dieses Organs, die andere aber zur Stirn fuhrte(sie wie einen Schirm uber die Augen legte) und flusterte:

"Mein Gott!"

Denn hinter der Stirn waren Gedanken oder Halbgedanken, die den Bildern und Gesichten ihre zu weit gehende Su?igkeit eigentlich erst verliehen, und die sich auf Madame Chauchats Nachlassigkeit und Rucksichtslosigkeit bezogen, auf ihr Kranksein, die Steigerung und Betonung ihres Korpers durch die Krankheit, die Verkorperlichung ihres Wesens durch die Krankheit, an der er, Hans Castorp, laut arztlichen Spruches nun teilhaben sollte. Er begriff hinter seiner Stirn die abenteuerliche Freiheit, mit der Frau Chauchat durch ihr Umblicken und Lacheln die zwischen ihnen bestehende gesellschaftliche Unbekanntschaft au?er acht lie?, so, als seien sie uberhaupt keine gesellschaftlichen Wesen und als sei es nicht einmal notig, da? sie miteinander sprachen ... und ebendies war es, woruber er erschrak: in demselben Sinne erschrak wie damals im Untersuchungszimmer, als er von Joachims Oberkorper eilig suchend zu seinen Augen emporgeblickt hatte, - mit dem Unterschiede, da? damals Mitleid und Sorge die Grunde seines Erschreckens gewesen, hier aber ganz anderes im Spiele war.

Nun also ging das Berghof-Leben, dies gunstreiche und wohlgeregelte Leben auf engem Schauplatz wieder seinen gleichma?igen Gang, - Hans Castorp, in Erwartung der Innenaufnahme, fuhr fort, es mit dem guten Joachim zu teilen, indem er es Stunde fur Stunde genau so trieb wie dieser; und diese Nachbarschaft war wohl gut fur den jungen Mann. Denn obgleich es nur eine Krankennachbarschaft war, so war viel militarische Ehrbarkeit darin: eine Ehrbarkeit, die freilich, ohne es

gewahr zu werden, schon im Begriffe stand, im Kurdienste Genuge zu finden, so da? dieser gleichsam zum Ersatzmittel tieflandischer Pflichterfullung und zum untergeschobenen Berufe wurde, - Hans Castorp war nicht so dumm, es nicht ganz genau zu bemerken. Doch aber fuhlte er wohl ihre zugelnde, zuruckhaltende Wirkung auf sein zivilistisches Gemut, - sogar mochte es diese Nachbarschaft sein, ihr Beispiel unddie Beaufsichtigung durch sie, was ihn von au?eren Schritten und blinden Unternehmungen zuruckhielt. Denn er sah wohl, was der brave Joachim von einer gewissen, taglich auf ihn eindringenden Apfelsinenatmosphare, worin es runde braune Augen, einen kleinen Rubin, viel schwach gerechtfertigte Lachlust und eine au?erlich wohlgebildete Brust gab, auszustehen hatte, und die Vernunft und Ehrliebe, mit der Joachim den Einflu? dieser Atmosphare scheute und floh, ergriff Hans Castorp, hielt ihn selbst in einiger Zucht und Ordnung und hinderte ihn, sich von der Schmalaugigen sozusagen "einen Bleistift zu leihen", - wozu er ohne die disziplinierende Nachbarschaft aller Erfahrung nach sehr bereitgewesen ware.

Joachim sprach niemals von der lachlustigen Marusja, und so verbot es sich auch fur Hans Castorp, mit ihm von Clawdia Chauchat zu sprechen. Er hielt sich schadlos durch verstohlenen Austausch mit der Lehrerin zu seiner Rechten bei Tische, wobei er das alte Madchen durch Neckereien mit ihrer Schwache fur die schmiegsame Kranke zum Erroten brachte und unterdessen die Kinn- und Wurdenstutze des alten Castorp nachahmte. Auch drang er in sie, uber Madame Chauchats personliche Verhaltnisse, uber ihre Herkunft, ihren Mann, ihr Alter, die Art ihres Krankheitsfalles Neues und Wissenswertes in Erfahrung zu bringen. Ob sie denn Kinder habe, wollte er wissen. - Aber nein doch, sie hatte keine. Was sollte eine Frau wie sie wohl mit Kindern beginnen? Wahrscheinlich war es ihr streng untersagt, welche zu haben - und andererseits: was wurden denn das auch wohl fur Kinder sein? Hans Castorp mu?te dem beipflichten. Nachgerade sei es auch wohl zu spat dafur, vermutete er mit gewaltsamer Sachlichkeit. Zuweilen, im Profil, scheine Madame Chauchats Gesicht ihm fast schon ein wenig scharf. Ob sie wohl uber drei?ig sei? - Fraulein Engelhart widersprach heftig. Clawdia drei?ig? Allerschlimmstenfalls sei sie achtundzwanzig. Und was das Profil betraf, so verbot sie ihrem Tischnachbar, so etwas zu sagen. Clawdias Profil sei von der weichsten Jugendlichkeit und Su?e, wenn es naturlich auch ein interessantes Profil sei und nicht das irgendeiner gesunden Gans. Und zur Strafe fugte Fraulein Engelhart ohne Pause hinzu, sie wisse, da? Frau

Chauchat ofters Herrenbesuch empfange, den Besuch eines in "Platz" wohnenden Landsmannes: sie empfange ihn nachmittags auf ihrem Zimmer.

Das war gut gezielt. Hans Castorps Gesicht verzerrte sich gegen alle Bemuhung, und auch die auf "Was nicht gar" und "Sehe einer an" gestimmten Redensarten, mit denen er die Eroffnung zu behandeln versuchte, waren verzerrt. Unfahig, das Vorhandensein dieses Landsmannes auf die leichte Achsel zu nehmen, wie er sich anfangs den Anschein hatte geben wollen, kam er mit zuckenden Lippen bestandig auf ihn zuruck. Ein jungerer Mann? - Jung und ansehnlich, nach allem, was sie hore, erwiderte die Lehrerin; denn nach eigenem Augenschein konnte sie nicht urteilen.- Krank? - Hochstens leichtkrank! - Er wolle hoffen, sagte Hans Castorp hohnisch, da? mehr Wasche an ihm zu sehen sei als bei den Landsleuten am Schlechten Russentisch, - wofur die Engelhart, noch immer zur Strafe, einstehen zu wollen erklarte. Da gab er zu, es sei eine Angelegenheit, um die man sich kummern musse, und beauftragte sie ernstlich, in Erfahrung zu bringen, was es mit diesem aus und ein gehenden Landsmann auf sich habe. Statt ihm aber Nachrichten hieruber zu bringen, wu?te sie einige Tage spater etwas vollig Neues.

Sie wu?te, da? Clawdia Chauchat gemalt werde, portratiert - und fragte Hans Castorp, ob er es auch wisse. Wenn nicht, so konne er trotzdem uberzeugt davon sein, sie habe es aus sicherster Quelle. Seit langerem sitze sie hier im Hause jemandem Modell zu ihrem Bildnis - und zwar wem? Dem Hofrat! Herrn Hofrat Behrens, der sie zu diesem Zweck beinahe taglich in seiner Privatwohnung bei sich sehe.

Diese Kunde ergriff Hans Castorp noch mehr als die vorige. Er machte fortan viele verzerrte Spa?e daruber. Nun, gewi?, es sei ja bekannt, da? der Hofrat in Ol male, - was die Lehrerin denn wolle, das sei nicht verboten, und so stehe es jedermann frei. In des Hofrats Witwerheim also? Hoffentlich sei wenigstens Fraulein von Mylendonk bei den Sitzungen anwesend. - Die habe wohl keine Zeit. - "Mehr Zeit als die Oberin sollte auch Behrens nicht haben", sagte Hans Castorp streng. Aber obgleich damit etwas Endgultiges uber die Sache gesagt schien, war er weit entfernt, sie fallen zu lassen, sondern erschopfte sich in Fragen nach Naherem und Weiterem: uber das Bild, sein Format und ob es ein Kopf- oder Kniestuck sei; auch uber die Stunde der Sitzungen, - wahrend doch Fraulein Engelhart mit Einzelheiten auch hier nicht dienen konnte und ihn auf die Ergebnisse weiterer Nachforschungen vertrosten

mu?te.

Hans Castorp ma? 37,7 nach dem Empfang dieser Nachricht. Weit mehr noch, als die Besuche, die Frau Chauchat empfing, schmerzten und beunruhigten ihn diejenigen, die sie machte. Frau Chauchats Privat- und Eigenleben als solches an und fur sich und schon unabhangig von seinem Inhalt hatte angefangen, ihm Schmerz und Unruhe zu bereiten, und wie sehr mu?te sich beides erst verscharfen, da ihm Mehrdeutigkeiten uber diesen Inhalt zu Ohren kamen! Zwar schien es allgemein moglich, da? die Beziehungen des russischen Besuchers zu seiner Landsmannin nuchterner und harmloser Natur waren; aber Hans Castorp war seit einiger Zeit geneigt, Nuchternheit und Harmlosigkeit fur Schnickschnack zu halten, - wie er sich denn auch nicht uberwinden oder bereden konnte, die Olmalerei als Beziehung zwischen einem forsch redenden Witwer und einer schmalaugig-leisetreterischen jungen Frau fur etwas anderes anzusehen. Der Geschmack, dender Hofrat mit der Wahl seines Modells bekundete, entsprach zu sehr seinem eigenen, als da? er hier an Nuchternheit hatte glauben konnen, worin ihn die Vorstellung von des Hofrats blauen Backen und seinen rot geaderten Quellaugen denn auch nur wenig unterstutzte.

Eine Wahrnehmung, die er in diesen Tagen auf eigene Hand und zufallig machte, wirkte in anderer Weise auf ihn ein, obgleich es sich abermals um eine Bestatigung seines Geschmackes handelte. Es war da am querstehenden Tische der Frau Salomon und des gefra?igen Schulers mit der Brille, links von dem der Vettern, nachst der seitlichen Glastur, ein Kranker, Mannheimer seiner Herkunft nach, wie Hans Castorp gehort hatte, etwa drei?igjahrig, mit gelichtetem Haupthaar, kariosen Zahnen und einer zaghaften Redeweise, - derselbe, der zuweilen wahrend der Abendgeselligkeit auf dem Piano spielte, und zwar meistens den Hochzeitsmarsch aus dem "Sommernachtstraum". Er sollte sehr fromm sein, wie es begreiflicherweise nicht selten unter Denen hier oben der Fall sei, so hatte Hans Castorp sagen horen. Allsonntaglich sollte er den Gottesdienst drunten in "Platz" besuchen und in der Liegekur andachtige Bucher lesen, Bucher mit einem Kelch oder Palmzweigen auf dem Vorderdeckel. Dieser nun, so bemerkte Hans Castorp eines Tages, hatte seine Blicke ebendort, wo er selbst sie hatte, - hing mit ihnen an Madame Chauchats schmiegsamer Person, und zwar auf eine Art, die scheu und zudringlich bis zum Hundischen war. Nachdem Hans Castorp es einmal beobachtet, konnte er nicht umhin, es wieder und wieder

festzustellen. Er sah ihn abends im Spielzimmer inmitten der Gaste stehen, trube verloren in den Anblick der lieblichen, wenn auch schadhaften Frau, die druben im kleinen Salon auf dem Sofa sa? und mit der wollhaarigen Tamara(so hie? das humoristische Madchen), mit Dr. Blumenkohl und den konkaven und hangeschultrigen Herren ihres Tisches plauderte; sah ihn sich abwenden, sich herumdrucken und wieder langsam, mit seitlich gedrehten Augapfeln und klaglich geschurzter Oberlippe den Kopf uber die Schulter dorthin wenden. Er sah ihn sich verfarben und nicht aufblicken, dann aber dennoch aufblicken und gierig schauen, wenn die Glastur fiel und Frau Chauchat zu ihrem Platze glitt. Und mehrmals sah er, wie der Arme sich nach Tische zwischen Ausgang und Gutem Russentisch aufstellte, um Frau Chauchat an sich vorubergehen zu lassen und sie, die seiner nicht achtete, aus unmittelbarer Nahe mit Augen zu verschlingen, die bis zum Grunde mit Traurigkeit angefullt waren.

Auch diese Entdeckung also setzte dem jungen Hans Castorp nicht wenig zu, obgleich die klagliche Schaubegier des Mannheimers ihn nicht in dem Sinne beunruhigen konnte, wie der Privatverkehr Clawdia Chauchats mit Hofrat Behrens, einem ihm an Alter, Person und Lebensstellung so ubergeordneten Mann. Clawdia kummerte sich gar nicht um den Mannheimer, - es ware Hans Castorps innererGescharftheit nicht entgangen, wenn es der Fall gewesen ware, und nicht der widrige Stachel der Eifersucht war es also in diesem Falle, den er in der Seele spurte. Aber er erprobte alle Empfindungen, die Rausch und Leidenschaft eben erproben, wenn sie in der Au?enwelt ihrer selbst ansichtig werden, und die das sonderbarste Gemisch aus Ekel- und Gemeinschaftsgefuhlen bilden. Unmoglich, alles zu ergrunden und auseinanderzulegen, wenn wir von der Stelle kommen wollen. Auf jeden Fall war es viel auf einmal fur seine Verhaltnisse, was auch die Beobachtung des Mannheimers dem armen Hans Castorp zu durchkosten gab.

So vergingen die acht Tage bis zu Hans Castorps Durchleuchtung. Er hatte nicht gewu?t, da? sie bis dahin vergehen wurden, aber als er eines Morgens beim ersten Fruhstuck durch die Oberin(sie hatte schon wieder ein Gerstenkorn, es konnte nicht mehr dasselbe sein, offenbar war dies harmlose, aber entstellende Leiden in ihrer Verfassung gelegen) den Befehl erhielt, sich nachmittags im Laboratorium einzufinden, da waren sie eben vergangen. Zusammen mit seinem Vetter sollte Hans Castorp

sich stellen, eine halbe Stunde vor dem Tee; denn auch von Joachim sollte bei dieser Gelegenheit wieder eine Innenansicht aufgenommen werden, - die letzte mu?te schon fur veraltet gelten.

So hatten sie heute die gro?e Nachmittagsliegekur um drei?ig Minuten abgekurzt, waren mit dem Schlage halb vier die steinerne Treppe in das falsche Kellergescho? "hinab"gestiegen und sa?en zusammen in dem kleinen Warteraum, der das Ordinationszimmer vom Durchleuchtungslaboratorium trennte, - Joachim, dem nichts Neues bevorstand, in guter Ruhe, Hans Castorp etwas fiebrig erwartungsvoll, da man bisher noch niemals Einblick in sein organisches Innenleben genommen. Sie waren nicht allein: mehrere Gaste hatten, zerrissene illustrierte Zeitschriften auf den Knien, schon im Zimmer gesessen, als sie eingetreten waren, und warteten mit ihnen: ein reckenhafter junger Schwede, der im Speisesaal an Settembrinis Tische sa?, und von dem man sagte, er sei bei seiner Ankunft im April so krank gewesen, da? man ihn kaum habe aufnehmen wollen; nun aber habe er achtzig Pfund zugenommen und sei im Begriffe, als vollig geheilt entlassen zu werden; ferner eine Frau vom Schlechten Russentisch, eine Mutter, selbst kummerlich, mit ihrem noch kummerlicheren, langnasigen und ha?lichen Knaben namens Sascha. Diese Personen also warteten schon langer als die Vettern; offenbar hatten sie in der Reihenfolge der Bestellungen den Vorrang vor ihnen, Verspatung schien eingerissen nebenan im Durchleuchtungsraum, und so stand kalter Tee in Aussicht.

Im Laboratorium war man beschaftigt. Die Stimme des Hofrats war zu horen, der Anweisungen gab. Es war halb vier Uhr oder etwas daruber, als die Tur sich offnete, - ein technischer Assistent, der hier unten tatig war, offnete sie - und nur erst der schwedische Recke und Gluckspilz eingelassen wurde: offenbar hatte manseinen Vorganger durch einen anderen Ausgang entlassen. Die Geschafte wickelten sich nun schneller ab. Nach zehn Minuten schon horte man den vollig genesenen Skandinavier, diese wandelnde Empfehlung des Ortes und der Heilanstalt, sich starken Schrittes uber den Korridor entfernen, und die russische Mutter nebst Sascha wurden empfangen. Wiederum, wie schon beim Eintritt des Schweden, bemerkte Hans Castorp, da? im Durchleuchtungsraum Halbdunkel, das hei?t kunstliches Halblicht herrschte, - gerade wie andererseits in Dr. Krokowskis analytischem Kabinett. Die Fenster waren verhullt, das Tageslicht abgesperrt, und ein paar elektrische Lampen brannten. Wahrend man aber Sascha und seine

Mutter einlie? und Hans Castorp ihnen nachblickte, - gleichzeitig also hiermit ging die Korridortur auf, und der nachstbestellte Patient betrat den Warteraum, verfruht, da Verspatung obwaltete, es war Madame Chauchat.

Es war Clawdia Chauchat, die sich plotzlich im Zimmerchen befand; Hans Castorp erkannte sie mit aufgerissenen Augen, indem er deutlich fuhlte, wie das Blut ihm aus dem Gesichte wich und sein Unterkiefer erschlaffte, so da? sein Mund im Begriffe war, sich zu offnen. Clawdias Eintritt hatte sich so nebenbei, so unversehens vollzogen, - auf einmal teilte sie den engen Aufenthalt mit den Vettern, nachdem sie eben noch keineswegs dagewesen. Joachim blickte rasch auf Hans Castorp und schlug dann nicht nur die Augen nieder, sondern nahm das illustrierte Blatt, das er schon fortgelegt hatte, wieder vom Tisch und verbarg sein Gesicht dahinter. Hans Castorp fand nicht die Entschlu?kraft, ein gleiches zu tun. Nach dem Erblassen war er sehr rot geworden, und sein Herz hammerte.

Frau Chauchat nahm bei der Tur zum Laboratorium in einem rundlichen kleinen Sessel mit stummelhaften, gleichsam rudimentaren Armlehnen Platz, schlug, zuruckgelehnt, leicht ein Bein uber das andere und blickte ins Leere, wobei ihre Pribislav-Augen, die durch das Bewu?tsein, da? man sie beobachtete, aus ihrer Blickrichtung nervos abgelenkt wurden, etwas schielten. Sie trug einen wei?en Sweater und einen blauen Rock und hielt ein Buch auf dem Scho?, einen Leihbibliotheksband, wie es schien, wahrend sie mit der Sohle des am Boden stehenden Fu?es leise aufpochte.

Schon nach anderthalb Minuten anderte sie ihre Haltung, blickte um sich, stand auf mit einer Miene, als wisse sie nicht, woran sie sei und wohin sie sich zu wenden habe - und begann zu sprechen. Sie fragte etwas, richtete eine Frage an Joachim, obgleich dieser in seine illustrierte Zeitung vertieft schien, wahrend Hans Castorp unbeschaftigt dasa?, - bildete Worte mit ihrem Munde und gab Stimme dazu aus ihrer wei?en Kehle: es war die nicht tiefe, aber eine kleine Scharfe enthaltende, angenehm belegte Stimme, die Hans Castorp kannte - von langer Hand her kannte und einmal sogar aus unmittelbarer Nahe vernommen hatte: damals, als mit dieser Stimme fur ihn selbst gesagt wordenwar: "Gern. Du mu?t ihn mir nach der Stunde aber bestimmt zuruckgeben." Das war jedoch flie?ender und bestimmter hingesprochen worden; jetzt kamen die Worte etwas schleppend und gebrochen, die Sprechende hatte kein

naturliches Anrecht darauf, sie lieh sie nur, wie Hans Castorp sie schon ein paarmal hatte tun horen, mit einer Art von Uberlegenheitsgefuhl, das aber von demutigem Entzucken umwogt war. Eine Hand in der Tasche ihrer Wolljacke und die andere am Hinterkopf, fragte Frau Chauchat:

"Ich bitte, auf wieviel Uhr sind Sie bestellt?"

Und Joachim, der einen schnellen Blick auf seinen Vetter geworfen hatte, antwortete, indem er sitzend die Absatze zusammenzog:

"Auf halb vier Uhr."

Sie sprach wieder:

"Ich auf drei Viertel. Was gibt es denn? Es ist gleich vier. Es sind Personen eben noch eingetreten, nicht wahr?"

"Ja, zwei Personen", antwortete Joachim. "Sie waren vor uns an der Reihe. Der Dienst hat Verspatung. Es scheint, das Ganze hat sich um eine halbe Stunde verschoben."

"Das ist unangenehm!" sagte sie und betastete nervos ihr Haar.

"Eher", erwiderte Joachim. "Wir warten auch schon fast eine halbe Stunde."

So sprachen sie miteinander, und wie im Traum horte Hans Castorp zu. Da? Joachim mit Frau Chauchat sprach, war beinahe dasselbe, wie wenn er selbst mit ihr gesprochen hatte, - wenn freilich auch wieder etwas ganz und gar anderes. Das "Eher" hatte Hans Castorp beleidigt, es kam ihm frech und mindestens befremdend gleichmutig vor in Anbetracht der Umstande. Aber Joachim konnte am Ende so sprechen, - er konnte uberhaupt mit ihr sprechen und tat sich vielleicht vor ihm noch etwas zugute darauf mit seinem kecken "Eher", - ungefahr wie er selbst vor Joachim und Settembrini sich aufgespielt hatte, als man ihn gefragt, wie lange er zu bleiben gedenke und er "drei Wochen" geantwortet hatte. An Joachim, obgleich er die Zeitung vor das Gesicht gehalten, hatte sie sich gewandt mit ihrer Anrede, - gewi? weil er der alter Eingesessene, ihr langer von Ansehen Bekannte war; aber doch auch aus jenem anderen Grunde, weil ein Verkehr auf gesittetem Fu?e, ein artikulierter Austausch in ihrem Falle am Platze war und nichts Wildes, Tiefes, Schreckliches und Geheimnisvolles zwischen ihnen waltete. Hatte jemand Braunaugiges mit Rubinring und Orangenparfum hier mit ihnen gewartet, so ware es an ihm, Hans Castorp, gewesen, das Wort zu fuhren und "Eher" zu sagen, - unabhangig und rein, wie er ihr gegenuberstand. "Gewi?, eher unangenehm, wertes Fraulein!" hatte er gesagt und vielleicht sein

Taschentuch mit einem Schwung aus der Brusttasche gezogen, um sich zu schneuzen. "Bitte, Geduld zu uben. Wir sind in keiner besseren Lage." Und Joachim hatte gestaunt uber seine Leichtlebigkeit, - wahrscheinlich aber, ohne sich ernstlich an seine Stelle zu wunschen. Nein, auch Hans Castorpwar nicht eifersuchtig auf Joachim, wie die Dinge lagen, obgleich dieser es war, der mit Frau Chauchat sprechen durfte. Er war einverstanden damit, da? sie sich an ihn gewandt hatte; sie hatte den Umstanden Rechnung getragen, indem sie es tat, und so zu erkennen gegeben, da? sie sich dieser Umstande bewu?t war ... Sein Herz hammerte.

Nach der gelassenen Behandlung, die Frau Chauchat durch Joachim erfahren, und in der Hans Castorp sogar etwas wie eine leise Feindseligkeit auf seiten des guten Joachim gegen die Mitpatientin gespurt hatte, eine Feindseligkeit, uber die er bei aller Erschutterung lacheln mu?te, - versuchte "Clawdia" einen Gang durch das Zimmer zu tun; doch fehlte es an Raum dazu, und so nahm auch sie ein illustriertes Heft vom Tische und kehrte damit in den Sessel mit den rudimentaren Armlehnen zuruck. Hans Castorp sa? und sah sie an, indem er die Kinnstutze seines Gro?vaters nachahmte und so dem Alten wirklich lacherlich ahnlich sah. Da Frau Chauchat wieder ein Bein uber das andere gelegt hatte, zeichnete sich ihr Knie, ja, die ganze schlanke Linie ihres Beines unter dem blauen Tuchrock ab. Sie war nur von mittlerer Gro?e, einer in Hans Castorps Augen hochst angenehmen und richtigen Gro?e, aber verhaltnisma?ig hochbeinig und nicht breit in den Huften. Sie sa? nicht zuruckgelehnt, sondern vorgebeugt, die gekreuzten Unterarme auf den Oberschenkel des ubergeschlagenen Beines gestutzt, mit gerundetem Rucken und vorfallenden Schultern, so da? die Nackenwirbel hervortraten, ja, unter dem anliegenden Sweater beinahe das Ruckgrat zu erkennen war und ihre Brust, die nicht so hoch und uppig entwickelt wie bei Marusja, sondern klein und madchenhaft war, von beiden Seiten zusammengepre?t wurde. Plotzlich erinnerte sich Hans Castorp, da? auch sie hier in der Erwartung sa?, durchleuchtet zu werden. Der Hofrat malte sie; er gab ihre au?ere Erscheinung mit Ol und Farbstoffen auf der Leinwand wieder. Jetzt aber wurde er im Halbdunkel Lichtstrahlen auf sie lenken, die ihm das Innere ihres Korpers blo?legten. Und indem Hans Castorp dies dachte, wandte er mit einer ehrbaren Verfinsterung seiner Miene den Kopf beiseite, einem Ausdruck von Diskretion und Sittsamkeit, den vor sich selber anzunehmen ihm bei dieser Vorstellung angemessen schien.

Das Beisammensein zu dritt in dem Wartezimmerchen wahrte nicht lange. Man hatte drinnen mit Sascha und seiner Mutter wohl nicht viel Federlesens gemacht, man sputete sich, die Verspatung wieder einzuholen. Neuerdings offnete der Techniker im wei?en Kittel die Tur, Joachim warf aufstehend sein Zeitungsblatt auf den Tisch zuruck, und Hans Castorp folgte ihm, wenn auch nicht ohne inneres Zogern, zur Tur. Ritterliche Bedenken regten sich in ihm zusammen mit der Versuchung, dennoch auf gesittete Art zu Frau Chauchat zu sprechen und ihr den Vortritt anzubieten; vielleicht sogarauf Franzosisch, wenn es sich machen lie?; und hastig suchte er bei sich nach den Vokabeln, der Satzbildung. Aber er wu?te nicht, ob solche Hoflichkeiten hier ortsublich waren, ob nicht die angesetzte Reihenfolge hoch uber Ritterlichkeiten erhaben war. Joachim mu?te es wissen, und da er nicht Miene machte, vor der anwesenden Dame zuruckzustehen, obgleich Hans Castorp ihn bewegt und dringlich anblickte, so folgte dieser ihm denn an Frau Chauchat vorbei, die nur fluchtig aus ihrer gebuckten Haltung aufschaute, und durch die Tur ins Laboratorium.

Er war zu benommen von dem, was er hinter sich lie?, von den Abenteuern der letzten zehn Minuten, als da? mit dem Ubertritt in den Durchleuchtungsraum auch seine innere Gegenwart sich sogleich hatte umstellen konnen. Er sah nichts oder nur sehr Allgemeines im kunstlichen Halblicht. Er horte Frau Chauchats angenehm verschleierte Stimme, mit der sie gesagt hatte: "Was gibt es denn ... Es sind Personen eben noch eingetreten ... Das ist unangenehm ...", und dieser Stimmklang schauerte ihm als ein su?er Reiz den Rucken hinunter. Er sah ihr Knie unter dem Tuchrock sich abbilden, sah an ihrem gebeugten Nacken, unter dem kurzen rotlichblonden Haar, das dort lose hing, ohne in die Zopffrisur aufgenommen worden zu sein, die Halswirbel hervortreten, und abermals uberlief ihn der Schauder. Er sah Hofrat Behrens, abgewandt von den Eintretenden, vor einem Schrank oder regalformigen Einbau stehen und eine schwarzliche Platte betrachten, die er mit ausgestrecktem Arm gegen das matte Deckenlicht hielt. An ihm vorbei gingen sie tiefer in den Raum hinein, uberholt von dem Gehilfen, der Vorbereitungen zu ihrer Behandlung und Abfertigung traf. Es roch eigentumlich hier. Eine Art von abgestandenem Ozon erfullte die Atmosphare. Zwischen den schwarzverhangten Fenstern vorspringend, teilte der Einbau das Laboratorium in zwei ungleiche Halften. Man unterschied physikalische Apparate, Hohlglaser, Schaltbretter, aufrecht ragende Me?instrumente, aber auch einen kameraartigen Kasten auf

rollbarem Gestell, glaserne Diapositive, die reihenweise in die Wand eingelassen waren, - man wu?te nicht, war man in dem Atelier eines Photographen, einer Dunkelkammer oder einer Erfinderwerkstatt und technischen Hexenoffizin.

Joachim hatte ohne weiteres begonnen, seinen Oberkorper freizumachen. Der Gehilfe, ein jungerer, gedrungener und rotbackiger Eingeborener in wei?em Kittel, wies Hans Castorp an, ein gleiches zu tun. Es gehe schnell, er sei sofort an der Reihe ... Wahrend Hans Castorp die Weste auszog, kam Behrens aus dem kleinen Abteil, wo er gestanden, in den geraumigeren heruber.

"Hallo!" sagte er. "Das sind ja unsere Dioskuren! Castorp und Pollux ... Bitte, Wehelaute zu unterdrucken! Warten Sie nur, gleich werden wir Sie alle beide durchschaut haben. Ich glaube, Sie haben Angst, Castorp, uns Ihr Inneres zu eroffnen? Seien Sie ruhig, es geht ganz asthetisch zu. Hier, haben Sie meine Privatgalerie schon gesehen?" Under zog Hans Castorp am Arm vor die Reihen der dunklen Glaser, hinter denen er knipsend Licht einschaltete. Da erhellten sie sich, zeigten ihre Bilder. Hans Castorp sah Gliedma?en: Hande, Fu?e, Kniescheiben, Ober- und Unterschenkel, Arme und Beckenteile. Aber die rundliche Lebensform dieser Bruchstucke des Menschenleibes war schemenhaft und dunstig von Kontur; wie ein Nebel und bleicher Schein umgab sie ungewi? ihren klar, minutios und entschieden hervortretenden Kern, das Skelett.

"Sehr interessant", sagte Hans Castorp.

"Das ist allerdings interessant!" erwiderte der Hofrat. "Nutzlicher Anschauungsunterricht fur junge Leute. Lichtanatomie, verstehen Sie, Triumph der Neuzeit. Das ist ein Frauenarm, Sie ersehen es aus seiner Niedlichkeit. Damit umfangen sie einen beim Schaferstundchen, verstehen Sie." Und er lachte, wobei seine Oberlippe mit dem gestutzten Schnurrbartchen sich einseitig hoher schurzte. Die Bilder erloschen. Hans Castorp wandte sich zur Seite, dorthin, wo Joachims Innenaufnahme sich vorbereitete.

Es geschah vor jenem Einbau, an dessen anderer Seite der Hofrat anfangs gestanden. Joachim hatte auf einer Art von Schustersessel vor einem Brett Platz genommen, gegen das er die Brust pre?te, wobei er es au?erdem mit den Armen umschlang; und mit knetenden Bewegungen verbesserte der Gehilfe seine Stellung, indem er Joachims Schultern weiter nach vorn druckte, seinen Rucken massierte. Hierauf begab er sich hinter die Kamera, um, wie irgend ein Photograph, gebuckt,

breitbeinig, die Ansicht zu prufen, druckte seine Zufriedenheit aus und mahnte Joachim, beiseite gehend, tief einzuatmen und, bis alles voruber, die Luft anzuhalten. Joachims gerundeter Rucken dehnte sich und blieb stehen. In diesem Augenblick hatte der Gehilfe am Schaltbrett den notigen Handgriff getan. Zwei Sekunden lang spielten furchterliche Krafte, deren Aufwand erforderlich war, um die Materie zu durchdringen, Strome von Tausenden von Volt, von hunderttausend, Hans Castorp glaubte sich zu erinnern. Kaum zum Zwecke gebandigt, suchten die Gewalten auf Nebenwegen sich Luft zu machen. Entladungen knallten wie Schusse. Es knatterte blau am Me?apparat. Lange Blitze fuhren knisternd die Wand entlang. Irgendwo blickte ein rotes Licht, einem Auge gleich, still und drohend in den Raum, und eine Phiole in Joachims Rucken fullte sich grun. Dann beruhigte sich alles; die Lichterscheinungen verschwanden, und Joachim lie? seufzend den Atem aus. Es war geschehen.

"Nachster Delinquent!" sagte Behrens und stie? Hans Castorp mit dem Ellenbogen. "Nur keine Mudigkeit vorschutzen! Sie kriegen ein Freiexemplar, Castorp. Dann konnen Sie noch Kindern und Enkeln die Geheimnisse Ihres Busens an die Wand projizieren!"

Joachim war abgetreten; der Techniker wechselte die Platte. Hofrat Behrens unterwies den Neuling personlich, wie er sich zu setzen, zu halten habe. "Umarmen!" sagte er. "Das Brett umarmen! Stellen Sie sich meinetwegen was anderes darunter vor! Und gut die Brust andrucken, als ob Glucksempfindungen damit verbunden waren! Recht so. Einatmen! Stillgehalten!" kommandierte er. "Bitte, recht freundlich!" Hans Castorp warteteblinzelnd, die Lunge voller Luft. Hinter ihm brach das Gewitter los, knisterte, knatterte, knallte und beruhigte sich. Das Objektiv hatte in sein Inneres geblickt.

Er stieg ab, verwirrt und betaubt von dem, was mit ihm geschehen, obgleich ja die Durchdringung ihm nicht im geringsten empfindlich geworden war. "Brav", sagte der Hofrat. "Nun werden wir selber sehen." Und schon hatte Joachim, bewandert wie er war, sich weiter hinbegeben, naher der Ausgangstur an einem Stativ Aufstellung genommen, im Rucken den weitlaufig sich aufbauenden Apparat, auf dessen Ruckenhohe man eine halb mit Wasser gefullte Glasblase mit Verdunstungsrohre gewahrte, vor sich, in Brusthohe, einen gerahmten Schirm, der an Rollzugen schwebte. Zu seiner Linken, inmitten eines Schaltbretts und Instrumentariums, erhob sich eine rote Lampenglocke.

Der Hofrat, vor dem hangenden Schirm auf einem Schemel reitend, entzundete sie. Das Deckenlicht erlosch, nur das Rubinlicht noch erhellte die Szene. Dann hob der Meister auch dieses mit kurzem Handgriff auf, und dichteste Finsternis hullte die Laboranten ein.

"Erst mussen die Augen sich gewohnen", horte man den Hofrat im Dunkel sagen. "Ganz gro?e Pupillen mussen wir erst kriegen, wie die Katzen, um zu sehen, was wir sehen wollen. Das verstehen Sie ja wohl, da? wir es so ohne weiteres mit unseren gewohnlichen Tagaugen nicht ordentlich sehen konnten. Den hellen Tag mit seinen fidelen Bildern mussen wir uns erst mal aus dem Sinn schlagen zu dem Behuf."

"Selbstredend", sagte Hans Castorp, der hinter des Hofrats Schulter stand, und schlo? die Augen, da es ganz gleichgultig war, ob man sie offen hielt, oder nicht, so schwarz war die Nacht. "Erst mussen wir uns mal die Augen mit Finsternis waschen, um so was zu sehen, das ist doch klar. Ich finde es sogar gut und richtig, da? wir uns vorher ein bi?chen sammeln, sozusagen in stillem Gebet. Ich stehe hier und habe die Augen geschlossen, es ist mir angenehm schlafrig zu Sinn. Aber wonach riecht es hier nur?"

"Sauerstoff", sagte der Hofrat. "Das ist Oxygen, was Sie in den Luften spuren. Atmospharisches Produkt des Stubengewitters, verstehen Sie mich ... Augen auf!" sagte er. "Jetzt fangt die Beschworung an." Hans Castorp gehorchte eilig.

Man horte das Umlegen eines Hebels. Ein Motor sprang auf und sang wutend in die Hohe, wurde aber durch einen neuen Handgriff zur Stetigkeit gebandigt. Der Fu?boden bebte gleichma?ig. Das rote Lichtlein, langlich und senkrecht, blickte mit stillem Drohen heruber. Irgendwo knisterte ein Blitz. Und langsam, mit milchigem Schein, ein sich erhellendes Fenster, trat aus dem Dunkel das bleiche Viereck des Leuchtschirms hervor, vor welchem Hofrat Behrens auf seinem Schusterschemel ritt, die Schenkel gespreizt, die Fauste daraufgestemmt, die Stumpfnase dicht an der Scheibe, die Einblick in eines Menschen organisches Inneres gewahrte.

"Sehen Sie, Jungling?" fragteer ... Hans Castorp beugte sich uber seine Schulter, hob aber noch einmal den Kopf, dorthin, wo im Dunkel Joachims Augen zu vermuten waren, die sanft und traurig blicken mochten, wie damals bei der Untersuchung, und fragte:

"Du erlaubst doch?"

"Bitte, bitte", antwortete Joachim liberal aus seiner Finsternis. Und beim Schuttern des Erdbodens, im Knistern und Rumoren der spielenden Krafte spahte Hans Castorp gebuckt durch das bleiche Fenster, spahte durch Joachim Ziem?ens leeres Gebein. Der Brustknochen fiel mit dem Ruckgrat zur dunklen, knorpeligen Saule zusammen. Das vordere Rippengerust wurde von dem des Ruckens uberschnitten, das blasser erschien. Geschwungen zweigten oben die Schlusselbeine nach beiden Seiten ab, und in der weichen Lichthulle der Fleischesform zeigten sich durr und scharf das Schulterskelett, der Ansatz von Joachims Oberarmknochen. Es war hell im Brustraum, aber man unterschied ein Geader, dunkle Flecke, ein schwarzliches Gekrausel.

"Klares Bild", sagte der Hofrat. "Das ist die anstandige Magerkeit, die militarische Jugend. Ich habe hier Wanste gehabt, - undurchdringlich, beinahe nichts zu erkennen. Die Strahlen mu?te man erst mal entdecken, die durch so eine Fettschicht gehen ... Dies hier ist saubere Arbeit. Sehen Sie das Zwerchfell?" sagte er und wies mit dem Finger auf den dunklen Bogen, der sich unten im Fenster hob und senkte ... "Sehen Sie die Buckel hier linkerseits, die Erhohungen? Das ist die Rippenfellentzundung, die er mit funfzehn Jahren hatte. Tief atmen!" kommandierte er. "Tiefer! Ich sage tief!" Und Joachims Zwerchfell hob sich zitternd, so hoch es konnte, Aufhellung war in den oberen Lungenteilen zu bemerken, aber der Hofrat war nicht befriedigt. "Ungenugend!" sagte er. "Sehen Sie die Hilusdrusen? Sehen Sie die Verwachsungen? Sehen Sie die Kavernen hier? Da kommen die Gifte her, die ihn beschwipsen." Aber Hans Castorps Aufmerksamkeit war in Anspruch genommen von etwas Sackartigem, ungestalt Tierischem, dunkel hinter dem Mittelstamme Sichtbarem, und zwar gro?erenteils zur Rechten, vom Beschauer aus gesehen, - das sich gleichma?ig ausdehnte und wieder zusammenzog, ein wenig nach Art einer rudernden Qualle.

"Sehen Sie sein Herz?" fragte der Hofrat, indem er abermals die riesige Hand vom Schenkel loste und mit dem Zeigefinger auf das pulsierende Gehange wies ... Gro?er Gott, es war das Herz, Joachims ehrliebendes Herz, was Hans Castorp sah!

"Ich sehe dein Herz!" sagte er mit gepre?ter Stimme.

"Bitte, bitte", antwortete Joachim wieder, und wahrscheinlich lachelte er ergeben dort oben im Dunklen. Aber der Hofrat gebot ihnen, zu schweigen und keine Empfindsamkeiten zu tauschen. Er studierte die Flecke und Linien, das schwarze Gekrausel im inneren Brustraum,

wahrend auch sein Mitspaher nicht mude wurde, Joachims Grabesgestalt und Totenbein zu betrachten, dies kahle Gerust und spindeldurre Memento. Andacht und Schrecken erfullten ihn. "Jawohl, jawohl, ich sehe", sagte er mehrmals. "Mein Gott, ich sehe!"Er hatte von einer Frau gehort, einer langst verstorbenen Verwandten von Tienappelscher Seite, - sie sollte mit einer schweren Gabe ausgestattet oder geschlagen gewesen sein, die sie in Demut getragen, und die darin bestanden hatte, da? Leute, die baldigst sterben sollten, ihren Augen als Gerippe erschienen waren. So sah nun Hans Castorp den guten Joachim, wenn auch mit Hilfe und auf Veranstaltung der physikalisch-optischen Wissenschaft, so da? es nichts zu bedeuten hatte und alles mit rechten Dingen zuging, zumal er Joachims Zustimmung ausdrucklich eingezogen. Dennoch wandelte Verstandnis ihn an fur die Melancholie im Schicksal jener seherischen Tante. Heftig bewegt von dem, was er sah, oder eigentlich davon, da? er es sah, fuhlte er sein Gemut von geheimen Zweifeln gestachelt, ob es rechte Dinge seien, mit denen dies zugehe, Zweifeln an der Erlaubtheit seines Schauens im schutternden, knisternden Dunkel; und die zerrende Lust der Indiskretion mischte sich in seiner Brust mit Gefuhlen der Ruhrung und Frommigkeit.

Aber wenige Minuten spater stand er selbst im Gewitter am Pranger, wahrend Joachim, wieder geschlossenen Leibes, sich ankleidete. Abermals spahte der Hofrat durch die milchige Scheibe, diesmal in Hans Castorps Inneres, und aus seinen halblauten Au?erungen, abgerissenen Schimpfereien und Redensarten schien hervorzugehen, da? der Befund seinen Erwartungen entsprach. Er war dann noch so freundlich, zu erlauben, da? der Patient seine eigene Hand durch den Leuchtschirm betrachte, da er dringend darum gebeten hatte. Und Hans Castorp sah, was zu sehen er hatte erwarten mussen, was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist, und wovon auch er niemals gedacht hatte, da? ihm bestimmt sein konne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab. Das spatere Geschaft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelost, und darin das kleinlich gedrechselte Skelett seiner rechten Hand, um deren oberes Ringfingerglied sein Siegelring, vom Gro?vater her ihm vermacht, schwarz und lose schwebte: ein hartes Ding dieser Erde, womit der Mensch seinen Leib schmuckt, der bestimmt ist, darunter wegzuschmelzen, so da? es frei wird und weiter geht an ein Fleisch, das es eine Weile wieder tragen kann. Mit den Augen jener Tienappelschen

Vorfahrin erblickte er einen vertrauten Teil seines Korpers, durchschauenden, voraussehenden Augen, und zum erstenmal in seinem Leben verstand er, da? er sterben werde. Dazu machte er ein Gesicht, wie er es zu machen pflegte, wenn er Musik horte, - ziemlich dumm, schlafrig und fromm, den Kopf halb offenen Mundes gegen die Schulter geneigt. Der Hofrat sagte:

"Spukhaft, was? Ja, ein Einschlag von Spukhaftigkeit ist nicht zu verkennen."

Und dann tat er den Kraften Einhalt. Der Fu?boden kam zur Ruhe, die Lichterscheinungen schwanden, das magische Fenster hulltesich wieder in Dunkel. Das Deckenlicht ging an. Und wahrend auch Hans Castorp sich in die Kleider warf, gab Behrens den jungen Leuten einige Auskunft uber seine Beobachtungen, unter Berucksichtigung ihrer laienhaften Auffassungsfahigkeit. Was im besonderen Hans Castorp betraf, so hatte der optische Befund den akustischen so genau bestatigt, wie die Ehre der Wissenschaft es nur irgend verlangte. Es seien die alten Stellen sowohl wie die frische zu sehen gewesen, und "Strange" zogen sich von den Bronchien aus ziemlich weit in das Organ hinein, - "Strange mit Knotchen". Hans Castorp werde es selbst auf dem Diapositivbildchen nachprufen konnen, das ihm, wie gesagt, demnachst werde eingehandigt werden. Also Ruhe, Geduld, Mannszucht, messen, essen, liegen, abwarten und Tee trinken. Er wandte ihnen den Rucken. Sie gingen. Hans Castorp, hinter Joachim, blickte im Hinausgehen uber die Schulter. Vom Techniker eingelassen, betrat Frau Chauchat das Laboratorium.

Freiheit

Wie kam es dem jungen Hans Castorp eigentlich vor? Etwa so, als ob die sieben Wochen, die er nun nachweislich und ohne allen Zweifel schon bei Denen hier oben verbracht hatte, nur sieben Tage gewesen waren? Oder schien ihm im Gegenteil, da? er schon viel, viel langer, als wirklich zutraf, an diesem Orte lebe? Er fragte sich selbst danach, sowohl innerlich, wie auch in der Form, da? er Joachim danach fragte, konnte aber zu keiner Entscheidung kommen. Es war wohl beides der Fall: zugleich unnaturlich kurz und unnaturlich lang erschien ihm im Ruckblick die hier verbrachte Zeit, nur eben wie es wirklich damit war, so wollte es ihm nicht scheinen, - wobei vorausgesetzt wird, da? Zeit uberhaupt

Natur, und da? es statthaft ist, den Begriff der Wirklichkeit mit ihr in Verbindung zu bringen.

Auf jeden Fall stand der Oktober vor der Tur, jeden Tag konnte er eintreten. Es war ein leichtes fur Hans Castorp, sich das auszurechnen, und au?erdem wurde er durch Gesprache seiner Mitpatienten darauf hingewiesen, denen er zuhorte. "Wissen Sie, da? in funf Tagen wieder einmal der Erste ist?" horte er Hermine Kleefeld zu zwei jungen Herren ihrer Gesellschaft sagen, dem Studenten Rasmussen und jenem Wulstlippigen, dessen Name Ganser war. Man stand nach der Hauptmahlzeit im Speisedunst zwischen den Tischen herum und zogerte plaudernd, in die Liegekur zu gehen. "Der erste Oktober, ich habe es in der Verwaltung auf dem Kalender gesehen. Das ist der zweite seiner Art, den ich an diesem Lustort verlebe. Schon, der Sommer ist hin, soweit er vorhanden war, man ist um ihn betrogen, wie man um das Leben betrogen ist, im ganzen und uberhaupt." Und sie seufzte aus ihrer halben Lunge, indem sie kopfschuttelnd ihre von Dummheit umschleierten Augen zur Decke richtete. "Lustig, Rasmussen!" sagte sie hierauf und schlug ihremKameraden auf die abfallende Schulter. "Machen Sie Witze!" "Ich wei? nur wenige", erwiderte Rasmussen und lie? die Hande wie Flossen in Brusthohe hangen; "die aber wollen mir nicht vonstatten gehn, ich bin immer so mude." "Es mochte kein Hund," sagte Ganser hinter den Zahnen, "so oder ahnlich noch viel langer leben." Und sie lachten achselzuckend.

Aber auch Settembrini, seinen Zahnstocher zwischen den Lippen, hatte in der Nahe gestanden, und im Hinausgehen sagte er zu Hans Castorp:

"Glauben Sie ihnen nicht, Ingenieur, glauben Sie ihnen niemals, wenn sie schimpfen! Das tun sie alle ohne Ausnahme, obgleich sie sich nur zu sehr zu Hause fuhlen. Fuhren ein Lotterleben und erheben auch noch Anspruch auf Mitleid, dunken sich zur Bitterkeit berechtigt, zur Ironie, zum Zynismus! 'An diesem Lustort!' Ist es vielleicht kein Lustort? Ich will meinen, da? es einer ist, und zwar in des Wortes zweifelhaftester Bedeutung! 'Betrogen', sagt dies Frauenzimmer; 'an diesem Lustort um das Leben betrogen.' Aber entlassen Sie sie in die Ebene, und ihr Lebenswandel dort unten wird keinen Zweifel daruber lassen, da? sie es darauf anlegt, baldmoglichst wieder heraufzukommen. Ach ja, die Ironie! Huten Sie sich vor der hier gedeihenden Ironie, Ingenieur! Huten Sie sich uberhaupt vor dieser geistigen Haltung! Wo sie nicht ein gerades und

klassisches Mittel der Redekunst ist, dem gesunden Sinn keinen Augenblick mi?verstandlich, da wird sie zur Liederlichkeit, zum Hindernis der Zivilisation, zur unsauberen Liebelei mit dem Stillstand, dem Ungeist, dem Laster. Da die Atmosphare, in der wir leben, dem Gedeihen dieses Sumpfgewachses offenbar sehr gunstig ist, darf ich hoffen oder mu? furchten, da? Sie mich verstehen."

Wirklich waren des Italieners Worte von der Art derer, die noch vor sieben Wochen im Tieflande fur Hans Castorp nur Schall gewesen waren, fur deren Bedeutung aber der Aufenthalt hier oben seinen Geist empfanglich gemacht hatte: empfanglich im Sinne intellektuellen Verstandnisses, nicht ohne weiteres auch in dem der Sympathie, was vielleicht noch mehr besagen will. Denn obgleich er im Grunde seiner Seele froh war, da? Settembrini auch jetzt noch, trotz allem, was geschehen, fortfuhr, zu ihm zu sprechen, wie er es tat, ihn weiter belehrte, warnte und Einflu? auf ihn zu nehmen suchte, ging seine Auffassungsfahigkeit sogar so weit, da? er seine Worte beurteilte und ihnen seine Zustimmung, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, vorenthielt. "Sieh an," dachte er, "er spricht von der Ironie ganz ahnlich wie von der Musik, es fehlt nur, da? er sie 'politisch verdachtig' nennt, namlich von dem Moment an, wo sie aufhort, ein 'gerades und klassisches Lehrmittel' zu sein. Aber eine Ironie, die 'keinen Augenblick mi?verstandlich' ist, - was ware denn das fur eine Ironie, frage ich in Gottes Namen, wenn ich schon mitredensoll? Eine Trockenheit und Schulmeisterei ware sie!" - So undankbar ist Jugend, die sich bildet. Sie la?t sich beschenken, um dann das Geschenk zu bemakeln.

Seine Widersetzlichkeit in Worte zu fassen, ware ihm immerhin zu abenteuerlich erschienen. Er beschrankte seine Einwande auf Herrn Settembrinis Urteil uber Hermine Kleefeld, das ihm ungerecht erschien oder das er aus bestimmten Grunden sich so erscheinen lassen wollte.

"Aber das Fraulein ist krank!" sagte er. "Sie ist ja wahr- und wahrhaftig schwer krank und hat allen Grund, verzweifelt zu sein! Was wollen Sie eigentlich von ihr?"

"Krankheit und Verzweiflung," sagte Settembrini, "sind auch oft nur Formen der Liederlichkeit."

"Und Leopardi," dachte Hans Castorp, "der ausdrucklich sogar an Wissenschaft und Fortschritt verzweifelte? Und er selbst, der Herr Schulmeister? Er ist doch auch krank und kommt immer wieder herauf, und Carducci hatte wenig Freude an ihm." Laut sagte er:

"Sie sind gut. Das Fraulein kann jeden Tag ins Gras bei?en, und das nennen Sie Liederlichkeit! Da mussen Sie sich schon naher erklaren. Wenn Sie mir sagten: Krankheit ist bisweilen eine Folge der Liederlichkeit, so ware das plausibel ..."

"Sehr plausibel", schaltete Settembrini ein. "Meiner Treu, es ware Ihnen recht, wenn ich dabei stehen bliebe?"

"Oder wenn Sie sagten: Krankheit mu? der Liederlichkeit manchmal zum Vorwand dienen, - auch das lie?e ich mir gefallen."

"Grazie tanto!"

"Aber Krankheit eine Form der Liederlichkeit? Das hei?t: nicht aus der Liederlichkeit entstanden, sondern selbst Liederlichkeit? Das ist doch paradox!"

"Oh, ich bitte, Ingenieur, keine Unterstellungen! Ich verachte die Paradoxe, ich hasse sie! Lassen Sie sich alles, was ich Ihnen uber die Ironie bemerkte, auch vom Paradoxon gesagt sein, und noch einiges mehr! Das Paradoxon ist die Giftblute des Quietismus, das Schillern des faulig gewordenen Geistes, die gro?te Liederlichkeit von allen! Im ubrigen stelle ich fest, da? Sie wieder einmal die Krankheit in Schutz nehmen ..."

"Nein, was Sie sagen, interessiert mich. Es erinnert geradezu an manches, was Dr. Krokowski an seinen Montagen vorbringt. Auch er erklart die organische Krankheit fur eine sekundare Erscheinung."

"Kein ganz reinlicher Idealist."

"Was haben Sie gegen ihn?"

"Eben dies."

"Sind Sie schlecht auf die Analyse zu sprechen?"

"Nicht jeden Tag. - Sehr schlecht und sehr gut, beides abwechselnd, Ingenieur."

"Wie soll ich das verstehen?"

"Die Analyse ist gut als Werkzeug der Aufklarung und der Zivilisation, gut, insofern sie dumme Uberzeugungen erschuttert, naturliche Vorurteile auflost und die Autoritat unterwuhlt, gut, mit anderen Worten, indem sie befreit, verfeinert, vermenschlicht und Knechte reif macht zur Freiheit. Sie ist schlecht, sehr schlecht, insofern sie die Tat verhindert, das Leben an den Wurzeln schadigt, unfahig, es zu gestalten. Die Analyse kann eine sehr unappetitliche Sache sein, unappetitlich wie der

Tod, zu dem sie denn doch wohl eigentlich gehoren mag, - verwandt dem Grabe undseiner anruchigen Anatomie ..."

"Gut gebrullt, Lowe", konnte Hans Castorp nicht umhin zu denken, wie gewohnlich, wenn Herr Settembrini etwas Padagogisches geau?ert. Er sagte aber nur:

"Lichtanatomie haben wir neulich getrieben in unserem Parterrekeller. Behrens nannte es so, als er uns durchleuchtete."

"Ah, auch diese Station haben Sie schon erstiegen. Nun, und?"

"Ich habe das Skelett meiner Hand gesehen", sagte Hans Castorp, indem er sich die Empfindungen zuruckzurufen suchte, die bei diesem Anblick in ihm aufgestiegen waren. "Haben Sie sich Ihres auch einmal zeigen lassen?"

"Nein, ich interessiere mich nicht im geringsten fur mein Skelett. Und das arztliche Ergebnis?"

"Er hat Strange gesehen, Strange mit Knotchen."

"Teufelsknecht."

"So haben Sie Hofrat Behrens schon einmal genannt. Was meinen Sie damit?"

"Seien Sie uberzeugt, da? es eine gewahlte Bezeichnung ist!"

"Nein, Sie sind ungerecht, Herr Settembrini! Ich gebe zu, da? der Mann seine Schwachen hat. Seine Redeweise ist mir selbst auf die Dauer nicht angenehm; sie hat zuweilen was Gewaltsames, besonders wenn man sich erinnert, da? er den gro?en Kummer gehabt hat, seine Frau hier oben einzubu?en. Aber was fur ein verdienter und achtbarer Mann ist er doch alles in allem, ein Wohltater der leidenden Menschheit! Neulich begegnete ich ihm, als er eben von einer Operation kam, einer Rippenresektion, einer Sache, bei der es auf Biegen oder Brechen gegangen war. Es machte gro?en Eindruck auf mich, wie ich ihn so von seiner schwierigen, nutzlichen Arbeit kommen sah, auf die er sich so gut versteht. Noch ganz erhitzt war er und hatte sich zur Belohnung eine Zigarre angezundet. Ich war neidisch auf ihn."

"Das war schon von Ihnen. Aber Ihr Strafma??"

"Er hat mir keine bestimmte Frist gesetzt."

"Auch nicht ubel. Legen wir uns also, Ingenieur. Beziehen wir unsere Stellungen."

Sie verabschiedeten sich vor Nummer 34.

"Nun gehen Sie auf Ihr Dach hinauf, Herr Settembrini. Es mu? lustiger sein, so in Gesellschaft zu liegen, als allein. Unterhalten Sie sich? Sind es interessante Leute, mit denen Sie Kur machen?"

"Ach, das sind lauter Parther und Skythen!"

"Sie meinen Russen?"

"Und Russinnen", sagte Herr Settembrini, und sein Mundwinkel spannte sich. "Adieu, Ingenieur!"

Das war mit Bedeutung gesagt, unzweifelhaft. Hans Castorp betrat in Verwirrung sein Zimmer. Wu?te Settembrini, wie es um ihn stand? Wahrscheinlich hatte er ihm erzieherisch nachgespurt und die Wege verfolgt, die seine Augen gingen. Hans Castorp war zornig auf den Italiener und auch auf sich selbst, weil er unbeherrschterweise den Stich herausgefordert hatte. Wahrend er sein Schreibzeug zusammensuchte, um es mit in die Liegekur zu nehmen - denn nun galt kein Zogern mehr, der Brief nach Hause, der dritte, wollte geschrieben sein -, fuhr er fort, sich zu argern, murmelte dies und das vor sich hin gegen diesen Windbeutel und Rasonneur, der sichin Dinge mischte, die ihn nichts angingen, wahrend er selbst die Madchen auf der Stra?e antrallerte, - und fuhlte sich zu der schriftlichen Arbeit gar nicht mehr aufgelegt, - dieser Drehorgelmann hatte ihm mit seinen Anspielungen formlich die Stimmung dazu verdorben. Aber so oder so, er mu?te Winterzeug haben, Geld, Wasche, Schuhwerk, kurz alles, was er mitgenommen haben wurde, wenn er gewu?t hatte, da? er nicht fur drei Hochsommerwochen, sondern ... sondern fur eine noch unbestimmte Frist kam, die aber jedenfalls ein Stuck in den Winter hineinreichen, ja, wie bei Uns hier oben die Begriffe und Zeitverhaltnisse nun einmal waren, ihn wohl gar einschlie?en wurde. Dies eben wollte, wenigstens als Moglichkeit, nach Hause mitgeteilt sein. Es galt diesmal ganze Arbeit zu tun, Denen dort unten reinen Wein einzuschenken und weder sich noch ihnen langer etwas vorzumachen ...

In diesem Geiste schrieb er denn, unter Beobachtung der Technik, die er Joachim mehrmals hatte uben sehen: im Liegestuhl, mit dem Fullfederhalter, die Reisemappe auf den hochgezogenen Knien. Er schrieb auf einem Briefbogen der Anstalt, von denen ein Vorrat in der Tischschublade bereit lag, an James Tienappel, der ihm unter den drei Onkels am nachsten stand, und bat ihn, den Konsul zu unterrichten. Er sprach von einem leidigen Zwischenfall, von Befurchtungen, die sich bewahrheitet hatten, von der arztlicherseits erklarten Notwendigkeit,

einen Teil des Winters, vielleicht den ganzen hier oben zu verbringen, denn Falle wie der seinige seien oft hartnackiger als solche, die sich pomposer anlie?en, und es gelte doch, nachdrucklich einzugreifen und beizeiten ein fur allemal vorzubauen. Unter diesem Gesichtspunkt, meinte er, sei es ja ein Gluck und eine gunstige Fugung, da? er zufallig jetzt heraufgekommen und veranla?t worden sei, sich untersuchen zu lassen; denn sonst ware er wohl noch lange uber seinen Zustand im unklaren geblieben und spater vielleicht auf viel empfindlichere Art daruber belehrt worden. Was die voraussichtliche Dauer der Kur betreffe, so moge man sich nicht wundern, da? er sich wahrscheinlich den Winter werde um die Ohren schlagen mussen und kaum fruher als Joachim in die Ebene werde zuruckkehren konnen. Die Zeitbegriffe seien hier andere, als die sonst wohl fur Badereisen und Kuraufenthalte gultigen; der Monat sei sozusagen die kleinste Zeiteinheit, und einzeln spiele er gar keine Rolle ...

Es war kuhl, er schrieb im Paletot, in eine Decke gehullt, mit geroteten Handen. Manchmal blickte er auf von seinem Papier, das sich mit vernunftigen und uberzeugenden Satzen bedeckte, und blickte in die vertraute Landschaft, die er kaum noch sah, dieses gestreckte Tal mit dem heute glasig-bleichen Gipfelgeschiebe am Ausgang, dem hell besiedelten Grunde, der manchmal sonnig aufglanzte, und den teils waldrauhen, teils wiesigen Lehnen, von denen Kuhgelaut kam. Er schriebmit wachsender Leichtigkeit und verstand nicht mehr, wie er sich vor dem Brief hatte furchten konnen. Im Schreiben begriff er selbst, da? nichts einleuchtender sein konnte, als seine Darlegungen, und da? sie zu Hause selbstverstandlich das vollkommenste Einverstandnis finden wurden. Ein junger Mann seiner Klasse und in seinen Verhaltnissen tat etwas fur sich, wenn es sich als ratsam erwies, er machte Gebrauch von den eigens fur seinesgleichen bereitgestellten Bequemlichkeiten. So gehorte es sich. Ware er heimgereist, - man hatte ihn auf seinen Bericht hin wieder heraufgeschickt. Er bat, ihm zukommen zu lassen, was er brauchte. Auch um regelma?ige Anweisung der notigen Geldmittel bat er zum Schlu?; mit 800 Mark monatlich sei alles zu decken.

Er unterschrieb. Das war getan. Dieser dritte Brief nach Hause war ausgiebig, er hielt vor, - nicht nach den Zeitbegriffen von unten, sondern nach den hier oben herrschenden; er befestigte Hans Castorps Freiheit. Dies war das Wort, das er anwandte, nicht ausdrucklich, nicht, indem er auch nur innerlich seine Silben gebildet hatte, aber er empfand seinen

weitlaufigsten Sinn, wie er es wahrend seines hiesigen Aufenthaltes zu tun gelernt hatte, - einen Sinn, der mit demjenigen, den Settembrini diesem Worte beilegte, nur wenig zu schaffen hatte, - und eine ihm schon bekannte Welle des Schreckens und der Erregung ging uber ihn hin, die seine Brust beim Aufseufzen erzittern lie?.

Er hatte den Kopf voller Blut vom Schreiben, seine Backen brannten. Er nahm Merkurius vom Lampentischchen und ma? sich, als gelte es, eine Gelegenheit zu benutzen. Merkurius stieg auf 37,8.

"Seht ihr?" dachte Hans Castorp. Und er fugte das Postskriptum hinzu: "Der Brief hat mich doch angestrengt. Ich messe 37,8. Ich sehe, da? ich mich vorlaufig sehr ruhig verhalten mu?. Ihr mu?t entschuldigen, wenn ich selten schreibe." Dann lag er und hob seine Hand gegen den Himmel, das Innere nach au?en, so, wie er sie hinter den Leuchtschirm gehalten. Aber das Himmelslicht lie? ihre Lebensform unberuhrt, sogar noch dunkler und undurchsichtiger wurde ihr Stoff vor seiner Helle, und nur ihre au?ersten Umrisse zeigten sich rotlich durchleuchtet. Es war die Lebenshand, die er zu sehen, zu saubern, zu benutzen gewohnt war - nicht jenes fremde Gerust, das er im Schirme erblickt -, die analytische Grube, die er damals offen gesehen, hatte sich wieder geschlossen.

Launen des Merkur

Der Oktober brach an, wie neue Monate anzubrechen pflegen, - es ist an und fur sich ein vollkommen bescheidenes und gerauschloses Anbrechen, ohne Zeichen und Feuermale, ein stilles Sicheinschleichen also eigentlich, das der Aufmerksamkeit, wenn sie nicht strenge Ordnung halt, leicht entgeht. Die Zeit hat in Wirklichkeit keine Einschnitte, es gibt kein Gewitter oder Drommetengeton beim Beginn eines neuen Monats oder Jahres, undselbst bei dem eines neuen Sakulums sind es nur wir Menschen, die schie?en und lauten.

In Hans Castorps Fall glich der erste Oktobertag auf ein Haar dem letzten Septembertage; er war ebenso kalt und unfreundlich wie dieser, und die nachstfolgenden waren es auch. Man brauchte den Winterpaletot und beide Kamelhaardecken in der Liegekur, nicht nur abends, sondern auch am Tage; die Finger, mit denen man sein Buch hielt, waren feucht und steif, wenn auch die Backen in trockener Hitze standen, und Joachim war sehr versucht, seinen Pelzsack in Gebrauch zu nehmen; er unterlie? es nur, um sich nicht vorzeitig zu verwohnen.

Aber einige Tage spater, man hielt schon zwischen Anfang und Mitte des Monats, anderte sich alles, und ein nachtraglicher Sommer fiel ein von solcher Pracht, da? es zum Verwundern war. Nicht umsonst hatte Hans Castorp den Oktober dieser Gegenden ruhmen horen; wohl zweieinhalb Wochen lang herrschte Himmelsherrlichkeit uber Berg und Tal, ein Tag uberbot den anderen an blauender Reinheit, und mit so unvermittelter Kraft brannte die Sonne darein, da? jedermann sich veranla?t fand, das leichteste Sommerzeug, Musselinkleider und Leinwandhosen, die schon verworfen gewesen, wieder hervorzusuchen und selbst der gro?e Segeltuchschirm ohne Krucke, den man vermittelst einer sinnreichen Vorrichtung, einem mehrfach gelochten Pflock, an der Armlehne des Liegestuhles befestigte, in den mittleren Tagesstunden nur ungenugenden Schutz gegen die Glut des Gestirnes bot.

"Schon, da? ich das hier noch mitmache", sagte Hans Castorp zu seinem Vetter. "Wir haben es manchmal so elend gehabt, - es ist ja ganz, als hatten wir den Winter schon hinter uns und nun kame die gute Zeit." Er hatte recht. Wenige Merkmale deuteten auf den wahren Sachverhalt, und auch diese waren unscheinbar. Nahm man ein paar gepflanzte Ahorne beiseite, die unten in "Platz" nur eben ihr Leben fristeten und langst mutlos ihre Blatter hatten fallen lassen, so gab es keine Laubbaume hier, deren Zustand der Landschaft das Geprage der Jahreszeit aufgedruckt hatte, und nur die zwittrige Alpenerle, die weiche Nadeln tragt und diese wie Blatter wechselt, zeigte sich herbstlich kahl. Der ubrige Baumschmuck der Gegend, ob ragend oder geduckt, war immergrunes Nadelholz, fest gegen den Winter, der, undeutlich eingeschrankt, seine Schneesturme hier uber das ganze Jahr verteilen darf; und nur ein mehrfach gestufter, rostrotlicher Ton uber dem Forst lie? trotz dem Sommerbrande des Himmels das sinkende Jahr erkennen. Freilich waren da, naher zugesehen, noch die Wiesenblumen, die gleichfalls leise zur Sache redeten. Es gab das orchideenahnliche Knabenkraut, die staudenformige Akelei nicht mehr, die bei des Besuchers Ankunft noch das Gehange geschmuckt hatten, und auch die wilde Nelke war nicht mehr da. Nur noch der Enzian, die kurzaufsitzende Herbstzeitlose waren zu sehen und gaben Bescheid uber eine gewisse innere Frischeder oberflachlich erhitzten Atmosphare, eine Kuhle, die dem Ruhenden, au?erlich fast Versengten plotzlich ans Gebein treten konnte, wie ein Frostschauer dem Fiebergluhenden.

Hans Castorp also hielt innerlich nicht jene Ordnung, womit der die

Zeit bewirtschaftende Mensch ihren Ablauf beaufsichtigt, ihre Einheiten abteilt, zahlt und benennt. Er hatte auf den stillen Anbruch des zehnten Monats nicht achtgehabt; nur das Sinnliche beruhrte ihn, die Sonnenglut mit der geheimen Frostfrische darin und darunter, - eine Empfindung, die ihm in dieser Starke neu war und ihn zu einem kulinarischen Vergleich anregte: sie erinnerte ihn, einer Au?erung zufolge, die er gegen Joachim tat, an eine "Omelette en surprise" mit Gefrorenem unter dem hei?en Eierschaum. Er sagte ofter solche Dinge, sagte sie rasch, gelaufig und mit bewegter Stimme, wie ein Mensch spricht, den es frostelt bei hei?er Haut. Dazwischen freilich war er auch schweigsam, um nicht zu sagen: in sich gekehrt; denn seine Aufmerksamkeit war wohl nach au?en gerichtet, aber auf einen Punkt; das ubrige, Menschen wie Dinge, verschwamm im Nebel, einem in Hans Castorps Hirn erzeugten Nebel, den Hofrat Behrens und Dr. Krokowski zweifellos als das Produkt loslicher Gifte angesprochen haben wurden, wie der Benebelte sich selber sagte, ohne da? diese Einsicht das Vermogen oder auch nur im entferntesten den Wunsch in ihm gezeitigt hatte, des Rausches ledig zu werden.

Denn das ist ein Rausch, dem es um sich selber zu tun ist, und dem nichts unerwunschter und verabscheuenswurdiger scheint, als die Ernuchterung. Er behauptet sich auch gegen dampfende Eindrucke, er la?t sie nicht zu, um sich zu bewahren. Hans Castorp wu?te und hatte es fruher selbst zur Sprache gebracht, da? Frau Chauchat im Profil nicht gunstig aussah, etwas scharf, nicht mehr ganz jung. Die Folge? Er vermied es, sie im Profil zu betrachten, schlo? buchstablich die Augen, wenn sie ihm zufallig von fern oder nah diese Ansicht bot, es tat ihm weh. Warum? Seine Vernunft hatte freudig die Gelegenheit wahrnehmen sollen, sich zur Geltung zu bringen! Aber was verlangt man ... Er wurde bla? vor Entzucken, als Clawdia in diesen glanzenden Tagen zum zweiten Fruhstuck wieder einmal in der wei?en Spitzenmatinee erschien, die sie bei warmem Wetter trug, und die sie so au?erordentlich reizvoll machte, - verspatet und turschmetternd darin erschien und lachelnd, die Arme leicht zu ungleicher Hohe erhoben, gegen den Saal Front machte, um sich zu prasentieren. Aber er war entzuckt nicht sowohl dadurch, da? sie so gunstig aussah, sondern daruber, da? es so war, weil das den su?en Nebel in seinem Kopf verstarkte, den Rausch, der sich selber wollte, und dem es darum zu tun war, gerechtfertigt und genahrt zu werden.

Ein Gutachter von der Denkungsart Lodovico Settembrinis hatte

angesichts eines solchen Mangelsan gutem Willen geradezu von Liederlichkeit, von "einer Form der Liederlichkeit" sprechen mogen. Hans Castorp gedachte zuweilen der schriftstellerischen Dinge, die jener uber "Krankheit und Verzweiflung" geau?ert, und die er unbegreiflich gefunden oder so zu finden sich den Anschein gegeben hatte. Er sah Clawdia Chauchat an, die Schlaffheit ihres Ruckens, die vorgeschobene Haltung ihres Kopfes; er sah sie bestandig mit gro?er Verspatung zu Tisch kommen, ohne Grund und Entschuldigung, einzig aus Mangel an Ordnung und gesitteter Energie; sah sie aus eben diesem grundlegenden Mangel jede Tur hinter sich zufallen lassen, durch die sie aus oder ein ging, Brotkugeln drehen und gelegentlich an den seitlichen Fingerspitzen kauen, - und eine wortlose Ahnung stieg in ihm auf, da?, wenn sie krank war, und das war sie wohl, fast hoffnungslos krank, da sie ja schon so lange und oft hier oben hatte leben mussen, - ihre Krankheit, wenn nicht ganzlich, so doch zu einem guten Teile moralischer Natur, und zwar wirklich, wie Settembrini gesagt hatte, nicht Ursache oder Folge ihrer "Lassigkeit", sondern mit ihr ein und dasselbe war. Er erinnerte sich auch der wegwerfenden Gebarde, womit der Humanist von den "Parthern und Skythen" gesprochen hatte, mit denen er Liegekur halten musse, einer Gebarde naturlicher und unmittelbarer, nicht erst zu begrundender Geringschatzung und Ablehnung, auf die Hans Castorp sich von fruher her wohl verstand, - von damals her, als er, der sich bei Tische sehr gerade hielt, das Turenwerfen aus Herzensgrund ha?te und nicht einmal in Versuchung kam, an den Fingern zu kauen(schon darum nicht, weil ihm statt dessen Maria Mancini gegeben war), an den Ungezogenheiten Frau Chauchats schweren Ansto? genommen und sich eines Gefuhls der Uberlegenheit nicht hatte entschlagen konnen, als er die schmalaugige Fremde in seiner Muttersprache sich hatte versuchen horen.

Solcher Empfindungen hatte Hans Castorp sich nun, auf Grund der inneren Sachlage, fast ganz begeben, und der Italiener war es viel mehr, an dem er sich argerte, weil dieser in seinem Dunkel von "Parthern und Skythen" gesprochen, - wahrend er doch nicht einmal Personen vom "Schlechten" Russentisch im Auge gehabt hatte, demjenigen, an dem die Studenten mit dem allzu dicken Haar und der unsichtbaren Wasche sa?en und unaufhorlich in ihrer wildfremden Sprache disputierten, au?er der sie sich offenbar in keiner auszudrucken wu?ten, und deren knochenloser Charakter an einen Thorax ohne Rippen erinnerte, wie Hofrat Behrens es neulich beschrieben hatte. Es war richtig, da? die Sitten dieser Leute einem Humanisten wohl lebhafte Abstandsgefuhle

erregen konnten. Sie a?en mit dem Messer und besudelten auf nicht wiederzugebende Weise die Toilette. Settembrini behauptete, da? einer von ihrer Gesellschaft, ein Mediziner in hoheren Semestern, sich des Lateinischen vollkommen unkundig erwiesen, beispielsweise nicht gewu?t habe, was ein vacuumsei, und nach Hans Castorps eigenen taglichen Erfahrungen log Frau Stohr wahrscheinlich nicht, wenn sie bei Tische erzahlte, das Ehepaar auf Nr. 32 empfange den Bademeister morgens, wenn er zur Abreibung komme, zusammen im Bette liegend.

Mochte dies alles zutreffen, so bestand doch die augenfallige Scheidung von "gut" und "schlecht" nicht umsonst, und Hans Castorp versicherte sich selbst, er habe nur ein Achselzucken fur irgendeinen Propagandisten der Republik und des schonen Stils, der, hochnasig und nuchtern - namentlich nuchtern, obgleich auch er febril und beschwipst war -, die beiden Tischgesellschaften unter dem Namen von Parthern und Skythen zusammenfa?te. Wie es gemeint war, verstand der junge Hans Castorp sehr weitgehend, er hatte ja auch angefangen, sich auf die Zusammenhange von Frau Chauchats Krankheit mit ihrer "Lassigkeit" zu verstehen. Aber es verhielt sich, wie er selbst eines Tages zu Joachim gesagt hatte: man beginnt mit Argernis und Abstandsgefuhlen, auf einmal aber "kommt ganz anderes dazwischen", was "mit Urteilen gar nichts zu tun hat", und die Sittenstrenge hat ausgespielt, - man ist padagogischen Einflussen republikanischer und eloquenter Art kaum noch zuganglich. Was ist aber das, fragen wir, wahrscheinlich auch in Lodovico Settembrinis Sinn, was ist das fur ein fragwurdiges Zwischenkommnis, das des Menschen Urteil lahmlegt und ausschaltet, ihn des Rechtes darauf beraubt oder vielmehr ihn bestimmt, sich dieses Rechtes mit unsinnigem Entzucken zu begeben? Wir fragen nicht nach seinem Namen, denn diesen kennt jeder. Wir erkundigen uns nach seiner moralischen Beschaffenheit, - und erwarten, offen gestanden, keine sehr hochgemute Antwort darauf. In Hans Castorps Fall bewahrte sich diese Beschaffenheit in dem Grade, da? er nicht allein aufhorte, zu urteilen, sondern auch begann, mit der Lebensform, die es ihm angetan, seinerseits Versuche anzustellen. Er versuchte, wie es sei, wenn man bei Tische zusammengesunken, mit schlaffem Rucken dasa?e, und fand, da? es eine gro?e Erleichterung fur die Beckenmuskeln bedeute. Ferner probierte er es, eine Tur, durch die er schritt, nicht umstandlich hinter sich zu schlie?en, sondern sie zufallen zu lassen; und auch dies erwies sich sowohl als bequem wie als angemessen: es entsprach im Ausdruck jenem Achselzucken, mit dem Joachim ihn seinerzeit gleich am Bahnhof

begru?t, und das er seitdem so oft bei Denen hier oben gefunden hatte.

Schlicht gesagt, war unser Reisender nun also uber beide Ohren in Clawdia Chauchat verliebt, - wir gebrauchen nochmals dies Wort, da wir dem Mi?verstandnis, das es erregen konnte, hinlanglich vorgebeugt zu haben meinen. Freundlich gemutvolle Wehmut im Geist jenes Liedchens war es also nicht, was das Wesen seiner Verliebtheit ausmachte. Vielmehr war das eine ziemlich riskierte und unbehauste Abart dieser Betorung, aus Frost und Hitze gemischt wie das Befinden eines Febrilen oder wie ein Oktobertag in oberenSpharen; und was fehlte, war eben ein gemuthaftes Mittel, das ihre extremen Bestandteile verbunden hatte. Sie bezog sich einerseits mit einer Unmittelbarkeit, die den jungen Mann erblassen lie? und seine Gesichtszuge verzerrte, auf Frau Chauchats Knie und die Linie ihres Beines, auf ihren Rucken, ihre Nackenwirbel und ihre Oberarme, von denen die kleine Brust zusammengepre?t wurde, - mit einem Worte auf ihren Korper, ihren lassigen und gesteigerten, durch die Krankheit ungeheuer betonten und noch einmal zum Korper gemachten Korper. Und sie war andererseits etwas au?erst Fluchtiges und Ausgedehntes, ein Gedanke, nein, ein Traum, der schreckhafte und grenzenlos verlockende Traum eines jungen Mannes, dem auf bestimmte, wenn auch unbewu?t gestellte Fragen nur ein hohles Schweigen geantwortet hatte. Wie jedermann, nehmen wir das Recht in Anspruch, uns bei der hier laufenden Erzahlung unsere privaten Gedanken zu machen, und wir au?ern die Mutma?ung, da? Hans Castorp die fur seinen Aufenthalt bei Denen hier oben ursprunglich angesetzte Frist nicht einmal bis zu dem gegenwartig erreichten Punkt uberschritten hatte, wenn seiner schlichten Seele aus den Tiefen der Zeit uber Sinn und Zweck des Lebensdienstes eine irgendwie befriedigende Auskunft zuteil geworden ware.

Im ubrigen fugte seine Verliebtheit ihm all die Schmerzen zu und gewahrte ihm all die Freuden, die dieser Zustand uberall und unter allen Umstanden mit sich bringt. Der Schmerz ist durchdringend; er enthalt ein entehrendes Element, wie jeder Schmerz, und bedeutet eine solche Erschutterung des Nervensystems, da? er den Atem verschlagt und einem erwachsenen Manne bittere Tranen entpressen kann. Um auch den Freuden gerecht zu werden, so waren sie zahlreich und, obgleich aus unscheinbaren Anlassen entstehend, nicht weniger eindringlich als die Leiden. Fast jeder Augenblick des Berghof-Tages war fahig, sie zu

zeitigen. Zum Beispiel: im Begriff, den Speisesaal zu betreten, bemerkt Hans Castorp den Gegenstand seiner Traume hinter sich. Das Ergebnis ist im voraus klar und von gro?ter Simplizitat, aber innerlich entzuckend bis zu ebenfalls tranentreibender Wirkung. Ihre Augen begegnen sich nahe, die seinen und ihre graugrunen, deren leicht asiatischer Sitz und Schnitt ihm das Mark bezaubern. Er ist besinnungslos, aber auch ohne Besinnung tritt er seitlich zuruck, um ihr zuerst den Weg durch die Tur freizugeben. Mit halbem Lacheln und einem halblauten "Merci" macht sie Gebrauch von seinem nicht mehr als gesitteten Anerbieten, geht vorbei und hindurch. Im Hauch ihrer voruberstreichenden Person steht er, narrisch vor Gluck uber das Zusammentreffen und daruber, da? ein Wort ihres Mundes, namlich das Merci, ihm direkt und personlich gegolten. Er folgt ihr, er schwankt rechtshin zu seinem Tische, und indem er auf seinen Stuhl sinkt, darf er wahrnehmen, da? "Clawdia" druben, ebenfalls Platz nehmend, sich nach ihm umblickt, - mit einem Ausdruck des Nachdenkens uber die Begegnung ander Tur, wie ihm scheint. O unglaubwurdiges Abenteuer! O Jubel, Triumph und grenzenloses Frohlocken! Nein, diesen Rausch phantastischer Genugtuung hatte Hans Castorp nicht erprobt bei dem Blick irgendeines gesunden Ganschens, dem er drunten im Flachlande erlaubter-, friedlicher- und aussichtsreicherweise, im Sinne jenes Liedchens, "sein Herz geschenkt" hatte. Mit fiebriger Aufgeraumtheit begru?t er die Lehrerin, die alles gesehen hat und flaumig errotet ist, - worauf er Mi? Robinson mit englischer Konversation von solcher Sinnlosigkeit berennt, da? das Fraulein, im Ekstatischen nicht bewandert, sogar zuruckprallt und ihn mit Blicken voller Befurchtungen mi?t.

Ein andermal fallen beim Abendessen die Strahlen der klar untergehenden Sonne auf den Guten Russentisch. Man hat die Vorhange vor die Verandaturen und Fenster gezogen, aber irgendwo klafft da ein Spalt, und durch ihn findet der rote Schein kuhl, aber blendend seinen Weg und trifft genau Frau Chauchats Kopf, so da? sie, im Gesprach mit dem konkaven Landsmann zu ihrer Rechten, sich mit der Hand dagegen schutzen mu?. Das ist eine Belastigung, aber keine schwere; niemand kummert sich darum, die Betroffene selbst ist sich der Unbequemlichkeit wohl nicht einmal bewu?t. Aber Hans Castorp sieht es uber den Saal hinweg, - auch er sieht es eine Weile mit an. Er uberpruft die Sachlage, verfolgt den Weg des Strahles, stellt den Ort seines Einfalles fest. Es ist das Bogenfenster dort hinten rechts, in der Ecke zwischen der einen Verandatur und dem Schlechten Russentisch, weit von Frau Chauchats

Platze entfernt und fast genau ebensoweit von dem Hans Castorps. Und er fa?t seine Entschlusse. Ohne ein Wort steht er auf, geht, seine Serviette in der Hand, schrag zwischen den Tischen hin durch den Saal, schlagt da hinten die cremefarbenen Vorhange gut ubereinander, uberzeugt sich durch einen Blick uber die Schulter, da? der Abendschein ausgesperrt und Frau Chauchat befreit ist - und begibt sich unter Aufbietung vielen Gleichmutes auf den Ruckweg. Ein aufmerksamer junger Mann, der das Notwendige tut, da sonst niemand darauf verfallt, es zu tun. Die wenigsten hatten auf sein Eingreifen geachtet, aber Frau Chauchat hatte die Erleichterung sofort gespurt und sich umgeblickt, - sie blieb in dieser Haltung, bis Hans Castorp seinen Platz wieder erreicht hatte und, sich setzend, zu ihr hinubersah, worauf sie mit freundlich erstauntem Lacheln dankte, das hei?t: ihren Kopf mehr vorschob als neigte. Er quittierte mit einer Verbeugung. Sein Herz war unbeweglich, es schien uberhaupt nicht zu schlagen. Erst spater, als alles voruber war, begann es zu hammern, und da bemerkte er erst, da? Joachim die Augen still auf seinen Teller gerichtet hielt, - wie ihm auch nachtraglich deutlich wurde, da? Frau Stohr Dr. Blumenkohl in die Seite gesto?en hatte und uberall am eigenen Tische und an den anderenmit geducktem Lachen nach mitwissenden Blicken suchte ...

Wir schildern Alltagliches; aber das Alltagliche wird sonderbar, wenn es auf sonderbarer Grundlage gedeiht. Es gab Spannungen und wohltatige Losungen zwischen ihnen, - oder wenn nicht zwischen ihnen(denn wie weit Madame Chauchat davon beruhrt wurde, wollen wir dahingestellt sein lassen), so doch fur Hans Castorps Phantasie und Gefuhl. Nach dem Mittagessen pflegte in diesen schonen Tagen ein gro?erer Teil der Kurgesellschaft sich auf die dem Speisesaal vorgelagerte Veranda hinaus zu begeben, um eine Viertelstunde gruppenweise in der Sonne zu verweilen. Es ging da zu, und ein Bild entwickelte sich, ahnlich wie bei der vierzehntagigen Sonntagsblechmusik. Die jungen Leute, absolut mu?ig, uberma?ig gesattigt mit Fleischspeisen und Su?igkeiten, und alle leicht fiebernd, plauderten, schakerten, augten. Frau Salomon aus Amsterdam mochte wohl an der Balustrade sitzen, - hart mit den Knien bedrangt von dem wulstlippigen Ganser auf der einen und dem schwedischen Recken auf der anderen Seite, der, obgleich vollig genesen, seinen Aufenthalt zu einer kleinen Nachkur noch etwas verlangerte. Frau Iltis schien Witwe zu sein, denn sie erfreute sich seit kurzem der Gesellschaft eines "Brautigams", von ubrigens zugleich melancholischer und untergeordneter Erscheinung, dessen

Vorhandensein sie denn auch nicht hinderte, gleichzeitig die Huldigungen des Hauptmanns Miklosich, eines Mannes mit Hakennase, gewichstem Schnurrbart, erhabener Brust und drohenden Augen, entgegenzunehmen. Es waren da Liegehallendamen verschiedener Nationalitat, neue Figuren darunter, erst seit dem 1. Oktober sichtbar geworden, die Hans Castorp kaum schon bei Namen zu nennen gewu?t hatte, untermischt mit Kavalieren vom Schlage des Herrn Albin; monokeltragenden Siebzehnjahrigen; einem bebrillten jungen Hollander mit rosigem Gesicht und monomanischer Leidenschaft fur den Briefmarkentausch; verschiedenen Griechen, pomadisiert und mandelaugig, bei Tische zu Ubergriffen geneigt; zwei eng zusammengehorigen Stutzerchen, die "Max und Moritz" genannt wurden und fur gro?e Ausbrecher galten ... Der bucklige Mexikaner, dem Nichtkenntnis der hier vertretenen Sprachen den Gesichtsausdruck eines Tauben verlieh, nahm unaufhorlich photographische Aufnahmen vor, indem er sein Stativ mit schnurriger Behendigkeit von einem Punkt der Terrasse zum andern schleppte. Auch der Hofrat mochte sich wohl einfinden, um das Kunststuck mit den Stiefelbandern aufzufuhren. Irgendwo aber druckte sich einsam der mannheimische Religiose in die Menge, und seine bis in den Grund hinein traurigen Augen gingen zu Hans Castorps Ekel heimlich gewisse Wege.

Um denn mit einem oder dem anderen Beispiel auf jene "Spannungen und Losungen" zuruckzukommen, so mochte bei einer solchen Gelegenheit Hans Castorp auf einem lackierten Gartenstuhl und in gesprachiger Unterhaltung mit Joachim, den er trotz seines Widerstrebens gezwungen hatte, mit herauszukommen, an der Hauswand sitzen, wahrend vor ihm Frau Chauchat mit ihren Tischgenossen eine Zigarette rauchend an der Brustung stand. Er sprach fur sie, damit sie ihn hore. Sie wandte ihm den Rucken zu ... Man sieht, wir haben jetzt einenbestimmten Fall im Auge. Des Vetters Gesprach hatte ihm nicht genugt fur seine affektierte Redseligkeit, er hatte absichtlich eine Bekanntschaft gemacht, - welche? Die Bekanntschaft Hermine Kleefelds - hatte wie von ungefahr das Wort an die junge Dame gerichtet, sich selbst und Joachim ihr namentlich vorgestellt und auch ihr einen lackierten Stuhl herangezogen, um sich zu dritt besser aufspielen zu konnen. Ob sie noch wisse, fragte er, wie teufelsma?ig sie ihn damals erschreckt habe, bei ihrer ersten Begegnung seinerzeit auf der Morgenpromenade. Ja, das sei er gewesen, den sie damals so herzerfrischend zum Willkomm angepfiffen! Und ihren Zweck habe sie

erreicht, das wolle er freiwillig gestehen, er sei wie mit einer Keule vor den Kopf geschlagen gewesen, sie solle nur seinen Vetter fragen. Ha, ha, mit dem Pneumothorax zu pfeifen und harmlose Wanderer damit zu erschrecken! Ein frevles Spiel nenne er das, als sundhaften Mi?brauch bezeichne er es freierdings und in gerechtem Zorne ... Und wahrend Joachim im Bewu?tsein seiner werkzeughaften Rolle mit niedergeschlagenen Augen sa? und auch die Kleefeld aus Hans Castorps blinden und abschweifenden Blicken allmahlich fur ihre Person das krankende Gefuhl gewann, nur als Mittel zum Zwecke zu dienen, schmollte Hans Castorp und zierte sich und drechselte Redensarten und gab sich eine wohllautende Stimme, bis er es wirklich erreichte, da? Frau Chauchat sich nach dem auffallig Redenden umwandte und ihm ins Gesicht blickte, - aber nur einen Augenblick. Denn so gestaltete es sich, da? ihre Pribislav-Augen an seiner mit ubergeschlagenem Beine sitzenden Figur rasch hinunterglitten und mit einem Ausdruck von so geflissentlicher Gleichgultigkeit, da? er wie Verachtung aussah, genau wie Verachtung, eine Weile auf seinem gelben Stiefel haften blieben, - worauf sie sich phlegmatisch und vielleicht mit einem Lacheln in ihrer Tiefe wieder zuruckzogen.

Ein schwerer, schwerer Unglucksfall! Hans Castorp redete noch eine Weile fieberhaft weiter; dann, als er dieses Blickes auf seinen Stiefel innerlich recht ansichtig geworden, verstummte er beinahe mitten im Wort und sank in Gram. Die Kleefeld, gelangweilt und beleidigt, ging ihrer Wege. Nicht ohne Gereiztheit in der Stimme meinte Joachim, nun konnten sie ja wohl Liegekur machen. Und ein Gebrochener antwortete ihm bleichen Mundes, das konnten sie.

Hans Castorp litt grausam unter diesem Vorfall zwei Tage lang; denn nichts geschah unterdessen, was Balsam fur seine brennende Wunde gewesen ware. Warum dieser Blick? Warum ihm ihre Verachtung in des dreifaltigen Gottes Namen? Sah sie ihn an wie einen gesunden Gimpel von unten, dessen Aufnahmelustigkeit nur zum Harmlosen neigte? Wie eine Unschuld aus dem Flachlande, sozusagen, einen gewohnlichen Kerl, der herumging und lachte und sich den Bauch vollschlug und Geld verdiente, - einen Musterschuler des Lebens, der sich auf nichts als auf die langweiligen Vorteile der Ehreverstand? War er ein windiger Hospitant auf drei Wochen, unteilhaft ihrer Sphare, oder hatte er nicht Profe? getan auf Grund einer feuchten Stelle, - war er nicht eingereiht und zugehorig, einer von Uns hier oben, mit guten zwei Monaten auf

dem Buckel, und war nicht Merkurius noch gestern abend wieder auf 37,8 gestiegen? ... Aber das eben war es, das machte sein Leiden vollstandig! Merkurius stieg nicht mehr! Die furchtbare Niedergeschlagenheit dieser Tage bewirkte eine Erkaltung, Ernuchterung und Abspannung von Hans Castorps Natur, die sich zu seiner bitteren Beschamung in sehr niedrigen, kaum ubernormalen Me?ergebnissen au?erte, und grausam war es fur ihn, zu gewahren, wie sein Kummer und Gram nichts weiter vermochte, als ihn von Clawdias Sein und Wesen immer nur weiter noch zu entfernen.

Der dritte Tag brachte die zarte Erlosung, brachte sie gleich in der Fruhe. Es war ein herrlicher Herbstmorgen, sonnig und frisch, mit grausilbrig ubersponnenen Wiesen. Sonne und abnehmender Mond standen gleichzeitig ziemlich gleich hoch am reinen Himmel. Die Vettern waren fruher als gewohnlich aufgestanden, um dem schonen Tag zu Ehren ihren Morgenspaziergang ein wenig uber die Vorschrift auszudehnen, auf dem Waldwege, an dem die Bank neben der Wasserrinne stand, etwas weiter vorzudringen. Joachim, dessen Kurve gerade ebenfalls einen erfreulichen Abstieg aufwies, hatte die erfrischende Unregelma?igkeit befurwortet und Hans Castorp nicht nein gesagt. "Wir sind ja genesene Leute," hatte er gesagt, "abgefiebert und entgiftet, so gut wie reif fur das Flachland. Warum sollten wir nicht ausschlagen wie die Fullen." So wanderten sie barhaupt - denn seit er Profe? getan, hatte Hans Castorp sich in Gottes Namen der herrschenden Sitte anbequemt, ohne Hut zu gehen, so sicher er sich anfangs, diesem Brauch gegenuber, seiner Lebensform und Gesittung gefuhlt hatte - und setzten ihre Stocke. Sie hatten aber den ansteigenden Teil des rotlichen Weges noch nicht zuruckgelegt, waren erst ungefahr bis zu dem Punkte gelangt, wo damals der pneumatische Trupp dem Neuling begegnet war, als sie vor sich in einiger Entfernung, langsam steigend, Frau Chauchat gewahrten, Frau Chauchat in Wei?, in wei?em Sweater, wei?em Flanellrock, und sogar in wei?en Schuhen, das rotliche Haar von der Morgensonne erleuchtet. Genauer gesagt: Hans Castorp hatte sie erkannt; Joachim fand sich erst durch ein unangenehmes Gefuhl des Ziehens und Zerrens an seiner Seite auf die Umstande hingewiesen, - ein Gefuhl, hervorgebracht durch die antreibend beschwingtere Gangart, die sein Begleiter plotzlich angeschlagen, nachdem er zuvor seine Schritte jah gehemmt hatte und beinahe stehengeblieben war. Solches Gehetztwerden empfand Joachim als au?erst unzutraglich und argerlich; sein Atem verkurzte sich rasch,

und er hustelte. Aber den zielbewu?ten Hans Castorp, dessen Organe prachtvoll zu arbeiten schienen, kummerte das wenig; und da sein Vetter der Sachlage innegeworden, zog ernur schweigend die Brauen zusammen und hielt Schritt, denn unmoglich konnte er jenen allein voranlaufen lassen.

Den jungen Hans Castorp belebte der schone Morgen. Auch hatten in der Depression seine Seelenkrafte sich heimlich ausgeruht, und klar leuchtete vor seinem Geist die Gewi?heit, da? der Augenblick gekommen war, da der Bann, der auf ihm gelegen, gebrochen werden sollte. So griff er aus, den keuchenden, auch sonst widerstrebenden Joachim mit sich ziehend, und vor der Biegung des Weges, wo er eben ward und rechtshin den bewaldeten Hugel entlang fuhrte, hatten sie Frau Chauchat so gut wie erreicht. Da verlangsamte Hans Castorp das Tempo wieder, um nicht in einem von Anstrengung verwilderten Zustand sein Vorhaben auszufuhren. Und jenseits des Wegknies, zwischen Abhang und Bergwand, zwischen den rostig gefarbten Fichten, durch deren Zweige Sonnenlichter fielen, trug es sich zu und begab sich wunderbar, da? Hans Castorp, links von Joachim, die liebliche Kranke uberholte, da? er mit mannlichen Tritten an ihr voruber ging, und in dem Augenblick, da er sich rechts neben ihr befand, mit einer hutlosen Verneigung und einem mit halber Stimme gesprochenen "Guten Morgen" sie ehrerbietig(wieso eigentlich: ehrerbietig) begru?te und Antwort von ihr empfing: mit freundlicher, nicht weiter erstaunter Kopfneigung dankte sie, sagte auch ihrerseits guten Morgen in seiner Sprache, wobei ihre Augen lachelten, - und das alles war etwas anderes, etwas grundlich und beseligend anderes als der Blick auf seinen Stiefel, es war ein Glucksfall und eine Wendung der Dinge zum Guten und Allerbesten, ganz beispielloser Art und fast die Fassungskraft uberschreitend; es war die Erlosung.

Auf Flugelsohlen, geblendet von vernunftloser Freude, im Besitz des Gru?es, des Wortes, des Lachelns, eilte Hans Castorp an des mi?brauchten Joachim Seite vorwarts, der schweigend von jenem fort den Abhang hinunter blickte. Ein Streich war es gewesen, ein ziemlich ausgelassener, und wohl sogar etwas wie Verrat und Tucke in Joachims Augen, das wu?te Hans Castorp sehr gut. Es war nicht geradeso, wie wenn er jemand Wildfremdes um einen Bleistift ersucht hatte, - vielmehr ware es beinahe ungehobelt gewesen, an einer Dame, mit der man seit Monaten unter demselben Dache lebte, steif und ohne Ehrenbezeigung voruberzugehen; und war nicht neulich im Wartezimmer Clawdia sogar

ins Gesprach mit ihnen gekommen? Darum mu?te Joachim schweigen. Aber Hans Castorp verstand wohl, weshalb der ehrliebende Joachim sonst noch schwieg und abgewendeten Kopfes ging, wahrend er selbst uber seinen gelungenen Streich so ausbundig und durchgangerisch glucklich war. Glucklicher konnte nicht sein, wer etwa im Flachlande erlaubter-, aussichtsreicher- und im Grunde vergnugterweise einem gesunden Ganschen "sein Herz geschenkt" und gro?en Erfolg dabei gehabt hatte, - nein, so glucklich, wie er nun uber das wenige, das er sich in guter Stunde geraubt und gesichert, konnte ein solchernicht sein ... Darum schlug er nach einer Weile seinen Vetter mit Macht auf die Schulter und sagte:

"Hallo, du, was ist mit dir? Es ist so schones Wetter! Nachher wollen wir zum Kurhaus hinunter, da machen sie wahrscheinlich Musik, bedenke mal! Vielleicht spielen sie 'Hier an dem Herzen treu geborgen, die Blume, sieh, von jenem Morgen' aus 'Carmen'. Was ist dir uber die Leber gelaufen?"

"Nichts", sagte Joachim. "Aber du siehst so hei? aus, ich furchte, mit deiner Senkung ist es zu Ende."

Es war zu Ende damit. Die beschamende Herabstimmung von Hans Castorps Natur war uberwunden durch den Gru?, den er mit Clawdia Chauchat getauscht hatte, und ganz genau genommen, war es dies Bewu?tsein, dem eigentlich seine Genugtuung galt. Ja, Joachim hatte recht gehabt: Merkurius stieg wieder! Er stieg, als Hans Castorp ihn nach dem Spaziergang zu Rate zog, auf rund 38 Grad.

Enzyklopadie

Wenn gewisse Anspielungen Herrn Settembrinis Hans Castorp geargert hatten, - verwundern durfte er sich nicht daruber und hatte kein Recht, den Humanisten erzieherischer Spursucht zu zeihen. Ein Blinder hatte bemerken mussen, wie es um ihn stand: er selbst tat nichts, um es geheimzuhalten, eine gewisse Hochherzigkeit und noble Einfalt hinderte ihn einfach, aus seinem Herzen eine Mordergrube zu machen, worin er sich immerhin - und vorteilhaft, wenn man will, - von dem dunnhaarigen Verliebten aus Mannheim und seinem schleichenden Wesen unterschied. Wir erinnern und wiederholen, da? dem Zustande, in dem er sich befand, in der Regel ein Drang und Zwang, sich zu offenbaren, eingeboren ist, ein Trieb zum Bekenntnis und Gestandnis, eine blinde Eingenommenheit

von sich selbst und eine Sucht, die Welt mit sich zu erfullen, - desto befremdlicher fur uns Nuchterne, je weniger Sinn, Vernunft und Hoffnung offenbar bei der Sache ist. Wie solche Leute es eigentlich anfangen, sich zu verraten, ist schwer zu sagen; sie konnen, scheint es, nichts tun und lassen, was sie nicht verriete, - besonders nun gar in einer Gesellschaft, von der ein urteilender Kopf bemerkt hatte, sie habe im ganzen nur zwei Dinge im Sinn, namlich erstens Temperatur und dann - nochmals Temperatur, das hei?t zum Beispiel die Frage, mit wem Frau Generalkonsul Wurmbrandt aus Wien sich fur die Flatterhaftigkeit des Hauptmanns Miklosich schadlos halte: ob mit dem vollig genesenen schwedischen Recken oder mit dem Staatsanwalt Paravant aus Dortmund oder drittens mit beiden zugleich. Denn da? die Bande, die den Staatsanwalt und Frau Salomon aus Amsterdam mehrere Monate lang verknupft hatten, nach gutlicher Ubereinkunft gelost worden waren und Frau Salomon, dem Zuge ihrer Jahre folgend, sich den zarteren Semestern zugewandt und den wulstlippigen Ganser vom Tische der Kleefeld unter ihre Fittiche genommen oder, wie Frau Stohr es in einer Artvon Kanzleistil, dabei aber nicht ohne Anschaulichkeit ausdruckte, ihn "sich beigebogen" hatte, - das war sicher und bekannt, so da? folglich der Staatsanwalt freie Hand hatte, sich der Generalkonsulin wegen mit dem Schweden zu schlagen oder zu vertragen.

Diese Prozesse also, die in der Berghofgesellschaft und besonders unter der febrilen Jugend anhangig waren, und bei denen die Balkondurchgange(an den Glaswanden vorbei und das Gelander entlang) offenbar eine bedeutende Rolle spielten: diese Vorgange hatte man im Sinn, sie bildeten einen Hauptbestandteil der hiesigen Lebensluft, - und auch damit ist das, was hier vorschwebt, nicht eigentlich ausgedruckt. Hans Castorp hatte namlich den eigentumlichen Eindruck, da? auf einer Grundangelegenheit, welcher uberall in der Welt eine hinlangliche, in Ernst und Scherz sich au?ernde Wichtigkeit zugebilligt wird, hierorts denn doch ein Ton-, Wert- und Bedeutungszeichen lag, so schwer und vor Schwere so neu, da? es die Sache selbst in einem vollig neuen und, wenn nicht schrecklichen, so doch in seiner Neuheit erschreckenden Lichte erscheinen lie?. Indem wir dies aussagen, verandern wir unsere Mienen und bemerken, da?, wenn wir von den fraglichen Beziehungen bisher in einem leichten und spa?haften Ton gesprochen haben sollten, es aus denselben geheimen Grunden geschehen ware, aus denen es so oft geschieht, ohne da? fur die Leichtigkeit oder Spa?haftigkeit der Sache damit irgendetwas bewiesen ware; und in der Sphare, wo wir uns

befinden, ware das in der Tat noch weniger der Fall als anderwarts. Hans Castorp hatte geglaubt, sich auf jene gern bewitzelte Grundangelegenheit im ublichen Ma?e zu verstehen, und mochte mit Recht so geglaubt haben. Nun erkannte er, da? er sich im Flachlande nur sehr unzulanglich darauf verstanden, eigentlich sich in einfaltiger Unwissenheit daruber befunden hatte, - wahrend hier personliche Erfahrungen, deren Natur wir mehrfach anzudeuten versuchten, und die ihm in gewissen Augenblicken den Ausruf "Mein Gott!" abpre?ten, ihn allerdings von innen her befahigten, den steigernden Akzent des Unerhorten, Abenteuerlich-Namenlosen wahrzunehmen und zu begreifen, den unter Denen hier oben die Sache allgemein und fur jeden trug. Nicht da? man nicht auch hier daruber gewitzelt hatte. Aber weit mehr noch als unten trug hier diese Manier das Geprage des Unsachgema?en, sie hatte etwas Zahneklapperndes und Kurzatmiges, was sie als durchsichtigen Deckmantel fur die darunter verborgene oder vielmehr nicht zu verbergende Not allzu deutlich kennzeichnete. Hans Castorp erinnerte sich des fleckigen Erblassens, das Joachim gezeigt hatte, als jener zum ersten und einzigen Mal in der unschuldig neckenden Art des Tieflandes die Rede auf Marusjas Korperlichkeit gebracht hatte. Er erinnerte sich auch der kalten Blasse, die, als er Frau Chauchat vom einfallenden Abendlichte befreit, sein eigenes Gesicht uberzogen hatte, - und daran, da? er sie vorher und nachher bei verschiedenen Gelegenheiten auf manchem fremden Gesicht gewahrgeworden war: auf zweien zugleich in der Regel, zum Beispiel auf den Gesichtern der Frau Salomon und des jungen Ganser in jenen Tagen, da das, was Frau Stohr so redensartlich bezeichnet, sich zwischen ihnen angebahnt hatte. Er erinnerte sich, sagen wir, daran und verstand, da? es unter solchen Umstanden nicht nur sehr schwer gewesen ware, sich nicht zu "verraten", sondern da? auch die Bemuhung darum nur wenig gelohnt haben wurde. Mit anderen Worten: es mochte denn doch wohl nicht allein Hoch- und Treuherzigkeit, sondern auch eine gewisse Ermutigung durch die Atmosphare im Spiele sein, wenn Hans Castorp sich wenig bemu?igt fand, seinen Empfindungen Zwang anzutun und aus seinem Zustande ein Hehl zu machen.

Ware nicht die von Joachim sofort hervorgehobene Schwierigkeit gewesen, hier Bekanntschaften zu machen, diese Schwierigkeit, die man hauptsachlich darauf zuruckfuhren mu?, da? die Vettern in der Kurgesellschaft sozusagen eine Partie und Miniaturgruppe fur sich bildeten, und da? der militarische Joachim, auf nichts als rasche

Genesung bedacht, der naheren Beruhrung und Gemeinschaft mit den Leidensgenossen grundsatzlich abhold war: so hatte Hans Castorp noch weit mehr Gelegenheit gehabt und genommen, seine Gefuhle hochherzig-zugellos unter die Leute zu bringen. Immerhin konnte Joachim ihn eines Abends wahrend der Salongeselligkeit betreffen, wie er mit Hermine Kleefeld, ihren beiden Tischherren Ganser und Rasmussen und viertens dem Jungen mit dem Einglas und dem Fingernagel zusammenstand und mit Augen, die ihren ubernormalen Glanz nicht verleugneten, mit bewegter Stimme eine Stegreifrede uber Frau Chauchats eigen- und fremdartige Gesichtsbildung hielt, wahrend seine Zuhorer Blicke tauschten, sich anstie?en und kicherten.

Das war peinigend fur Joachim; aber der Urheber solcher Lustbarkeit war unempfindlich gegen die Enthullung seines Zustandes, er mochte meinen, da? derselbe, unbeachtet und verborgen, nicht zu seinem Rechte gekommen ware. Des allgemeinen Verstandnisses dafur durfte er sicher sein. Die Schadenfreude, die sich darein mischte, nahm er in den Kauf. Nicht nur von seinem eigenen Tisch, sondern nachgerade auch von anderen, benachbarten blickte man auf ihn, um sich an seinem Erbleichen und Erroten zu weiden, wenn nach Beginn einer Mahlzeit die Glastur ins Schlo? schmetterte, und auch hiermit war er wohl gar noch zufrieden, da es ihm schien, da? seinem Rausch, indem er Aufmerksamkeit erregte, eine gewisse Anerkennung und Bestatigung von au?en zuteil werde, geeignet, seine Sache zu fordern, seine unbestimmten und unvernunftigen Hoffnungen zu ermutigen, - und das begluckte ihn sogar. Es kam dahin, da? man sich buchstablich versammelte, um dem Verblendeten zuzusehen. Das war etwa nach Tische auf der Terrasse oder am Sonntag nachmittag vor der Conciergeloge, wenn die Kurgaste dort ihre Post in Empfang nahmen, die an diesem Tage nicht auf die Zimmer verteilt wurde. Vielfach wu?te man, da? da ein kolossal Beschwipster und Hochilluminierter sei, der sich allesanmerken lie?, und so standen etwa Frau Stohr, Fraulein Engelhart, die Kleefeld nebst ihrer Freundin mit dem Tapirgesicht, der unheilbare Herr Albin, der junge Mann mit dem Fingernagel und noch dieses oder jenes Mitglied der Patientenschaft, - standen mit hinuntergezogenen Mundern und durch die Nase pruschend und sahen ihm zu, der, verloren und leidenschaftlich lachelnd, jene Hitze auf den Wangen, die ihn sofort am ersten Abend seines Hierseins ergriffen, jenen Glanz in den Augen, den schon der Husten des Herrenreiters darin entzundet, in einer bestimmten Richtung blickte ...

Eigentlich war es schon von Herrn Settembrini, da? er unter solchen Umstanden auf Hans Castorp zutrat, um ihn in ein Gesprach zu ziehen und nach seinem Ergehen zu fragen; aber es ist zweifelhaft, ob dieser die menschenfreundliche Vorurteilslosigkeit, die darin lag, dankbar zu wurdigen wu?te. Es mochte im Vestibul sein, am Sonntag nachmittag. Beim Concierge drangten sich die Gaste und streckten die Hande nach ihrer Post. Auch Joachim war dort vorn. Sein Vetter war zuruckgeblieben und trachtete in der beschriebenen Verfassung, einen Blick Clawdia Chauchats zu gewinnen, die mit ihrer Tischgesellschaft in der Nahe stand, wartend, da? das Gedrang an der Loge sich lichten moge. Es war eine Stunde, die die Kurgaste durcheinandermischte, eine Stunde der Gelegenheiten, geliebt und ersehnt aus diesem Grunde von dem jungen Hans Castorp. Vor acht Tagen war er am Schalter in sehr nahe Beruhrung mit Madame Chauchat gekommen, so da? sie ihn sogar etwas gesto?en und mit fluchtiger Kopfwendung "Pardon" zu ihm gesagt hatte, - worauf er kraft einer febrilen Geistesgegenwart, die er segnete, zu antworten vermocht hatte:

"Pas de quoi, madame!"

Welche Lebensgunst, dachte er, da? jeden Sonntag nachmittag mit Sicherheit in der Vorhalle Postverteilung stattfand! Man kann sagen, da? er die Woche konsumiert hatte, indem er auf die Wiederkehr derselben Stunde in sieben Tagen wartete, und Warten hei?t: Voraneilen, hei?t: Zeit und Gegenwart nicht als Geschenk, sondern nur als Hindernis empfinden, ihren Eigenwert verneinen und vernichten und sie im Geist uberspringen. Warten, sagt man, sei langweilig. Es ist jedoch ebensowohl oder sogar eigentlich kurzweilig, indem es Zeitmengen verschlingt, ohne sie um ihrer selbst willen zu leben und auszunutzen. Man konnte sagen, der Nichts-als-Wartende gleiche einem Fresser, dessen Verdauungsapparat die Speisen, ohne ihre Nahr- und Nutzwerte zu verarbeiten, massenhaft durchtriebe. Man konnte weitergehen und sagen: wie unverdaute Speise ihren Mann nicht starker mache, so mache verwartete Zeit nicht alter. Freilich kommt reines und unvermischtes Warten praktisch nicht vor.

Es war also die Woche verschlungen und die Sonntagnachmittagspoststunde wieder in Kraft getreten, nicht anders, als ware es immer noch die von vor sieben Tagen. Aufs erregendste fuhr sie fort, Gelegenheit zu machen, barg und bot in jeder Minute die Moglichkeit, mitFrau Chauchat in gesellschaftliche Beziehungen zu

treten: Moglichkeiten, von denen Hans Castorp sich das Herz pressen und jagen lie?, ohne sie ins Wirkliche ubertreten zu lassen. Dem standen Hemmungen entgegen, die teils militarischer, teils zivilistischer Natur waren: - teils namlich mit der Gegenwart des ehrenhaften Joachim und mit Hans Castorps eigener Ehre und Pflicht zusammenhingen, teils aber auch in dem Gefuhl ihren Grund hatten, da? gesellschaftliche Beziehungen zu Clawdia Chauchat, gesittete Beziehungen, bei denen man "Sie" sagte und Verbeugungen machte und womoglich Franzosisch sprach, - nicht notig, nicht wunschenswert, nicht das Richtige seien ... Er stand und sah sie lachend sprechen, genau wie Pribislav Hippe dereinst auf dem Schulhof sprechend gelacht hatte: ihr Mund offnete sich ziemlich weit dabei, und ihre schiefstehenden graugrunen Augen uber den Backenknochen zogen sich zu schmalen Ritzen zusammen. Das war durchaus nicht "schon"; aber es war, wie es war, und bei der Verliebtheit kommt das asthetische Vernunfturteil so wenig zu seinem Recht, wie das moralische. -

"Sie erwarten ebenfalls Briefschaften, Ingenieur?"

So redete nur einer, ein Storender. Hans Castorp fuhr zusammen und wandte sich Herrn Settembrini zu, der lachelnd vor ihm stand. Es war das feine und humanistische Lacheln, mit dem er dereinst bei der Bank am Wasserlauf den Ankommling zuerst begru?t hatte, und wie damals schamte Hans Castorp sich, als er es sah. Aber wie oft er auch im Traume den "Drehorgelmann" von der Stelle zu drangen gesucht hatte, weil er "hier store", - der wachende Mensch ist besser als der traumende, und nicht nur zu seiner Beschamung und Ernuchterung wurde Hans Castorp dieses Lachelns wieder ansichtig, sondern auch mit Gefuhlen dankbarer Bedurftigkeit. Er sagte:

"Gott, Briefschaften, Herr Settembrini. Ich bin doch kein Ambassadeur! Vielleicht ist eine Postkarte da fur einen von uns. Mein Vetter sieht eben mal nach."

"Mir hat der hinkende Teufel da vorn meine kleinen Korrespondenzen schon ausgehandigt", sagte Settembrini und fuhrte die Hand zur Seitentasche seines unvermeidlichen Flausrockes. "Interessante Dinge, Dinge von literarischer und sozialer Tragweite, ich leugne es nicht. Es handelt sich um ein enzyklopadisches Werk, an dem mitzuarbeiten ein humanitares Institut mich wurdigt ... Kurz, um schone Arbeit." Herr Settembrini brach ab. "Aber Ihre Angelegenheiten?" fragte er. "Wie steht es damit? Wie weit ist beispielsweise der Akklimatisierungsproze?

gediehen? Sie weilen alles in allem so lange noch nicht in unserer Mitte, da? die Frage nicht mehr an der Tagesordnung ware."

"Danke, Herr Settembrini; es hat nach wie vor seine Schwierigkeiten damit. Ich halte fur moglich, da? es das bis zum letzten Tage haben wird. Manche gewohnen sich nie, sagte mein Vetter mir gleich, als ich ankam. Aber man gewohnt sich daran, da? man sich nicht gewohnt."

"Ein verwickelter Vorgang", lachte der Italiener."Eine sonderbare Art der Einburgerung. Naturlich, die Jugend ist zu allem fahig. Sie gewohnt sich nicht, aber sie schlagt Wurzeln."

"Und schlie?lich ist das ja kein sibirisches Bergwerk hier."

"Nein. Oh, Sie bevorzugen ostliche Vergleiche. Sehr begreiflich. Asien verschlingt uns. Wohin man blickt: tatarische Gesichter." Und Herr Settembrini wandte diskret den Kopf uber die Schulter. "Dschingis-Khan," sagte er, "Steppenwolfslichter, Schnee und Schnaps, Knute, Schlusselburg und Christentum. Man sollte der Pallas Athene hier in der Vorhalle einen Altar errichten, - im Sinne der Abwehr. Sehen Sie, da vorn ist so ein Iwan Iwanowitsch ohne Wei?zeug mit dem Staatsanwalt Paravant in Streit geraten. Jeder will vor dem anderen an der Reihe sein, seine Post zu empfangen. Ich wei? nicht, wer recht hat, aber fur mein Gefuhl steht der Staatsanwalt im Schutze der Gottin. Er ist zwar ein Esel, aber er versteht wenigstens Latein."

Hans Castorp lachte, - was Herr Settembrini niemals tat. Man konnte ihn sich herzlich lachend gar nicht vorstellen; uber die feine und trockene Spannung seines Mundwinkels brachte er es nicht hinaus. Er sah dem jungen Manne beim Lachen zu und fragte dann:

"Ihr Diapositiv - haben Sie bekommen?"

"Das habe ich bekommen!" bestatigte Hans Castorp wichtig. "Schon neulich. Hier ist es." Und er griff in die innere Brusttasche.

"Ah, Sie tragen es im Portefeuille. Wie einen Ausweis sozusagen, einen Pa? oder eine Mitgliedskarte. Sehr gut. Lassen Sie sehen!" Und Herr Settembrini hob die kleine, mit schwarzen Papierstreifen gerahmte Glasplatte gegen das Licht, indem er sie zwischen Daumen und Zeigefinger seiner Linken hielt, - eine oft gesehene, sehr ubliche Bewegung hier oben. Sein Gesicht mit den schwarzen Mandelaugen grimassierte ein wenig, wahrend er das funebre Lichtbild prufte, - ohne ganz deutlich werden zu lassen, ob es nur des genaueren Sehens wegen oder aus anderen Grunden geschah.

"Ja, ja", sagte er dann. "Hier haben Sie Ihre Legitimation, ich danke bestens." Und er reichte das Glas seinem Besitzer zuruck, reichte es ihm von der Seite, gewisserma?en uber den eigenen Arm hinuber und abgewandten Gesichtes.

"Haben Sie die Strange gesehen?" fragte Hans Castorp. "Und die Knotchen?"

"Sie wissen," antwortete Herr Settembrini schleppend, "wie ich uber den Wert dieser Produkte denke. Sie wissen auch, da? die Flecke und Dunkelheiten da im Inneren zum allergro?ten Teil physiologisch sind. Ich habe hundert Bilder gesehen, die ungefahr aussahen wie Ihres, und die die Entscheidung, ob sie wirklich einen 'Ausweis' bildeten oder nicht, einigerma?en in das Belieben des Beurteilers stellten. Ich rede als Laie, aber immerhin als ein langjahriger Laie."

"Sieht Ihr eigener Ausweis schlimmer aus?"

"Ja, etwas schlimmer. - Ubrigens ist mir bekannt, da? auch unsere Herren und Meister auf dieses Spielzeug allein keine Diagnose grunden. - Und Sie beabsichtigen nun also, beiuns zu uberwintern?"

"Ja, lieber Gott ... Ich fange an, mich an den Gedanken zu gewohnen, da? ich erst mit meinem Vetter zusammen wieder hinunterfahren werde."

"Das hei?t, Sie gewohnen sich daran, da? Sie sich nicht ... Sie formulierten das sehr witzig. Ich hoffe, Sie haben Ihre Sachen erhalten, - warme Kleider, solides Schuhwerk?"

"Alles. Alles in schonster Ordnung, Herr Settembrini. Ich habe meine Verwandten informiert, und unsere Haushalterin hat mir alles als Eilgut geschickt. Ich kann es nun aushalten."

"Das beruhigt mich. Aber halt, Sie brauchen einen Sack, einen Pelzsack, - wo haben wir unsere Gedanken! Dieser Nachsommer ist trugerisch; in einer Stunde kann es tiefer Winter sein. Sie werden hier die kaltesten Monate verbringen ..."

"Ja, der Liegesack," sagte Hans Castorp, "der ist wohl ein Zubehor. Ich habe auch schon fluchtig daran gedacht, da? wir in den nachsten Tagen mal, mein Vetter und ich, in den Ort gehen mussen und einen kaufen. Man braucht das Ding spater nie wieder, aber schlie?lich fur vier bis sechs Monate lohnt es."

"Es lohnt, es lohnt. - Ingenieur!" sagte Herr Settembrini leise, indem er naher an den jungen Mann herantrat. "Wissen Sie nicht, da? es

grauenhaft ist, wie Sie mit den Monaten herumwerfen? Grauenhaft, weil unnaturlich und Ihrem Wesen fremd, nur auf der Gelehrigkeit Ihrer Jahre beruhend. Ach, diese ubergro?e Gelehrigkeit der Jugend! - sie ist die Verzweiflung der Erzieher, denn vor allem ist sie bereit, sich im Schlimmen zu bewahren. Reden Sie nicht, wie es in der Luft liegt, junger Mensch, sondern wie es Ihrer europaischen Lebensform angemessen ist! Hier liegt vor allem viel Asien in der Luft, - nicht umsonst wimmelt es von Typen aus der moskowitischen Mongolei! Diese Leute" - und Herr Settembrini deutete mit dem Kinn uber die Schulter hinter sich - "richten Sie sich innerlich nicht nach ihnen, lassen Sie sich von ihren Begriffen nicht infizieren, setzen Sie vielmehr Ihr Wesen, Ihr hoheres Wesen gegen das ihre, und halten Sie heilig, was Ihnen, dem Sohn des Westens, des gottlichen Westens, - dem Sohn der Zivilisation, nach Natur und Herkunft heilig ist, zum Beispiel die Zeit! Diese Freigebigkeit, diese barbarische Gro?artigkeit im Zeitverbrauch ist asiatischer Stil, - das mag ein Grund sein, weshalb es den Kindern des Ostens an diesem Orte behagt. Haben Sie nie bemerkt, da?, wenn ein Russe 'vier Stunden' sagt, es nicht mehr ist, als wenn unsereins 'eine' sagt? Leicht zu denken, da? die Nonchalance dieser Menschen im Verhaltnis zur Zeit mit der wilden Weitraumigkeit ihres Landes zusammenhangt. Wo viel Raum ist, da ist viel Zeit, - man sagt ja, da? sie das Volk sind, das Zeit hat und warten kann. Wir Europaer, wir konnen es nicht.Wir haben so wenig Zeit, wie unser edler und zierlich gegliederter Erdteil Raum hat, wir sind auf genaue Bewirtschaftung des einen wie des anderen angewiesen, auf Nutzung, Nutzung, Ingenieur! Nehmen Sie unsere gro?en Stadte als Sinnbild, diese Zentren und Brennpunkte der Zivilisation, diese Mischkessel des Gedankens! In demselben Ma?e, wie der Boden sich dort verteuert, Raumverschwendung zur Unmoglichkeit wird, in demselben Ma?e, bemerken Sie das, wird dort auch die Zeit immer kostbarer. Carpe diem! Das sang ein Gro?stadter. Die Zeit ist eine Gottergabe, dem Menschen verliehen, damit er sie nutze - sie nutze, Ingenieur, im Dienste des Menschheitsfortschritts."

Selbst dieses letzte Wort, so viele Hindernisse es seiner mediterranen Zunge bieten mochte, hatte Herr Settembrini auf erfreuliche Art, klar, wohllautend und - man kann wohl sagen - plastisch zu Gehor gebracht. Hans Castorp antwortete nicht anders, als mit der kurzen, steifen und befangenen Verbeugung eines Schulers, der eine verweisartige Belehrung entgegennimmt. Was hatte er erwidern sollen? Dies Privatissimum, das Herr Settembrini ihm insgeheim, mit dem Rucken

gegen die ganze ubrige Gasteschaft und beinahe flusternd, gehalten, hatte zu sachlichen, zu ungesellschaftlichen, zu wenig gesprachsma?igen Charakter getragen, als da? der Takt erlaubt hatte, auch nur Beifall zu au?ern. Man antwortet einem Lehrer nicht: "Das haben Sie schon gesagt." Hans Castorp hatte es wohl fruher manchmal getan, gewisserma?en um das gesellschaftliche Gleichheitsverhaltnis zu wahren; allein so dringlich erzieherisch hatte der Humanist noch niemals gesprochen; es blieb nichts ubrig, als die Vermahnung einzustecken, - benommen wie ein Schuljunge von soviel Moral.

Man sah ubrigens Herrn Settembrini an, da? seine Gedankentatigkeit auch im Schweigen noch ihren Fortgang nahm. Noch immer stand er dicht vor Hans Castorp, so da? dieser sich sogar ein wenig zuruckbeugte, und seine schwarzen Augen waren in fixer und sinnend blinder Einstellung auf des jungen Mannes Gesicht gerichtet.

"Sie leiden, Ingenieur!" fuhr er fort. "Sie leiden wie ein Verirrter, - wer sahe es Ihnen nicht an? Aber auch Ihr Verhalten zum Leiden sollte ein europaisches Verhalten sein, - nicht das des Ostens, der, weil er weich und zur Krankheit geneigt ist, diesen Ort so ausgiebig beschickt ... Mitleid und unerme?liche Geduld, das ist seine Art, dem Leiden zu begegnen. Es kann, es darf die unsrige, die Ihre nicht sein! ... Wir sprachen von meiner Post ... Sehen Sie, hier ... Oder besser noch, - kommen Sie! Es ist unmoglich, hier ... Wir ziehen uns zuruck, wir treten dort druben ein. Ich mache Ihnen Eroffnungen, welche ... Kommen Sie!" Und sich umwendend, zog er Hans Castorp fort aus dem Vestibul, in das erste, dem Portal am nachsten gelegene der Gesellschaftszimmer, das als Schreib- und Leseraum eingerichtet und jetzt leer von Gasten war. Es zeigte eichene Wandtafelungenunter seinem hellen Gewolbe, Bucherschranke, einen von Stuhlen umgebenen, mit gerahmten Zeitungen belegten Tisch in der Mitte und Schreibgelegenheiten unter den Bogen der Fensternischen. Herr Settembrini schritt bis in die Nahe eines der Fenster vor, Hans Castorp folgte ihm. Die Tur blieb offen.

"Diese Papiere," sagte der Italiener, indem er aus der beutelartigen Seitentasche seines Flauses mit fliegender Hand ein Konvolut, ein umfangreiches, schon geoffnetes Briefkuvert zog und seinen Inhalt, verschiedene Drucksachen nebst einem Schreiben, vor Hans Castorps Augen durch die Finger gleiten lie?, "diese Papiere tragen in franzosischer Sprache den Aufdruck: 'Internationaler Bund fur Organisierung des Fortschritts.' Man sendet sie mir aus Lugano, wo sich

ein Filialbureau des Bundes befindet. Sie fragen mich nach seinen Grundsatzen, seinen Zielen? Ich gebe sie Ihnen in zwei Worten. Die Liga fur Organisierung des Fortschritts leitet aus der Entwicklungslehre Darwins die philosophische Anschauung ab, da? der innerste Naturberuf der Menschheit ihre Selbstvervollkommnung ist. Sie folgert daraus weiter, da? es Pflicht eines jeden ist, der seinem Naturberuf genugen will, am Menschheitsfortschritt tatig mitzuarbeiten. Viele sind ihrem Rufe gefolgt; die Zahl ihrer Mitglieder in Frankreich, Italien, Spanien, der Turkei und selbst in Deutschland ist bedeutend. Auch ich habe die Ehre, in den Bundesregistern gefuhrt zu werden. Ein wissenschaftlich ausgearbeitetes Reformprogramm gro?en Stils ist entworfen, das alle augenblicklichen Vervollkommnungsmoglichkeiten des menschlichen Organismus umfa?t. Das Problem der Gesundheit unserer Rasse wird studiert, man pruft alle Methoden zur Bekampfung der Degeneration, die ohne Zweifel eine beklagenswerte Begleiterscheinung der zunehmenden Industrialisierung ist. Ferner betreibt der Bund die Grundung von Volksuniversitaten, die Uberwindung der Klassenkampfe durch alle die sozialen Verbesserungen, die sich zu diesem Zwecke empfehlen, endlich die Beseitigung der Volkerkampfe, des Krieges durch die Entwicklung des internationalen Rechts. Sie sehen, die Anstrengungen der Liga sind hochherzig und umfassend. Mehrere internationale Zeitschriften zeugen von ihrer Tatigkeit, - Monatsrevuen, die in drei oder vier Weltsprachen hochst anregend uber die fortschrittliche Entwicklung der Kulturmenschheit berichten. Zahlreiche Ortsgruppen sind in den verschiedenen Landern gegrundet worden, die durch Diskussionsabende und Sonntagsfeiern im Sinne des menschlichen Fortschrittsideals aufklarend und erbaulich wirken sollen. Vor allem beeifert sich der Bund, den politischen Fortschrittsparteien aller Lander mit seinem Material zur Hand zu gehen ... Sie folgen meinen Worten, Ingenieur?"

"Absolut!" antwortete Hans Castorp heftig und ubersturzt. Er hatte bei diesem Wort das Gefuhl eines Menschen, der ausgleitet und sich eben noch glucklich auf den Fu?en halt.

Herr Settembrini schien befriedigt.

"Ich nehme an, es sind neue, uberraschende Einblicke, die Sie da tun?"

"Ja, ich mu? gestehen, es ist das erste, was ich uber diese ... diese Anstrengungen hore."

"Hatten Sie nur," rief Settembrini leise, "hatten Sie nur fruher davon gehort! Aber vielleicht horen Sie noch nicht zu spat davon. Nun, diese

Druckschriften ... Sie wollen wissen, wassie behandeln ... Horen Sie weiter! Im Fruhjahr war eine feierliche Hauptversammlung des Bundes nach Barcelona einberufen, - Sie wissen, da? diese Stadt sich besonderer Beziehungen zur politischen Fortschrittsidee ruhmen kann. Der Kongre? tagte eine Woche lang unter Banketten und Festlichkeiten. Guter Gott, ich wollte hinreisen, es verlangte mich sehnlichst, an den Beratungen teilzunehmen. Aber dieser Schuft von Hofrat verbot es mir unter Todesdrohungen, - und, was wollen Sie, ich furchtete den Tod und reiste nicht. Ich war verzweifelt, wie Sie sich denken konnen, uber den Streich, den meine unzulangliche Gesundheit mir spielte. Nichts ist schmerzhafter, als wenn unser organisches, unser tierisches Teil uns hindert, der Vernunft zu dienen. Desto lebhafter ist meine Befriedigung uber diese Zuschrift des Bureaus von Lugano ... Sie sind neugierig auf ihren Inhalt? Das glaube ich gern! Ein paar fluchtige Informationen ... Der 'Bund zur Organisierung des Fortschritts', eingedenk der Wahrheit, da? seine Aufgabe darin besteht, das Gluck der Menschheit herbeizufuhren, mit anderen Worten: das menschliche Leiden durch zweckvolle soziale Arbeit zu bekampfen und am Ende vollig auszumerzen, - eingedenk ferner der Wahrheit, da? diese hochste Aufgabe nur mit Hilfe der soziologischen Wissenschaft gelost werden kann, deren Endziel der vollkommene Staat ist, - der Bund also hat in Barcelona die Herstellung eines vielbandigen Buchwerkes beschlossen, das den Titel 'Soziologie der Leiden' fuhren wird, und worin die menschlichen Leiden nach allen ihren Klassen und Gattungen in genauer und erschopfender Systematik bearbeitet werden sollen. Sie werden mir einwenden: was nutzen Klassen, Gattungen, Systeme! Ich antworte Ihnen: Ordnung und Sichtung sind der Anfang der Beherrschung, und der eigentlich furchtbare Feind ist der unbekannte. Man mu? das Menschengeschlecht aus den primitiven Stadien der Furcht und der duldenden Dumpfheit herausfuhren und sie zur Phase zielbewu?ter Tatigkeit leiten. Man mu? sie daruber aufklaren, da? Wirkungen hinfallig werden, deren Ursachen man zuerst erkennt und dann aufhebt, und da? fast alle Leiden des Individuums Krankheiten des sozialen Organismus sind. Gut! Dies ist die Absicht der 'Soziologischen Pathologie'. Sie wird also in etwa zwanzig Banden von Lexikonformat alle menschlichen Leidensfalle auffuhren und behandeln, die sich uberhaupt erdenken lassen, von den personlichsten und intimsten bis zu den gro?en Gruppenkonflikten, den Leiden, die aus Klassenfeindschaften und internationalen Zusammensto?en erwachsen, sie wird, kurz gesagt, die

chemischen Elemente aufzeigen, aus deren vielfaltiger Mischung und Verbindung sich alles menschliche Leiden zusammensetzt, und indem sie die Wurde und das Gluck der Menschheit zur Richtschnur nimmt, wird sie ihr in jedem Falle die Mittel und Ma?nahmen an die Hand geben, die ihr zur Beseitigung der Leidensursachen angezeigt scheinen. Berufene Fachmanner der europaischen Gelehrtenwelt, Arzte, Volkswirte und Psychologen, werden sich in die Ausarbeitung dieser Enzyklopadie der Leiden teilen, und das General-Redaktionsbureau zu Lugano wird das Sammelbeckensein, in dem die Artikel zusammenflie?en. Sie fragen mich mit den Augen, welche Rolle nun mir bei all dem zufallen soll? Lassen Sie mich zu Ende reden! Auch den schonen Geist will dieses gro?e Werk nicht vernachlassigen, soweit er eben menschliches Leiden zum Gegenstande hat. Darum ist ein eigener Band vorgesehen, der, den Leidenden zu Trost und Belehrung, eine Zusammenstellung und kurzgefa?te Analyse aller fur jeden einzelnen Konflikt in Betracht kommenden Meisterwerke der Weltliteratur enthalten soll; und - dies ist die Aufgabe, mit der man in dem Schreiben, das Sie hier sehen, Ihren ergebensten Diener betraut."

"Was Sie sagen, Herr Settembrini! Da erlauben Sie mir aber, Sie herzlich zu begluckwunschen! Das ist ja ein gro?artiger Auftrag und ganz wie fur Sie gemacht, wie mir scheint. Es wundert mich keinen Augenblick, da? die Liga an Sie gedacht hat. Und wie mu? es Sie freuen, da? Sie da nun behilflich sein konnen, die menschlichen Leiden auszumerzen!"

"Es ist eine weitlaufige Arbeit," sagte Herr Settembrini sinnend, "zu der viel Umsicht und Lekture erforderlich ist. Zumal," fugte er hinzu, wahrend sein Blick sich in der Vielfaltigkeit seiner Aufgabe zu verlieren schien, "zumal in der Tat der schone Geist sich fast regelma?ig das Leiden zum Gegenstande gesetzt hat und selbst Meisterwerke zweiten und dritten Ranges sich irgendwie damit beschaftigen. Gleichviel oder desto besser! So umfassend die Aufgabe immer sein moge, auf jeden Fall ist sie von der Art, da? ich mich ihrer zur Not auch an diesem verfluchten Aufenthalt entledigen kann, obgleich ich nicht hoffen will, da? ich gezwungen sein werde, sie hier zu beenden. Man kann dasselbe," fuhr er fort, indem er wieder naher an Hans Castorp herantrat und die Stimme beinahe zum Flustern dampfte, "man kann dasselbe von den Pflichten nicht sagen, die Ihnen die Natur auferlegt, Ingenieur! Das ist es, worauf ich hinauswollte, woran ich Sie mahnen wollte. Sie wissen,

wie sehr ich Ihren Beruf bewundere, aber da er ein praktischer, kein geistiger Beruf ist, so konnen Sie ihm, anders als ich, nur in der Welt drunten nachkommen. Nur im Tiefland konnen Sie Europaer sein, das Leiden auf Ihre Art aktiv bekampfen, den Fortschritt fordern, die Zeit nutzen. Ich habe Ihnen von der mir zugefallenen Aufgabe nur erzahlt, um Sie zu erinnern, um Sie zu sich zu bringen, um Ihre Begriffe richtigzustellen, die sich offenbar unter atmospharischen Einflussen zu verwirren beginnen. Ich dringe in Sie: Halten Sie auf sich! Seien Sie stolz und verlieren Sie sich nicht an das Fremde! Meiden Sie diesen Sumpf, dies Eiland der Kirke, auf dem ungestraft zu hausen Sie nicht Odysseus genug sind. Sie werden auf allen Vieren gehen, Sie neigen sich schon auf Ihre vorderenExtremitaten, bald werden Sie zu grunzen beginnen, - huten Sie sich!"

Der Humanist hatte bei seinen leisen Ermahnungen den Kopf eindringlich geschuttelt. Er schwieg mit niedergeschlagenen Augen und zusammengezogenen Brauen. Es war unmoglich, ihm scherzhaft und ausweichend zu antworten, wie Hans Castorp es zu tun gewohnt war und wie er es auch jetzt einen Augenblick als Moglichkeit erwog. Auch er stand mit gesenkten Lidern. Dann hob er die Schultern und sagte ebenso leise:

"Was soll ich tun?"

"Was ich Ihnen sagte."

"Das hei?t: abreisen?"

Herr Settembrini schwieg.

"Wollen Sie sagen, da? ich nach Hause reisen soll?"

"Das habe ich Ihnen gleich am ersten Abend geraten, Ingenieur."

"Ja, und damals war ich frei, es zu tun, obgleich ich es unvernunftig fand, die Flinte ins Korn zu werfen, nur weil die hiesige Luft mir ein bi?chen zusetzte. Seitdem hat sich die Sachlage aber doch geandert. Seitdem hat sich diese Untersuchung ergeben, nach der Hofrat Behrens mir klipp und klar gesagt hat, es lohnte die Heimreise nicht, in kurzem mu?te ich doch wieder antreten, und wenn ich's da unten so weitertriebe, so ginge mir, was hast du, was kannst du, der ganze Lungenlappen zum Teufel."

"Ich wei?, jetzt haben Sie Ihren Ausweis in der Tasche."

"Ja, das sagen Sie so ironisch ... mit der richtigen Ironie naturlich, die keinen Augenblick mi?verstandlich ist, sondern ein gerades und

klassisches Mittel der Redekunst, - Sie sehen, ich merke mir Ihre Worte. Aber konnen Sie es denn verantworten, mir auf diese Photographie hin und nach dem Ergebnis der Durchleuchtung und nach der Diagnose des Hofrats die Heimreise anzuraten?"

Herr Settembrini zogerte einen Augenblick. Dann richtete er sich auf, schlug auch die Augen auf, die er fest und schwarz auf Hans Castorp richtete, und erwiderte mit einer Betonung, die des theatralischen und effekthaften Einschlages nicht entbehrte:

"Ja, Ingenieur. Ich will es verantworten."

Aber auch Hans Castorps Haltung hatte sich nun gestrafft. Er hielt die Absatze geschlossen und sah Herrn Settembrini ebenfalls gerade an. Diesmal war es ein Gefecht. Hans Castorp stand seinen Mann. Einflusse aus der Nahe "starkten" ihn. Da war ein Padagog, und dort drau?en war eine schmalaugige Frau. Er entschuldigte sich nicht einmal fur das, was er sagte; er fugte nicht hinzu: "Nehmen Sie es mir nicht ubel." Er antwortete:

"Dann sind Sie vorsichtiger fur sich als fur andere Leute! Sie sind nicht gegen arztliches Verbot nach Barcelona zum Fortschrittskongre? gereist. Sie furchteten den Tod und blieben hier."

Bis zu einem gewissen Grade war dadurch Herrn Settembrinis Pose unzweifelhaft zerstort. Er lachelte nicht ganz muhelos und sagte:

"Ich wei? eine schlagfertige Antwort zu schatzen, selbst wenn Ihre Logik der Sophisterei nicht fern ist. Es ekelt mich, in einem hier ublichen abscheulichen Wettstreit zu konkurrieren,sonst wurde ich Ihnen erwidern, da? ich bedeutend kranker bin als Sie, - leider in der Tat so krank, da? ich die Hoffnung, diesen Ort je wieder verlassen und in die untere Welt zuruckkehren zu konnen, nur kunstlicher- und ein wenig selbstbetrugerischerweise hinfriste. In dem Augenblick, wo es sich als vollig unanstandig erweisen wird, sie aufrechtzuhalten, werde ich dieser Anstalt den Rucken kehren und fur den Rest meiner Tage irgendwo im Tal ein Privatlogis beziehen. Das wird traurig sein, aber da meine Arbeitssphare die freieste und geistigste ist, wird es mich nicht hindern, bis zu meinem letzten Atemzuge der Sache der Menschheit zu dienen und dem Geist der Krankheit die Stirn zu bieten. Ich habe Sie auf den Unterschied, der in dieser Beziehung zwischen uns besteht, bereits aufmerksam gemacht. Ingenieur, Sie sind nicht der Mann, Ihr besseres Wesen hier zu behaupten, das sah ich bei unserer ersten Begegnung. Sie halten mir vor, ich sei nicht nach Barcelona gereist. Ich habe mich dem

Verbot unterworfen, um mich nicht vorzeitig zu zerstoren. Aber ich tat es unter dem starksten Vorbehalt, unter dem stolzesten und schmerzlichsten Protest meines Geistes gegen das Diktat meines armseligen Korpers. Ob dieser Protest auch in Ihnen lebendig ist, indem Sie den Vorschriften der hiesigen Machte Folge leisten, - ob es nicht vielmehr der Korper ist und sein boser Hang, dem Sie nur zu bereitwillig gehorchen ..."

"Was haben Sie gegen den Korper?" unterbrach Hans Castorp ihn rasch und blickte ihn gro? an mit seinen blauen Augen, deren Wei?es von roten Adern durchzogen war. Ihm schwindelte vor seiner Tollkuhnheit, und man sah es ihm an. "Wovon spreche ich?" dachte er. "Es wird ungeheuerlich. Aber ich habe mich einmal auf Kriegsfu? mit ihm gestellt und werde ihm, so lange es irgend geht, das letzte Wort nicht lassen. Naturlich wird er es haben, aber das macht nichts, ich werde immerhin dabei profitieren. Ich werde ihn reizen." Er erganzte seinen Einwand:

"Sie sind doch Humanist? Wie konnen Sie schlecht auf den Korper zu sprechen sein?"

Settembrini lachelte, diesmal ungezwungen und selbstgewi?.

"'Was haben Sie gegen die Analyse?'" zitierte er, den Kopf auf der Schulter. "'Sind Sie schlecht auf die Analyse zu sprechen?' - Sie werden mich immer bereit finden, Ihnen Rede zu stehen, Ingenieur," sagte er mit Verbeugung und einer salutierenden Handbewegung gegen den Fu?boden, "besonders wenn Ihre Einwendungen Geist haben. Sie parieren nicht ohne Eleganz. Humanist, - gewi?, ich bin es. Asketischer Neigungen werden Sie mich niemals uberfuhren. Ich bejahe, ich ehre und liebe den Korper, wie ich die Form, die Schonheit, die Freiheit, die Heiterkeit und den Genu? bejahe, ehre und liebe, - wie ich die 'Welt', die Interessendes Lebens vertrete gegen sentimentale Weltflucht, - den Classicismo gegen die Romantik. Ich denke, meine Stellungnahme ist eindeutig. Eine Macht, ein Prinzip aber gibt es, dem meine hochste Bejahung, meine hochste und letzte Ehrerbietung und Liebe gilt, und diese Macht, dieses Prinzip ist der Geist. Wie sehr ich es verabscheue, irgendein verdachtiges Mondscheingespinst und -gespenst, das man 'die Seele' nennt, gegen den Leib ausgespielt zu sehen, - innerhalb der Antithese von Korper und Geist bedeutet der Korper das bose, das teuflische Prinzip, denn der Korper ist Natur, und die Natur - innerhalb ihres Gegensatzes zum Geiste, zur Vernunft, ich wiederhole das! - ist bose, - mystisch und bose. 'Sie sind Humanist!' Allerdings bin ich es, denn ich bin ein Freund des

Menschen, wie Prometheus es war, ein Liebhaber der Menschheit und ihres Adels. Dieser Adel aber ist beschlossen im Geiste, in der Vernunft, und darum werden Sie ganz vergebens den Vorwurf des christlichen Obskurantismus erheben ..."

Hans Castorp wehrte ab.

"... Sie werden," beharrte Settembrini, "diesen Vorwurf ganz vergebens erheben, wenn humanistischer Adelsstolz die Gebundenheit des Geistes an das Korperliche, an die Natur eines Tages als Erniedrigung, als Schimpf empfinden lernt. Wissen Sie, da? von dem gro?en Plotinus die Au?erung uberliefert ist, er schame sich, einen Korper zu haben?" fragte Settembrini und verlangte so ernstlich eine Antwort, da? Hans Castorp genotigt war, zu gestehen, das sei das erste, was er hore.

"Porphyrius uberliefert es. Eine absurde Au?erung, wenn Sie wollen. Aber das Absurde, das ist das geistig Ehrenhafte, und nichts kann im Grunde armlicher sein, als der Einwand der Absurditat, dort, wo der Geist gegen die Natur seine Wurde behaupten will, sich weigert, vor ihr abzudanken ... Haben Sie von dem Erdbeben zu Lissabon gehort?"

"Nein, - ein Erdbeben? Ich sehe hier keine Zeitungen ..."

"Sie mi?verstehen mich. Nebenbei bemerkt, ist es bedauerlich - und kennzeichnend fur diesen Ort, - da? Sie es hier versaumen, die Presse zu lesen. Aber Sie mi?verstehen mich, das Naturereignis, von dem ich spreche, ist nicht aktuell, es fand vor beilaufig hundertundfunfzig Jahren statt ..."

"Ja so! Oh, warten Sie, - richtig! Ich habe gelesen, da? Goethe damals nachts in Weimar in seinem Schlafzimmer zu seinem Diener sagte ..."

"Ah, - nicht davon wollte ich reden", unterbrach ihn Settembrini, indem er die Augen schlo? und seine kleine braune Hand in der Luft schuttelte. "Ubrigens vermengen Sie die Katastrophen. Sie haben das Erdbeben von Messina im Sinn. Ich meine die Erschutterung, die Lissabon heimsuchte, im Jahre 1755."

"Entschuldigen Sie."

"Nun, Voltaire emporte sich dagegen."

"Das hei?t ... wie? Er emporte sich?"

"Er revoltierte, ja. Er nahm das brutale Fatum und Faktum nicht hin, er weigerte sich, davor abzudanken. Er protestierte imNamen des Geistes und der Vernunft gegen diesen skandalosen Unfug der Natur, dem drei

Viertel einer bluhenden Stadt und Tausende von Menschenleben zum Opfer fielen ... Sie staunen? Sie lacheln? Mogen Sie immerhin staunen, was das Lacheln betrifft, so nehme ich mir die Freiheit, es Ihnen zu verweisen! Voltaires Haltung war die eines echten Nachkommlings jener alten Gallier, die ihre Pfeile gegen den Himmel schleuderten ... Sehen Sie, Ingenieur, da haben Sie die Feindschaft des Geistes gegen die Natur, sein stolzes Mi?trauen gegen sie, sein hochherziges Bestehen auf dem Rechte zur Kritik an ihr und ihrer bosen, vernunftwidrigen Macht. Denn sie ist die Macht, und es ist knechtisch, die Macht hinzunehmen, sich mit ihr abzufinden ... wohlgemerkt, sich innerlich mit ihr abzufinden. Da haben Sie aber auch jene Humanitat, die sich schlechterdings in keinen Widerspruch verstrickt, sich keines Ruckfalls in christliche Duckmauserei schuldig macht, wenn sie im Korper das bose, das widersacherische Prinzip zu erblicken sich entschlie?t. Der Widerspruch, den Sie zu sehen meinen, ist im Grunde immer derselbe. 'Was haben Sie gegen die Analyse?' Nichts ... wenn sie Sache der Belehrung, der Befreiung und des Fortschritts ist. Alles ... wenn ihr der scheu?liche haut-gout des Grabes anhaftet. Es ist mit dem Korper nicht anders. Man mu? ihn ehren und verteidigen, wenn es sich um seine Emanzipation und Schonheit handelt, um die Freiheit der Sinne, um Gluck, um Lust. Man mu? ihn verachten, sofern er als Prinzip der Schwere und der Tragheit sich der Bewegung zum Lichte entgegensetzt, ihn verabscheuen, sofern er gar das Prinzip der Krankheit und des Todes vertritt, sofern sein spezifischer Geist der Geist der Verkehrtheit ist, der Geist der Verwesung, der Wollust und der Schande ..."

Settembrini hatte die letzten Worte, dicht vor Hans Castorp stehend, fast ohne Ton und sehr rasch gesprochen, um fertig zu werden. Entsatz naherte sich fur Hans Castorp: Joachim betrat, zwei Postkarten in der Hand, das Lesezimmer, die Rede des Literaten brach ab, und die Gewandtheit, mit der sein Ausdruck ins gesellschaftlich Leichte hinuberwechselte, verfehlte nicht ihren Eindruck auf seinen Schuler, - wenn man Hans Castorp so nennen konnte.

"Da sind Sie, Leutnant! Sie werden Ihren Vetter gesucht haben, - verzeihen Sie! Wir waren da in ein Gesprach geraten, - wenn mir recht ist, hatten wir sogar einen kleinen Zwist. Er ist kein ubler Rasonneur, Ihr Vetter, ein durchaus nicht ungefahrlicher Gegner im Wortstreit, wenn es ihm darauf ankommt."

Humaniora

Hans Castorp und Joachim Ziem?en sa?en in wei?en Hosen und blauen Jacken nach dem Diner im Garten. Es war noch einer dieser gepriesenen Oktobertage, ein Tag, hei? und leicht, festlich und herb zugleich, mit sudlich dunkler Himmelsblaue uber dem Tal, dessen von Wegen durchzogene undbesiedelte Triften im Grunde noch heiter grunten, und von dessen rauh bewaldeten Lehnen Kuhgelaut kam, - dieser blechern-friedliche, einfaltig-musikalische Laut, der klar und ungestort durch die stillen, dunnen, leeren Lufte schwebte, die Feierstimmung vertiefend, die uber hohen Gegenden waltet.

Die Vettern sa?en auf einer Bank am Ende des Gartens vor einem Rondell junger Tannen. - Der Platz lag am nordwestlichen Rande der eingezaunten, um funfzig Meter uber das Tal erhohten Plattform, die das Postament des Berghofgelandes bildete. Sie schwiegen. Hans Castorp rauchte. Er haderte innerlich mit Joachim, weil dieser nach Tische nicht an der Geselligkeit auf der Veranda hatte teilnehmen wollen, sondern ihn gegen Wunsch und Willen in die Stille des Gartens genotigt hatte, bevor sie den Liegedienst aufnehmen wurden. Das war tyrannisch von Joachim. Genau genommen, waren sie nicht die siamesischen Zwillinge. Sie konnten sich trennen, wenn ihre Neigungen auseinandergingen. Hans Castorp war ja nicht hier, um Joachim Gesellschaft zu leisten, sondern er war selbst Patient. Er schmollte in diesem Sinne, und er konnte es aushalten, zu schmollen, da er Maria Mancini hatte. Die Hande in den Seitentaschen seiner Jacke, die braunbeschuhten Fu?e von sich gestreckt, hielt er die lange, mattgraue Zigarre, die sich noch im ersten Stadium der Konsumtion befand, das hei?t: von deren stumpfer Spitze er die Asche noch nicht abgestreift hatte, in der Mitte der Lippen, so da? sie etwas abwarts hing, und geno? nach der starken Mahlzeit ihr Aroma, dessen er nun vollig wieder habhaft geworden war. Mochte sonst seine Eingewohnung hier oben nur in der Gewohnung daran bestehen, da? er sich nicht gewohnte, - was den Chemismus seines Magens, die Nerven seiner trockenen und zu Blutungen neigenden Schleimhaute betraf, so hatte offenbar die Anpassung sich endlich doch vollzogen: unmerklich und ohne da? er den Fortschritt hatte verfolgen konnen, hatte sich im Wandel der Tage, dieser funfundsechzig oder siebzig Tage, sein ganzes organisches Behagen an dem wohlfabrizierten pflanzlichen Reiz- oder Betaubungsmittel wieder hergestellt. Er freute sich des wiedergekehrten

Vermogens. Die moralische Genugtuung verstarkte den physischen Genu?. Wahrend seiner Bettlagrigkeit hatte er an dem mitgebrachten Vorrat von zweihundert Stuck gespart; Restbestande davon waren noch vorhanden. Aber zugleich mit der Wasche, den Winterkleidern hatte er sich von Schalleen auch weitere funfhundert Stuck der Bremer Ware kommen lassen, um eingedeckt zu sein. Es waren schone lackierte Kistchen mit einem Globus, vielen Medaillen und einem von Fahnen umflatterten Ausstellungsgebaude in Gold geschmuckt.

Wie sie sa?en, siehe, so kam Hofrat Behrens durch den Garten. Er hatte heute am Mittagessen im Saale teilgenommen; am Tische der Frau Salomon hatte man ihn die riesigen Hande vor seinem Teller falten sehen. Dann hatte er sich wohl auf der Terrasse verweilt, personliche Tone angeschlagen, wahrscheinlichdas Stiefelbandkunststuck ausgefuhrt, fur jemanden, der es noch nicht gesehen. Nun kam er auf dem Kieswege schlendernd heran, ohne Arztekittel, in kleinkariertem Schwalbenschwanz, den steifen Hut im Nacken, eine Zigarre auch seinerseits im Munde, die sehr schwarz war, und aus der er gro?e, wei?liche Rauchwolken sog. Sein Kopf, sein Gesicht mit den blaulich erhitzten Backen, der Stumpfnase, den feuchten, blauen Augen und dem geschurzten Bartchen waren klein im Verhaltnis zu der langen, leicht gebuckten und geknickten Gestalt und zu dem Umfange seiner Hande und Fu?e. Er war nervos, sichtlich schrak er zusammen, als er die Vettern bemerkte, und blieb sogar etwas verlegen, da er gerade auf sie zugehen mu?te. Er begru?te sie in der gewohnten Weise, aufgeraumt und redensartlich, mit "Sieh da, sieh da, Timotheus!" und Segenswunschen fur ihren Stoffwechsel, indem er sie notigte, sitzenzubleiben, da sie sich zu seinen Ehren erheben wollten.

"Geschenkt, geschenkt. Keine Umstande weiter mit mir schlichtem Manne. Kommt mir gar nicht zu, sintemalen Sie Patienten sind, einer wie der andere. Sie haben so was nicht notig. Nichts zu sagen gegen die Situation, wie sie ist."

Und er blieb vor ihnen stehen, die Zigarre zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner riesigen Rechten.

"Wie schmeckt der Krautwickel, Castorp? Lassen Sie mal sehen, ich bin Kenner und Liebhaber. Die Asche ist gut: was ist denn das fur eine braunliche Schone?"

"Maria Mancini, Postre de Banquett aus Bremen, Herr Hofrat. Kostet wenig oder nichts, neunzehn Pfennig in reinen Farben, hat aber ein

Bukett, wie es sonst in dieser Preislage nicht vorkommt. Sumatra-Havanna, Sandblattdecker, wie Sie sehen. Ich habe mich sehr an sie gewohnt. Es ist eine mittelvolle Mischung und sehr wurzig, aber leicht auf der Zunge. Sie hat es gern, wenn man ihr lange die Asche la?t, ich streife nur hochstens zweimal ab. Naturlich hat sie ihre kleinen Launen, aber die Kontrolle bei der Herstellung mu? besonders genau sein, denn Maria ist sehr zuverlassig in ihren Eigenschaften und luftet vollkommen gleichma?ig. Darf ich Ihnen eine anbieten?"

"Danke, wir konnen ja mal tauschen." Und sie zogen ihre Etuis.

"Die hat Rasse", sagte der Hofrat, indem er seine Marke hinreichte. "Temperament, wissen Sie, Saft und Kraft. St. Felix-Brasil, ich habe es immer mit diesem Charakter gehalten. Ein rechter Sorgenbrecher, brennt ein wie Schnaps, und namentlich gegen das Ende hat sie was Fulminantes. Einige Zuruckhaltung im Verkehr wird empfohlen, man kann nicht eine an der anderen anzunden, das geht uber Manneskraft. Aber lieber mal einen ordentlichen Happen, als den ganzen Tag Wasserdampf ..."

Sie drehten die gewechselten Geschenke zwischen den Fingern, pruften mit sachlicher Kennerschaft diese schlanken Korper, die mit den schrag gleichlaufenden Rippen ihrer erhohten, hie und da etwas gelufteten Wickelrander, ihrem aufliegenden Geader, das zupulsen schien, den kleinen Unebenheiten ihrer Haut, dem Spiel des Lichtes auf ihren Flachen und Kanten etwas organisch Lebendiges hatten. Hans Castorp sprach es aus:

"So eine Zigarre hat Leben. Sie atmet regelrecht. Zu Hause lie? ich es mir mal einfallen, Maria in einer luftdichten Blechkiste aufzubewahren, um sie vor Feuchtigkeit zu schutzen. Wollen Sie glauben, da? sie starb? Sie kam um und war tot binnen Wochenfrist, - lauter ledrige Leichen."

Und sie tauschten ihre Erfahrungen aus uber die beste Art, Zigarren aufzubewahren, namentlich Importen. Der Hofrat liebte Importen, er hatte am liebsten immer nur schwere Havannas geraucht. Nur leider vertrug er sie nicht, und zwei kleine Henry Clays, die er einmal in einer Gesellschaft ans Herz genommen, hatten ihn, wie er erzahlte, um ein Haar unter den Rasen gebracht. "Ich rauche sie zum Kaffee," sagte er, "eine nach der anderen, und denke mir wenig dabei. Aber wie ich fertig bin, da steigt mir die Frage auf, wie mir eigentlich zu Sinne wird. Ganz anders jedenfalls, total fremdartig, wie noch nie im Leben. Nach Hause zu kommen, war keine Kleinigkeit, und wie ich da bin, da denke ich erst

recht, mich laust der Affe. Eisbeine, wissen Sie, kalter Schwei?, wo Sie wollen, linnenwei? das Gesicht, das Herz in allen Zustanden, ein Puls, - mal fadenformig und kaum zu fuhlen, mal holterdipolter, uber Stock und Stein, verstehen Sie, und das Gehirn in einer Aufregung ... Ich war uberzeugt, da? ich abtanzen sollte. Ich sage: abtanzen, weil das das Wort ist, das mir damals einfiel, und das ich brauchte zur Kennzeichnung meines Befindens. Denn eigentlich war es hochst fidel und eine rechte Festivitat, obgleich ich kolossale Angst hatte oder, richtiger gesagt, ganz und gar aus Angst bestand. Aber Angst und Festivitat schlie?en sich ja nicht aus, das wei? jeder. Der Bengel, der zum erstenmal ein Madchen haben soll, hat auch Angst, und sie auch, und dabei schmelzen sie nur so vor Vergnuglichkeit. Na, ich ware ebenfalls beinahe geschmolzen, mit wogendem Busen wollte ich abtanzen. Aber die Mylendonk brachte mich mit ihren Anwendungen aus der Stimmung. Eiskompressen, Burstenfrottage, einer Kampferinjektion, und so blieb ich der Menschheit erhalten."

Hans Castorp, sitzend in seiner Eigenschaft als Patient, blickte mit einer Miene, die von Gedankentatigkeit zeugte, zu Behrens auf, dessen blaue, quellende Augen sich beim Erzahlen mit Tranen gefullt hatten.

"Sie malen doch manchmal, Herr Hofrat", sagte er plotzlich.

Der Hofrat tat, als pralle er zuruck.

"Nanu? Jungling, wie kommen Sie mir vor?"

"Verzeihung. Ich habe es gelegentlich erwahnen horen. Es fiel mir eben ein."

"Na, dann will ich mich mal nicht aufs Leugnen verlegen. Wir sind allzumal schwachliche Menschen. Ja, so was ist vorgekommen. Anch' io sono pittore,wie jener Spanier zu sagen pflegte."

"Landschaften?" fragte Hans Castorp kurz und gonnerhaft. Die Umstande verleiteten ihn zu diesem Tone.

"Soviel Sie wollen!" antwortete der Hofrat mit verlegener Prahlerei. "Landschaften, Stilleben, Tiere, - was ein Kerl ist, schreckt uberhaupt vor gar nichts zuruck."

"Aber keine Portrats?"

"Auch ein Portrat ist wohl mal mit untergelaufen. Wollen Sie mir Ihres in Auftrag geben?"

"Ha, ha, nein. Aber es ware sehr freundlich, wenn Herr Hofrat uns Ihre Bilder bei Gelegenheit mal zeigen wurden."

Auch Joachim, nachdem er den Vetter erstaunt betrachtet, beeilte sich zu versichern, da? das sehr freundlich sein wurde.

Behrens war entzuckt, geschmeichelt bis zur Begeisterung. Er wurde sogar rot vor Vergnugen, und seine Augen schienen ihre Tranen diesmal vergie?en zu wollen.

"Aber gern!" rief er. "Aber mit dem allergro?ten Plasier! Aber gleich auf der Stelle, wenns Ihnen Spa? macht! Kommen Sie her, kommen Sie mit, ich braue uns einen turkischen Kaffee auf meiner Bude!" Und er nahm die jungen Leute am Arm, zog sie von der Bank und fuhrte sie, eingehangt zwischen ihnen, den Kiesweg entlang gegen seine Wohnung, die, wie sie wu?ten, in dem nahen nordwestlichen Flugel des Berghofgebaudes gelegen war.

"Ich habe mich ja selbst," erklarte Hans Castorp, "fruher hie und da in dieser Richtung versucht."

"Was Sie sagen. Ganz solide in Ol?"

"Nein, nein, uber das eine oder andere Aquarell hab ichs nicht hinausgebracht. Mal ein Schiff, ein Seestuck, Kindereien. Aber ich sehe Bilder sehr gern, und darum war ich so frei ..."

Namentlich Joachim fand sich einigerma?en beruhigt und aufgeklart uber seines Vetters befremdende Neugier durch diese Erlauterung, - und mehr fur ihn, als fur den Hofrat, hatte Hans Castorp sich denn auch auf seine eigenen kunstlerischen Versuche berufen. Sie langten an: es gab kein so prachtiges, von Laternen flankiertes Portal an dieser Seite, wie druben an der Auffahrt. Ein paar gerundete Stufen fuhrten zu der eichenen Haustur empor, die der Hofrat mit einem Drucker seines reichhaltigen Schlusselbundes offnete. Seine Hand zitterte dabei; entschieden war er nervos. Ein Vorraum, als Garderobe ausgestattet, nahm sie auf, wo Behrens seinen steifen Hut an den Nagel hing. Drinnen, auf dem kurzen, vom allgemeinen Teil des Gebaudes durch eine Glastur abgetrennten Korridor, an dessen beiden Seiten die Raumlichkeiten der kleinen Privatwohnung lagen, rief er nach dem Dienstmadchen und machte seine Bestellung. Dann lie? er seine Gaste unter jovialen und ermutigenden Redensarten eintreten, - durch eine der Turen zur Rechten.

Ein paar banal-burgerlich moblierte Raume, nach vorn, gegen das Tal blickend, gingen ineinander, ohne Verbindungsturen, nur durch Portieren getrennt: ein "altdeutsches" E?zimmer, ein Wohn- und Arbeitszimmer

mit Schreibtisch, uber dem eine Studentenmutze und gekreuzte Schlager hingen, wolligen Teppichen, Bibliothek und Sofaarrangement und noch ein Rauchkabinett, das "turkisch" eingerichtet war. Uberall hingenBilder, die Bilder des Hofrats, - hoflich und zur Bewunderung bereit gingen die Augen der Eintretenden sogleich daruberhin. Des Hofrats entschwebte Gattin war mehrmals zu sehen: in Ol und auch als Photographie auf dem Schreibtisch. Es war eine dunn und flie?end gekleidete, etwas ratselhafte Blondine, welche, die Hande an der linken Schulter gefaltet - und zwar nicht fest gefaltet, sondern nur so, da? die oberen Fingerglieder schwach ineinander lagen -, ihre Augen entweder gen Himmel gerichtet oder tief niedergeschlagen und unter den langen, schrag von den Lidern abstehenden Wimpern versteckt hielt: nur geradeaus und dem Beschauer entgegen blickte die Selige niemals. Sonst gab es hauptsachlich gebirgige Landschaftsmotive, Berge im Schnee und im Tannengrun, Berge, von Hohenqualm umwogt, und Berge, deren trockene und scharfe Umrisse unter dem Einflusse Segantinis in einen tiefblauen Himmel schnitten. Ferner waren da Sennhutten, wammige Kuhe auf besonnter Weide stehend und lagernd, ein gerupftes Huhn, das seinen verdrehten Hals zwischen Gemusen von einer Tischplatte hangen lie?, Blumenstucke, Gebirglertypen und anderes mehr, - gemalt dies alles mit einem gewissen flotten Dilettantismus, in keck aufgeklecksten Farben, die ofters aussahen, als seien sie unmittelbar aus der Tube auf die Leinwand gedruckt, und die lange gebraucht haben mu?ten, bis sie getrocknet waren - bei groben Fehlern war es zuweilen wirksam.

Anschauend wie in einer Ausstellung gingen sie die Wande entlang, begleitet vom Hausherrn, der dann und wann ein Motiv bei Namen nannte, meistens aber schweigend, in der stolzen Beklommenheit des Kunstlers, es geno?, seine Augen zusammen mit denen Fremder auf seinen Werken ruhen zu lassen. Das Portrat Clawdia Chauchats hing im Wohnzimmer an der Fensterwand, - Hans Castorp hatte es schon beim Eintreten mit raschem Blicke erspaht, obgleich es nur eine entfernte Ahnlichkeit aufwies. Absichtlich mied er die Stelle, hielt seine Begleiter im E?zimmer fest, wo er einen grunen Blick ins Sergital mit blaulichen Gletschern im Hintergrunde zu bewundern vorgab, steuerte dann aus eigener Machtvollkommenheit zuerst ins turkische Kabinett hinuber, das er, Lob auf den Lippen, ebenfalls grundlich durchmusterte, und besichtigte dann die Eingangswand des Wohnzimmers, auch Joachim manchmal zur Beifallsau?erung auffordernd. Endlich wandte er sich um

und fragte mit Ma?en stutzend:

"Da ist doch ein bekanntes Gesicht?"

"Erkennen Sie sie?" wollte Behrens horen.

"Doch, da ist wohl eine Tauschung nicht moglich. Das ist die Dame vom Guten Russentisch, mit dem franzosischen Namen ..."

"Stimmt, die Chauchat. Freut mich, da? Sie sie ahnlich finden."

"Sprechend!" log Hans Castorp, weniger aus Falschheit, als in dem Bewu?tsein, da? er, wenn alles mit rechten Dingen zugegangen ware, das Modell gar nicht hatte erkennen durfen, - so wenig, wie Joachim es aus eigenen Kraften jemals erkannt hatte, der gute, uberlistete Joachim, dem nun freilich ein Licht aufging, daswahre Licht nach dem falschen, das Hans Castorp ihm vorher angezundet. "Ja so", sagte er leise und schickte sich darein, das Bild betrachten zu helfen. Sein Vetter hatte sich fur ihr Fernbleiben von der Verandageselligkeit schadlos zu halten gewu?t.

Es war ein Bruststuck in Halbprofil, etwas unter Lebensgro?e, dekolletiert, mit einer Schleierdraperie um Schultern und Busen, in einen breiten, schwarzen, nach innen abfallenden und am Rande der Leinwand mit einer Goldleiste verzierten Rahmen gefa?t. Frau Chauchat erschien da zehn Jahre alter, als sie war, wie das bei Dilettantenportrats, die charakteristisch sein wollen, zu gehen pflegt. Im ganzen Gesicht war zuviel Rot, die Nase war arg verzeichnet, die Haarfarbe nicht getroffen, zu strohig, der Mund verzerrt, der besondere Reiz der Physiognomie nicht gesehen oder nicht herausgebracht, durch Vergroberung seiner Ursachen verfehlt, das Ganze ein ziemlich pfuscherhaftes Produkt, als Bildnis seinem Gegenstande nur weitlaufig verwandt. Aber Hans Castorp nahm es mit der Ahnlichkeit nicht weiter genau, die Beziehungen dieser Leinwand zu Frau Chauchats Person waren ihm eng genug, das Bild sollte Frau Chauchat darstellen, sie selbst hatte in diesen Raumen dazu Modell gesessen, das genugte ihm, bewegt wiederholte er:

"Wie sie leibt und lebt!"

"Sagen Sie das nicht", wehrte der Hofrat ab. "Es war ein klotziges Stuck Arbeit, ich bilde mir nicht ein, so recht damit fertig geworden zu sein, obgleich wir wohl zwanzig Sitzungen gehabt haben, - wie wollen Sie denn fertig werden mit einer so vertrackten Visage. Man denkt, sie mu? leicht zu erwischen sein, mit ihren hyperboreischen Jochbeinen und den Augen, wie aufgesprungene Schnitte in Hefegeback. Ja, hat sich was.

Macht man die Einzelheit richtig, verpatzt man das Ganze. Das reine Vexierratsel. Kennen Sie sie? Moglicherweise sollte man sie nicht abmalen, sondern nach dem Gedachtnis arbeiten. Kennen Sie sie denn?"

"Ja, nein, oberflachlich, wie man hier die Leute so kennt ..."

"Na, ich kenne sie ja mehr inwendig, subkutan, verstehen Sie, uber arteriellen Blutdruck, Gewebsspannung und Lymphbewegung, da wei? ich bei ihr so ziemlich Bescheid - aus bestimmten Grunden. Das Oberflachliche bietet gro?ere Schwierigkeiten. Haben Sie sie schon manchmal gehen sehen? Wie sie geht, so ist ihr Gesicht. Eine Schleicherin. Nehmen Sie zum Exempel die Augen, - ich rede nicht von der Farbe, die auch ihre Tucken hat; ich meine den Sitz, den Schnitt. Die Lidspalte, sagen Sie, ist geschlitzt, schief. Das scheint Ihnen aber nur so. Was Sie tauscht, ist der Epikanthus, das hei?t eine Varietat, die bei gewissen Rassen vorkommt und darin besteht, da? ein Hautuberschu?, der von dem flachen Nasensattel dieser Leute herruhrt, von der Deckfalte des Lides uber den inneren Augenwinkel hinabreicht. Ziehen Sie die Haut uber der Nasenwurzel straff an, und Sie haben ein Augeganz wie von unsereinem. Eine pikante Mystifikation also, ubrigens nicht weiter ehrenvoll; denn bei Lichte besehen, lauft der Epikanthus auf eine atavistische Hemmungsbildung hinaus."

"So verhalt sich das also", sagte Hans Castorp. "Ich wu?te es nicht, aber es interessiert mich schon langst, was es mit solchen Augen auf sich hat."

"Vexation, Tauschung", bekraftigte der Hofrat. "Zeichnen Sie sie einfach schief und geschlitzt, so sind Sie verloren. Sie mussen die Schiefheit und Geschlitztheit zuwege bringen, wie die Natur sie zuwege bringt, Illusion in der Illusion treiben, sozusagen, und dazu ist naturlich notig, da? Sie uber den Epikanthus Bescheid wissen. Wissen kann uberhaupt nicht schaden. Sehen Sie sich die Haut an, die Korperhaut hier. Ist das anschaulich, oder ist es nicht so besonders anschaulich Ihrer Meinung nach?"

"Enorm," sagte Hans Castorp, "enorm anschaulich ist sie gemalt, die Haut. Ich glaube, ahnlich gut gemalte ist mir nie vorgekommen. Man meint die Poren zu sehen." Und er fuhr leicht mit dem Handrande uber das Dekollete des Bildes, das sehr wei? gegen die ubertriebene Rotung des Gesichtes abstach, wie ein Korperteil, der gewohnlich dem Lichte nicht ausgesetzt ist, und so, absichtlich oder nicht, die Vorstellung des Entblo?tseins aufdringlich hervorrief, - ein jedenfalls ziemlich plumper

Effekt.

Trotzdem war Hans Castorps Lob berechtigt. Die matt schimmernde Wei?e dieser zarten, aber nicht mageren Buste, die sich in der blaulichen Schleierdraperie verlor, hatte viel Natur; sichtlich war sie mit Gefuhl gemalt, aber unbeschadet einer gewissen Su?igkeit, die davon ausging, hatte der Kunstler ihr eine Art von wissenschaftlicher Realitat und lebendiger Genauigkeit zu verleihen gewu?t. Er hatte sich des kornigen Charakters der Leinwand bedient, um ihn, namentlich in der Gegend der zart hervortretenden Schlusselbeine, durch die Olfarbe hindurch als naturliche Unebenheit der Hautoberflache wirken zu lassen. Ein Leberfleckchen links, wo die Brust sich zu teilen begann, war nicht au?er acht gelassen, und zwischen den Erhebungen glaubte man schwach-blauliches Geader durchscheinen zu sehen. Es war, als ginge unter dem Blick des Betrachters ein kaum merklicher Schauer von Sensitivitat uber diese Nacktheit, - gewagt zu sagen: man mochte sich einbilden, die Perspiration, den unsichtbaren Lebensdunst dieses Fleisches wahrzunehmen, so, als wurde man, wenn man etwa die Lippen darauf druckte, nicht den Geruch von Farbe und Firnis, sondern den des menschlichen Korpers verspuren. Wir geben mit alldem die Eindrucke Hans Castorps wieder: aber wenn er besonders bereit war, solche Eindrucke zu empfangen, so ist doch sachlich festzustellen, da? Frau Chauchats Dekollete das bei weitem bemerkenswerteste Stuck Malerei in diesen Zimmern war.

Hofrat Behrens schaukelte sich, die Hande in den Hosentaschen, auf Absatzen und Fu?ballen, wahrend er seine Arbeit zugleich mit den Besuchern betrachtete.

"Freut mich, Herr Kollege," sagte er, "freut mich, da? es Ihnen einleuchtet. Es isteben gut und kann gar nicht schaden, wenn man auch unter der Epidermis ein bi?chen Bescheid wei? und mitmalen kann, was nicht zu sehen ist, - mit anderen Worten: wenn man zur Natur noch in einem andern Verhaltnis steht als blo? dem lyrischen, wollen wir mal sagen; wenn man zum Beispiel im Nebenamt Arzt ist, Physiolog, Anatom und von den Dessous auch noch so seine stillen Kenntnisse hat, - das kann von Vorteil sein, sagen Sie, was Sie wollen, es gibt entschieden ein Pra. Die Korperpelle da hat Wissenschaft, die konnen Sie mit dem Mikroskop auf ihre organische Richtigkeit untersuchen. Da sehen Sie nicht blo? die Schleim- und Hornschichten der Oberhaut, sondern darunter ist das Lederhautgewebe gedacht mit seinen Salbendrusen und

Schwei?drusen und Blutgefa?en und Warzchen, - und darunter wieder die Fetthaut, die Polsterung, wissen Sie, die Unterlage, die mit ihren vielen Fettzellen die holdseligen weiblichen Formen zustande bringt. Was aber mitgewu?t und mitgedacht ist, das spricht auch mit. Es flie?t Ihnen in die Hand und tut seine Wirkung, ist nicht da und irgendwie doch da, und das gibt Anschaulichkeit."

Hans Castorp war Feuer und Flamme fur dies Gesprach, seine Stirn war gerotet, seine Augen eiferten, er wu?te nicht, was er zuerst erwidern sollte, denn er hatte vieles zu sagen. Erstens beabsichtigte er, das Bild von der beschatteten Fensterwand fort an einen gunstigeren Platz zu schaffen, zweitens wollte er unbedingt an des Hofrats Au?erungen uber die Natur der Haut anknupfen, die ihn dringlich interessierten, drittens aber einen eigenen allgemeinen und philosophischen Gedanken auszudrucken versuchen, der ihm ebenfalls hochlichst am Herzen lag. Wahrend er schon die Hande an das Portrat legte, um es abzuhangen, fing er hastig an:

"Jawohl, jawohl! Sehr gut, das ist wichtig. Ich mochte sagen ... Das hei?t, Herr Hofrat sagten: 'Noch in einem anderen Verhaltnis.' Es ware gut, wenn au?er dem lyrischen - so, glaube ich, sagten Sie -, dem kunstlerischen Verhaltnis noch ein anderes vorhanden ware, wenn man die Dinge, kurz gesagt, noch unter einem anderen Gesichtswinkel auffa?te, zum Beispiel dem medizinischen. Das ist kolossal zutreffend - entschuldigen Herr Hofrat -, ich meine, es ist darum so hervorragend richtig, weil es sich da eigentlich gar nicht um grundverschiedene Verhaltnisse und Gesichtswinkel handelt, sondern genau genommen immer um ein und denselben - blo? um Spielarten davon, ich meine: Schattierungen, ich meine also: Variationen von ein und demselben allgemeinen Interesse, von dem auch die kunstlerische Beschaftigung blo? ein Teil und ein Ausdruck ist, wenn ich so sagen darf. Ja, entschuldigen Sie, ich hange das Bild ab, es hat ja hier absolut kein Licht, Sie werden sehen, ich trage es mal eben zum Sofa hinuber, ob es dennda nicht doch ganz anders ... Ich wollte sagen: Womit beschaftigt sich die medizinische Wissenschaft? Ich verstehe ja naturlich nichts davon, aber sie beschaftigt sich doch mit dem Menschen. Und die Juristerei, die Gesetzgebung und Rechtsprechung? Auch mit dem Menschen. Und die Sprachforschung, mit der ja meistenteils die Ausubung des padagogischen Berufs verbunden ist? Und die Theologie, die Seelsorge, das geistliche Hirtenamt? Alle mit dem Menschen, es sind

alles blo? Abschattierungen von ein und demselben wichtigen und ... hauptsachlichen Interesse, namlich dem Interesse am Menschen, es sind die humanistischen Berufe, mit einem Wort, und wenn man sie studieren will, so lernt man als Grundlage vor allem einmal die alten Sprachen, nicht wahr, der formalen Bildung halber, wie man sagt. Sie wundern sich vielleicht, da? ich so davon rede, ich bin ja blo? Realist, Techniker. Aber ich habe noch neulich im Liegen daruber nachgedacht: es ist doch ausgezeichnet, eine ausgezeichnete Einrichtung in der Welt, da? man jeder Art von humanistischem Beruf das Formale, die Idee der Form, der schonen Form, wissen Sie, zugrunde legt, - das bringt so etwas Nobles und Uberflussiges in die Sache und au?erdem so etwas von Gefuhl und ... Hoflichkeit, - das Interesse wird dadurch beinahe schon zu etwas wie einem galanten Anliegen ... Das hei?t, ich drucke mich hochstwahrscheinlich unpassend aus, aber man sieht da, wie das Geistige und das Schone sich vermischen und eigentlich immer schon eines waren, mit anderen Worten: die Wissenschaft und die Kunst, und da? also die kunstlerische Beschaftigung unbedingt auch dazu gehort, als funfte Fakultat gewisserma?en, da? sie auch gar nichts anderes ist, als ein humanistischer Beruf, eine Abschattierung des humanistischen Interesses, insofern ihr wichtigstes Thema oder Anliegen doch auch wieder der Mensch ist, das werden Sie mir zugeben. Ich habe ja blo? Schiffe und Wasser gemalt, wenn ich mich in meiner Jugend mal in dieser Richtung versuchte, aber das Anziehendste in der Malerei ist und bleibt in meinen Augen doch das Portrat, weil es unmittelbar den Menschen zum Gegenstand hat, darum fragte ich gleich, ob Herr Hofrat sich auch auf diesem Gebiet betatigten ... Wurde es hier nun nicht doch ganz erheblich gunstiger hangen?"

Beide, Behrens sowohl wie Joachim, sahen ihn an, ob er sich dessen nicht schame, was er da aus dem Stegreif zusammengeredet. Aber Hans Castorp war viel zu sehr bei der Sache, um verlegen zu werden. Er hielt das Bild an die Sofawand und verlangte Antwort, ob es da nicht bedeutend besser belichtet sei. Gleichzeitig brachte das Dienstmadchen auf einem Brett hei?es Wasser, einen Spirituskocher und Kaffeeta?chen. Der Hofrat wies sie ins Kabinett und sagte:

"Dann mu?ten Sie sich aber eigentlich nicht so sehr fur Malerei interessieren,als in erster Linie fur Skulptur ... Doch, da hat es naturlich mehr Licht. Wenn Sie meinen, da? es soviel davon vertragt ... Fur Plastik, meine ich, weil die es doch am reinsten und ausschlie?lichsten mit dem

Menschen im allgemeinen zu tun hat. Da? uns aber das Wasser nicht wegkocht."

"Sehr wahr, die Plastik", sagte Hans Castorp, wahrend sie hinubergingen, und verga?, das Bild wieder aufzuhangen oder abzustellen: er nahm es mit, trug es bei Fu? ins ansto?ende Zimmer. "Sicher, so eine griechische Venus oder so ein Athlet, da zeigt sich das Humanistische zweifellos am deutlichsten, es ist wohl im Grunde das Wahre, die eigentlich humanistische Art von Kunst, wenn man es sich uberlegt."

"Na, was die kleine Chauchat betrifft," bemerkte der Hofrat, "so ist das wohl jedenfalls mehr ein Gegenstand fur die Malerei, ich glaube, Phidias oder der andere mit der mosaischen Namensendung, die hatten die Nase gerumpft uber ihre Art von Physiognomie ... Was machen Sie denn, was schleppen Sie sich denn mit dem Schinken?"

"Danke, ich stelle es erst mal hier an mein Stuhlbein, da steht es ja fur den Augenblick ganz gut. Die griechischen Plastiker kummerten sich aber nicht viel um den Kopf, es kam ihnen auf den Korper an, das war vielleicht gerade das Humanistische ... Und die weibliche Plastik, das ist also Fett?"

"Das ist Fett!" sagte endgultig der Hofrat, der einen Wandschrank aufgeschlossen und ihm das Zubehor zur Kaffeebereitung entnommen hatte, eine rohrenformige turkische Muhle, den langgestielten Kochbecher, das Doppelgefa? fur Zucker und gemahlenen Kaffee, alles aus Messing. "Palmitin, Stearin, Olein", sagte er und schuttete Kaffeebohnen aus einer Blechbuchse in die Muhle, deren Kurbel er zu drehen begann. "Die Herren sehen, ich mache alles selbst, von Anfang an, es schmeckt noch mal so gut. - Was dachten Sie denn? Da? es Ambrosia ware?"

"Nein, ich wu?te es schon selber. Es ist nur merkwurdig, es so zu horen", sagte Hans Castorp.

Sie sa?en im Winkel zwischen Tur und Fenster, an einem Bambustaburett mit orientalisch ornamentierter Messingplatte, auf der das Kaffeegerat zwischen Rauchutensilien Platz gefunden hatte: Joachim neben Behrens auf der reichlich mit seidenen Kissen ausgestatteten Ottomane, Hans Castorp in einem Klubsessel auf Rollen, gegen den er Frau Chauchats Portrat gelehnt hatte. Ein bunter Teppich lag unter ihnen. Der Hofrat loffelte Kaffee und Zucker in den gestielten Becher, go? Wasser nach und lie? das Getrank uber der Spiritusflamme aufkochen. Es

schaumte braun in den Zwiebelta?chen und erwies sich beim Nippen als ebenso stark wie su?.

"Ihre ubrigens auch", sagte Behrens. "Ihre Plastik, soweit davon die Rede sein kann, ist naturlich auch Fett, wenn auch nicht in dem Grade wie bei den Weibern. Bei unsereinem machtdas Fett gewohnlich blo? den zwanzigsten Teil vom Korpergewicht aus, bei den Weibern den sechzehnten. Ohne das Unterhautzellgewebe, da waren wir alle blo? Morcheln. Mit den Jahren schwindet es ja, und dann gibt es den bekannten unasthetischen Faltenwurf. Am dicksten und fettesten ist es an der weiblichen Brust und am Bauch, an den Oberschenkeln, kurz, uberall, wo ein bi?chen was los ist fur Herz und Hand. Auch an den Fu?sohlen ist es fett und kitzlich."

Hans Castorp drehte die rohrenformige Kaffeemuhle zwischen den Handen. Sie war, wie die ganze Garnitur, wohl eher indischer oder persischer, als turkischer Herkunft: der Stil der in das Messing gearbeiteten Gravierungen, deren Flachen blank aus dem matt gehaltenen Grunde traten, deutete darauf hin. Hans Castorp betrachtete die Ornamentik, ohne gleich klug daraus werden zu konnen. Als er klug daraus geworden war, errotete er unversehens.

"Ja, das ist so ein Gerat fur alleinstehende Herren", sagte Behrens. "Darum halte ich es unter Verschlu?, wissen Sie. Meine Kuchenfee konnte sich die Augen daran verderben. Sie werden ja wohl weiter keinen Schaden davontragen. Ich habe es mal von einer Patientin geschenkt bekommen, einer agyptischen Prinzessin, die uns ein Jahrchen die Ehre schenkte. Sie sehen, das Muster wiederholt sich an jedem Stuck. Ulkig, was?"

"Ja, das ist merkwurdig", erwiderte Hans Castorp. "Ha nein, mir macht es naturlich nichts. Man kann es ja sogar ernst und feierlich nehmen, wenn man will, - obgleich es dann am Ende auf einer Kaffeegarnitur nicht ganz am Platz ist. Die Alten sollen ja so etwas gelegentlich auf ihren Sargen angebracht haben. Das Obszone und das Heilige war ihnen gewisserma?en ein und dasselbe."

"Na, was die Prinzessin betrifft," sagte Behrens, "die war nun, glaub ich, mehr fur das erstere. Sehr schone Zigaretten habe ich ubrigens auch noch von ihr, das ist was Extrafeines, wird nur bei erstklassigen Gelegenheiten aufgefahren." Und er holte die grellbunte Schachtel aus dem Wandschrank, um sie anzubieten. Joachim enthielt sich, indem er die Absatze zusammenzog. Hans Castorp griff zu und rauchte die

ungewohnlich gro?e und breite, mit einer Sphinx in Golddruck geschmuckte Zigarette an, die in der Tat wundervoll war.

"Erzahlen Sie uns doch noch etwas von der Haut," bat er, "wenn Sie so freundlich sein wollen, Herr Hofrat!" Er hatte Frau Chauchats Portrat wieder an sich genommen, hatte es auf sein Knie gestellt und betrachtete es, in den Stuhl zuruckgelehnt, die Zigarette zwischen den Lippen. "Nicht gerade von der Fetthaut, das wissen wir ja nun, was es damit auf sich hat. Aber von der menschlichen Haut im allgemeinen, die Sie so gut zu malen verstehn."

"Von der Haut? Interessieren Sie sich fur Physiologie?"

"Sehr! Ja, dafur habe ich mich schon immer im hochstenGrade interessiert. Der menschliche Korper, fur den habe ich immer hervorragend viel Sinn gehabt. Manchmal habe ich mich schon gefragt, ob ich nicht Arzt hatte werden sollen, - in gewisser Weise hatte das, glaube ich, nicht schlecht fur mich gepa?t. Denn wer sich fur den Korper interessiert, der interessiert sich ja auch fur die Krankheit, - namentlich sogar fur die, - tut er das nicht? Ubrigens hat es nicht viel zu sagen, ich hatte Verschiedenes werden konnen. Ich hatte zum Beispiel auch Geistlicher werden konnen."

"Nanu?"

"Ja, vorubergehend ist es mir schon manchmal so vorgekommen, als ob ich dabei eigentlich ganz in meinem Element gewesen ware."

"Warum sind Sie denn Ingenieur geworden?"

"Aus Zufall. Das waren wohl mehr oder weniger die au?eren Umstande, die darin den Ausschlag gaben."

"Na, von der Haut? Was soll ich Ihnen denn von Ihrem Sinnesblatt erzahlen. Das ist Ihr Au?enhirn, verstehen Sie, - ontogenetisch ganz desselben Ursprungs wie der Apparat fur die sogenannten hoheren Sinnesorgane da oben in Ihrem Schadel: das zentrale Nervensystem, mussen Sie wissen, ist blo? eine leichte Umbildung der au?eren Hautschicht, und bei den niederen Tieren, da gibts den Unterschied zwischen zentral und peripher uberhaupt noch nicht, die riechen und schmecken mit der Haut, mussen Sie sich vorstellen, die haben uberhaupt blo? Hautsinnlichkeit, - mu? ganz behaglich sein, wenn man sich so hineinversetzt. Dagegen bei so hoch differenzierten Lebewesen, wie Sie und ich, da beschrankt sich der Ehrgeiz der Haut auf die Kitzlichkeit, da ist sie blo? noch Schutz- und Meldeorgan, aber hollisch

auf dem Posten gegen alles, was dem Korper zu nahe treten will, - sie streckt ja sogar noch Tastapparate uber sich hinaus, die Haare namlich, die Korperharchen, die blo? aus verhornten Hautzellen bestehen und eine Annaherung schon spuren lassen, bevor die Haut selbst noch beruhrt ist. Unter uns gesagt, es ist sogar moglich, da? sich der Schutz- und Abwehrberuf der Haut nicht blo? aufs Korperliche erstreckt ... Wissen Sie, wie Sie rot und bla? werden?"

"Ungenau."

"Ja, ganz genau wissen wir es, offen gestanden, auch nicht, wenigstens was das Schamrotwerden betrifft. Die Sache ist nicht ganz aufgehellt, denn erweiternde Muskeln, die durch die vasomotorischen Nerven in Bewegung gesetzt werden konnten, haben sich bis dato an den Gefa?en nicht nachweisen lassen. Wieso dem Hahn eigentlich der Kamm schwillt - oder was sich sonst fur renommistische Beispiele anfuhren lie?en -, das ist sozusagen mysterios, besonders da es sich um psychische Einwirkung handelt. Wir nehmen an, da? Verbindungen zwischen der Gro?hirnrinde und dem Gefa?zentrum im Kopfmark bestehen. Und bei gewissen Reizen also, zum Exempel: Sie schamen sich machtig, da spielt diese Verbindung, und die Gefa?nerven nach dem Gesichte spielen, und dann dehnen und fullen diedortigen Blutgefa?e sich, da? Sie einen Kopf kriegen wie ein Puter, ganz hochgeschwollen von Blut sind Sie da und konnen nicht aus den Augen sehen. Dagegen in anderen Fallen, Gott wei?, was Ihnen bevorsteht, was ganz gefahrlich Schones moglicherweise, - da ziehen die Blutgefa?e der Haut sich zusammen, und die Haut wird bla? und kalt und fallt ein, und dann sehen Sie aus wie 'ne Leiche vor lauter Emotion, mit bleifarbenen Augenhohlen und einer wei?en, spitzen Nase. Aber das Herz la?t der Sympathikus ordentlich trommeln."

"So kommt das also", sagte Hans Castorp.

"So ungefahr. Das sind Reaktionen, wissen Sie. Da aber alle Reaktionen und Reflexe von Hause aus einen Zweck haben, so vermuten wir Physiologen beinah, da? auch diese Begleiterscheinungen psychischer Affekte eigentlich zweckma?ige Schutzmittel sind, Abwehrreflexe des Korpers, wie die Gansehaut. Wissen Sie, wie Sie eine Gansehaut kriegen?"

"Auch nicht so recht."

"Das ist namlich eine Veranstaltung der Hauttalgdrusen, die die Hautschmiere absondern, so ein eiwei?haltiges, fettiges Sekret, wissen

Sie, nicht gerade appetitlich, aber es halt die Haut geschmeidig, damit sie vor Durre nicht rei?t und springt und angenehm anzufassen ist, - es ist ja nicht auszudenken, wie die menschliche Haut anzufassen ware ohne die Cholesterinschmiere. Diese Hautsalbendrusen haben kleine organische Muskeln, die die Drusen aufrichten konnen, und wenn sie das tun, dann wird Ihnen wie dem Jungen, dem die Prinzessin den Eimer mit den Grundlingen uber den Leib go?, wie ein Reibeisen wird Ihre Haut, und wenn der Reiz stark ist, so richten auch die Haarbalge sich auf, - die Haare strauben sich Ihnen auf dem Kopf und die Harchen am Leibe, wie einem Stachelschwein, das sich wehrt, und Sie konnen sagen, Sie haben das Gruseln gelernt."

"Oh, ich", sagte Hans Castorp, "ich habe das schon manchmal gelernt. Mir gruselt es sogar ziemlich leicht, bei den verschiedensten Gelegenheiten. Was mich wundert, ist nur, da? die Drusen bei so verschiedenen Gelegenheiten sich aufrichten. Wenn einer mit einem Griffel uber Glas fahrt, so kriegt man eine Gansehaut, und bei besonders schoner Musik kriegt man auch plotzlich eine, und als ich bei meiner Konfirmation das Abendmahl nahm, da kriegte ich eine uber die andere, das Graupeln und Prickeln wollte gar nicht mehr aufhoren. Es ist doch sonderbar, wodurch nicht alles die kleinen Muskeln in Bewegung gesetzt werden."

"Ja," sagte Behrens, "Reiz ist Reiz. Der Inhalt des Reizes kummert den Korper den Teufel was. Ob Grundlinge oder Abendmahl, die Talgdrusen richten sich eben auf."

"Herr Hofrat," sagte Hans Castorp und betrachtete das Bild auf seinen Knien; "worauf ich noch zuruckkommen wollte. Sie sprachen vorhin von inneren Vorgangen, Lymphbewegung und dergleichen ... Was ist es damit? Ich wurde gern mehr davon horen, von der Lymphbewegung zum Beispiel, wennSie die Liebenswurdigkeit hatten, es interessiert mich sehr."

"Das will ich glauben", erwiderte Behrens. "Die Lymphe, das ist das Allerfeinste, Intimste und Zarteste in dem ganzen Korperbetrieb, - es schwebt Ihnen wohl vermutungsweise so vor, wenn Sie fragen. Man spricht immer vom Blut und seinen Mysterien und nennt es einen besonderen Saft. Aber die Lymphe, die ist ja erst der Saft des Saftes, die Essenz, wissen Sie, Blutmilch, eine ganz deliziose Tropfbarkeit, - nach Fettnahrung sieht sie ubrigens wirklich wie Milch aus." Und aufgeraumt und redensartlich begann er zu schildern, wie das Blut, diese

theatermantelrote, durch Atmung und Verdauung bereitete, mit Gasen gesattigte, mit Mauserschlacke beladene Fett-, Eiwei?-, Eisen-, Zucker- und Salzbruhe, die achtunddrei?ig Grad hei? von der Herzpumpe durch die Gefa?e gedruckt werde und uberall im Korper den Stoffwechsel, die tierische Warme, mit einem Worte das liebe Leben in Gang halte, - wie also das Blut nicht unmittelbar an die Zellen herankomme, sondern wie der Druck, unter dem es stehe, einen Extrakt und Milchsaft davon durch die Gefa?wande schwitzen lasse und ihn in die Gewebe presse, so da? er uberall hindringe, als Gewebsflussigkeit jedes Spaltchen fulle und das elastische Zellgewebe dehne und spanne. Das sei die Gewebsspannung, der Turgor, und wieder der Turgor seinerseits mache, da? die Lymphe, wenn sie die Zellen lieblich bespult und Stoff mit ihnen getauscht habe, in die Lymphgefa?e getrieben werde, die vasa lymphatica, und zuruck in das Blut flie?e, es seien taglich anderthalb Liter. Er beschrieb das Rohren- und Saugadersystem der Lymphgefa?e, redete von dem Brustmilchgang, der die Lymphe der Beine, des Bauches und der Brust, eines Armes und einer Kopfseite sammle, von zarten Filterorganen sodann, welche vielerorts in den Lymphgefa?en ausgebildet seien, Lymphdrusen genannt und gelegen am Halse, in der Achselhohle, den Ellbogengelenken, der Kniekehle und an ahnlich intimen und zartlichen Korperstellen. "Da konnen nun Schwellungen vorkommen," erklarte Behrens, "und davon gingen wir ja wohl aus, - Verdickungen der Lymphdrusen, sagen wir mal: in den Kniekehlen und den Armgelenken, wassersuchtahnliche Geschwulste da und dort, und das hat immer einen Grund, wenn auch nicht gerade einen schonen. Unter Umstanden wird einem der Verdacht der tuberkulosen Lymphgefa?verstopfung naher als nahgelegt."

Hans Castorp schwieg. "Ja," sagte er leise nach einer Pause, "es ist so, ich hatte gut Arzt werden konnen. Der Brustmilchgang ... Die Lymphe der Beine ... Das interessiert mich sehr. - Was ist der Korper!" rief er auf einmal sturmisch ausbrechend. "Was ist das Fleisch! Was ist der Leib des Menschen! Woraus besteht er! Sagen Sie uns das heute nachmittag, Herr Hofrat! Sagen Sie es uns ein fur allemal und genau, damit wir es wissen!"

"Aus Wasser", antwortete Behrens. "Fur organische Chemie interessieren Sie sich also auch?Das ist allergro?tenteils Wasser, woraus der humanistische Menschenleib besteht, nichts Besseres und nichts Schlechteres, es ist keine Ursache, heftig zu werden. Die

Trockensubstanz betragt blo? funfundzwanzig Prozent, und davon sind zwanzig Prozent gewohnliches Huhnereiwei?, Proteinstoffe, wenn Sie es ein bi?chen nobler ausdrucken wollen, denen eigentlich nur noch ein bi?chen Fett und Salz zugesetzt ist, das ist so gut wie alles."

"Aber das Huhnereiwei?. Was ist das?"

"Allerlei Elementares. Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Schwefel. Manchmal auch Phosphor. Sie entwickeln ja eine ausschweifende Wi?begier. Manche Eiwei?e sind auch mit Kohlehydraten verbunden, das hei?t mit Traubenzucker und Starke. Im Alter wird das Fleisch zah, das kommt, weil das Kollagen im Bindegewebe zunimmt, der Leim, wissen Sie, wichtigster Bestandteil der Knochen und Knorpel. Was soll ich Ihnen denn noch erzahlen? Da haben wir im Muskelplasma ein Eiwei?, das Myosinogen, das im Tode zu Muskelfibrin gerinnt und die Totenstarre erzeugt."

"Ja so, die Totenstarre", sagte Hans Castorp munter. "Sehr gut, sehr gut. Und dann kommt die Generalanalyse, die Anatomie des Grabes."

"Na, selbstredend. Das haben Sie ubrigens schon gesagt. Dann wird die Sache weitlaufig. Man flie?t auseinander, sozusagen. Bedenken Sie all das Wasser! Und die anderen Ingredienzien sind ohne Leben ja wenig haltbar, sie werden durch die Faulnis in simplere Verbindungen zerlegt, in anorganische."

"Faulnis, Verwesung," sagte Hans Castorp, "das ist doch Verbrennung, Verbindung mit Sauerstoff, soviel ich wei?."

"Auffallend richtig. Oxydation."

"Und Leben?"

"Auch. Auch, Jungling. Auch Oxydation. Leben ist hauptsachlich auch blo? Sauerstoffbrand des Zelleneiwei?, da kommt die schone tierische Warme her, von der man manchmal zu viel hat. Tja, Leben ist Sterben, da gibt es nicht viel zu beschonigen, - une destruction organique, wie irgendein Franzos es in seiner angeborenen Leichtfertigkeit mal genannt hat. Es riecht auch danach, das Leben. Wenn es uns anders vorkommt, so ist unser Urteil bestochen."

"Und wenn man sich fur das Leben interessiert," sagte Hans Castorp, "so interessiert man sich namentlich fur den Tod. Tut man das nicht?"

"Na, so eine Art von Unterschied bleibt da ja immerhin. Leben ist, da? im Wechsel der Materie die Form erhalten bleibt."

"Wozu die Form erhalten", sagte Hans Castorp.

"Wozu? Horen Sie mal, das ist aber kein bi?chen humanistisch, was Sie da sagen."

"Form ist ete-pe-tete."

"Sie haben entschieden was Unternehmendes heute. Formlich was Durchgangerisches. Aber ich falle nun ab", sagte der Hofrat. "Ich werde nun melancholisch", sagte er und legte seine riesige Hand uber die Augen. "Sehen Sie, das kommt so uber mich. Da habe ich nun Kaffee mit Ihnen getrunken, und es hat mir geschmeckt, und auf einmal kommt es uber mich, da? ich melancholisch werde. Die Herren mussen mich nun schon entschuldigen. Es war mir was Besonderes und hat mir allen moglichen Spa? gemacht ..."

Die Vetternwaren aufgesprungen. Sie machten sich Vorwurfe, sagten sie, den Herrn Hofrat so lange ... Er gab beruhigende Gegenversicherungen. Hans Castorp beeilte sich, Frau Chauchats Portrat ins Nebenzimmer zu tragen und wieder an seinen Platz zu hangen. Sie betraten den Garten nicht mehr, um in ihr Quartier zu gelangen. Behrens wies ihnen den Weg durch das Gebaude, indem er sie bis zur Verbindungsglastur geleitete. Sein Nacken schien starker als sonst herauszutreten in dem Gemutszustand, der plotzlich uber ihn gekommen war, er blinzelte mit seinen Quellaugen, und sein infolge der einseitigen Lippenschurzung schiefes Schnurrbartchen hatte einen klaglichen Ausdruck gewonnen.

Wahrend sie uber Korridore und Treppen gingen, sagte Hans Castorp:

"Gib zu, da? das eine gute Idee von mir war."

"Jedenfalls war es eine Abwechslung", erwiderte Joachim. "Und ausgesprochen habt ihr euch ja uber mancherlei Dinge bei dieser Gelegenheit, das mu? man sagen. Mir ging es sogar ein bi?chen zu sehr druber und drunter. Es ist nun hohe Zeit, da? wir vorm Tee doch wenigstens noch auf zwanzig Minuten in den Liegedienst kommen. Du findest es vielleicht ete-pe-tete von mir, da? ich so darauf halte, - durchgangerisch, wie du neuerdings bist. Aber du hast es ja schlie?lich auch nicht so notig wie ich."

Forschungen

So kam, was kommen mu?te, und was hier zu erleben Hans Castorp noch vor kurzem sich nicht hatte traumen lassen: der Winter fiel ein, der

hiesige Winter, den Joachim schon kannte, da der vorige noch in voller Herrschaft gewesen, als er hier eingetroffen war, vor dem aber Hans Castorp sich etwas furchtete, obgleich er sich ja bestens dafur gerustet wu?te. Sein Vetter suchte ihn zu beruhigen.

"Du mu?t es dir nicht allzu grimmig vorstellen," sagte er, "nicht gerade arktisch. Man spurt die Kalte wenig wegen der Lufttrockenheit und der Windstille. Wenn man sich gut verpackt, kann man bis tief in die Nacht auf dem Balkon bleiben, ohne zu frieren. Es ist die Geschichte mit der Temperaturumkehr oberhalb der Nebelgrenze, es wird warmer in hoheren Lagen, man hat das fruher nicht so gewu?t. Eher ist es schon kalt, wenn es regnet. Aber du hast ja nun deinen Liegesack, und geheizt wird auch ein bi?chen, wenn Not an den Mann kommt."

Ubrigens konnte von Uberrumpelung und Gewalttatigkeit nicht die Rede sein, der Winter kam gelinde, er sah vorderhand nicht sehr anders aus, als mancher Tag, den auch der Hochsommer schon mit sich gefuhrt hatte. Ein paar Tage lang hatte Sudwind geweht, die Sonne druckte, das Tal schien verkurzt und verengt, nahe und nuchtern lagen die Alpenkulissen des Ausgangs. Dann zogen Wolken auf, drangen vom Piz Michel und Tinzenhorn gegen Nordosten vor, und das Tal verdunkelte sich. Dann regnete es schwer. Dann wurde derRegen unrein, wei?lichgrau, Schnee hatte sich dareingemischt, es war schlie?lich nur noch Schnee, das Tal war angefullt mit Gestober, und da das reichlich lange so ging, auch die Temperatur unterdessen betrachtlich gefallen war, so konnte der Schnee nicht ganz wegschmelzen, er war na?, aber er blieb liegen, das Tal lag in dunnem, feuchtem, schadhaftem wei?en Gewand, gegen welches das Nadelrauh der Lehnen schwarz abstach; im Speisesaal erwarmten die Rohren sich laulich. Das war Anfang November, um Allerseelen, und es war nicht neu. Auch im August war es schon so gewesen, und langst hatte man sich entwohnt, den Schnee als ein Vorrecht des Winters zu betrachten. Stets und bei jeder Witterung, wenn auch nur von ferne, hatte man welchen vor Augen gehabt, denn immer schimmerten Reste und Spuren davon in den Spalten und Schrunden der felsigen Ratikonkette, die dem Taleingang vorzuliegen schien, und immer hatten die fernsten Bergmajestaten des Sudens im Schnee herubergegru?t. Aber beides hielt an, der Schneefall und der Warmeruckgang. Der Himmel hing bla?grau und niedrig uber dem Tal, loste sich in Flocken hin, die lautlos und unaufhorlich fielen, in ubertriebener und leicht beunruhigender Ausgiebigkeit, und stundlich

wurde es kalter. Es kam der Morgen, da Hans Castorp in seinem Zimmer sieben Grad hatte, und am folgenden waren es nur noch funf. Das war der Frost, und er hielt sich in Grenzen, aber er hielt sich. Es hatte bei Nacht gefroren, nun fror es auch am Tage, und zwar von morgens bis abends, wobei es weiterschneite, mit kurzen Unterbrechungen den vierten und funften, den siebenten Tag. Der Schnee sammelte sich nun machtig an, nachgerade wurde er zur Verlegenheit. Man hatte auf dem Dienstwege zur Bank am Wasserlauf, sowie auf dem Fahrweg hinab ins Tal, Gehbahnen geschaufelt; aber sie waren schmal, es gab kein Ausweichen darauf, bei Begegnungen mu?te man in den Schneedamm zur Seite treten und versank bis zum Knie. Eine Schneewalze aus Stein, von einem Pferde gezogen, das ein Mann am Halfter fuhrte, rollte den ganzen Tag uber die Stra?en des Kurortes drunten, und eine Schlittentram, gelb und von altfrankisch postkutschenhafter Gestalt, mit einem Schneepfluge vorn, der die wei?en Massen schaufelnd beiseite warf, verkehrte zwischen dem Kurhausviertel und dem "Dorf" genannten nordlichen Teil der Siedelung. Die Welt, die enge, hohe und abgeschiedene Welt Derer hier oben, erschien nun dick bepelzt und gepolstert, es war kein Pfeiler und Pfahl, der nicht eine wei?e Haube trug, die Treppenstufen zum Berghofportal verschwanden, verwandelten sich in eine schiefe Ebene, schwere, humoristisch geformte Kissen lasteten uberall auf den Zweigen der Kiefern, da und dort rutschte die Masse ab, zerstaubte und zog als Wolke und wei?er Nebel zwischen den Stammen dahin. Verschneit lagrings das Gebirge, rauh in den unteren Bezirken, weich zugedeckt die uber die Baumgrenze hinausragenden, verschieden gestalteten Gipfel. Es war dunkel, die Sonne stand nur als ein bleicher Schein hinter dem Geschleier. Aber der Schnee gab ein indirektes und mildes Licht, eine milchige Helligkeit, die Welt und Menschen gut kleidete, wenn auch die Nasen unter den wei?en oder farbigen Wollmutzen rot waren.

Im Speisesaal, an den sieben Tischen, beherrschte der Anbruch des Winters, der gro?en Jahreszeit dieser Gegenden, das Gesprach. Viele Touristen und Sportsleute, hie? es, seien eingetroffen und bevolkerten die Hotels von "Dorf" und "Platz". Man schatzte die Hohe des geworfenen Schnees auf sechzig Zentimeter, und seine Beschaffenheit sei ideal im Sinne des Skilaufers. An der Bobbahn, die druben am nordwestlichen Hange von der Schatzalp zu Tal fuhrte, werde eifrig gearbeitet, schon in den nachsten Tagen konne sie eroffnet werden, vorausgesetzt, da? nicht der Fohn einen Strich durch die Rechnung

mache. Man freute sich auf das Treiben der Gesunden, der Gaste von unten, das nun sich hier wieder entwickeln werde, auf die Sportsfeste und Rennen, denen man auch gegen Verbot beizuwohnen gedachte, indem man die Liegekur schwanzte und entwischte. Es gab etwas Neues, horte Hans Castorp, eine Erfindung aus Norden, das Skikjoring, ein Rennen, wobei sich die Teilnehmer auf Skiern stehend von Pferden ziehen lassen wurden. Dazu wollte man entwischen. - Auch von Weihnachten war die Rede.

Von Weihnachten! Nein, daran hatte Hans Castorp noch nicht gedacht. Er hatte leicht sagen und schreiben konnen, da? er kraft arztlichen Befundes mit Joachim den Winter hier werde zubringen mussen. Aber das schlo? ein, wie sich nun zeigte, da? er hier Weihnachten verleben sollte, und das hatte ohne Zweifel etwas Erschreckendes fur das Gemut, schon deshalb, aber nicht ganz allein deshalb, weil er diese Zeit uberhaupt noch niemals anderswo als in der Heimat, im Scho? der Familie, verlebt hatte. In Gottes Namen denn, das wollte nun in den Kauf genommen sein. Er war kein Kind mehr, Joachim schien auch weiter keinen Ansto? daran zu nehmen, sondern sich ohne Weinerlichkeit damit abzufinden, und wo nicht uberall und unter welchen Umstanden war in der Welt schon Weihnachten begangen worden!

Bei alldem schien es ihm etwas ubereilt, vor dem ersten Advent von Weihnachten zu reden; es waren ja noch reichlich sechs Wochen bis dahin. Diese aber ubersprang und verschlang man im Speisesaal, - ein inneres Verfahren, auf das Hans Castorp ja schon auf eigene Hand sich verstehen gelernt hatte, wenn er es auch noch nicht in so kuhnem Stile zu uben gewohnt war wie die alter eingesessenen Lebensgenossen. Solche Etappen im Jahreslauf, wie das Weihnachtsfest, schienen ihnen eben recht als Anhaltspunkte und Turngerate, woran sich uber leereZwischenzeiten behende hinwegvoltigieren lie?. Sie hatten alle Fieber, ihr Stoffumsatz war erhoht, ihr Korperleben verstarkt und beschleunigt, - es mochte am Ende wohl damit zusammenhangen, da? sie die Zeit so rasch und massenhaft durchtrieben. Er hatte sich nicht gewundert, wenn sie Weihnachten schon als zuruckgelegt betrachtet und gleich von Neujahr und Fastnacht gesprochen hatten. Aber so leichtlebig und ungesetzt war man mitnichten im Berghofspeisesaal. Bei Weihnachten machte man halt, es gab Anla? zu Sorgen und Kopfzerbrechen. Man beriet uber das gemeinsame Geschenk, das nach bestehender Anstaltsubung dem Chef, Hofrat Behrens, am heiligen

Abend uberreicht werden sollte, und fur das eine allgemeine Sammlung eingeleitet war. Voriges Jahr hatte man einen Reisekoffer geschenkt, wie diejenigen uberlieferten, die seit mehr als Jahresfrist hier waren. Man sprach fur diesmal von einem neuen Operationstisch, einer Malstaffelei, einem Gehpelz, einem Schaukelstuhl, einem elfenbeinernen und irgendwie "eingelegten" Horrohr, und Settembrini empfahl auf Befragen die Schenkung eines angeblich im Entstehen begriffenen lexikographischen Werkes, genannt "Soziologie der Leiden"; doch fiel ihm einzig ein Buchhandler bei, der seit kurzem am Tische der Kleefeld sa?. Einigung hatte sich noch nicht ergeben wollen. Die Verstandigung mit den russischen Gasten bot Schwierigkeiten. Die Sammlung spaltete sich. Die Moskowiter erklarten, Behrens auf eigene Hand beschenken zu wollen. Frau Stohr zeigte sich tagelang in gro?ter Unruhe wegen eines Geldbetrages, zehn Franken, die sie bei der Sammlung leichtsinnigerweise fur Frau Iltis ausgelegt hatte, und die diese ihr zuruckzuerstatten "verga?". Sie "verga?" es, - die Betonungen, mit denen Frau Stohr dies Wort versah, waren vielfach abgestuft und samtlich darauf berechnet, den tiefsten Unglauben an eine Verge?lichkeit zu bekunden, die allen Anspielungen und feinen Gedachtnisstachelungen, an denen es Frau Stohr, wie sie versicherte, nicht fehlen lie?, Trotz bieten zu wollen schien. Mehrfach verzichtete Frau Stohr und erklarte, der Iltis die schuldige Summe zu schenken. "Ich zahle also fur mich und fur sie," sagte sie; "gut, nicht mein ist die Schande!" Endlich aber war sie auf einen Ausweg verfallen, von dem sie der Tischgesellschaft zu allgemeiner Heiterkeit Mitteilung machte: sie hatte sich die zehn Franken auf der "Verwaltung" auszahlen und der Iltis in Rechnung stellen lassen, - womit die trage Schuldnerin denn uberlistet und wenigstens diese Sache ins gleiche gebracht war.

Es hatte zu schneien aufgehort. Teilweise offnete der Himmel sich; graublaue Wolken, die sich geschieden, lie?en Sonnenblicke einfallen, die die Landschaft blaulich farbten. Dann wurde es vollig heiter. Klarer Frost herrschte, reine, gesicherte Winterspracht um Mitte November, und das Panorama hinter den Bogen der Balkonloge, die bepuderten Walder, die weichgefullten Schlufte, das wei?e, sonnige Tal unter dem blaustrahlenden Himmel war herrlich. Abends gar, wenn der fast gerundete Mond erschien, verzauberte sich die Welt und ward wunderbar. Kristallisches Geflimmer, diamantnes Glitzern herrschte weitund breit. Sehr wei? und schwarz standen die Walder. Die dem Monde fernen Himmelsgegenden lagen dunkel, mit Sternen bestickt.

Scharfe, genaue und intensive Schatten, die wirklicher und bedeutender schienen als die Dinge selbst, fielen von den Hausern, den Baumen, den Telegraphenstangen auf die blitzende Flache. Es hatte sieben oder acht Grad Frost ein paar Stunden nach Sonnenuntergang. In eisige Reinheit schien die Welt gebannt, ihre naturliche Unsauberkeit zugedeckt und erstarrt im Traum eines phantastischen Todeszaubers.

Hans Castorp hielt sich bis spat in die Nacht in seiner Balkonloge uber dem verwunschenen Wintertal, weit langer als Joachim, der sich um zehn, oder doch nicht viel spater, zuruckzog. Sein vorzuglicher Liegestuhl mit dem dreiteiligen Polster und der Nackenrolle war nahe an das Holzgelander geruckt, auf dem ein Kissen von Schnee sich hinzog; auf dem wei?en Tischchen daneben brannte die elektrische Lampe und stand neben einem Stapel Bucher ein Glas fetter Milch, die Abendmilch, die allen Bewohnern des "Berghofs" noch um neun Uhr aufs Zimmer gebracht wurde, und in die Hans Castorp sich einen Schu? Kognak go?, um sie sich mundgerechter zu machen. Schon hatte er alle verfugbaren Schutzmittel gegen die Kalte aufgeboten, den ganzen Apparat. Bis uber die Brust stak er in dem knopfbaren Pelzsack, den er in einem einschlagigen Geschaft des Kurorts rechtzeitig erstanden, und hatte um diesen die beiden Kamelhaardecken nach dem Ritus geschlagen. Dazu trug er uber dem Winteranzug seine kurze Pelzjacke, auf dem Kopf eine wollene Mutze, Filzstiefel an den Fu?en und an den Handen dickgefutterte Handschuhe, die aber freilich das Erstarren der Finger nicht hindern konnten.

Was ihn so lange drau?en hielt, bis gegen und uber Mitternacht(wenn das schlechte Russenpaar die Nachbarloge langst verlassen hatte), war wohl auch der Zauber der Winternacht, zumal sich bis elf Uhr Musik darein wob, die von naher und ferner her aus dem Tale heraufdrang, - hauptsachlich aber Tragheit und Angeregtheit, beides zugleich und im Verein: namlich die Tragheit und bewegungsfeindliche Mudigkeit seines Korpers und die beschaftigte Angeregtheit seines Geistes, der uber gewissen neuen und fesselnden Studien, auf die der junge Mann sich eingelassen, nicht zur Ruhe kommen wollte. Die Witterung setzte ihm zu, der Frost wirkte anstrengend und konsumierend auf seinen Organismus. Er a? viel, nutzte die gewaltigen Berghofmahlzeiten, bei denen auf garniertes Roastbeef gebratene Ganse folgten, mit jenem ubergewohnlichen Appetit, der hier durchaus und im Winter, wie sich zeigte, noch mehr als im Sommer, an der Tagesordnung war. Gleichzeitig

beherrschte ihn Schlafsucht, so da? er bei Tage wie an den mondlichten Abenden uber den Buchern, die er walzte, und die wir kennzeichnen werden, oftmals einschlief, um nach einigen Minuten der Bewu?tlosigkeit seine Forschungen fortzusetzen. Lebhaftes Sprechen - und er neigte hier mehr alsehemals im Tiefland zu schnellem, ruckhaltlosem und selbst gewagtem Plaudern - lebhaftes Sprechen also mit Joachim wahrend ihrer Dienstgange im Schnee erschopfte ihn sehr; Schwindel und Zittern, ein Gefuhl von Betaubung und Trunkenheit kam ihn an, und sein Kopf stand in Hitze. Seine Kurve war angestiegen seit Einfall des Winters, und Hofrat Behrens hatte etwas von Injektionen fallen lassen, die er bei hartnackiger Ubertemperatur anzuwenden pflegte, und denen zwei Drittel der Gaste, auch Joachim, sich regelma?ig zu unterziehen hatten. Mit der gesteigerten Warmeerzeugung seines Korpers aber, dachte Hans Castorp, hatte gewi? die geistige Erregung und Ruhrigkeit zu tun, die ihn an ihrem Teil bis tief in die glitzernde Frostnacht auf seinem Liegestuhl festhielt. Die Lekture, die ihn fesselte, legte ihm solche Erklarungen nah.

Es wurde nicht wenig gelesen auf den Liegehallen und Privatbalkons des internationalen Sanatoriums "Berghof", - namentlich von Anfangern und Kurzfristigen; denn die Vielmonatigen oder gar Mehrjahrigen hatten langst gelernt, auch ohne Zerstreuung und Beschaftigung des Kopfes die Zeit zu vernichten und kraft inneren Virtuosentums hinter sich zu bringen, ja, sie erklarten es fur das Ungeschick von Stumpern, sich dabei an ein Buch zu klammern. Allenfalls moge man eines auf dem Scho? oder dem Beitischchen liegen haben, das genuge vollauf, sich versorgt zu fuhlen. Die Anstaltsbucherei, polyglott und an Bilderwerken reich, der erweiterte Unterhaltungsbestand eines zahnarztlichen Wartezimmers, bot sich der freien Benutzung an. Romanbande aus der Leihbibliothek von "Platz" wurden ausgetauscht. Dann und wann trat ein Buch, eine Schrift auf, um die man sich ri?, nach der auch die nicht mehr Lesenden mit nur erheucheltem Phlegma die Hande streckten. Zu dem Zeitpunkt, wo wir halten, ging ein schlecht gedrucktes Heft von Hand zu Hand, das Herr Albin eingefuhrt hatte und das "Die Kunst, zu verfuhren" betitelt war. Es war sehr wortlich aus dem Franzosischen ubersetzt, ja selbst die Syntax dieser Sprache war in der Ubertragung beibehalten, wodurch der Vortrag viel Haltung und prickelnde Eleganz gewann, und entwickelte die Philosophie der Leibesliebe und Wollust im Geist eines weltmannisch-lebensfreundlichen Heidentums. Frau Stohr hatte es bald gelesen und fand es "berauschend". Frau Magnus, dieselbe, die Eiwei? verlor,

pflichtete ihr ruckhaltlos bei. Ihr Gatte, der Bierbrauer, wollte fur seine Person bei der Lekture manches profitiert haben, bedauerte aber, da? Frau Magnus die Schrift in sich aufgenommen, denn dergleichen "verhatschele" die Frauen und bringe ihnen unbescheidene Begriffe bei. Diese Au?erung verstarkte die Begierde nach dem Buchwerk nicht wenig. Zwischen zwei im Oktober zugereisten Damen der unteren Liegehalle, Frau Redisch, der Gattin eines polnischen Industriellen und einer gewissen Witwe Hessenfeld aus Berlin, von denen jede behauptete, sie habe sich vor der anderen zur Lekture gemeldet, kam es nach dem Diner zu einer mehr als unerquicklichen, eigentlich gewalttatigenSzene, der Hans Castorp in seiner Balkonloge zuzuhoren hatte, und die mit einem hysterischen Schreikrampf einer der beiden Damen - es konnte die Redisch, konnte aber auch die Hessenfeld sein - und der Verbringung der Wuterkrankten auf ihr Zimmer endigte. Die Jugend hatte sich des Traktates fruher bemachtigt als die reiferen Jahrgange. Sie studierte es teilweise gemeinsam nach dem Souper auf verschiedenen Zimmern. Hans Castorp sah, wie der Junge mit dem Fingernagel es im Speisesaal einer jungen, frisch eingetroffenen Leichtkranken, Franzchen Oberdank, einhandigte, einem blond gescheitelten Haustochterchen, das erst kurzlich von seiner Mutter heraufgebracht worden war.

Vielleicht gab es Ausnahmen, vielleicht solche, die die Stunden des Liegedienstes mit irgendeiner ernsten geistigen Beschaftigung, einem irgendwie forderlichen Studium erfullten, sei es auch nur, um dadurch eine Verbindung mit dem Leben der Ebene zu bewahren oder der Zeit ein wenig Schwere und Tiefgang, damit sie nicht reine Zeit und sonst uberhaupt nichts sei, zu verleihen. Vielleicht war au?er Herrn Settembrini, mit seinen Bestrebungen, die Leiden auszumerzen, und dem ehrliebenden Joachim mit seinen russischen Ubungsbuchern, noch dieser und jener, der es so hielt, wenn nicht unter den Insassen des Speisesaals, was wirklich unwahrscheinlich war, so moglicherweise gerade unter den Bettlagrigen und Moribunden - Hans Castorp war geneigt, es zu glauben. Ihn selbst angehend, so hatte er sich seinerzeit, da Ocean steamships ihm nichts mehr zu sagen hatte, zusammen mit seinem Winterbedarf, auch einige in seinen Lebensberuf einschlagende Bucher, Ingenieur-Wissenschaftliches, Schiffsbautechnisches, von zuhause heraufkommen lassen. Diese Bande lagen aber vernachlassigt zugunsten anderer, einer ganz verschiedenen Sparte und Fakultat angehoriger Lehrwerke, zu deren Materie der junge Hans Castorp Lust

gefa?t. Es waren solche der Anatomie, Physiologie und Lebenskunde, abgefa?t in verschiedenen Sprachen, auf deutsch, franzosisch und englisch, und sie wurden ihm eines Tages vom Buchhandler des Ortes heraufgeschickt, offenbar, weil er sie bestellt hatte, und zwar auf eigene Hand, stillschweigend, gelegentlich eines Spazierganges, den er ohne Joachim(da dieser gerade zur Injektion oder zum Wiegen bestellt gewesen) nach "Platz" hinunter gemacht hatte. Joachim sah die Bucher mit Uberraschung in seines Vetters Handen. Sie waren teuer gewesen, wie wissenschaftliche Werke sind; die Preise standen noch an den Innenseiten der Deckel und auf den Umschlagen vermerkt. Er fragte, warum Hans Castorp sie sich nicht, wenn er dergleichen schon lesen wolle, vom Hofrat geliehen habe, der diese Literatur doch sicher in guter Auswahl besitze. Aber Hans Castorp erwiderte, er wolle sie selber besitzen, es sei ein ganz anderes Lesen, wenn das Buch einem gehore; auch liebe er es, mit dem Bleistift dareinzufahren und anzustreichen. Stundenlang horte Joachim in seines Vetters Loge das Gerausch, mit dem das Papiermesser die Blatter broschierter Bogen trennt.

Die Bande waren schwer, unhandlich; Hans Castorp stutzte sie im Liegen mit demunteren Rande gegen die Brust, den Magen. Es druckte, aber er nahm das in Kauf; halboffenen Mundes lie? er seine Augen uber die gelehrten Seiten hinuntersteigen, die fast unnotigerweise vom rotlichen Schein des beschirmten Lampchens erhellt waren, da sie notfalls im starken Mondlicht lesbar gewesen waren, - folgte mit dem Kopf, bis sein Kinn auf der Brust lag, eine Haltung, worin der Lesende, bevor er das Gesicht zur nachsten Seite hob, wohl nachdenkend, schlummernd oder im Halbschlummer nachdenkend etwas verweilte. Er forschte tief, er las, wahrend der Mond uber das kristallisch glitzernde Hochgebirgstal seinen gemessenen Weg ging, von der organisierten Materie, den Eigenschaften des Protoplasmas, der zwischen Aufbau und Zersetzung in sonderbarer Seinsschwebe sich erhaltenden empfindlichen Substanz und ihrer Gestaltbildung aus anfanglichen, doch immer gegenwartigen Grundformen, las mit dringlichem Anteil vom Leben und seinem heilig-unreinen Geheimnis.

Was war das Leben? Man wu?te es nicht. Es war sich seiner bewu?t, unzweifelhaft, sobald es Leben war, aber es wu?te nicht, was es sei. Bewu?tsein als Reizempfindlichkeit, unzweifelhaft, erwachte bis zu einem gewissen Grade schon auf den niedrigsten, ungebildetsten Stufen seines Vorkommens, es war unmoglich, das erste Auftreten bewu?ter Vorgange

an irgendeinen Punkt seiner allgemeinen oder individuellen Geschichte zu binden, Bewu?tsein etwa durch das Vorhandensein eines Nervensystems zu bedingen. Die niedersten Tierformen hatten kein Nervensystem, geschweige da? sie ein Gro?hirn gehabt hatten, doch wagte es niemand, ihnen die Fahigkeit der Empfindung von Reizen abzusprechen. Auch konnte man das Leben betauben, dieses selbst, nicht nur besondere Organe der Reizempfanglichkeit, die es etwa ausbildete, nicht nur die Nerven. Man konnte die Reizbarkeit jedes mit Leben begabten Stoffes im Pflanzen- wie im Tierreich vorubergehend aufheben, konnte Eier und Samenfaden mit Chloroform, Chloralhydrat oder Morphium narkotisieren. Bewu?tsein seinerselbst war also schlechthin eine Funktion der zum Leben geordneten Materie, und bei hoherer Verstarkung wandte die Funktion sich gegen ihren eigenen Trager, ward zum Trachten nach Ergrundung und Erklarung des Phanomens, das sie zeitigte, einem hoffnungsvoll-hoffnungslosen Trachten des Lebens nach Selbsterkenntnis, einem Sich-in-sich-Wuhlen der Natur, vergeblich am Ende, da Natur in Erkenntnis nicht aufgehen, Leben im Letzten sich nicht belauschen kann.

Was war das Leben? Niemand wu?te es. Niemand kannte den naturlichen Punkt, an dem es entsprang und sich entzundete. Nichts war unvermittelt oder nur schlecht vermittelt im Bereiche des Lebens von jenem Punkte an; aber das Leben selbst erschien unvermittelt. Wenn sich etwas daruber aussagen lie?, so war es dies: es musse von so hoch entwickelter Bauart sein, da? in der unbelebten Welt auch nicht entfernt seinesgleichen vorkomme. Zwischen der scheinfu?igen Amobe und dem Wirbeltier war der Abstand geringfugig, unwesentlich, im Vergleiche mit dem zwischen der einfachsten Erscheinung des Lebens und jener Natur, die nicht einmal verdiente, tot genannt zu werden, weilsie unorganisch war. Denn der Tod war nur die logische Verneinung des Lebens; zwischen Leben und unbelebter Natur aber klaffte ein Abgrund, den die Forschung vergebens zu uberbrucken strebte. Man muhte sich, ihn mit Theorien zu schlie?en, die er verschlang, ohne an Tiefe und Breite im geringsten dadurch einzubu?en. Man hatte sich, um ein Bindeglied zu finden, zu dem Widersinn der Annahme strukturloser Lebensmaterie, unorganisierter Organismen herbeigelassen, die in der Eiwei?losung von selbst zusammenschossen, wie der Kristall in der Mutterlauge, - wahrend doch organische Differenziertheit zugleich Vorbedingung und Au?erung alles Lebens blieb, und wahrend kein Lebewesen aufzuweisen war, das nicht einer Elternzeugung sein Dasein verdankt hatte. Das Ende des

Jubels, mit dem man den Urschleim aus den au?ersten Tiefen des Meeres gefischt hatte, war Beschamung gewesen. Es zeigte sich, da? man Gipsniederschlage fur Protoplasma gehalten. Um aber nicht vor einem Wunder haltmachen zu mussen - denn das Leben, das aus denselben Stoffen sich aufbaute und in dieselben Stoffe zerfiel wie die unorganische Natur, ware, unvermittelt, ein Wunder gewesen -, war man trotzdem genotigt, an Urzeugung, das hie? an die Entstehung des Organischen aus dem Unorganischen, zu glauben, die ubrigens ebenfalls ein Wunder war. So fuhr man fort, Zwischenstufen und Ubergange zu ersinnen, das Dasein von Organismen anzunehmen, die niedriger standen, als alle bekannten, ihrerseits aber noch ursprunglichere Lebensversuche der Natur zu Vorlaufern hatten, Probien, die niemand je sehen wurde, da sie sich unter aller mikroskopischen Gro?e hielten, und vor deren gedachter Entstehung die Synthese von Eiwei?verbindungen sich vollzogen haben mu?te ...

Was war also das Leben? Es war Warme, das Warmeprodukt formerhaltender Bestandlosigkeit, ein Fieber der Materie, von welchem der Proze? unaufhorlicher Zersetzung und Wiederherstellung unhaltbar verwickelt, unhaltbar kunstreich aufgebauter Eiwei?molekel begleitet war. Es war das Sein des eigentlich Nicht-sein-Konnenden, des nur in diesem verschrankten und fiebrigen Proze? von Zerfall und Erneuerung mit su?-schmerzlich-genauer Not auf dem Punkte des Seins Balancierenden. Es war nicht materiell, und es war nicht Geist. Es war etwas zwischen beidem, ein Phanomen, getragen von Materie, gleich dem Regenbogen auf dem Wasserfall und gleich der Flamme. Aber wiewohl nicht materiell, war es sinnlich bis zur Lust und zum Ekel, die Schamlosigkeit der selbstempfindlich-reizbar gewordenen Materie, die unzuchtige Form des Seins. Es war ein heimlich-fuhlsames Sichregen in der keuschen Kalte des Alls, eine wollustig-verstohlene Unsauberkeit von Nahrsaugung und Ausscheidung, ein exkretorischer Atemhauch von Kohlensaure und ublen Stoffen verborgener Herkunft und Beschaffenheit. Es war das durch Uberausgleich seiner Unbestandigkeit ermoglichte und in eingeborene Bildungsgesetze gebannte Wuchern, Sichentfalten und Gestaltbilden von etwas Gedunsenem aus Wasser, Eiwei?, Salz und Fetten, welches man Fleisch nannte, und das zur Form, zum hohen Bilde, zur Schonheit wurde, dabei jedoch der Inbegriff der Sinnlichkeit und der Begierde war. Denndiese Form und Schonheit war nicht geistgetragen, wie in den Werken der Dichtung und Musik, auch nicht getragen von einem neutralen und geistverzehrten, den Geist auf

eine unschuldige Art versinnlichenden Stoff, wie die Form und Schonheit der Bildwerke. Vielmehr war sie getragen und ausgebildet von der auf unbekannte Art zur Wollust erwachten Substanz, der organischen, verwesend-wesenden Materie selbst, dem riechenden Fleische ...

Dem jungen Hans Castorp, der uber dem glitzernden Tal in seiner von Pelz und Wolle gesparten Korperwarme ruhte, zeigte sich in der vom Scheine des toten Gestirnes erhellten Frostnacht das Bild des Lebens. Es schwebte ihm vor, irgendwo im Raume, entruckt und doch sinnennah, der Leib, der Korper, matt wei?lich, ausduftend, dampfend, klebrig, die Haut, in aller Unreinigkeit und Makelhaftigkeit ihrer Natur, mit Flecken, Papillen, Gilbungen, Rissen und kornig-schuppigen Gegenden, uberzogen von den zarten Stromen und Wirbeln des rudimentaren Lanugoflaums. Es lehnte, abgesondert von der Kalte des Unbelebten, in seiner Dunstsphare, lassig, das Haupt gekranzt mit etwas Kuhlem, Hornigem, Pigmentiertem, das ein Produkt seiner Haut war, die Hande im Nacken verschrankt, und blickte unter gesenkten Lidern hervor, aus Augen, die eine Varietat der Lidhautbildung schief erscheinen lie?, mit halb geoffneten, ein wenig aufgeworfenen Lippen dem Anschauenden entgegen, gestutzt auf das eine Bein, so da? der tragende Huftknochen in seinem Fleische stark hervortrat, wahrend das Knie des schlaffen Beins, leicht abgebogen, bei auf die Zehen gestelltem Fu? sich gegen die Innenseite des belasteten schmiegte. Es stand so, lachelnd gedreht, in seiner Anmut lehnend, die schimmernden Ellbogen vorwarts gespreizt, in der paarigen Symmetrie seines Gliederbaus, seiner Leibesmale. Dem scharf dunstenden Dunkel der Achselhohlen entsprach in mystischem Dreieck die Nacht des Scho?es, wie den Augen die rot-epithelische Mundoffnung, den roten Bluten der Brust der senkrecht in die Lange gedehnte Nabel entsprach. Unter dem Antriebe eines Zentralorgans und im Ruckenmark entspringender motorischer Nerven regten sich Bauch und Brustkorb, die Pleuroperitonealhohle blahte sich und zog sich zusammen, der Atemhauch, erwarmt und befeuchtet von den Schleimhauten des Atmungskanals, mit Ausscheidungsstoffen gesattigt, stromte zwischen den Lippen aus, nachdem er in den Luftzellen der Lunge seinen Sauerstoff an das Hamoglobin des Blutes zur inneren Atmung gebunden. Denn Hans Castorp verstand, da? dieser Lebenskorper in dem geheimnisvollen Gleichma? seines blutgenahrten, von Nerven, Venen, Arterien, Haarfiltern durchzweigten, von Lymphe durchsickerten Gliederbaus, mit seinem inneren Gerust von

fettmarkgefullten Rohrenknochen, von Blatt-, Wirbel- und Wurzelknochen, die aus der ursprunglichen Stutzsubstanz, dem Gallertgewebe, mit Hilfe von Kalksalzen und Leim sich befestigt hatten, um ihn zu tragen; mit den Kapseln und schlupfrig geschmierten Hohlen, Bandern und Knorpeln seiner Gelenke, seinen mehr als zweihundert Muskeln, seinen zentralen, der Ernahrung, Atmung, Reizmeldung und Reizentsendung dienenden Organbildungen, seinen Schutzhauten, serosen Hohlen, absonderungsreichen Drusen, dem Rohren- und Spaltenwerk seiner verwickelten, durch Leibesoffnungenin die au?ere Natur mundenden Innenflache: da? dieses Ich eine Lebenseinheit von hoher Ordnung war, bei weitem nicht mehr von der Art jener einfachsten Wesen, die mit ihrer ganzen Korperoberflache atmeten, sich ernahrten und sogar dachten, sondern aufgebaut aus Myriaden solcher Kleinorganisationen, die von einer einzigen her ihren Ursprung genommen, sich durch immer wiederkehrende Teilung vervielfaltigt, sich zu verschiedenen Dienststellungen und Verbanden geordnet, gesondert, eigens ausgebildet und Formen hervorgetrieben hatten, die Bedingung und Wirkung ihres Wachstums waren.

Der Leib, der ihm vorschwebte, dies Einzelwesen und Lebens-Ich war also eine ungeheuere Vielheit atmender und sich ernahrender Individuen, welche, durch organische Einordnung und Sonderzweckgestaltung, des ichhaften Seins, der Freiheit und Lebensunmittelbarkeit in so hohem Grade verlustig gegangen, so sehr zu anatomischen Elementen geworden waren, da? die Verrichtung einiger sich einzig auf Reizempfindlichkeit gegen Licht, Schall, Beruhrung, Warme beschrankte, andere es nur noch verstanden, ihre Form durch Zusammenziehung zu verandern oder Verdauungssekrete zu erzeugen, wieder andere zum Schutz, zur Stutze, zur Beforderung der Safte oder zur Fortpflanzung einseitig ausgebildet und tuchtig waren. Es gab Lockerungen dieser zum hohen Ich vereinigten organischen Pluralitat, Falle, in denen die Vielzahl der Unterindividuen nur auf leichte und zweifelhafte Art zur hoheren Lebenseinheit zusammengefa?t war. Der Studierende grubelte uber der Erscheinung der Zellkolonien, er vernahm von Halborganismen, Algen, deren einzelne Zellen, nur in einen Mantel von Gallerte eingehullt, oft weit voneinander lagen, mehrzellige Bildungen immerhin, die aber, zur Rede gestellt, nicht zu sagen gewu?t hatten, ob sie als Siedelung einzelliger Individuen oder als Einheitswesen gewurdigt werden wollten und in ihrer Selbstaussage zwischen dem Ich und dem Wir wunderlich geschwankt haben wurden. Hier wies die Natur

einen Mittelstand auf zwischen der hochsozialen Vereinigung zahlloser Elementarindividuen zu Geweben und Organen einer ubergeordneten Ichheit - und der freien Einzelexistenz dieser Einfachheiten: der vielzellige Organismus war nur eine Erscheinungsform des zyklischen Prozesses, in dem das Leben sich abspielte, und der ein Kreislauf von Zeugung zu Zeugung war. Der Befruchtungsakt, das geschlechtliche Verschmelzen zweier Zellenleiber, stand am Anfange des Aufbaues jedes pluralischen Individuums, wie er am Anfange jeder Generationenreihe einzeln lebender Elementargeschopfe stand und zu sich selbst zuruckfuhrte. Denn dieser Akt war nachhaltig durch viele Geschlechter, die seiner nicht bedurften, um sich in immer wiederholter Teilung zu vermehren, bis ein Augenblick kam, wo die ungeschlechtlich entstandenen Nachkommen zur Erneuerung des Kopulationsgeschaftes sich wieder angehalten fanden, und der Kreis sich schlo?. So war der vielfache Lebensstaat, entsprungen aus der Kernverschmelzung zweier elterlicher Zellen, das Zusammenleben vieler ungeschlechtlich entstandener Generationen von Zellindividuen; sein Wachstum war ihre Vermehrung, und der Zeugungskreis schlo? sich, wenn Geschlechtszellen, zum Sonderzwecke der Fortpflanzung ausgebildete Elemente, sich in ihm hergestellt hatten und den Weg zu einer das Leben neu antreibenden Vermischung fanden.

Ein embryologisches Volumen in die Herzgrube gestutzt,verfolgte der junge Abenteurer die Entwicklung des Organismus von dem Augenblick an, wo der Samenfaden, einer von vielen und dieser zuerst, sich antreibend durch die peitschenden Bewegungen seines Hinterleibes, mit seiner Kopfspitze an die Gallerthulle des Eies stie? und sich in den Empfangnishugel einbohrte, den das Protoplasma der Eirinde seiner Annaherung entgegenwolbte. Keine Fratze und Farce war auszudenken, in der die Natur bei der Abwandlung dieses stehenden Herganges sich nicht ernstlich gefallen hatte. Es gab Tiere, bei denen das Mannchen im Darm des Weibchens schmarotzte. Es gab andere, bei denen der Arm des Erzeugers der Erzeugerin durch den Rachenschlund in das Innere griff, um seine Samereien dort niederzulegen, worauf er, abgebissen und ausgespien, allein auf seinen Fingern davonlief, zur Betorung der Wissenschaft, die ihn lange auf Griechisch-Latein als selbstandiges Lebewesen ansprechen zu mussen geglaubt hatte. Hans Castorp horte die Gelehrtenschulen der Ovisten und Animalculisten sich zanken, von denen die einen behauptet hatten, das Ei sei ein in sich vollendeter kleiner Frosch, Hund oder Mensch und der Samen nur der Erreger seines

Wachstums, wahrend die anderen im Samenfaden, der Kopf, Arme und Beine besa?, ein vorgebildetes Lebewesen sahen, dem das Ei nur als Nahrboden diente, - bis man ubereingekommen war, der Ei- und der Samenzelle, die aus ursprunglich ununterscheidbaren Fortpflanzungszellen entstanden waren, gleiche Verdienstlichkeit einzuraumen. Er sah den einzelligen Organismus des befruchteten Eies auf dem Wege, sich in einen vielzelligen umzuwandeln, indem es sich furchte und teilte, sah die Zellenleiber zur Schleimhautlamelle sich zusammenschmiegen, die Keimblase sich einstulpen und einen Becher und Hohlraum bilden, der das Geschaft der Nahrungsaufnahme und Verdauung begann. Das war die Darmlarve, das Urtier, die Gastrula, Grundform alles tierischen Lebens, Grundform der fleischgetragenen Schonheit. Ihre beiden Epithellagen, die au?ere und die innere, das Hautsinnesblatt und das Darmdrusenblatt, erwiesen sich als Primitivorgane, aus denen durch Ein- und Ausstulpungen die Drusen, die Gewebe, die Sinneswerkzeuge, die Korperfortsatze sich bildeten. Ein Streifen des au?eren Keimblattes verdickte sich, faltete sich zur Rinne, schlo? sich zum Nervenrohr und wurde zur Wirbelsaule, zum Gehirn. Und wie der fotale Schleim sich zu faserigem Bindegewebe, zu Knorpel befestigte, indem die Gallertzellen statt Mucin Leimsubstanz zu erzeugen begannen, sah er an gewissen Orten die Bindegewebszellen Kalksalze und Fette aus den umspulenden Saften an sich ziehen und verknochern. Der Embryo des Menschen kauerte in sich gebuckt, geschwanzt, von dem des Schweines durch nichts zu unterscheiden, mit ungeheurem Bauchstiel und stummelhaft formlosen Extremitaten, die Gesichtslarve auf den geblahten Wanst gebeugt, und sein Werden erschien einer Wissenschaft, deren Wahrheitsvorstellung unschmeichelhaft und duster war, als die fluchtige Wiederholung einer zoologischen Stammesgeschichte. Vorubergehend hatte er Kiementaschen wie ein Roche. Es schien erlaubt oder notwendig, aus den Entwicklungsstadien, die er durchlief, auf den wenig humanistischen Anblick zuschlie?en, den der vollendete Mensch in Urzeiten geboten hatte. Seine Haut war mit zuckenden Muskeln zur Abwehr der Insekten ausgestattet und dicht behaart, die Ausdehnung seiner Riechschleimhaut gewaltig, seine abstehenden, beweglichen, am Mienenspiel lebhaft beteiligten Ohren zum Schallfang geschickter gewesen als gegenwartig. Damals hatten seine Augen, von einem dritten, nickenden Lide geschutzt, seitlich am Kopfe gestanden, mit Ausnahme des dritten, dessen Rudiment die Zirbeldruse war, und das

die oberen Lufte zu uberwachen vermocht hatte. Dieser Mensch hatte au?erdem ein sehr langes Darmrohr, viele Mahlzahne und Schallsacke am Kehlkopf zum Brullen besessen und auch die mannlichen Geschlechtsdrusen im Innern des Bauchraumes getragen.

Die Anatomie enthautete und praparierte unserem Forscher die Gliedma?en des Menschenleibes, sie zeigte ihm ihre oberflachlichen und ihre tiefen, hinteren Muskeln, Sehnen und Bander: diejenigen der Schenkel, des Fu?es und namentlich der Arme, des Ober- und Unterarms, lehrte ihn die lateinischen Namen, mit denen die Medizin, diese Abschattung des humanistischen Geistes, sie nobler- und galanterweise benannt und unterschieden hatte, und lie? ihn vordringen bis zum Skelett, dessen Ausbildung ihm neue Gesichtspunkte lieferte, unter denen die Einheit alles Menschlichen, die Beschlossenheit aller Disziplinen darin sich betrachten lie?. Denn hier fand er sich aufs merkwurdigste an seinen eigentlichen - oder mu? man sagen: fruheren - Beruf, die wissenschaftliche Charge erinnert, als deren Zugehoriger er bei seiner Ankunft hier oben sich den Begegnenden(Herrn Dr. Krokowski, Herrn Settembrini) vorgestellt hatte. Um irgendetwas zu lernen - es war recht gleichgultig gewesen, was -, hatte er auf Hochschulen dies und das von Statik, von biegungsfahigen Stutzen, von Belastung und von der Konstruktion als einer vorteilhaften Bewirtschaftung des mechanischen Materials gelernt. Es ware wohl kindlich gewesen, zu meinen, da? die Ingenieurwissenschaften, die Regeln der Mechanik auf die organische Natur Anwendung gefunden hatten, aber ebensowenig konnte man sagen, da? sie davon abgeleitet worden seien. Sie fanden sich einfach darin wiederholt und bekraftigt. Das Prinzip des Hohlzylinders herrschte im Bau der langen Rohrenknochen dergestalt, da? mit dem genauen Minimum von solider Substanz den statischen Anspruchen Genuge geschah. Ein Korper, hatte Hans Castorp gelernt, der den Anforderungen gema?, die durch Zug und Druck an ihn gestellt werden sollen, nur aus Staben und Bandern eines mechanisch brauchbaren Materials zusammengesetzt wird, kann dieselbe Belastung ertragen wie ein massiver Korper des gleichen Stoffes. So auch lie? bei der Entstehung der Rohrenknochen sich verfolgen, wie, schritthaltend mit der Bildung kompakter Substanz an ihrer Oberflache, die inneren Teile, da sie mechanisch unnotig wurden, sich in Fettgewebe, das gelbe Mark, verwandelten. Der Oberschenkelknochen war ein Kran, bei dessen Konstruktion die organische Natur durch die Richtung, die sie den Knochenbalkchen gegeben, auf ein Haar die gleichen Zug- und

Druckkurven ausgefuhrt hatte, die Hans Castorp bei der graphischen Darstellung eines so in Anspruch genommenenGerates korrekterweise einzutragen gehabt hatte. Er sah es mit Wohlgefallen, denn er fand sich zum Femur, oder zur organischen Natur uberhaupt, nun schon in dreierlei Verhaltnis stehen: dem lyrischen, dem medizinischen und dem technischen, - so gro? war seine Angeregtheit; und diese drei Verhaltnisse, fand er, waren eines im Menschlichen, sie waren Abwandlungen eines und desselben dringlichen Anliegens, humanistische Fakultaten ...

Bei alldem blieben die Leistungen des Protoplasmas ganz unerklarlich, dem Leben schien es verwehrt, sich selbst zu begreifen. Die Mehrzahl der biochemischen Vorgange war nicht nur unbekannt, sondern es lag in ihrer Natur, sich der Einsicht zu entziehen. Man wu?te von dem Aufbau, der Zusammensetzung der Lebenseinheit, die man die "Zelle" nannte, fast nichts. Was half es, die Bestandteile des toten Muskels aufzuweisen? Der lebende lie? sich chemisch nicht untersuchen; schon jene Veranderungen, die die Totenstarre hervorrief, genugten, um alles Experimentieren nichtssagend zu machen. Niemand verstand den Stoffwechsel, niemand das Wesen der Nervenfunktion. Welchen Eigenschaften verdankten die schmeckenden Korper ihren Geschmack? Worin bestand die verschiedenartige Erregung gewisser Sinnesnerven durch die Riechstoffe? Worin die Riechbarkeit uberhaupt? Der spezifische Geruch der Tiere und Menschen beruhte auf der Verdunstung von Substanzen, die niemand zu nennen gewu?t hatte. Die Zusammensetzung des Sekrets, das man Schwei? nannte, war wenig geklart. Die Drusen, die es absonderten, erzeugten Aromata, die unter Saugetieren zweifellos eine wichtige Rolle spielten, und uber deren Bedeutung beim Menschen man nicht unterrichtet zu sein erklarte. Die physiologische Bedeutung offenbar wichtiger Teile des Korpers war in Dunkel gehullt. Man konnte den Blinddarm beiseite lassen, der ein Mysterium war, und den man beim Kaninchen regelma?ig mit einem breiigen Inhalt angefullt fand, von dem nicht zu sagen war, wie er wieder hinausgelangen oder sich erneuern mochte. Aber was hatte es auf sich mit der wei?en und grauen Substanz des Kopfmarks, was mit dem Sehhugel, der mit dem Optikus kommunizierte, und mit den grauen Einlagerungen der "Brucke"? Die Hirn- und Ruckenmarksubstanz war derma?en zersetzlich, da? keine Hoffnung bestand, je ihren Aufbau zu ergrunden. Was enthob beim Einschlafen die Gro?hirnrinde ihrer Tatigkeit? Was hinderte die Selbstverdauung des Magens, die sich bei

Leichen in der Tat zuweilen ereignete? Man antwortete: das Leben; eine besondere Widerstandskraft des lebenden Protoplasmas, - und tat, als bemerke man nicht, da? das eine mystische Erklarung war. Die Theorie einer so alltaglichen Erscheinung wie des Fiebers war widerspruchsvoll. Der gesteigerte Stoffumsatz hatte erhohte Warmeproduktion zur Folge. Aber warum steigerte sich nicht, wie sonst, kompensatorisch die Warmeausgabe? Beruhte die Lahmung der Schwei?sekretion auf Kontraktionszustanden der Haut? Aber nur bei Fieberfrost waren solche nachweisbar, denn sonst war die Haut vielmehr hei?. Der "Warmestich" kennzeichnete das Zentralnervensystem als Sitz der Ursachen fur den erhohten Umsatz wie fur eine Hautbeschaffenheit, die man abnormzu nennen sich begnugte, da man sie nicht zu bestimmen wu?te.

Aber was bedeutete all dieses Unwissen im Vergleich mit der Ratlosigkeit, in der man vor Erscheinungen wie der des Gedachtnisses oder jenes weiteren und erstaunlicheren Gedachtnisses stand, das die Vererbung erworbener Eigenschaften hie?? Die Unmoglichkeit, auch nur die Ahnung einer mechanischen Erklarbarkeit solcher Leistungen der Zellsubstanz zu fassen, war vollkommen. Der Samenfaden, der zahllose und verwickelte Art- und Individualeigenschaften des Vaters auf das Ei ubertrug, war nur mikroskopisch sichtbar, und auch die starkste Vergro?erung reichte nicht hin, ihn anders denn als homogenen Korper erscheinen zu lassen und die Bestimmung seiner Abkunft zu ermoglichen; denn bei einem Tier sah er aus wie beim anderen. Das waren Organisationsverhaltnisse, die zu der Annahme zwangen, da? es sich mit der Zelle nicht anders verhielt als mit dem hoheren Leib, den sie aufbaute; da? also auch sie schon ein ubergeordneter Organismus war, der seinerseits und wiederum sich aus lebenden Teilungskorpern, individuellen Lebenseinheiten zusammensetzte. Man schritt also vom angeblich Kleinsten zum abermals Kleineren vor, man loste notgedrungen das Elementare in Unterelemente auf. Kein Zweifel, wie das Tierreich aus verschiedenen Spezies von Tieren, wie der tierisch-menschliche Organismus aus einem ganzen Tierreich von Zellenspezies, so bestand derjenige der Zelle aus einem neuen und vielfaltigen Tierreich elementarer Lebenseinheiten, deren Gro?e tief unter der Grenze des mikroskopisch Sichtbaren lag, die selbsttatig wuchsen, selbsttatig, nach dem Gesetz, da? jede nur ihresgleichen hervorbringen konnte, sich vermehrten und nach dem Grundsatz der Arbeitsteilung gemeinsam der nachsthoheren Lebensordnung dienten.

Das waren die Genen, die Bioblasten, die Biophoren, - Hans Castorp war erfreut, in der Frostnacht ihre namentliche Bekanntschaft zu machen. Nur fragte er sich in seiner Angeregtheit, wie es bei abermals verbesserter Beleuchtung um ihre Elementarnatur bestellt sein mochte. Da sie Leben trugen, mu?ten sie organisiert sein, denn Leben beruhte auf Organisation; wenn sie aber organisiert waren, so konnten sie nicht elementar sein, denn ein Organismus ist nicht elementar, er ist vielfach. Sie waren Lebenseinheiten unterhalb der Lebenseinheit der Zelle, die sie organisch aufbauten. Wenn dem aber so war, so mu?ten sie, obgleich uber alle Begriffe klein, selber "aufgebaut", und zwar organisch, als Lebensordnung, "aufgebaut" sein; denn der Begriff der Lebenseinheit war identisch mit dem des Aufbaues aus kleineren, untergeordneten, das hie?: zu hoherem Leben geordneten Lebenseinheiten. Solange die Teilung organische Einheiten ergab, die die Eigenschaften des Lebens, namlich die Fahigkeiten der Assimilation, des Wachstums und der Vermehrung besa?en, waren ihr keine Grenzen gesetzt. Solange von Lebenseinheiten die Rede war, konnte nur falschlich von Elementareinheiten die Rede sein, denn der Begriff der Einheit umschlo? ad infinitum den Mitbegriff der untergeordnet-aufbauenden Einheit, und elementares Leben, also etwas, was schon Leben, aber noch elementar war, gab es nicht.

Aber obschon ohne logischeExistenz, mu?te zuletzt dergleichen irgendwie wirklich sein, denn die Idee der Urzeugung, das hie?: der Entstehung des Lebens aus dem Nichtlebenden, war ja nicht von der Hand zu weisen, und jene Kluft, die man in der au?eren Natur vergebens zu schlie?en suchte, die namlich zwischen Leben und Leblosigkeit, mu?te sich im organischen Inneren der Natur auf irgendeine Weise ausfullen oder uberbrucken. Irgendwann mu?te die Teilung zu "Einheiten" fuhren, die, zwar zusammengesetzt, aber noch nicht organisiert, zwischen Leben und Nichtleben vermittelten, Molekulgruppen, den Ubergang bildend zwischen Lebensordnung und blo?er Chemie. Allein beim chemischen Molekul angekommen, fand man sich bereits in der Nahe eines Abgrundes, der weit mysterioser gahnte als der zwischen organischer und unorganischer Natur: nahe dem Abgrund zwischen dem Materiellen und dem Nichtmateriellen. Denn das Molekul setzte sich ja aus Atomen zusammen, und das Atom war bei weitem nicht mehr gro? genug, um auch nur als au?erordentlich klein bezeichnet werden zu konnen. Es war derma?en klein, eine derart winzige, fruhe und ubergangliche Ballung des Unstofflichen, des noch nicht Stofflichen, aber schon Stoffahnlichen,

der Energie, da? es kaum schon oder kaum noch als materiell, vielmehr als Mittel und Grenzpunkt zwischen dem Materiellen und dem Immateriellen gedacht werden mu?te. Das Problem einer anderen Urzeugung, weit ratselhafter und abenteuerlicher noch als die organische, warf sich auf: der Urzeugung des Stoffes aus dem Unstofflichen. In der Tat verlangte die Kluft zwischen Materie und Nichtmaterie ebenso dringlich, ja noch dringlicher nach Ausfullung als die zwischen organischer und anorganischer Natur. Notwendig mu?te es eine Chemie des Immateriellen geben, unstoffliche Verbindungen, aus denen das Stoffliche entsprang, wie die Organismen aus unorganischen Verbindungen entsprangen, und die Atome mochten die Probien und Moneren der Materie darstellen, - stofflich ihrer Natur nach und auch wieder noch nicht. Aber angelangt beim "nicht einmal mehr klein", entglitt der Ma?stab; "nicht einmal mehr klein", das galt bereits soviel wie "ungeheuer gro?"; und der Schritt zum Atom erwies sich ohne Ubertreibung als im hochsten Grade verhangnisvoll. Denn im Augenblick letzter Zerteilung und Verwinzigung des Materiellen tat sich plotzlich der astronomische Kosmos auf!

Das Atom war ein energiegeladenes kosmisches System, worin Weltkorper rotierend um ein sonnenhaftes Zentrum rasten, und durch dessen Atherraum mit Lichtjahrgeschwindigkeit Kometen fuhren, welche die Kraft des Zentralkorpers in ihre exzentrischen Bahnen zwang. Das war so wenig nur ein Vergleich, wie es nur ein solcher war, wenn man den Leib der vielzelligen Wesen einen "Zellenstaat" nannte. Die Stadt, der Staat, die nach dem Prinzip der Arbeitsteilung geordnete soziale Gemeinschaft war dem organischen Leben nicht nur zu vergleichen, sie wiederholte es. So wiederholte sich im Innersten der Natur, in weitester Spiegelung, die makrokosmische Sternenwelt, deren Schwarme, Haufen, Gruppen, Figuren, bleich vom Monde, zu Haupten des vermummten Adeptenuber dem frostglitzernden Tale schwebten. War es unerlaubt, zu denken, da? gewisse Planeten des atomischen Sonnensystems - dieser Heere und Milchstra?en von Sonnensystemen, die die Materie aufbauten, - da? also einer oder der andere dieser innerweltlichen Weltkorper sich in einem Zustande befand, der demjenigen entsprach, der die Erde zu einer Wohnstatte des Lebens machte? Fur einen im Zentrum etwas beschwipsten jungen Adepten von "abnormer" Hautbeschaffenheit, der im Gebiete des Unerlaubten ja nicht mehr all und jeder Erfahrung entbehrte, war das eine nicht nur nicht ungereimte, sondern sogar bis zur Aufdringlichkeit sich nahelegende, hochst einleuchtende Spekulation

von logischem Wahrheitsgeprage. Die "Kleinheit" der innerweltlichen Sternkorper ware ein sehr unsachgema?er Einwand gewesen, denn der Ma?stab von Gro? und Klein war spatestens damals abhanden gekommen, als der kosmische Charakter der "kleinsten" Stoffteile sich offenbart hatte, und die Begriffe des Au?en und Innen hatten nachgerade gleichfalls in ihrer Standfestigkeit gelitten. Die Welt des Atoms war ein Au?en, wie hochstwahrscheinlich der Erdenstern, den wir bewohnten, organisch betrachtet, ein tiefes Innen war. Hatte nicht die traumerische Kuhnheit eines Forschers von "Milchstra?entieren" gesprochen, - kosmischen Ungeheuern, deren Fleisch, Bein und Gehirn sich aus Sonnensystemen aufbaute? War dem aber so, wie Hans Castorp dachte, dann fing in dem Augenblick, da man geglaubt hatte, zu Rande gekommen zu sein, das Ganze von vorn an! Dann lag vielleicht im Innersten und Aberinnersten seiner Natur er selbst, der junge Hans Castorp, noch einmal, noch hundertmal, warm eingehullt, in einer Balkonloge mit Aussicht in die mondhelle Hochgebirgsfrostnacht und studierte mit erstarrten Fingern und hei?em Gesicht aus humanistisch-medizinischer Anteilnahme das Korperleben?

Die pathologische Anatomie, von der er einen Band seitlich in den roten Schein seines Tischlampchens hielt, belehrte ihn durch einen Text, der mit Abbildungen durchsetzt war, uber das Wesen der parasitischen Zellvereinigung und der Infektionsgeschwulste. Diese waren Gewebsformen - und zwar besonders uppige Gewebsformen -, hervorgerufen durch das Eindringen fremdartiger Zellen in einen Organismus, der sich fur sie aufnahmelustig erwiesen hatte und ihrem Gedeihen auf irgendeine Weise - aber man mu?te wohl sagen: auf eine irgendwie liederliche Weise - gunstige Bedingungen bot. Weniger, da? der Parasit dem umgebenden Gewebe Nahrung entzogen hatte; aber er erzeugte, indem er, wie jede Zelle, Stoff wechselte, organische Verbindungen, die sich fur die Zellen des Wirtsorganismus als erstaunlich giftig, als unweigerlich verderbenbringend erwiesen. Man hatte von einigen Mikroorganismen die Toxine zu isolieren und in konzentriertem Zustande darzustellen verstanden, und es verwunderlich gefunden, in welchen geringen Dosen diese Stoffe, die einfach in die Reihe der Eiwei?verbindungen gehorten, in den Kreislauf eines Tieres gebracht, die allergefahrlichsten Vergiftungserscheinungen, rei?ende Verderbnis bewirkten. Das au?ere Wesen dieser Korruption war Gewebswucherung, die pathologische Geschwulst, namlich als Reaktionswirkung der Zellen auf den Reiz, den die zwischen ihnen angesiedelten Bazillen auf

sieausubten. Hirsekorngro?e Knotchen bildeten sich, zusammengesetzt aus schleimhautgewebartigen Zellen, zwischen denen oder in denen die Bazillen nisteten, und von welchen einige au?erordentlich reich an Protoplasma, riesengro? und von vielen Kernen erfullt waren. Diese Lustbarkeit aber fuhrte gar bald zum Ruin, denn nun begannen die Kerne der Monstrezellen zu schrumpfen und zu zerfallen, ihr Protoplasma an Gerinnung zugrunde zu gehen; weitere Gewebsteile der Umgebung wurden von der fremden Reizwirkung ergriffen; entzundliche Vorgange griffen um sich und zogen die angrenzenden Gefa?e in Mitleidenschaft; wei?e Blutkorperchen wanderten, angelockt von der Unheilsstatte, herzu; das Gerinnungssterben schritt fort; und unterdessen hatten langst die loslichen Bakteriengifte die Nervenzentren berauscht, der Organismus stand in Hochtemperatur, mit wogendem Busen, sozusagen, taumelte er seiner Auflosung entgegen.

So weit die Pathologie, die Lehre von der Krankheit, der Schmerzbetonung des Korpers, die aber, als Betonung des Korperlichen, zugleich eine Lustbetonung war, - Krankheit war die unzuchtige Form des Lebens. Und das Leben fur sein Teil? War es vielleicht nur eine infektiose Erkrankung der Materie, - wie das, was man die Urzeugung der Materie nennen durfte, vielleicht nur Krankheit, eine Reizwucherung des Immateriellen war? Der anfanglichste Schritt zum Bosen, zur Lust und zum Tode war zweifellos da anzusetzen, wo, hervorgerufen durch den Kitzel einer unbekannten Infiltration, jene erste Dichtigkeitszunahme des Geistigen, jene pathologisch uppige Wucherung seines Gewebes sich vollzog, die, halb Vergnugen, halb Abwehr, die fruheste Vorstufe des Substanziellen, den Ubergang des Unstofflichen zum Stofflichen bildete. Das war der Sundenfall. Die zweite Urzeugung, die Geburt des Organischen aus dem Unorganischen, war nur noch eine schlimme Steigerung der Korperlichkeit zum Bewu?tsein, wie die Krankheit des Organismus eine rauschhafte Steigerung und ungesittete Uberbetonung seiner Korperlichkeit war -: nur noch ein Folgeschritt war das Leben auf dem Abenteuerpfade des unehrbar gewordenen Geistes, Schamwarmereflex der zur Fuhlsamkeit geweckten Materie, die fur den Erwecker aufnahmelustig gewesen war ...

Die Bucher lagen zuhauf auf dem Lampentischchen, eins lag am Boden, neben dem Liegestuhl, auf der Matte der Loggia, und dasjenige, worin Hans Castorp zuletzt geforscht, lag ihm auf dem Magen und druckte, beschwerte ihm sehr den Atem, doch ohne da? von seiner

Hirnrinde an die zustandigen Muskeln Order ergangen ware, es zu entfernen. Er hatte die Seite hinunter gelesen, sein Kinn hatte die Brust erreicht, die Lider waren ihm uber die einfachen blauen Augen gefallen. Er sah das Bild des Lebens, seinen bluhenden Gliederbau, die fleischgetragene Schonheit. Sie hatte die Hande aus dem Nacken gelost, und ihre Arme, die sie offnete, und an deren Innenseite, namentlich unter der zarten Haut des Ellbogengelenks, die Gefa?e, die beiden Aste der gro?en Venen, sich blaulich abzeichneten, - diese Arme waren von unaussprechlicher Su?igkeit. Sie neigte sich ihm, neigte sich zu ihm, uber ihn, er spurte ihrenorganischen Duft, spurte den Spitzensto? ihres Herzens. Hei?e Zartheit umschlang seinen Hals, und wahrend er, vergehend vor Lust und Grauen, seine Hande an ihre au?eren Oberarme legte, dorthin, wo die den triceps uberspannende, kornige Haut von wonniger Kuhle war, fuhlte er auf seinen Lippen die feuchte Ansaugung ihres Kusses.

Totentanz

Kurz nach Weihnachten starb der Herrenreiter ... Aber vorher spielte eben noch Weihnachten sich ab, diese beiden Festtage, oder, wenn man den Tag des heiligen Abends mitzahlte, diese drei, denen Hans Castorp mit einigem Schrecken und der kopfschuttelnden Erwartung entgegengesehen hatte, wie sie sich hier wohl ausnehmen wurden, und die dann, als naturliche Tage mit Morgen, Mittag, Abend und mittlerer Zufallswitterung(es taute etwas), auch nicht anders, als andere ihrer Gattung, heraufgekommen und verblichen waren: - au?erlich ein wenig geschmuckt und ausgezeichnet, hatten sie wahrend der ihnen zugemessenen Frist ihre Bewu?tseinsherrschaft in den Kopfen und Herzen der Menschen geubt und waren unter Zurucklassung eines Niederschlages unalltaglicher Eindrucke zu naher und fernerer Vergangenheit geworden ...

Der Sohn des Hofrates, Knut mit Namen, kam auf Ferienbesuch und wohnte bei seinem Vater im Seitenflugel, - ein hubscher, junger Mann, dem aber ebenfalls schon der Nacken etwas zu sehr heraustrat. Man spurte die Anwesenheit des jungen Behrens in der Atmosphare; die Damen legten Lachlust, Putzsucht und Reizbarkeit an den Tag, und in ihren Gesprachen handelte es sich um Begegnungen mit Knut im Garten, im Walde oder im Kurhausviertel. Ubrigens erhielt er selbst Besuch: eine

Anzahl seiner Universitatskameraden kam in das Tal herauf, sechs oder sieben Studenten, die im Orte wohnten, aber beim Hofrat die Mahlzeiten nahmen und, zum Trupp verbunden, mit ihrem Kommilitonen die Gegend durchstreiften. Hans Castorp mied sie. Er mied diese jungen Leute und wich ihnen mit Joachim aus, wenn es notig war, unlustig, ihnen zu begegnen. Den Zugehorigen Derer hier oben trennte eine Welt von diesen Sangern, Wanderern und Stockeschwingern, er wollte von ihnen nichts horen und wissen. Au?erdem schienen die meisten von ihnen aus dem Norden zu stammen, womoglich waren Landsleute darunter, und Hans Castorp fuhlte die gro?te Scheu vor Landsleuten, oft erwog er mit Widerwillen die Moglichkeit, da? irgendwelche Hamburger im "Berghof" eintreffen konnten, zumal Behrens gesagt hatte, diese Stadt stelle der Anstalt immer ein stattliches Kontingent. Vielleicht befanden sich welche unter den Schweren und Moribunden, die man nicht sah. Zu sehen war nur ein hohlwangiger Kaufmann, der seit ein paar Wochen am Tische der Iltis sa?, und der aus Cuxhaven sein sollte. Hans Castorp freute sich im Hinblick auf ihn, da? man mit Nicht-Tischgenossen hierorts so schwer in Beruhrung kam, und ferner daruber, da? sein Heimatsgebiet gro? und spharenreich war. Die gleichgultige Anwesenheit dieses Kaufmanns entkraftete in hohem Grade die Besorgnisse, dieer an das Vorkommen von Hamburgern hier oben geknupft hatte.

Der heilige Abend also naherte sich, stand eines Tages vor der Tur und hatte am nachsten Tage Gegenwart gewonnen ... Es waren noch reichlich sechs Wochen bis zu ihm gewesen, damals, als Hans Castorp sich gewundert hatte, da? man hier schon von Weihnachten sprach: so viel Zeit also noch, rechnerisch genommen, wie die ganze Dauer seines Aufenthalts nach ihrer ursprunglichen Veranschlagung, zusammen mit der Dauer seiner Bettlagrigkeit betragen hatte. Trotzdem war das damals eine gro?e Menge Zeit gewesen, namentlich die erste Halfte, wie es Hans Castorp nachtraglich schien, - wahrend die rechnerisch gleiche Menge jetzt sehr wenig bedeutete, beinahe nichts: die im Speisesaal, so fand er nun, hatten recht gehabt, sie so gering zu achten. Sechs Wochen, nicht einmal so viele also, wie die Woche Tage hatte: was war auch das in Anbetracht der weiteren Frage, was denn so eine Woche, so ein kleiner Rundlauf vom Montag zum Sonntag und wieder Montag war. Man brauchte nur immer nach Wert und Bedeutung der nachstkleineren Einheit zu fragen, um zu verstehen, da? bei der Summierung nicht viel herauskommen konnte, deren Wirkung uberdies und zugleich ja auch eine sehr starke Verkurzung, Verwischung, Schrumpfung und

Zernichtung war. Was war ein Tag, gerechnet etwa von dem Augenblick an, wo man sich zum Mittagessen setzte, bis zu dem Wiedereintritt dieses Augenblicks in vierundzwanzig Stunden? Nichts, - obgleich es doch vierundzwanzig Stunden waren. Was war denn aber auch eine Stunde, verbracht etwa in der Liegekur, auf einem Spaziergang oder beim Essen, - womit die Moglichkeiten, diese Einheit zu verbringen, so gut wie erschopft waren? Wiederum nichts. Aber die Summierung des Nichts war wenig ernst ihrer Natur nach. Am ernstesten wurde die Sache, wenn man ins Kleinste stieg: jene sieben mal sechzig Sekunden, wahrend derer man das Thermometer zwischen den Lippen hielt, um die Kurve fortfuhren zu konnen, waren uberaus zahlebig und gewichtig; sie weiteten sich zu einer kleinen Ewigkeit, bildeten Einlagerungen von hochster Soliditat in dem schattenhaften Huschen der gro?en Zeit ...

Das Fest vermochte die Lebensordnung der Berghofbewohner kaum zu storen. Eine wohlgewachsene Tanne war schon einige Tage zuvor an der rechten Schmalseite des Speisesaals, beim Schlechten Russentisch, aufgerichtet worden, und ihr Duft, der durch den Brodem der reichen Gange hindurch die Speisenden zuweilen beruhrte, rief etwas wie Nachdenklichkeit in den Augen einzelner Personen an den sieben Tischen hervor. Beim Abendessen des 24. Dezembers zeigte der Baum sich bunt geschmuckt mit Lametta, Glaskugeln, vergoldeten Tannenzapfen, kleinen Apfeln, die in Netzen hingen, und vielerlei Konfekt, und seine farbigen Wachskerzen brannten wahrend der Mahlzeit und nachher. Auch in den Zimmern der Bettlagrigen, hie? es, brannten Baumchen; jedes hatte das seine.Und die Paketpost war reich gewesen schon in den letzten Tagen. Auch Joachim Ziem?en und Hans Castorp hatten Sendungen aus der fernen und tiefen Heimat bekommen, sorglich verpackte Bescherungen, die sie in ihren Zimmern ausgebreitet hatten: sinnreiche Kleidungsstucke, Krawatten, Luxusgegenstande in Leder und Nickel, sowie viel Festgeback, Nusse, Apfel und Marzipan, - Vorrate, die die Vettern mit zweifelnden Blicken betrachteten, indem sie sich fragten, wann hier je der Augenblick kommen werde, davon zu genie?en. Schalleen hatte Hans Castorps Paket hergestellt, wie er wu?te, und auch, nach sachlicher Besprechung mit den Onkeln, die Geschenke besorgt. Ein Brief von James Tienappel lag bei, auf dickem Privatpapier, doch in Maschinenschrift. Der Onkel ubermittelte darin des Gro?onkels und seine eigenen Fest- und Genesungswunsche und fugte aus praktischen Grunden gleich die nachstens falligen Neujahrsgratulationen hinzu, wie

ubrigens auch Hans Castorp verfahren war, als er rechtzeitig seinen Weihnachtsbrief nebst klinischem Rapport an Konsul Tienappel liegend aufgesetzt hatte.

Der Baum im Speisesaal brannte, knisterte, duftete und hielt in den Kopfen und Herzen das Bewu?tsein der Stunde wach. Man hatte Toilette gemacht, die Herren trugen Gesellschaftsanzug, man sah an den Frauen Schmuckstucke, die ihnen von liebender Gattenhand aus den Landern der Ebene gekommen sein mochten. Auch Clawdia Chauchat hatte den ortsublichen Wollsweater gegen ein Salonkleid vertauscht, das aber einen Stich ins Willkurliche oder vielmehr ins Nationale hatte: es war ein helles, gesticktes Gurtelkostum von bauerlich-russischem, oder doch balkanischem, vielleicht bulgarischem Grundcharakter, mit kleinen Goldflittern besetzt, dessen Faltigkeit ihrer Erscheinung eine ungewohnt weiche Fulle verlieh und ausgezeichnet mit dem zusammenstimmte, was Settembrini ihre "tatarische Physiognomie", insbesondere ihre "Steppenwolfslichter" zu nennen beliebte. Man war sehr heiter am Guten Russentisch; dort zuerst knallte der Champagner, der dann fast an allen Tischen getrunken wurde. An dem der Vettern war es die Gro?tante, die ihn fur ihre Nichte und fur Marusja bestellte, und sie traktierte alle damit. Das Menu war gewahlt, es endete mit Kasegeback und Bonbons; man schlo? Kaffee an und Likore, und dann und wann rief ein aufflammender Tannenzweig, der Loscharbeit forderte, eine schrille, uberma?ige Panik hervor. Settembrini, gekleidet wie immer, sa? gegen Ende des Festessens eine Weile mit seinem Zahnstocher am Tische der Vettern, hanselte Frau Stohr und sprach dann einiges uber den Tischlerssohn und Menschheits-Rabbi, dessen Geburtstag man heute fingiere. Ob jener wirklich gelebt habe, sei ungewi?. Was aber damals geboren worden sei und seinen bis heute ununterbrochenen Siegeslauf begonnen habe, das sei die Idee des Wertes der Einzelseele, zusammen mit der der Gleichheit gewesen, - mit einem Worte die individualistische Demokratie. In diesem Sinne leere er das Glas, das man ihm zugeschoben. Frau Stohr fand seine Ausdrucksweise "equivok und gemutlos". Sie erhob sich unter Protest, und da man ohnedies die Gesellschaftsraumeaufzusuchen begonnen hatte, so folgten die Tischgenossen ihrem Beispiel.

Die Geselligkeit dieses Abends erhielt Gewicht und Leben durch die Uberreichung der Geschenke an den Hofrat, der mit Knut und der Mylendonk auf eine halbe Stunde heruberkam. Die Handlung vollzog sich in dem Salon mit den optischen Scherzapparaten. Die Sondergabe der

Russen bestand in etwas Silbernem, einem sehr gro?en, runden Teller, in dessen Mitte das Monogramm des Empfangers eingraviert war, und dessen vollkommene Unverwendbarkeit in die Augen sprang. Auf der Chaiselongue, die die ubrigen Gaste gestiftet hatten, konnte man wenigstens liegen, obgleich sie noch ohne Decke und Kissen war, nur eben mit Tuch uberzogen. Doch war ihr Kopfende verstellbar, und Behrens probierte ihre Bequemlichkeit, indem er sich, seinen nutzlosen Teller unter dem Arm, der Lange nach darauf ausstreckte, die Augen schlo? und zu schnarchen begann wie ein Sagewerk, unter der Angabe, er sei Fafnir mit dem Hort. Der Jubel war allgemein. Auch Frau Chauchat lachte sehr uber diese Auffuhrung, wobei ihre Augen sich zusammenzogen und ihr Mund offen stand, beides genau auf dieselbe Weise, so fand Hans Castorp, wie es bei Pribislav Hippe, wenn er lachte, der Fall gewesen war.

Gleich nach dem Abgange des Chefs setzte man sich an die Spieltische. Die russische Gesellschaft bezog, wie immer, den kleinen Salon. Einige Gaste umstanden im Saale den Weihnachtsbaum, sahen dem Erloschen der Lichtstumpfchen in ihren kleinen Metallhulsen zu und naschten von dem Aufgehangten. An den Tischen, die schon fur das erste Fruhstuck gedeckt waren, sa?en vereinzelte Personen, weit voneinander entfernt, verschiedentlich aufgestutzt, in getrenntem Schweigen.

Der erste Weihnachtstag war feucht und neblig. Es seien Wolken, sagte Behrens, in denen man sitze; Nebel gabe es nicht hier oben. Aber Wolken oder Nebel, auf jeden Fall war die Nasse empfindlich. Der liegende Schnee taute oberflachlich an, wurde poros und klebrig. Gesicht und Hande erstarrten im Kurdienst weit peinlicher als bei sonnigem Frost.

Der Tag war ausgezeichnet durch eine musikalische Veranstaltung am Abend, ein richtiges Konzert mit Stuhlreihen und gedruckten Programmen, das Denen hier oben vom Hause "Berghof" geboten wurde. Es war ein Liederabend, gegeben von einer am Orte ansassigen und Unterricht erteilenden Berufssangerin mit zwei Medaillen seitlich unter dem Ausschnitt ihres Ballkleides, Armen, die Stocken glichen, und einer Stimme, deren eigentumliche Tonlosigkeit uber die Grunde ihrer Ansiedelung hier oben betrubende Auskunft gab. Sie sang:

"Ich trage meine Minne

mit mir herum."

Der Pianist, der sie begleitete, war ebenfalls ortsansassig ... Frau Chauchat sa? in der ersten Reihe, benutzte jedoch die Pause, um sich zuruckzuziehen, so da? Hans Castorp von da an der Musik(es war Musik unter allen Umstanden) mit ruhigem Herzen lauschen konnte, indem er wahrend des Gesanges den Text der Lieder mitlas, der auf dem Programm gedruckt stand.Eine Weile sa? Settembrini an seiner Seite, verschwand aber ebenfalls, nachdem er uber den dumpfen bel canto der Ansassigen einiges Pralle, Plastische angemerkt und sein satirisches Behagen daruber ausgedruckt, da? man auch heute abend so treu und traulich unter sich sei. Die Wahrheit zu sagen, spurte Hans Castorp Erleichterung, als sie beide fort waren, die Schmalaugige und der Padagog, und er in Freiheit den Liedern seine Aufmerksamkeit widmen konnte. Er fand es gut, da? in der ganzen Welt und noch unter den besondersten Umstanden Musik gemacht wurde, wahrscheinlich sogar auf Polarexpeditionen.

Der zweite Weihnachtstag unterschied sich durch nichts mehr, als durch das leichte Bewu?tsein seiner Gegenwart, von einem gewohnlichen Sonn- oder auch nur Wochentag, und als er voruber war, da lag das Weihnachtsfest im Vergangenen, - oder, ebenso richtig, es lag wieder in ferner Zukunft, in jahresferner: zwolf Monate waren nun wieder bis dahin, wo es sich im Kreislauf erneuern wurde, - schlie?lich nur sieben Monate mehr, als Hans Castorp hier schon verbracht hatte.

Aber gleich nach dem diesjahrigen Weihnachten, noch vor Neujahr, starb denn also der Herrenreiter. Die Vettern erfuhren es von Alfreda Schildknecht, genannt Schwester Berta, der Pflegerin des armen Fritz Rotbein, die ihnen das diskrete Vorkommnis auf dem Gange erzahlte. Hans Castorp nahm eindringlich Anteil daran, teils weil die Lebensau?erungen des Herrenreiters zu den ersten Eindrucken gehort hatten, die er hier oben empfangen, - zu denen, die zuerst, wie ihm schien, den Warmereflex in seiner Gesichtshaut hervorgerufen hatten, der seitdem nicht mehr daraus hatte weichen wollen, - teils aus moralischen, man mochte sagen: geistlichen Grunden. Er hielt Joachim lange im Gesprach mit der Diakonissin fest, die Ansprache und Austausch mit klammernder Dankbarkeit geno?. Es sei ein Wunder, sagte sie, da? der Herrenreiter das Fest noch erlebt habe. Langst habe er sich als zaher Kavalier erwiesen gehabt, allein womit er zuletzt noch geatmet, sei keinem begreiflich gewesen. Seit Tagen schon habe er sich freilich nur mit Hilfe gewaltiger Mengen Sauerstoffes gehalten: gestern allein habe er vierzig

Ballons konsumiert, das Stuck zu sechs Franken. Das musse ins Geld gelaufen sein, wie die Herren sich ausrechnen konnten, und dabei sei zu bedenken, da? seine Gemahlin, in deren Armen er danach verschieden, vollig mittellos hinterbleibe. Joachim mi?billigte diesen Aufwand. Wozu die Qualerei und kostspielig kunstliche Hinfristung in einem ganz aussichtslosen Fall? Dem Mann sei es nicht zu verargen, da? er das teure Lebensgas blindlings verzehrt, da man es ihm aufgenotigt hatte. Dagegen die Behandelnden hatten vernunftiger denken und ihn in Gottes Namen seines unvermeidlichen Weges ziehen lassen sollen, ganz abgesehen von den Verhaltnissen und gar nun mit Rucksicht auf diese. Die Lebenden hatten doch auch ein Recht und so weiter. Dem widersprachHans Castorp mit Nachdruck. Sein Vetter rede ja fast schon wie Settembrini, ohne Achtung und Scheu vor dem Leiden. Der Herrenreiter sei doch am Ende gestorben, da hore der Spa? auf, man konne nichts weiter tun, um seinen Ernst zu erweisen, und einem Sterbenden gebuhre jeder Respekt und Ehrenaufwand, darauf bestehe Hans Castorp. Er wolle nur hoffen, da? Behrens den Herrenreiter zuletzt nicht angeschrien und pietatloserweise gescholten habe? Kein Anla?, erklarte die Schildknecht. Einen kleinen, unbesonnenen Versuch zu entwischen habe der Herrenreiter zwar zuletzt noch gemacht und aus dem Bett springen wollen; aber ein leichter Hinweis auf die Zwecklosigkeit solchen Beginnens habe genugt, ihn ein fur allemal davon abstehen zu lassen.

Hans Castorp nahm den Verblichenen in Augenschein. Er tat es aus Trotz gegen das herrschende System der Verheimlichung, weil er das egoistische Nichts-wissen-, Nichts-sehen-und-horen-wollen der andern verachtete und ihm durch die Tat zu widersprechen wunschte. Bei Tische hatte er den Todesfall zur Sprache zu bringen versucht, war aber auf einmutige und so verstockte Ablehnung dieses Themas gesto?en, da? es ihn beschamt und emport hatte. Frau Stohr war geradezu grob geworden. Was ihm einfalle, von so etwas anzufangen, hatte sie gefragt, und was er denn eigentlich fur eine Kinderstube genossen. Die Ordnung des Hauses schutze sie, die Patientenschaft, sorgfaltig davor, von solchen Geschichten beruhrt zu werden, und da komme nun so ein Grunschnabel und rede ganz laut davon, noch dazu beim Braten und dazu wieder in Gegenwart des Dr. Blumenkohl, den es taglich ereilen konne.(Dies hinter der Hand.) Wiederhole sich das, so werde sie klagbar werden. Da war es, da? der Gescholtene den Entschlu? gefa?t und ihm auch Ausdruck verliehen hatte, fur seine Person dem abgeschiedenen

Hausgenossen durch einen Besuch und stille Andachtsverrichtung an seinem Lager die letzte Ehre zu erweisen, und auch Joachim hatte er bestimmt, das zu tun.

Durch Vermittlung Schwester Alfredas erlangten sie Eintritt in das Sterbezimmer, das im ersten Stock unter ihren eigenen Zimmern gelegen war. Die Witwe empfing sie, eine kleine, zerzauste, von Nachtwachen mitgenommene Blonde, das Taschentuch vor dem Munde, mit roter Nase und in dickem Plaidmantel, dessen Kragen sie aufgestellt hatte, denn es war sehr kalt im Zimmer. Die Heizung war abgestellt, die Balkontur offen. Gedampft sagten die jungen Leute das Erforderliche und gingen dann, durch eine Handbewegung schmerzlich eingeladen, durch das Zimmer zum Bett, - mit ehrerbietig vorwarts wiegenden Schritten gingen sie, ohne Benutzung der Stiefelabsatze, und standen in Betrachtung am Lager des Toten, ein jeder nach seiner Art: Joachim dienstlich geschlossen, in salutierender Halbverbeugung, Hans Castorp gelost und versunken, die Hande vor sich gekreuzt, den Kopf auf der Schulter, mit einer Miene, ahnlich derjenigen, mit der er Musik zu horen pflegte. Des Herrenreiters Kopflag hoch gebettet, so da? der Korper, dieser lange Aufbau und vielfache Zeugungskreis des Lebens, mit der Erhohung der Fu?e am Ende unter der Decke, desto flacher, fast brettartig flach erschien. Ein Blumengewinde lag in der Gegend der Knie, und der daraus hervorragende Palmzweig beruhrte die gro?en, gelben, knochernen Hande, die auf der eingefallenen Brust gefaltet waren. Gelb und knochern war auch das Gesicht mit dem kahlen Schadel, der gehockerten Nase, den scharfen Backenknochen und dem buschigen, rotblonden Schnurrbart, dessen Dicke die grauen, stoppligen Hohlen der Wangen noch starker vertiefte. Die Augen waren auf eine gewisse unnaturlich feste Weise geschlossen, - zugedruckt, mu?te Hans Castorp denken, nicht zugemacht: den letzten Liebesdienst nannte man das, obgleich es im Sinne der Uberlebenden mehr, als um des Toten willen geschah. Auch mu?te es beizeiten, gleich nach dem Tode geschehen; denn wenn erst die Myosinbildung in den Muskeln vorgeschritten war, so ging es nicht mehr, und er lag und starrte, und um die sinnige Vorstellung des "Schlummers" war es getan.

Sachkundig und in mehr als einer Beziehung in seinem Elemente stand Hans Castorp am Lager, bewandert, aber fromm. "Er scheint zu schlafen", sagte er aus Menschlichkeit, obgleich gro?e Unterschiede vorhanden waren. Und dann begann er mit schicklich gedampfter

Stimme ein Gesprach mit der Witwe des Herrenreiters, zog uber die Leidensgeschichte ihres Gatten, seine letzten Tage und Augenblicke, den zu bewerkstelligenden Transport des Korpers nach Karnten Erkundigungen ein, die von einer teils medizinischen, teils geistlich-sittlichen Teilnahme und Eingeweihtheit zeugten. Die Witwe, in ihrer osterreichisch schleppenden und naselnden Sprechweise und zuweilen aufschluchzend, fand es bemerkenswert, da? junge Leute zur Beschaftigung mit fremdem Kummer sich so aufgelegt zeigten; worauf Hans Castorp erwiderte, sein Vetter und er, sie seien ja selber krank, uberdies habe er, fur seine Person, fruhe an den Sterbebetten naher Angehoriger gestanden, er sei Doppelwaise, von langer Hand her sei ihm der Tod vertraut, sozusagen. Welchen Beruf er gewahlt habe, fragte sie. Er antwortete, er sei Techniker "gewesen". - Gewesen? - Gewesen insofern, als nun ja die Krankheit und ein noch recht unbestimmt begrenzter Aufenthalt hier oben dazwischengekommen sei, was doch einen bedeutenden Einschnitt und moglicherweise etwas wie einen Lebenswendepunkt darstelle, was konne man wissen.(Joachim sah ihn mit forschendem Schrecken an.) Und sein Herr Vetter? - Der wolle Soldat sein im Tieflande, er sei Offiziersaspirant. - Oh, sagte sie, das Kriegerhandwerk sei freilich auch ein Beruf, der zum Ernst anhalte, ein Soldat musse damit rechnen, unter Umstanden mit dem Tode in nahe Beruhrung zu kommen und tue wohl gut, sich fruhzeitig an seinen Anblick zu gewohnen. Sie beurlaubte die jungen Leute mit Dank und freundlicher Fassung, die Achtung erwecken mu?te in Anbetracht ihrer beklommenen Lage undbesonders der hohen Oxygenrechnung, die der Gatte zuruckgelassen. Die Vettern kehrten in ihr Stockwerk zuruck. Hans Castorp zeigte sich befriedigt von dem Besuch und geistlich angeregt durch die empfangenen Eindrucke.

"Requiescat in pace", sagte er. "Sit tibi terra levis. Requiem aeternam dona ei, Domine. Siehst du, wenn es sich um den Tod handelt und man zu Toten spricht oder von Toten, so tritt auch wieder das Latein in Kraft, das ist die offizielle Sprache in solchen Fallen, da merkt man, was fur eine besondere Sache es mit dem Tode ist. Aber es ist nicht aus humanistischer Courtoisie, da? man Lateinisch redet zu seinen Ehren, die Totensprache ist kein Bildungslatein, verstehst du, sondern von einem ganz anderen Geist, einem ganz entgegengesetzten, kann man wohl sagen. Das ist Sakrallatein, Monchsdialekt, Mittelalter, so ein dumpfer, eintoniger, unterirdischer Gesang gewisserma?en, - Settembrini fande kein Gefallen daran, es ist nichts fur Humanisten und

Republikaner und solche Padagogen, es ist von einer anderen Geistesrichtung, der anderen, die es gibt. Ich finde, man mu? sich klar sein uber die verschiedenen Geistesrichtungen oder Geistesstimmungen, wie man wohl richtiger sagen sollte, es gibt die fromme und die freie. Sie haben beide ihre Vorzuge, aber was ich gegen die freie, die Settembrinische meine ich, auf dem Herzen habe, ist nur, da? sie die Menschenwurde so ganz in Pacht zu haben glaubt, das ist ubertrieben. Die andere enthalt auch viel menschliche Wurde in ihrer Art und gibt Veranlassung zu einer Menge Wohlanstand und properer Haltung und nobler Formlichkeit, mehr sogar als die 'freie', obgleich sie die menschliche Schwache und Hinfalligkeit ja besonders im Auge hat und der Gedanke an Tod und Verwesung eine so wichtige Rolle darin spielt. Hast du mal im Theater den 'Don Carlos' gesehen und wie es zuging am spanischen Hof, wenn Konig Philipp hereinkommt, ganz in Schwarz, mit dem Hosenbandorden und dem Goldenen Vlie?, und langsam den Hut zieht, der beinahe schon aussieht wie unsere Melonen, - so nach oben hin zieht er ihn und sagt: 'Bedeckt euch, meine Granden' oder so ahnlich, - im hochsten Grade gemessen ist das, darf man wohl sagen, von Gehenlassen und schlottrigen Sitten kann da nicht die Rede sein, im Gegenteil, und die Konigin sagt denn ja auch: 'In meinem Frankreich wars doch anders', naturlich, der ist es zu akkurat und umstandlich, die mochte es fideler haben, menschlicher. Aber was hei?t menschlich? Menschlich ist alles. Das spanisch Gottesfurchtige und Demutig-Feierliche und streng Abgezirkelte ist eine sehr wurdige Fasson der Menschlichkeit, sollte ich meinen, und andererseits kann man mit dem Worte 'menschlich' jede Schlamperei und Schlappheit zudecken, da wirst du mir recht geben."

"Da gebe ich dir recht," sagte Joachim, "Schlappheit und Gehenlassen kannich naturlich auch nicht leiden, Disziplin mu? sein."

"Ja, das sagst du als Militar, und ich gebe zu, beim Militar versteht man sich auf diese Dinge. Die Witwe hatte ganz recht, von eurem Handwerk zu sagen, es habe eine ernsthafte Bewandtnis damit, denn immer mu?tet ihr mit dem au?ersten Ernstfalle rechnen und damit, es mit dem Tod zu tun zu bekommen. Ihr habt die Uniform, die ist knapp und propper und hat einen steifen Kragen, das gibt euch bienseance. Und dann habt ihr die Rangordnung und den Gehorsam und erweist euch umstandlich Ehre untereinander, das geschieht in spanischem Geiste, aus Frommigkeit, ich mag es im Grunde wohl leiden. Bei uns Zivilisten sollte

von diesem Geiste auch mehr herrschen, in unseren Sitten und unserm Gehaben, das ware mir lieber, ich fande es passend. Ich finde, die Welt und das Leben ist danach angetan, da? man sich allgemein schwarz tragen sollte, mit einer gestarkten Halskrause statt eures Kragens, und ernst, gedampft und formlich miteinander verkehren im Gedanken an den Tod, - so war es mir recht, es ware moralisch. Siehst du, das ist auch so ein Irrtum und Eigendunkel von Settembrini, noch einer, es ist ganz gut, da? ich gesprachsweise mal darauf komme. Nicht blo? die Menschenwurde meint er in Pacht zu haben, sondern auch die Moral, - mit seiner 'praktischen Lebensarbeit' und seinen Fortschritts-Sonntagsfeiern(als ob man nicht gerade Sonntags an was anderes zu denken hatte als an den Fortschritt) und mit seiner systematischen Ausmerzung der Leiden, wovon du ubrigens nichts wei?t, aber mir hat er zu meiner Belehrung davon erzahlt, - systematisch will er sie ausmerzen, vermittelst eines Lexikons. Und wenn mir nun das gerade unmoralisch vorkommt, - was dann? Ihm sage ich es naturlich nicht, er redet mich ja in Grund und Boden mit seiner plastischen Mundart und sagt: 'Ich warne Sie, Ingenieur!' Aber denken durfen wird man sich ja sein Teil, - Sire, geben Sie Gedankenfreiheit. Ich will dir was sagen", schlo? er.(Sie waren in Joachims Zimmer hinaufgelangt, und Joachim machte sich zum Liegen bereit.) "Ich werde dir sagen, was ich mir vorgenommen habe. Man lebt hier so Tur an Tur mit sterbenden Leuten und mit dem schwersten Kreuz und Jammer, aber nicht allein, da? man so tut, als ob es einen nichts anginge, sondern man wird auch geschont und geschutzt, da? man nur ja nicht damit in Beruhrung kommt und nichts davon sieht, und den Herrenreiter, den werden sie nun auch wieder heimlich auf die Seite bringen, wahrend wir vespern oder fruhstucken. Das finde ich unmoralisch. Die Stohr wurde ja schon wutend, weil ich den Todesfall nur erwahnte, das ist mir zu albern,und wenn sie schon ungebildet ist und glaubt, da? 'Leise, leise, fromme Weise' im 'Tannhauser' vorkommt, wie es ihr neulich bei Tische passierte, so konnte sie dabei doch etwas moralischer empfinden, und die anderen auch. Ich habe mir nun vorgenommen, mich in Zukunft etwas mehr um die Schweren und Moribunden im Hause zu kummern, das wird mir wohltun, - schon unser Besuch eben hat mir gewisserma?en gut getan. Der arme Reuter damals, auf Nr. 25, den ich in meinen ersten Tagen durch die Tur einmal sah, ist gewi? schon langst ad penates gegangen und heimlich auf die Seite gebracht worden, - er hatte schon damals so ubertrieben gro?e Augen. Aber dafur sind andere da, das Haus ist voll, es fehlt nie an

Zuzug, und Schwester Alfreda oder auch die Oberin oder sogar Behrens selbst werden uns gewi? behilflich sein, eine oder die andere Beziehung herzustellen, das wird sich ja unschwer machen lassen. Nimm an, jemand Moribundes hat Geburtstag, und wir erfahren es, - das la?t sich ja in Erfahrung bringen. Gut, wir schicken dem Betreffenden - oder ihr - ihm oder ihr, je nachdem - einen Blumentopf aufs Zimmer, eine Aufmerksamkeit von zwei ungenannten Kollegen, - beste Genesungswunsche, - das Wort Genesung bleibt hoflicherweise immer am Platz. Dann werden wir dem Betreffenden naturlich doch genannt, und er oder sie la?t uns in ihrer Schwache einen freundlichen Gru? durch die Tur sagen, und vielleicht ladt sie uns auf einen Augenblick ins Zimmer ein, und wir wechseln noch ein paar menschliche Worte mit ihm, bevor er sich auflost. So denke ich es mir. Bist du nicht einverstanden? Fur mein Teil hab ichs mir jedenfalls vorgenommen."

Joachim hatte gegen diese Absichten denn auch nicht viel zu erinnern. "Es ist gegen die Hausordnung," sagte er; "du durchbrichst sie gewisserma?en damit. Aber ausnahmsweise, und wenn du nun einmal den Wunsch hast, wird Behrens dir wohl Perme? geben, denke ich. Du kannst dich ja auf dein medizinisches Interesse berufen."

"Ja, unter anderem darauf", sagte Hans Castorp; denn wirklich waren es verschlungene Motive, aus denen sein Wunsch erwuchs. Der Protest gegen den obwaltenden Egoismus war nur eines davon. Was mitsprach, war namentlich auch das Bedurfnis seines Geistes, Leiden und Tod ernst nehmen und achten zu durfen, - ein Bedurfnis, fur das er sich von der Annaherung an die Schweren und Sterbenden Genugtuung und Starkung erhoffte, als Gegengewicht gegen vielfache Beleidigungen, denen er es sonst auf Schritt und Tritt, alltaglich und stundlich ausgesetzt fand, und durch die gewisse Urteile Settembrinis eine ihn krankende Bekraftigung erfuhren. Beispiele bieten sich nur zu zahlreich an; hatte man Hans Castorp gefragt, er ware vielleicht zuerst auf solche Personen im Hause "Berghof" zusprechen gekommen, die eingestandenerma?en uberhaupt nicht krank waren und vollkommen freiwillig, unter dem offiziellen Vorwande leichter Angegriffenheit, in Wirklichkeit aber nur zu ihrem Vergnugen und weil die Lebensform der Kranken ihnen zusagte, hier lebten, wie die schon beilaufig erwahnte Witwe Hessenfeld, eine lebhafte Frau, deren Leidenschaft das Wetten war: sie wettete mit den Herren, wettete auf alles und um alles, wettete auf das Wetter, das eintreten, die Gerichte, die es geben wurde, auf das Ergebnis von

Generaluntersuchungen und darauf, wieviel Monate jemandem zugelegt werden wurden, auf gewisse Bobs, Eisschlitten, Schlittschuh- oder Ski-Champions bei sportlichen Konkurrenzen, auf den Verlauf sich anspinnender Liebesgeschichten unter den Gasten und auf hundert andere, oft ganzlich unerhebliche und gleichgultige Dinge, wettete um Schokolade, um Champagner und Kaviar, die dann im Restaurant festlicherweise verzehrt wurden, um Geld, um Kinobilletts und selbst um Kusse, zu gebende und zu nehmende, - kurzum, sie brachte mit dieser ihrer Passion viel Spannung und Leben in den Speisesaal, nur da? ihr Treiben den jungen Hans Castorp naturlich sehr ernst nicht dunken wollte, ja, da? ihr blo?es Vorhandensein ihm als Beeintrachtigung der Wurde eines Leidensortes erschien.

Denn diese Wurde zu schutzen und vor sich selber aufrecht zu halten, war er im Innern treulich bestrebt, so schwer es ihm fallen mochte nach einem nun fast halbjahrigen Aufenthalt unter Denen hier oben. Die Einblicke, die er nach und nach in ihr Leben und Treiben, ihre Sitten und Anschauungen getan, waren seinem guten Willen wenig behilflich. Da waren jene beiden mageren Stutzerchen, siebzehn- und achtzehnjahrig und "Max und Moritz" genannt, deren abendliches Aussteigen zum Zwecke des Pokerns und der Zechereien in Damengesellschaft dem Gerede viel Stoff bot. Kurzlich, das hei?t etwa acht Tage nach Neujahr(denn man mu? festhalten, da?, wahrend wir erzahlen, die Zeit in ihrer still stromenden Art rastlos fortschreitet), hatte sich beim Fruhstuck die Nachricht verbreitet, der Bademeister habe die beiden morgens in zerknitterten Gesellschaftsanzugen auf ihren Betten betroffen. Auch Hans Castorp lachte; aber wenn es beschamend fur seinen guten Willen war, so war es noch gar nicht viel im Vergleich mit den Geschichten des Rechtsanwalts Einhuf aus Juterbog, eines spitzbartigen Vierzigers mit schwarzbehaarten Handen, der seit einiger Zeit an Stelle des genesenen Schweden am Tisch Settembrinis sa? und nicht nur jede Nacht betrunken nach Hause kam, sondern dies neulich uberhaupt nicht getan hatte, vielmehr auf der Wiese gefunden worden war. Er galt fur einen gefahrlichen Liederjahn, und Frau Stohr konnte auf die - im Tiefland ubrigens verlobte - junge Dame mit ihrem Finger weisen, die man zu einer bestimmten Stunde aus Einhufs Zimmer hatte treten sehen, bekleidet nur mit einem Pelz, unter dem sie nichts weiter als eine Reformhose getragen haben sollte. Daswar skandalos, - nicht nur in allgemein moralischem Sinn, sondern skandalos und beleidigend fur Hans Castorp personlich, im Sinn seiner geistigen Bemuhungen. Es kam

aber hinzu, da? er an die Person des Rechtsanwalts nicht denken konnte, ohne auch Franzchen Oberdank mit einzubeziehen, jenes glattgescheitelte Haustochterchen, das vor wenigen Wochen von ihrer Mutter, einer wurdigen Provinzdame, heraufgeleitet worden war. Franzchen Oberdank hatte bei ihrer Ankunft und nach der ersten Untersuchung fur leichtkrank gegolten; aber mochte sie Fehler begangen haben, mochte ein Fall vorliegen, in dem die Luft zunachst nicht sowohl gegen, als vor allen Dingen einmal fur die Krankheit gut gewesen war, oder mochte die Kleine in irgendwelche Intrigen und Aufregungen verstrickt worden sein, die ihr geschadet hatten: vier Wochen nach ihrem Eintritt geschah es, da? sie, von einer neuen Untersuchung kommend, beim Betreten des Speisesaals ihr Handtaschchen in die Luft warf und mit heller Stimme ausrief: "Hurra, ein Jahr mu? ich bleiben!!" - woruber im ganzen Saal ein homerisches Gelachter sich verbreitet hatte. Aber vierzehn Tage spater war die Nachricht in Umlauf gekommen, da? Rechtsanwalt Einhuf an Franzchen Oberdank wie ein Schurke gehandelt habe. Ubrigens kommt dieser Ausdruck auf unsere Rechnung oder allenfalls auf die Hans Castorps; denn den Tragern der Nachricht schien diese ihrem Wesen nach wohl nicht neu genug, um zu so starken Worten anzuregen. Auch gaben sie achselzuckend zu verstehen, da? zu solchen Geschichten ja zweie gehorten, und da? vermutlich nichts gegen Wunsch und Willen eines Beteiligten geschehen sei. Wenigstens war dies Frau Stohrs Verhalten und sittliche Stimmung in fraglicher Angelegenheit.

Karoline Stohr war entsetzlich. Wenn irgend etwas den jungen Hans Castorp in seinen redlich gemeinten geistigen Bemuhungen storte, so war es das Sein und Wesen dieser Frau. Ihre bestandigen Bildungsschnitzer hatten genugt. Sie sagte "Agonje" statt "Todeskampf"; "insolvent", wenn sie jemandem Frechheit zum Vorwurf machte, und gab uber die astronomischen Vorgange, die eine Sonnenfinsternis zeitigen, den greulichsten Unsinn zum besten. Mit den liegenden Schneemassen, sagte sie, sei es "eine wahre Kapazitat"; und eines Tages setzte sie Herrn Settembrini in lang andauerndes Erstaunen durch die Mitteilung, sie lese zur Zeit ein der Anstaltsbibliothek entnommenes Buch, das ihn angehe, namlich "Benedetto Cenelli in der Ubersetzung von Schiller"! Sie liebte Redensarten, die dem jungen Hans Castorp, ihrer Abgeschmacktheit und modisch ordinaren Verbrauchtheit wegen, auf die Nerven gingen, wie zum Beispiel: "Das ist die Hohe!" oder: "Du ahnst es nicht!" Und da die Bezeichnung "blendend", die das Modemaul lange Zeit fur "glanzend" oder "vorzuglich" gebraucht hatte, sich als ganzlich ausgelaugt,

entkraftet, prostituiert und sohin veraltet erwies, so warf sie sich auf das Neueste, namlich das Wort "verheerend", und fand nun, im Ernst oder hohnischerweise, alles "verheerend", die Schlittenbahn, die Mehlspeise und ihre eigene Leibeswarme,was ebenfalls ekelhaft anmutete. Hinzu kam ihre Klatschsucht, die unma?ig war. Mochte sie immerhin erzahlen, Frau Salomon trage heute die kostbarste Spitzenwasche, denn sie sei zur Untersuchung bestellt und ziere sich dabei vor den Arzten mit feinem Unterzeug: - es hatte seine Richtigkeit damit, Hans Castorp selbst hatte den Eindruck gewonnen, da? die Prozedur der Untersuchung, unabhangig von ihrem Ergebnis, den Damen Vergnugen bereite, und da? sie sich kokett dafur schmuckten. Aber was sollte man zu Frau Stohrs Versicherung sagen, Frau Redisch aus Posen, die im Verdacht tuberkulosen Ruckenmarks stehe, musse wochentlich einmal zehn Minuten lang vollstandig nackt vor Hofrat Behrens im Zimmer hin und her marschieren? Die Unwahrscheinlichkeit dieser Behauptung kam fast ihrer Ansto?igkeit gleich, aber Frau Stohr verfocht und beschwor sie aufs au?erste, - obgleich schwer begreiflich erschien, wie die Arme auf Dinge, wie diese, so viel Eifer, Nachdruck und Rechthaberei verwenden mochte, da ihre eigensten Angelegenheiten ihr schwer zu schaffen machten. Denn zwischendurch suchten Anfalle von feiger und weinerlicher Besorgnis sie heim, deren Anla? ihre angeblich zunehmende "Schlaffheit" oder das Ansteigen ihrer Kurve war. Sie kam schluchzend zu Tisch, die sproden roten Backen von Tranen uberstromt und heulte in ihr Taschentuch, da? Behrens sie in ihr Bett schicken wolle, sie aber wolle wissen, was er hinter ihrem Rucken gesagt habe, was ihr fehle, wie es um sie stehe, sie wolle der Wahrheit ins Auge sehen! Zu ihrem Entsetzen hatte sie eines Tages bemerkt, da? ihr Bett mit dem Fu?ende in der Richtung der Haustur stehe und erlitt fast Krampfe dieser Entdeckung wegen. Man verstand ihre Wut, ihr Grauen nicht ohne weiteres, Hans Castorp im besonderen verstand sich nicht gleich darauf. Nun und? Wieso? Warum das Bett nicht stehen solle, wie es stehe? - Aber ob er, um Gottes willen, denn nicht begreife! "Die Fu?e voran ...!" Sie schlug verzweifelten Larm, und sofort mu?te das Bett umgestellt werden, obgleich sie fortan vom Kissen ins Licht sah, was ihren Schlaf beeintrachtigte.

Das alles war unernst; es kam Hans Castorps geistigen Bedurfnissen sehr wenig entgegen. Ein schreckhafter Zwischenfall, der sich um diese Zeit wahrend einer Mahlzeit ereignete, machte besonderen Eindruck auf den jungen Mann. Ein noch neuer Patient, der Lehrer Popow, ein magerer

und stiller Mensch, der mit seiner ebenfalls mageren und stillen Braut am Guten Russentisch Platz gefunden hatte, erwies sich, da eben das Essen in vollem Gange war, als epileptisch, indem er einen krassen Anfall dieser Art erlitt, mit jenem Schrei, dessen damonischer und au?ermenschlicher Charakter oft geschildert worden ist, zu Boden sturzte und neben seinem Stuhle unter den scheu?lichsten Verrenkungen mit Armen und Beinen um sich schlug. Erschwerend wirkte, da? es ein Fischgericht war, das eben gereichtworden, so da? zu befurchten stand, Popow mochte in seiner Krampfverzuckung an einer Grate Schaden nehmen. Der Aufruhr war unbeschreiblich. Die Damen, Frau Stohr voran, aber ohne da? etwa die Frauen Salomon, Redisch, Hessenfeld, Magnus, Iltis, Levi und wie sie nun hei?en mochten, ihr etwas nachgegeben hatten, wurden von den verschiedensten Zustanden betreten, so da? einige es Herrn Popow fast gleichtaten. Ihre Schreie gellten. Man sah nichts als zugekrampfte Augen, offene Munder und verdrehte Oberkorper. Eine einzelne gab stiller Ohnmacht den Vorzug. Erstickungsanfalle, da jedermann von dem wilden Ereignis im Kauen und Schlucken uberrascht worden war, spielten sich ab. Ein Teil der Tischgesellschaft suchte durch die verfugbaren Ausgange das Weite, auch durch die Verandaturen, obgleich es drau?en sehr na?kalt war. Es trug aber der ganze Vorfall ein eigentumliches und au?er seiner Entsetzlichkeit auch ansto?iges Tonzeichen, und zwar vermoge einer allgemein sich aufdrangenden Ideenverbindung, die an den jungsten Vortrag Dr. Krokowskis anknupfte. Der Analytiker war namlich bei seinen Ausfuhrungen uber die Liebe als krankheitbildende Macht gerade am letzten Montag auf die Fallsucht zu reden gekommen und hatte dies Leiden, worin die Menschheit in voranalytischen Zeiten abwechselnd eine heilige, ja prophetische Heimsuchung und eine Teufelsbesessenheit gesehen, mit halb poetischen, halb unerbittlich wissenschaftlichen Worten als Aquivalent der Liebe und Orgasmus des Gehirns angesprochen, kurz, es in einem solchen Sinne verdachtigt, da? seine Zuhorer die Auffuhrung des Lehrers Popow, diese Illustration des Vortrags, als wuste Offenbarung und mysteriosen Skandal verstehen mu?ten, so da? denn auch in dem verhullten Entfliehen der Damen eine gewisse Schamhaftigkeit sich ausdruckte. Der Hofrat selbst war bei der Mahlzeit zugegen, und er war es, der, zusammen mit der Mylendonk und einigen jungen, handfesten Tafelgenossen, den Ekstatiker, blau, schaumend, steif und verzerrt, wie er war, aus dem Saal in die Halle schaffte, wo man die Arzte, die Oberin und anderes Personal noch

langere Zeit an dem Sinnlosen hantieren sah, der dann auf einer Bahre davongetragen wurde. Ganz kurze Zeit danach aber sah man Herrn Popow stillvergnugt, in Gesellschaft seiner ebenfalls stillvergnugten Braut, wieder am Guten Russentisch sitzen und, als sei nichts geschehen, sein Mittagessen beenden!

Hans Castorp hatte dem Ereignis mit den au?eren Zeichen respektvollen Schreckens beigewohnt, im Grunde aber mutete auch dies ihn nicht ernst an, Gott mochte ihm helfen. Popow hatte an seinem Fischbissen freilich ersticken konnen, aber in Wirklichkeit war er ja nicht erstickt, sondern hatte, bei aller bewu?tlosen Wut und Lustbarkeit, im Stillsten wohl dennoch ein wenig achtgegeben. Nun sa? er heiter, a? fertig und tat, als habe er sich nie wie ein Berserker und rasender Trunkenbold benommen, erinnerte sich gewi? auch nicht daran. Auch seine Erscheinung aber war nicht danach angetan, Hans Castorps Ehrfurcht vor dem Leiden zustarken; auch sie, in ihrer Art, vermehrte die Eindrucke unernster Liederlichkeit, denen er sich widerstrebend hier oben ausgesetzt fand, und denen er durch eine den herrschenden Sitten widersprechende nahere Beschaftigung mit den Schweren und Moribunden entgegenzuwirken wunschte.

Auf der Etage der Vettern, nicht weit von ihren Zimmern, lag ein ganz junges Madchen, Leila Gerngro? mit Namen, die den Mitteilungen Schwester Alfredas zufolge im Begriffe war, zu sterben. Sie hatte binnen zehn Tagen vier heftige Blutungen erlitten, und ihre Eltern waren heraufgekommen, um sie vielleicht noch lebend heimzubringen; doch schien das nicht angangig: der Hofrat verneinte die Transportfahigkeit der armen kleinen Gerngro?. Sie war sechzehn-, siebzehnjahrig. Hans Castorp sah hier die rechte Gelegenheit, seinen Plan mit dem Blumentopf und den Genesungswunschen zu verwirklichen. Zwar hatte Leila jetzt nicht Geburtstag, wurde diesen auch, menschlicher Voraussicht nach, nicht mehr erleben, da er, wie Hans Castorp ausgekundschaftet, erst in das Fruhjahr fiel; doch brauchte das seiner Entscheidung nach kein Hindernis fur eine solche barmherzige Huldigung zu sein. Auf einem Mittagsgange in die Gegend des Kurhauses trat er mit seinem Vetter in einen Blumenladen, dessen erdig-feuchte und duftuberladene Atmosphare er mit bewegter Brust einatmete, und erstand einen hubschen Hortensienstock, den er ohne Namensnennung, mit einer Karte, auf der nur "Von zwei Hausgenossen, mit besten Genesungswunschen" geschrieben stand, der kleinen Moribunden aufs

Zimmer zu schicken Weisung gab. Er handelte freudig, angenehm benommen vom Pflanzenbrodem, der lauen Warme des Ortes, die nach der Au?enkalte seine Augen tranen lie?, mit klopfendem Herzen und einem Gefuhl der Abenteuerlichkeit, Kuhnheit, Forderlichkeit seines unscheinbaren Unternehmens, dem er insgeheim eine symbolische Tragweite beima?.

Leila Gerngro? geno? keine Privatpflege, sondern unterstand unmittelbar der Fursorge Fraulein von Mylendonks und der Arzte; aber Schwester Alfreda ging bei ihr aus und ein, und sie erstattete den jungen Leuten Bericht uber die Wirkung ihrer Aufmerksamkeit. Die Kleine, in der aussichtslosen Beschranktheit ihres Zustandes, hatte sich kindisch gefreut uber den fremden Gru?. Die Pflanze stand an ihrem Bett, sie liebkoste sie mit Blicken und Handen, sorgte, da? man sie bego?, und hing selbst noch bei den schlimmsten Hustenanfallen, die sie heimsuchten, mit ihren gequalten Augen an ihr. Ihre Eltern, Major au?er Diensten Gerngro? und Frau, waren ebenfalls geruhrt und erfreut gewesen, und da sie, ohne jede Bekanntschaft im Hause, die Geber zu erraten nicht einmal versuchen konnten, so hatte die Schildknecht, wie sie gestand, sich nicht enthalten konnen, die Anonymitat zu luften und die Vettern als Spender namhaft zu machen. Sie uberbrachte ihnen die Bitte der drei Gerngro? um Vorstellung und Dankesentgegennahme, und so traten die beiden denn ubernachsten Tages, von der Diakonissin gefuhrt, auf Zehenspitzen in Leilas Leidenskammer ein.

Die Sterbende war ein uberaus liebreizendes blondes Geschopf mit genau vergi?meinnichtblauen Augen, das trotzfurchtbarer Blutverluste und einer Atmung, die nur vermittelst eines ganz unzulanglichen Restbestandes von tauglichem Lungengewebe geschah, einen zwar zarten, aber eigentlich nicht elenden Anblick bot. Sie dankte und plauderte mit etwas tonarmer, aber angenehmer Stimme. Ein rosiger Schein erstand auf ihren Wangen und verharrte dort. Hans Castorp, der gegen die anwesenden Eltern und sie seine Handlungsweise so erlautert, wie man es erwartete, und sich gewisserma?en entschuldigt hatte, sprach gedampft und bewegt, mit zartlicher Ehrerbietung. Es fehlte nicht viel - der innere Antrieb dazu war jedenfalls vorhanden -, da? er sich vor dem Bett auf ein Knie niedergelassen hatte, und lange hielt er Leilas Hand in der seinen fest, obgleich dies hei?e Handchen nicht nur feucht, sondern geradezu na? war, denn des Kindes Schwei?sekretion war uberma?ig; bestandig verausgabte sie so viel Wasser, da? ihr Fleisch

schon langst hatte eingeschnurrt und vertrocknet sein mussen, wenn nicht der gierigste Konsum von Limonade, von der auch eine Karaffe voll auf ihrem Nachttische stand, der Transsudation ungefahr die Wage gehalten hatte. Die Eltern, gramvoll, wie sie waren, hielten mit Erkundigungen uber die personlichen Umstande der Vettern und anderen konversationellen Mitteln die kurze Unterhaltung nach menschlicher Gesittung aufrecht. Der Major war ein breitschultriger Mann mit niedriger Stirn und gestraubtem Schnurrbart, - ein Hune, dessen organische Unschuld an der Disposition und Aufnahmelustigkeit des Tochterchens in die Augen stach. Schuld daran war offensichtlich vielmehr seine Frau, eine kleine Person von entschieden phthisischem Typus, deren Gewissen denn auch dieser Mitgift wegen belastet schien. Als namlich Leila nach zehn Minuten Ermudungs- oder vielmehr Uberreizungszeichen gab(das Rosenrot ihrer Wangen erhohte sich, wahrend ihre Vergi?meinnichtaugen beunruhigend glanzten), und die Vettern, von Schwester Alfreda mit den Blicken dazu gemahnt, sich verabschiedeten, geleitete Frau Gerngro? sie bis vor die Tur und erging sich dabei in Selbstanklagen, die Hans Castorp sonderbar ergriffen. Von ihr, von ihr allein komme es, versicherte sie zerknirscht; von ihr nur konne das arme Kind es haben, ihr Mann sei vollig unbeteiligt daran, habe nicht das geringste damit zu tun. Aber auch sie, konne sie versichern, habe nur ganz vorubergehend damit zu tun gehabt, nur ein bi?chen und obenhin, ganz kurze Zeit, als junges Madchen. Dann habe sie es uberwunden, ganz und gar, wie ihr bezeugt worden sei, denn sie habe heiraten wollen, so gern heiraten und leben, und es sei ihr gelungen, ganz ausgeheilt und genesen sei sie in die Ehe getreten mit ihrem lieben, baumstarken Mann, der seinerseits nie auch nur entfernt an solche Geschichten gedacht habe. Aber so rein und stark er sei, - er habe das Ungluck doch nicht verhindern konnen mit seinem Einflu?. Denn bei dem Kinde, da sei das Schreckliche, das Begrabene und Vergessene wieder zumVorschein gekommen, und es werde nicht fertig damit, es gehe zugrunde daran, wahrend sie, die Mutter, daruber hinweggekommen und in ein gefestetes Alter getreten sei, - es sterbe, das arme, liebe Ding, die Arzte gaben keine Hoffnung mehr, und sie allein sei schuld daran mit ihrem Vorleben.

Die jungen Leute suchten sie zu trosten, machten Worte uber die Moglichkeit einer glucklichen Wendung. Aber die Majorin schluchzte nur auf und dankte ihnen jedenfalls nochmals fur alles, fur die Hortensie und dafur, da? sie das Kind durch ihren Besuch noch ein wenig zerstreut und begluckt. Da lage die Armste in ihrer Qual und Einsamkeit, wahrend

andere junge Dinger sich ihres Lebens freuten und mit hubschen jungen Herren tanzten, wozu die Krankheit doch keineswegs die Lust ertote. Sie hatten ihr ein wenig Sonnenschein gebracht, mein Gott, wohl den letzten. Die Hortensie sei wie ein Ballerfolg und das Geplauder mit den beiden stattlichen Kavalieren wie ein netter kleiner Flirt fur sie gewesen, das habe sie, Mutter Gerngro?, wohl gesehen.

Hiervon war Hans Castorp nun peinlich beruhrt, besonders da die Majorin das Wort "Flirt" obendrein nicht richtig, das hei?t nicht englisch, sondern mit deutschem i ausgesprochen hatte, was ihn ma?los irritierte. Auch war er kein stattlicher Kavalier, sondern hatte die kleine Leila aus Protest gegen den herrschenden Egoismus und in medizinisch-geistlicher Meinung besucht. Kurz, er war etwas verstimmt uber den letzten Ausgang der Sache, soweit die Auffassung der Majorin in Frage kam, sonst aber sehr belebt und angetan von der Durchfuhrung des Unternehmens. Namentlich zwei Eindrucke: die erdigen Dufte des Blumenladens und die Nasse von Leilas Handchen waren ihm davon in Seele und Sinn zuruckgeblieben. Und da ein Anfang gemacht war, verabredete er noch gleichen Tages mit Schwester Alfreda einen Besuch bei ihrem Pflegling Fritz Rotbein, der sich nebst seiner Pflegerin so schrecklich langweilte, obgleich ihm, wenn nicht alle Zeichen trogen, nur noch eine ganz kurze Weile beschieden war.

Es half dem guten Joachim nichts, er mu?te mithalten. Hans Castorps Antrieb und charitativer Unternehmungsgeist war starker als seines Vetters Abneigung, welche dieser hochstens durch Schweigen und Niederschlagen der Augen geltend machen konnte, da er sie, ohne Mangel an Christentum zu bekunden, nicht zu begrunden gewu?t hatte. Hans Castorp sah das sehr wohl und zog seinen Nutzen daraus. Er verstand auch genau den militarischen Sinn dieser Unlust. Aber wenn er selbst sich nun doch belebt und begluckt fuhlte durch solche Unternehmungen, und wenn sie ihm forderlich schienen? Dann mu?te er uber Joachims stillen Widerstand eben hinwegschreiten. Er erwog mit ihm, ob man auch dem jungen Fritz Rotbein Blumen schicken oder bringen konne, obgleich dieser Moribundus mannlichen Geschlechtes war. Er wunschte sehr, es zu tun; Blumen, fander, gehorten dazu; der Streich mit der Hortensie, die violett und wohlgeformt gewesen war, hatte ihm ausnehmend gefallen; und so entschied er denn, da? Rotbeins Geschlecht durch seinen finalen Zustand ausgeglichen werde, und da? er, um Blumenspenden entgegenzunehmen, auch nicht Geburtstag zu

haben brauche, da Sterbende ohne weiteres und in Permanenz wie Geburtstagskinder zu behandeln seien. So gesonnen, suchte er mit dem Vetter denn wieder die erdig-warme Duftatmosphare des Blumengeschaftes auf und trat bei Herrn Rotbein mit einem frisch besprengten und duftenden Rosen-, Nelken- und Levkoiengebinde ein, gefuhrt von Alfreda Schildknecht, die die jungen Leute gemeldet hatte.

Der Schwerkranke, kaum zwanzigjahrig und dabei schon etwas kahl und grau auf dem Kopf, wachsern und abgezehrt, mit gro?en Handen, gro?er Nase und gro?en Ohren, zeigte sich zu Tranen dankbar fur Zuspruch und Zerstreuung, - wirklich weinte er aus Schwache etwas, als er die beiden begru?te und das Bukett entgegennahm, kam dann aber, im Anschlu? an dieses, sofort, wenn auch nur mit fast flusternder Stimme, auf den europaischen Blumenhandel und seine immer noch zunehmende Schwunghaftigkeit zu sprechen, auf den gewaltigen Export der Gartnereien von Nizza und Cannes, die Waggonladungen und Postsendungen, die von diesen Orten taglich nach allen Seiten ausgingen, auf die Engrosmarkte von Paris und Berlin und die Versorgung Ru?lands. Denn er war Kaufmann, und in dieser Richtung lagen seine Interessen, solange er eben am Leben war. Sein Vater, der Koburger Puppenfabrikant, hatte ihn zu seiner Ausbildung nach England geschickt, so flusterte er, und dort war er erkrankt. Man hatte aber sein fiebriges Leiden als typhos betrachtet und dementsprechend behandelt, das hie?: ihn auf Wassersuppendiat gesetzt, wodurch er so sehr heruntergekommen sei. Hier oben habe er essen durfen, und er habe es getan: im Schwei?e seines Angesichts habe er im Bette gesessen und sich zu nahren gesucht. Allein es sei zu spat gewesen, sein Darm sei leider in Mitleidenschaft gezogen, vergebens schicke man ihm von zu Hause Zunge und Spickaal, er vertrage nichts mehr. Nun sei sein Vater im Anreisen von Koburg, von Behrens telegraphisch berufen. Denn es solle ja nun ein entscheidender Eingriff, die Rippenresektion, bei ihm vorgenommen werden, man wolle es jedenfalls damit versuchen, obgleich die Chancen verschwindend seien. Rotbein flusterte sehr sachlich hieruber und nahm auch die Frage der Operation durchaus von der geschaftlichen Seite, - solange er eben lebte, wurde er die Dinge unter diesem Gesichtswinkel betrachten. Der Kostenpunkt, flusterte er, sei, die Ruckenmarksanasthesie mit eingerechnet, auf tausend Franken fixiert, denn so gut wie der ganze Brustkorb kame in Betracht, sechs bis acht Rippen, und es frage sich nun, ob das eine irgendwie lohnende Anlage sein werde. Behrens rede ihm zu, aber sein Interesse sei

eindeutig, wahrend das seine zweifelhaft scheineund man nicht wissen konne, ob er nicht kluger tate, ruhig mit seinen Rippen zu sterben.

Es war schwer, ihm zu raten. Die Vettern meinten, man musse die hervorragende chirurgische Geschicklichkeit des Hofrats bei der Kalkulation in Anschlag bringen. Man kam uberein, die Meinung des im Anrollen begriffenen alten Rotbein den Ausschlag geben zu lassen. Bei der Verabschiedung weinte der junge Fritz wieder etwas, und obgleich es nur aus Schwache geschah, standen die Tranen, die er vergo?, in sonderbarem Gegensatz zu der trockenen Sachlichkeit seiner Denk- und Sprechweise. Er bat, die Herren mochten den Besuch wiederholen, und sie versprachen es bereitwillig, kamen aber nicht mehr dazu. Denn da abends der Puppenfabrikant eingetroffen, war man am nachsten Vormittag zur Operation geschritten, nach welcher der junge Fritz nicht mehr empfangsfahig gewesen war. Und zwei Tage spater sah Hans Castorp im Vorbeigehen mit Joachim, da? in dem Rotbeinschen Zimmer gestobert wurde. Schwester Alfreda hatte mit ihrem Kofferchen Haus Berghof schon verlassen, da sie eilig zu einem anderen Moribundus in einer anderen Anstalt bestellt worden war, und seufzend, ihr Kneiferband hinter dem Ohr, hatte sie sich zu ihm begeben, da dies eben die Perspektive war, die sich ihr einzig eroffnete.

Ein "verlassenes", ein freigewordenes Zimmer, worin bei aufeinander geturmten Mobeln und offener Doppeltur gestobert wurde, wie man bemerkte, wenn man auf dem Weg in den Speisesaal oder ins Freie daran voruberkam, - war ein vielsagender, dabei aber so gewohnter Anblick, da? er einem kaum noch viel sagte, besonders wenn man selbst, seinerzeit, von einem soeben auf solche Art "freigewordenen" und gestoberten Zimmer Besitz ergriffen hatte und darin heimisch geworden war. Zuweilen wu?te man, wer auf der betreffenden Nummer gewohnt hatte, was dann immerhin zu denken gab: so diesmal und so auch acht Tage spater, als Hans Castorp im Vorbeigehen das Zimmer der kleinen Gerngro? in demselben Zustand erblickte. In diesem Fall straubte sein Verstandnis sich beim ersten Augenschein gegen den Sinn der dort drinnen herrschenden Geschaftigkeit. Er stand und schaute, versonnen und betroffen, als eben der Hofrat des Weges kam.

"Ich stehe hier und sehe stobern", sagte Hans Castorp. "Guten Tag, Herr Hofrat. Die kleine Leila ..."

"Tja -", antwortete Behrens und zuckte die Achseln. Nach einem Silentium, wahrenddessen diese Gebarde sich auswirkte, setzte er hinzu:

"Sie haben ihr ja schnell vor Torschlu? noch ganz regular den Hof gemacht? Gefallt mir von Ihnen, da? Sie sich meiner Lungenpfeiferchen in ihren Kafigen ein bi?chen annehmen, relativ rustig wie Sie personlich sind. Hubscher Zug Ihrerseits, nee, nee, lassen wir das mal seine Richtigkeit haben, da? es ein ganz hubscher Zug ist in Ihrem Charakterbild. Soll ich Sie gelegentlich ein bi?chen einfuhren dann und wann? Ich habe da noch allerleiZeisige sitzen, - wenn es Sie interessiert. Jetzt gehe ich zum Beispiel auf einen Sprung zu meiner 'Uberfullten'. Kommen Sie mit? Ich stelle Sie einfach als teilnehmenden Leidensgenossen vor."

Hans Castorp sagte, der Hofrat habe ihm das Wort vom Munde genommen und ihm genau das angeboten, um was er ihn eben habe bitten wollen. Dankbar mache er Gebrauch von der Erlaubnis und schlie?e sich an. Aber wer das denn sei, die "Uberfullte", und wie er den Namen verstehen solle.

"Wortlich", sagte der Hofrat. "Ganz prazise und unmetaphorisch. Lassen Sie sichs von ihr selber erzahlen." Mit wenigen Schritten waren sie am Zimmer der "Uberfullten". Der Hofrat drang durch die Doppeltur, indem er seinem Begleiter zu warten befahl. Kurzatmig bedrangtes, aber helles und lustiges Lachen und Sprechen klang bei Behrens' Eintritt aus dem Zimmer und ward dann abgesperrt. Aber auch dem teilnehmenden Besucher klang es wieder entgegen, als ihm einige Minuten spater Einla? gewahrt wurde und Behrens ihn der im Bette liegenden blonden Dame vorstellte, die ihn aus blauen Augen neugierig betrachtete, - Kissen im Rucken, lag sie halb sitzend, in Unruhe, und lachte bestandig perlend, ganz hoch und silberhell, indem sie nach Atem rang, erregt und gekitzelt, wie es schien, von ihrer Beklemmung. Auch uber des Hofrats Redensarten lachte sie wohl, womit er ihr den Besucher prasentierte, rief dem Abgehenden vielmals Adieu und Schonen Dank und Auf Wiedersehn nach, indem sie mit der Hand hinter ihm drein winkte, seufzte klingend, lachte silberne Laufe, stemmte die Hande gegen die unter dem Batisthemd wogende Brust und konnte die Beine nicht ruhig halten. Sie hie? Frau Zimmermann.

Hans Castorp kannte sie fluchtig von Ansehen. Sie hatte einige Wochen lang am Tisch der Salomon und des gefra?igen Schulers gesessen und immer viel gelacht. Dann war sie verschwunden, ohne da? der junge Mann sich weiter darum gekummert hatte. Sie mochte abgereist sein, hatte er gemeint, soweit er sich eine Meinung uber ihr

Unsichtbarwerden gebildet hatte. Nun fand er sie hier, unter dem Namen der "Uberfullten", auf dessen Erklarung er wartete.

"Hahahaha", perlte sie gekitzelt, mit fliegender Brust. "Furchtbar komischer Mann, dieser Behrens, fabelhaft komischer und amusanter Mann, zum Schief- und Kranklachen. Setzen Sie sich doch, Herr Kasten, Herr Carsten, oder wie Sie hei?en, Sie hei?en so komisch, ha, ha, hi, hi, entschuldigen Sie! Setzen Sie sich auf den Stuhl da zu meinen Fu?en, aber erlauben Sie, da? ich strample, ich kann es - ha...a", seufzte sie offenen Mundes und perlte dann wieder, "ich kann es unmoglich lassen."

Sie war nahezu hubsch, hatte klare, etwas zu ausgepragte, aber angenehme Zuge und ein kleines Doppelkinn. Aber ihre Lippen waren blaulich, und auch die Nasenspitze wies diese Tonung auf, zweifellos infolgeLuftmangels. Ihre Hande, die von sympathischer Magerkeit waren, und die die Spitzenmanschetten des Nachthemdes gut kleideten, vermochten sich ebensowenig ruhig zu halten wie die Fu?e. Ihr Hals war madchenhaft, mit "Salzfassern" uber den zarten Schlusselbeinen, und auch die Brust, unter dem Linnen von Gelachter und Atemnot in unruhig knapper und ringender Bewegung gehalten, schien zart und jung. Hans Castorp beschlo?, auch ihr schone Blumen zu schicken oder zu bringen, aus den Exportgartnereien von Nizza und Cannes, besprengte und duftende. Mit einiger Besorgnis stimmte er in Frau Zimmermanns fliegende und bedrangte Heiterkeit ein.

"Und Sie besuchen hier also die Hochgradigen?" fragte sie. "Wie amusant und freundlich von Ihnen, ha, ha, ha, ha! Denken Sie aber, ich bin gar nicht hochgradig, das hei?t, ich war es eigentlich gar nicht, noch bis vor kurzem, nicht im geringsten ... Bis mir neulich diese Geschichte ... Horen Sie nur, ob es nicht das Komischste ist, was Ihnen in Ihrem ganzen Leben ..." Und nach Luft ringend, unter Tirili und Trillern, erzahlte sie ihm, was ihr zugesto?en war.

Ein wenig krank war sie heraufgekommen, - krank immerhin, denn sonst ware sie nicht gekommen, nicht ganz leicht vielleicht sogar, aber eher leicht als schwer. Der Pneumothorax, diese noch junge und rasch zu gro?er Beliebtheit gelangte Errungenschaft der chirurgischen Technik, hatte sich auch in ihrem Falle glanzend bewahrt. Der Eingriff war vollkommen gelungen, Frau Zimmermanns Zustand und Befinden machte die erfreulichsten Fortschritte, ihr Mann - denn sie war verheiratet, wenn auch kinderlos - durfte sie in drei bis vier Monaten zuruckerwarten. Da machte sie, um sich zu amusieren, einen Ausflug

nach Zurich, - es lag kein anderer Grund vor fur diese Reise als der des Amusements. Sie hatte sich auch amusiert nach Herzenslust, war aber dabei der Notwendigkeit innegeworden, sich auffullen zu lassen und hatte mit diesem Geschaft einen dortigen Arzt betraut. Ein netter, komischer junger Mensch, hahaha, hahaha, aber was war geschehen? Er hatte sie uberfullt! Es gab keine andere Bezeichnung dafur, das Wort sagte alles. Er hatte es zu gut mit ihr gemeint, hatte die Sache wohl nicht so recht verstanden, und kurz und gut: in uberfulltem Zustande, das hei?t unter Herzbeklemmungen und Atemnot - ha! hihihi - war sie hier oben wieder eingetroffen und von Behrens, der mordsma?ig gewettert hatte, sofort ins Bett gesteckt worden. Denn nun sei sie schwerkrank, - nicht hochgradig eigentlich, aber verpfuscht, verpatzt, - hahaha, sein Gesicht, was er denn fur ein komisches Gesicht mache? Und sie lachte, indem sie mit dem Finger hineindeutete, so sehr uber dies Gesicht, da? nun auch ihre Stirn sich blau zu farben begann. Aber am allerkomischsten, sagte sie, sei Behrens mit seinem Gewetter und seinerGrobheit, - schon im voraus habe sie daruber lachen mussen, als sie gemerkt habe, da? sie uberfullt sei. "Sie schweben in absoluter Lebensgefahr", habe er sie angeschrien ohne Umschweife und Einkleidung, so ein Bar, hahaha, hihihi, entschuldigen Sie.

Es blieb zweifelhaft, in welchem Sinn sie uber des Hofrats Erklarung so perlend lachte, - ob nur ihrer "Grobheit" wegen und weil sie nicht daran glaubte, oder obgleich sie daran glaubte - denn das mu?te sie doch wohl tun -, aber die Sache selbst, das hei?t die Lebensgefahr, in der sie schwebte, eben nur furchtbar komisch fand. Hans Castorp hatte den Eindruck, da? dies letztere zutreffe, und da? sie wirklich nur aus kindischem Leichtsinn und dem Unverstand ihres Vogelhirns perle, trillere und tiriliere, was er mi?billigte. Trotzdem schickte er ihr Blumen, sah aber auch die lachlustige Frau Zimmermann nicht wieder. Denn nachdem sie noch einige Tage lang unter Sauerstoff gehalten worden, war sie im Arm ihres telegraphisch herbeigerufenen Gatten denn richtig gestorben, - eine Gans in Folio, wie der Hofrat, von dem Hans Castorp es horte, von sich aus hinzufugte.

Aber schon vorher hatte Hans Castorps teilnehmender Unternehmungsgeist mit Hilfe des Hofrats und des Pflegepersonals weitere Beziehungen zu den Schwerkranken des Hauses angeknupft, und Joachim mu?te mit. Er mu?te mit zu dem Sohne von "Tous les deux", dem zweiten, der noch ubrig war, nachdem bei dem anderen nebenan

schon langst gestobert und mit H?CO gerauchert worden. Ferner zu dem Knaben Teddy, der kurzlich aus dem "Fridericianum" genannten Erziehungsinstitut, fur das sein Fall zu schwer gewesen, heraufgekommen war. Ferner zu dem deutsch-russischen Versicherungsbeamten Anton Karlowitsch Ferge, einem gutmutigen Dulder. Ferner zu der ungluckseligen und dabei so gefallsuchtigen Frau von Mallinckrodt, die ebenfalls Blumen bekam wie die Vorgenannten, und die von Hans Castorp in Joachims Gegenwart sogar mehrmals mit Brei gefuttert wurde ... Nachgerade gelangten sie in den Ruf von Samaritern und barmherzigen Brudern. Auch redete Settembrini Hans Castorp eines Tages in diesem Sinne an.

"Sapperlot, Ingenieur, ich hore Auffalliges von Ihrem Wandel. Sie haben sich auf die Mildtatigkeit geworfen? Sie suchen Rechtfertigung durch gute Werke?"

"Nicht der Rede wert, Herr Settembrini. Gar nichts dabei, wovon es lohnte, Aufhebens zu machen. Mein Vetter und ich ..."

"Aber lassen Sie doch Ihren Vetter aus dem Spiel! Man hat es mit Ihnen zu tun, wenn Sie beide von sich reden machen, das ist gewi?. Der Leutnant ist eine respektable, aber einfache und geistig unbedrohte Natur, die dem Erzieher wenig Unruhe verursacht. Sie werden mich an seine Fuhrerschaft nicht glauben machen. Der Bedeutendere, aber auch der Gefahrdetere sind Sie. Sie sind, wenn ich mich so ausdrucken darf, ein Sorgenkind des Lebens, - man mu? sich um Sie kummern. Ubrigens habenSie mir erlaubt, mich um Sie zu kummern."

"Gewi?, Herr Settembrini. Ein fur allemal. Sehr freundlich von Ihnen. Und 'Sorgenkind des Lebens' ist hubsch. Worauf so ein Schriftsteller nicht gleich verfallt! Ich wei? nicht recht, ob ich mir etwas einbilden soll auf diesen Titel, aber hubsch klingt er, das mu? ich sagen. Ja, und ich gebe mich nun also ein bi?chen mit den 'Kindern des Todes' ab, das ist es ja wohl, was Sie meinen. Ich sehe mich hie und da, wenn ich Zeit habe, ganz nebenbei, der Kurdienst leidet so gut wie gar nicht darunter, nach den Schweren und Ernsten um, verstehen Sie, die nicht zu ihrem Amusement hier sind und es liederlich treiben, sondern die sterben."

"Es steht jedoch geschrieben: La?t die Toten ihre Toten begraben", sagte der Italiener.

Hans Castorp hob die Arme und druckte mit seiner Miene aus, da? gar so manches geschrieben stehe, dies und auch wieder jenes, so da? es schwer sei, das Rechte herauszufinden und es zu befolgen.

Selbstverstandlich hatte der Drehorgelmann einen storenden Gesichtspunkt geltend gemacht, das war zu erwarten gewesen. Aber wenn auch Hans Castorp nach wie vor bereit war, ihm ein Ohr zu leihen, seine Lehren unverbindlicherweise horenswert zu finden und sich zum Versuche padagogisch beeinflussen zu lassen, so war er doch weit entfernt, um irgendwelcher erzieherischer Gesichtspunkte willen auf Unternehmungen zu verzichten, die ihm, trotz Mutter Gerngro? und ihrer Redensart vom "netten kleinen Flirt", trotz auch dem nuchternen Wesen des armen Rotbein und dem torichten Tirili der Uberfullten, noch immer auf unbestimmte Art forderlich und von bedeutender Tragweite erschienen.

Der Sohn Tous-les-deux' hie? Lauro. Er hatte Blumen erhalten, erdig duftende Nizzaveilchen, "von zwei teilnehmenden Hausgenossen, mit besten Genesungswunschen", und da die Anonymitat zur reinen Formsache geworden war und jedermann wu?te, von wem diese Spenden ausgingen, so redete Tous-les-deux selbst, die schwarzbleiche Mutter aus Mexiko, bei einer Begegnung auf dem Korridor die Vettern dankend an, indem sie sie mit rasselnden Worten, hauptsachlich aber durch ein gramvoll einladendes Gebardenspiel aufforderte, den Dank ihres Sohnes - de son seul et dernier fils qui allait mourir aussi - personlich entgegenzunehmen. Das geschah auf der Stelle. Lauro erwies sich als ein erstaunlich schoner junger Mann mit Glutaugen, einer Adlernase, deren Nustern flogen, und prachtvollen Lippen, uber denen ein schwarzes Schnurrbartchen spro?te, - zeigte dabei aber ein so prahlerisch-dramatisches Gebaren, da? die Besucher, Hans Castorp wirklich nicht weniger als Joachim Ziem?en, froh waren, als sich die Tur des Krankenzimmers wieder hinter ihnen schlo?. Denn wahrend Tous-les-deux in ihrem schwarzen Kaschmirtuch, den schwarzen Schleier unter dem Kinn geknotet, Querfalten auf ihrer engen Stirn und ungeheure Hautsacke unter ihren jettschwarzen Augen, mit krummen Knien wandernd den Raum durchma?, den einen Winkelihres gro?en Mundes harmvoll tief hinabhangen lie? und dann und wann sich den am Bette Sitzenden naherte, um ihren tragischen Papageienspruch zu wiederholen: "Tous les de, vous comprenez, messies ... Premierement l'un et maintenant l'autre" - erging sich der schone Lauro, ebenfalls auf franzosisch, in rollenden, rasselnden und unertraglich hochtrabenden Redereien, des Inhalts, da? er wie ein Held zu sterben gedenke, comme heros, a l'espagnol, gleich seinem Bruder, de meme que son fier jeune frere Fernando, der ebenfalls wie ein spanischer Held gestorben sei, -

gestikulierte, ri? sich das Hemd auf, um den Streichen des Todes die gelbe Brust zu bieten, und betrug sich so fort, bis ein Hustenanfall, der ihm dunnen, rosafarbenen Schaum auf die Lippen trieb, seine Rodomontaden erstickte und die Vettern veranla?te, auf den Zehenspitzen hinauszugehen.

Sie sprachen nicht weiter uber den Besuch bei Lauro, und auch im stillen, jeder fur sich, enthielten sie sich des Urteils uber sein Gehaben. Besser aber gefiel es allen beiden bei Anton Karlowitsch Ferge aus Petersburg, der mit seinem gro?en gutmutigen Schnurrbart und seinem ebenfalls mit gutmutigem Ausdruck vorragenden Kehlkopf im Bette lag und sich nur langsam und schwer von dem Versuch erholte, den Pneumothorax bei sich herstellen zu lassen, was ihm, Herrn Ferge, um ein Haar auf der Stelle das Leben gekostet hatte. Er hatte einen heftigen Chok dabei erlitten, den Pleurachok, als Zwischenfall bekannt bei diesem modischen Eingriff. Bei ihm aber war der Pleurachok in ausnehmend gefahrlicher Form, als vollstandiger Kollaps und bedenklichste Ohnmacht, mit einem Worte so schwer aufgetreten, da? man die Operation hatte unterbrechen und vorlaufig vertagen mussen.

Herrn Ferges gutmutige graue Augen erweiterten sich, und sein Gesicht wurde fahl, sooft er auf den Vorgang zu sprechen kam, der fur ihn grauenhaft gewesen sein mu?te. "Ohne Narkose, meine Herren. Gut, unsereiner vertragt das nicht, es verbietet sich in diesem Fall, man begreift und findet sich als vernunftiger Mensch in die Sache. Aber das Ortliche reicht nicht tief, meine Herren, nur das au?ere Fleisch macht es stumpf, man spurt, wenn man aufgemacht wird, allerdings nur ein Drucken und Quetschen. Ich liege mit zugedecktem Gesicht, damit ich nichts sehe, und der Assistent halt mich rechts und die Oberin links. Es ist so, als ob ich gedruckt und gequetscht wurde, das ist das Fleisch, das geoffnet und mit Klammern zuruckgezwangt wird. Aber da hore ich den Herrn Hofrat sagen: 'So!' und in dem Augenblick, meine Herren, fangt er an, mit einem stumpfen Instrument - es mu? stumpf sein, damit es nicht vorzeitig durchsticht - das Rippenfell abzutasten: er tastet es ab, um die rechte Stelle zu finden, wo er durchstechen und das Gas einlassen kann, und wie er das tut,wie er mit dem Instrument auf meinem Rippenfell herumfahrt, - meine Herren, meine Herren! da war es um mich geschehen, es war aus mit mir, es erging mir ganz unbeschreiblich. Das Rippenfell, meine Herren, das soll nicht beruhrt werden, das darf und will nicht beruhrt werden, das ist tabu, das ist mit Fleisch zugedeckt, isoliert

und unnahbar, ein fur allemal. Und nun hatte er es blo?gelegt und tastete es ab. Meine Herren, da wurde mir ubel. Entsetzlich, entsetzlich, meine Herren, - nie hatte ich gedacht, da? so ein siebenmal scheu?liches und hundsfottisch gemeines Gefuhl auf Erden und abgesehen von der Holle uberhaupt vorkomme! Ich fiel in Ohnmacht, - in drei Ohnmachten auf einmal, eine grune, eine braune und eine violette. Au?erdem stank es in dieser Ohnmacht, der Pleurachok warf sich mir auf den Geruchsinn, meine Herren, es roch uber alle Ma?en nach Schwefelwasserstoff, wie es in der Holle riechen mu?, und bei alldem horte ich mich lachen, wahrend ich abschnappte, aber nicht wie ein Mensch lacht, sondern das war die unanstandigste und ekelhafteste Lache, die ich in meinem Leben je gehort habe, denn das Abgetastetwerden des Rippenfells, meine Herren, das ist ja, als ob man auf die allerinfamste, ubertriebenste und unmenschlichste Weise gekitzelt wurde, so und nicht anders ist es mit dieser verdammten Schande und Qual, und das ist der Pleurachok, den der liebe Gott Ihnen erspare."

Oft und nicht anders als mit fahlem Grauen kam Anton Karlowitsch Ferge auf dies "hundsfottische" Erlebnis zuruck und angstigte sich nicht wenig vor seiner Wiederholung. Ubrigens hatte er sich von vornherein als einen einfachen Menschen bekannt, dem alles "Hohe" vollstandig fernliege und an den man besondere Anspruche geistiger und gemutlicher Art nicht stellen durfe, wie auch er solche Anspruche an niemanden stelle. Dies vereinbart, erzahlte er gar nicht uninteressant von seinem fruheren Leben, aus dem die Krankheit ihn dann geworfen, dem Leben eines Reisenden im Dienst einer Feuerversicherungsgesellschaft: von Petersburg aus hatte er in weitlaufigen Kreuz- und Querfahrten durch ganz Ru?land die assekurierten Fabriken besucht und die wirtschaftlich zweifelhaften auszukundschaften gehabt; denn es sei statistisch, da? in den gerade schlecht gehenden Industrien die meisten Fabrikbrande vorkamen. Darum sei er denn ausgesandt worden, um unter diesem und jenem Vorwande einen Betrieb zu sondieren und seiner Bank Bericht zu erstatten, damit zu rechter Zeit durch verstarkte Ruckversicherung oder Pramienteilung empfindlichem Verlust habe vorgebeugt werden konnen. Von winterlichen Reisen durch das weite Reich erzahlte er, von Fahrten die Nachte hindurch bei ungeheuerem Frost, im Liegeschlitten, unter Schaffelldecken, und wie er erwachend die Augen der Wolfe gleich Sternen uber dem Schnee habe gluhen sehen. Gefrorenen Proviant, so Kohlsuppe wie Wei?brot, hatte er im Kasten mit sich gefuhrt,die an den

Stationen, beim Pferdewechsel, zum Genusse aufgetaut worden waren, wobei sich das Brot als frisch wie am ersten Tage erwiesen hatte. Und schlimm nur, wenn unterwegs plotzlich Tauwetter eingefallen war: dann war ihm die in Stucken mitgenommene Kohlsuppe ausgelaufen.

In dieser Weise erzahlte Herr Ferge, indem er sich hin und wieder seufzend mit der Bemerkung unterbrach, das sei alles recht schon, aber wenn nur nicht noch einmal der Versuch mit dem Pneumothorax bei ihm gemacht werden musse. Es war nichts Hoheres, was er vorbrachte, aber faktischer Natur und ganz gut zu horen, besonders fur Hans Castorp, dem es forderlich schien, vom russischen Reich und seinem Lebensstil zu vernehmen, von Samowaren, Piroggen, Kosaken und holzernen Kirchen mit so vielen Zwiebelturmkopfen, da? sie Pilzkolonien glichen. Auch von der dortigen Menschenart, ihrer nordlichen und darum in seinen Augen desto abenteuerlicheren Exotik, lie? er Herrn Ferge erzahlen, von dem asiatischen Einschu? ihres Geblutes, den vortretenden Backenknochen, dem finnisch-mongolischen Augensitz, und lauschte mit anthropologischem Anteil, lie? sich auch Russisch vorsprechen, - rasch, verwaschen, wildfremd und knochenlos ging das ostliche Idiom unter Herrn Ferges gutmutigem Schnurrbart, aus seinem gutmutig vorstehenden Kehlkopf hervor -, und desto besser(wie einmal die Jugend ist) fand sich Hans Castorp von alldem unterhalten, als es padagogisch verbotenes Gebiet war, auf dem er sich tummelte.

Sie sprachen ofters auf eine Viertelstunde bei Anton Karlowitsch Ferge vor. Dazwischen besuchten sie den Knaben Teddy aus dem "Fridericianum", einen eleganten Vierzehnjahrigen, blond und fein, mit Privatpflegerin und in wei?seidenem, verschnurtem Pyjama. Er war Waise und reich, wie er selbst erzahlte. In Erwartung eines tieferen operativen Eingriffs, der Entfernung wurmstichiger Teile, womit man es probieren wollte, verlie? er, wenn er sich besser fuhlte, zuweilen auf eine Stunde sein Bett, um sich in seinem hubschen Sportanzug an der unteren Geselligkeit zu beteiligen. Die Damen schakerten gern mit ihm, und er horte ihren Gesprachen zu, zum Beispiel denen, die sich mit Rechtsanwalt Einhuf, dem Fraulein in der Reformhose und Franzchen Oberdank beschaftigten. Dann legte er sich wieder. So lebte der Knabe Teddy elegant in den Tag hinein, indem er durchblicken lie?, da? er vom Leben nichts anderes mehr, als eben immer nur dies, erwarte.

Aber auf Nummer funfzig lag Frau von Mallinckrodt, Natalie mit Vornamen, mit schwarzen Augen und goldenen Ringen in den Ohren,

kokett, putzsuchtig und dabei ein weiblicher Lazarus und Hiob, von Gott mit jederlei Bresthaftigkeit geschlagen. Ihr Organismus schien mit Giftstoffen uberschwemmt, so da? alle moglichen Krankheiten sie abwechselnd und gleichzeitig heimsuchten. Sehr in Mitleidenschaft gezogen war ihr Hautorgan, das zu gro?en Teilen von einem qualvoll juckenden, da und dort wunden Ekzem uberzogen war, auch am Munde, woraus der Einfuhrung des Loffels Schwierigkeiten erwuchsen. Innere Entzundungen, solche desRippenfells, der Nieren, der Lungen, der Knochenhaute und selbst des Hirns, so da? Bewu?tlosigkeit einfiel, losten einander ab bei Frau von Mallinckrodt, und Herzschwache, hervorgerufen durch Fieber und Schmerzen, schuf ihr gro?e Angste, bewirkte zum Beispiel, da? sie beim Schlucken das Essen nicht ordentlich hinunterbrachte: gleich oben in der Speiserohre blieb es ihr stecken. Kurzum, die Frau war gra?lich daran und au?erdem ganz allein in der Welt; denn nachdem sie Mann und Kinder um eines anderen Mannes, das hei?t eines halben Knaben, willen verlassen, war sie ihrerseits von ihrem Geliebten verlassen worden, wie die Vettern von ihr selbst erfuhren, und war nun heimatlos, wenn auch nicht ohne Mittel, da der Ehemann sie mit solchen versah. Sie machte ohne unangebrachten Stolz von seiner Anstandigkeit oder seiner fortdauernden Verliebtheit Gebrauch, da sie sich selber nicht ernst nahm, sondern einsah, da? sie nur ein ehrloses, sundhaftes Weibchen war, und trug denn auf dieser Basis alle ihre Hiobsplagen mit erstaunlicher Geduld und Zahigkeit, der elementaren Widerstandskraft ihrer Rasse-Weiblichkeit, die uber das Elend ihres braunlichen Korpers triumphierte und noch aus dem wei?en Gazeverband, den sie aus irgendeinem schlimmen Grunde um den Kopf tragen mu?te, ein kleidsames Kostumstuck machte. Bestandig wechselte sie den Schmuck, begann in der Fruhe mit Korallen und endete abends mit Perlen. Erfreut durch Hans Castorps Blumensendung, der sie offensichtlich eine mehr galante als charitative Bedeutung beilegte, lie? sie die jungen Herren zum Tee an ihr Lager bitten, den sie aus einer Schnabeltasse trank, die Finger ohne Ausnahme der Daumen und bis zu den Gelenken mit Opalen, Amethysten und Smaragden bedeckt. Bald, wahrend die goldenen Ringe an ihren Ohren schaukelten, hatte sie den Vettern erzahlt, wie alles sich mit ihr zugetragen: von ihrem anstandigen, aber langweiligen Mann, ihren ebenfalls anstandigen und langweiligen Kindern, die ganz dem Vater nacharteten und fur die sie sich niemals sonderlich hatte erwarmen konnen, und von dem halben Knaben, mit dem sie das Weite gesucht und dessen poetische

Zartlichkeit sie sehr zu ruhmen wu?te. Aber seine Verwandten hatten ihn mit List und Gewalt von ihr losgemacht, und dann habe sich der Kleine auch wohl vor ihrer Krankheit geekelt, die damals vielfaltig und sturmisch zum Ausbruch gekommen. Ob die Herren sich etwa auch ekelten, fragte sie kokettierend; und ihre Rasse-Weiblichkeit triumphierte uber das Ekzem, das ihr das halbe Gesicht uberzog.

Hans Castorp dachte geringschatzig uber den Kleinen, der sich geekelt hatte, und gab dieser Empfindung auch durch ein Achselzucken Ausdruck. Was ihn betraf, so lie? er sich den Weichmut des poetischen Halbknaben zum Ansporn in entgegengesetzter Richtung dienen, und nahm Gelegenheit, der ungluckseligen Frau von Mallinckrodt bei wiederholten Besuchen kleine Pflegerdienste zu leisten, zu denen keine Vorkenntnisse gehorten, das hei?t: ihr behutsamden Mittagsbrei einzufuhren, wenn er eben serviert wurde, ihr aus der Schnabeltasse zu trinken zu geben, wenn der Bissen ihr steckenblieb, oder ihr beim Umlagern im Bette behilflich zu sein; denn zu allem ubrigen erschwerte eine Operationswunde ihr auch das Liegen. In diesen Handreichungen ubte er sich, wenn er auf dem Wege zum Speisesaal oder von einem Spaziergange heimkehrend bei ihr einsprach, indem er Joachim aufforderte, immer voranzugehen, er wolle nur rasch den Fall auf Nummer funfzig ein bi?chen kontrollieren, - und empfand eine begluckende Ausdehnung seines Wesens dabei, eine Freude, die auf dem Gefuhl von der Forderlichkeit und heimlichen Tragweite seines Tuns beruhte, sich ubrigens auch mit einem gewissen diebischen Vergnugen an dem untadelig christlichen Geprage dieses Tuns und Treibens mischte, einem so frommen, milden und lobenswerten Geprage in der Tat, da? weder vom militarischen noch vom humanistisch-padagogischen Standpunkte irgend etwas Ernstliches dagegen erinnert werden konnte.

Von Karen Karstedt war noch nicht die Rede, und doch nahmen Hans Castorp und Joachim sich ihrer sogar besonders an. Sie war eine auswartige Privatpatientin des Hofrats, von ihm der Charitat der Vettern empfohlen. Seit vier Jahren hier oben, war die Mittellose von harten Verwandten abhangig, die sie schon einmal, da sie doch sterben musse, von hier fortgenommen und nur auf Einspruch des Hofrats wieder heraufgeschickt hatten. Sie domizilierte im "Dorf", in einer billigen Pension, - neunzehnjahrig und schmachtig, mit glattem, geoltem Haar, Augen, die zaghaft einen Glanz zu verbergen suchten, der mit der hektischen Erhohung ihrer Wangen ubereinstimmte, und einer

charakteristisch belegten, dabei aber sympathisch lautenden Stimme. Sie hustete fast ohne Unterbrechung, und ihre samtlichen Fingerspitzen waren verpflastert, da sie infolge der Vergiftung offen waren.

Ihr also widmeten die beiden auf Furbitte des Hofrats, da sie nun einmal so gutherzige Kerle seien, sich ganz besonders. Mit einer Blumensendung begann es, dann folgte ein Besuch bei der armen Karen auf ihrem kleinen Balkon in "Dorf" und hierauf diese und jene au?erordentliche Unternehmung zu dritt: die Besichtigung einer Eislaufkonkurrenz, eines Bobsleighrennens. Denn es war nun die Wintersport-Jahreszeit unseres Hochtales auf voller Hohe, eine Festwoche wurde begangen, die Veranstaltungen hauften sich, diese Lustbarkeiten und Schauspiele, denen die Vettern bisher keine andere als nur eine gelegentlich-fluchtige Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Joachim war ja allen Zerstreuungen hier oben abhold. Nicht um solcher willen war er hier, - war uberhaupt nicht hier, um zu leben und sich mit dem Aufenthalt abzufinden, indem er ihn angenehm und abwechslungsreich gestaltete, sondern einzig und ganz allein, um sich moglichst rasch zu entgiften, damit er in der Ebene Dienst machen konne, wirklichen Dienst statt des Kurdienstes, der ein Ersatzmittel war, aber an dem er einen Raub nur widerwillig duldete. Sich tatig an der Winterlust zubeteiligen, war ihm verboten, und den Gaffer zu spielen, hatte ihm mi?fallen. Was aber Hans Castorp betraf, so fuhlte er sich zu sehr, in einem zu strengen und intimen Verstande, als Mitglied Derer hier oben, um Sinn und Blick zu haben fur das Treiben von Leuten, die in diesem Tale ein Sportgelande sahen.

Die charitative Teilnahme nun aber fur das arme Fraulein Karstedt brachte hierin einige Anderung hervor, - ohne unchristlich zu erscheinen, konnte Joachim keine Einwande dagegen erheben. Sie holten die Kranke aus ihrer durftigen Wohnung in "Dorf" und fuhrten sie bei prachtig hei? durchsonntem Frostwetter durch das nach dem Hotel d'Angleterre genannte Englische Viertel, zwischen den Luxusladen der Hauptstra?e hin, auf der Schlitten lauteten, reiche Genie?er und Tagediebe aus aller Welt, Bewohner des Kurhauses und der anderen gro?en Hotels, barhaupt in modischem Sportdre? aus edlen und teueren Stoffen, mit Gesichtern, bronziert von Wintersonnenbrand und Schneestrahlung, sich ergingen, und hinab auf den nicht weit vom Kurhause in der Tiefe des Tales gelegenen Eisplatz, der im Sommer eine zum Fu?ballspiel benutzte Wiese gewesen. Musik erscholl; die Kurkapelle konzertierte auf der

Empore des holzernen Pavillongebaudes zu Haupten der viereckig gestreckten Bahn, hinter welchem die verschneiten Berge im Dunkelblauen standen. Sie nahmen Einla?, drangten sich durch das Publikum, das von drei Seiten, auf ansteigenden Sitzen, die Bahn umgab, fanden Platze und schauten. Die Kunstlaufer, in knapper Tracht, schwarzen Trikots, Pelzwerk an den Tressenjacken, wiegten sich, schwebten, zogen Figuren, sprangen und kreiselten. Ein virtuoses Paar, Herr und Dame, Professionals und au?er Konkurrenz, vollfuhrte etwas in der ganzen Welt nur von ihm Vermochtes, entfesselte Tusch und Handeklatschen. Im Kampf um den Schnelligkeitspreis arbeiteten sich sechs junge Manner verschiedener Nationalitat, gebuckt, die Hande auf dem Rucken, zuweilen das Taschentuch vor dem Munde, sechsmal um das weite Viereck. Man lautete mit einer Glocke in die Musik hinein. Zuweilen brandete die Menge in anfeuernden Zurufen und Beifall auf.

Es war eine bunte Versammlung, in der die drei Kranken, die Vettern und ihr Schutzling sich umsahen. Englander mit schottischen Mutzen und wei?en Zahnen sprachen Franzosisch mit penetrant duftenden Damen, die von oben bis unten in bunte Wolle gekleidet waren, und von denen einige in Hosen gingen. Kleinkopfige Amerikaner, das Haar glatt angeklebt, die Shagpfeife im Munde, trugen Pelze, deren Rauhseite nach au?en gekehrt war. Russen, bartig und elegant, barbarisch reichen Ansehens, und Hollander von malaischem Kreuzungstyp sa?en zwischen deutschem und schweizerischem Publikum, wahrend allerlei Unbestimmtes, franzosisch Redendes, vom Balkan oder der Levante, abenteuerliche Welt, fur die Hans Castorp eine gewisse Schwache an den Tag legte, und die von Joachim als zweideutig und charakterlos abgelehnt wurde, uberall eingesprengt war. Kinder konkurrierten zwischendurch in scherzhaften Aufgaben, stolperten uber die Bahn, am einen Fu? einenSchnee-, am anderen einen Schlittschuh, oder indem die Knaben ihre Damchen auf Schaufeln vor sich her schoben. Sie liefen mit brennenden Kerzen, wobei Sieger war, wer sein Licht, noch brennend, zum Ziele trug, mu?ten im Laufe Hindernisse uberklettern oder Kartoffeln mit Zinnloffeln in aufgestellte Gie?kannen lesen. Die gro?e Welt jubelte. Man zeigte sich die reichsten, beruhmtesten und anmutigsten unter den Kindern, das Tochterchen eines hollandischen Multimillionars, den Sohn eines preu?ischen Prinzen und einen Zwolfjahrigen, der den Namen einer weltbekannten Champagnerfirma trug. Die arme Karen jubelte ebenfalls und hustete dabei. Sie klatschte vor Freude in ihre Hande mit den offenen Fingerspitzen. Sie war so

dankbar.

Auch zum Bobsleighrennen fuhrten die Vettern sie: es war nicht weit zum Ziel, weder vom "Berghof" noch auch von Karen Karstedts Wohnung, denn die Bahn, von der Schatzalp herunterkommend, endete in "Dorf" zwischen den Siedelungen des westlichen Hanges. Ein Kontrollhauschen war dort errichtet, wohin die Abfahrt eines jeden Gefahrts vom Start telephonisch gemeldet wurde. Zwischen den vereisten Schneebarrieren, auf den metallisch glanzenden Kurven der Bahn steuerten die flachen Geruste, bemannt mit Mannern und Frauen in wei?er Wolle, Scharpen in allerlei Landesfarben um die Brust, einzeln, in gro?eren Abstanden, aus der Hohe daher. Man sah rote, angestrengte Gesichter, in die es hineinschneite. Sturze, Schlitten, die aneckten, sich uberschlugen und ihre Mannschaft in den Schnee entleerten, wurden vom Publikum photographiert. Musik spielte auch hier. Die Zuschauer sa?en auf kleinen Tribunen oder schoben sich auf dem schmalen Gehpfade hin, der neben der Bahn geschaufelt war. Holzbrucken, uber die er spater fuhrte, die die Bahn uberspannten, und unter denen von Zeit zu Zeit ein konkurrierender Bobsleigh dahinsauste, waren ebenfalls mit Menschen besetzt. Die Leichen des Sanatoriums droben nahmen den gleichen Weg, im Saus unter den Brucken dahin, die Kurven hinab, zu Tale, zu Tale, dachte Hans Castorp und sprach auch davon.

Selbst ins Bioskop-Theater von "Platz" fuhrten sie Karen Karstedt eines Nachmittags, da sie das alles so sehr geno?. In der schlechten Luft, die alle drei physisch stark befremdete, da sie nur das Reinste gewohnt waren, sich ihnen schwer auf die Brust legte und einen truben Nebel in ihren Kopfen erzeugte, flirrte eine Menge Leben, kleingehackt, kurzweilig und beeilt, in aufspringender, zappelnd verweilender und wegzuckender Unruhe, zu einer kleinen Musik, die ihre gegenwartige Zeitgliederung auf die Erscheinungsflucht der Vergangenheit anwandte und bei beschrankten Mitteln alle Register der Feierlichkeit und des Pompes, der Leidenschaft, Wildheit und girrenden Sinnlichkeit zu ziehen wu?te, auf der Leinwand vor ihren schmerzenden Augen voruber. Es war eine aufgeregte Liebes- und Mordgeschichte, die sie sahen, stumm sich abhaspelnd am Hofe eines orientalischen Despoten, gejagte Vorgange voll Pracht und Nacktheit, voll Herrscherbrunst und religioser Wut der Unterwurfigkeit, voll Grausamkeit, Begierde, todlicherLust und von verweilender Anschaulichkeit, wenn es die Muskulatur von Henkersarmen zu besichtigen galt, - kurz, hergestellt aus

sympathetischer Vertrautheit mit den geheimen Wunschen der zuschauenden internationalen Zivilisation. Settembrini, als Mann des Urteils, hatte die humanitatswidrige Darbietung wohl scharf verneinen, mit gerader und klassischer Ironie den Mi?brauch der Technik zur Belebung so menschenverachterischer Vorstellungen gei?eln mussen, dachte sich Hans Castorp und flusterte dergleichen seinem Vetter auch zu. Frau Stohr dagegen, die ebenfalls anwesend war und nicht weit von den Dreien sa?, erschien ganz Hingabe; ihr rotes, ungebildetes Gesicht war im Genusse verzerrt.

Ubrigens verhielt es sich ahnlich mit allen Gesichtern, in die man blickte. Wenn aber das letzte Flimmerbild einer Szenenfolge wegzuckte, im Saale das Licht aufging und das Feld der Visionen als leere Tafel vor der Menge stand, so konnte es nicht einmal Beifall geben. Niemand war da, dem man durch Applaus hatte danken, den man fur seine Kunstleistung hatte hervorrufen konnen. Die Schauspieler, die sich zu dem Spiele, das man genossen, zusammengefunden, waren langst in alle Winde zerstoben; nur die Schattenbilder ihrer Produktion hatte man gesehen, Millionen Bilder und kurzeste Fixierungen, in die man ihr Handeln aufnehmend zerlegt hatte, um es beliebig oft, zu rasch blinzelndem Ablauf, dem Elemente der Zeit zuruckzugeben. Das Schweigen der Menge nach der Illusion hatte etwas Nervloses und Widerwartiges. Die Hande lagen ohnmachtig vor dem Nichts. Man rieb sich die Augen, stierte vor sich hin, schamte sich der Helligkeit und verlangte zuruck ins Dunkel, um wieder zu schauen, um Dinge, die ihre Zeit gehabt, in frische Zeit verpflanzt und aufgeschminkt mit Musik, sich wieder begeben zu sehen.

Der Despot starb unter dem Messer, mit einem Gebrull aus offenem Munde, das man nicht horte. Man sah dann Bilder aus aller Welt: den Prasidenten der franzosischen Republik in Zylinder und Gro?kordon, vom Sitze des Landauers auf eine Begru?ungsansprache erwidernd; den Vizekonig von Indien bei der Hochzeit eines Radscha; den deutschen Kronprinzen auf einem Kasernenhofe zu Potsdam. Man sah das Leben und Treiben in einem Eingeborenendorf von Neumecklenburg, einen Hahnenkampf auf Borneo, nackte Wilde, die auf Nasenfloten bliesen, das Einfangen wilder Elefanten, eine Zeremonie am siamesischen Konigshof, eine Bordellstra?e in Japan, wo Geishas hinter holzernen Kafiggittern sa?en. Man sah vermummte Samojeden im Renntierschlitten durch eine nordasiatische Schneeode kutschieren, russische Pilger zu Hebron

anbeten, an einem persischen Delinquenten die Bastonade vollziehen. Man war zugegen bei alldem; der Raum war vernichtet, die Zeit zuruckgestellt, das Dort und Damals in ein huschendes, gaukelndes, von Musik umspieltes Hier und Jetzt verwandelt. Ein junges marokkanisches Weib, in gestreifter Seide, aufgeschirrt mit Ketten, Spangen und Ringen, die strotzende Brust halb entblo?t, ward plotzlich in Lebensgro?e angenahert. Ihre Nustern waren breit, ihre Augen voll tierischen Lebens, ihre Zugein Bewegung; sie lachte mit wei?en Zahnen, hielt eine ihrer Hande, deren Nagel heller schienen, als das Fleisch, als Schirm uber die Augen und winkte mit der anderen ins Publikum. Man starrte verlegen in das Gesicht des reizvollen Schattens, der zu sehen schien und nicht sah, der von den Blicken gar nicht beruhrt wurde, und dessen Lachen und Winken nicht die Gegenwart meinte, sondern im Dort und Damals zu Hause war, so da? es sinnlos gewesen ware, es zu erwidern. Dies mischte, wie gesagt, der Lust ein Gefuhl der Ohnmacht bei. Dann verschwand das Phantom. Leere Helligkeit uberzog die Tafel, das Wort "Ende" ward darauf geworfen, der Zyklus der Darbietungen hatte sich geschlossen, und stumm raumte man das Theater, wahrend von au?en neues Publikum hereindrangte, das eine Wiederholung des Ablaufs zu genie?en begehrte.

Ermuntert durch Frau Stohr, die sich ihnen anschlo?, besuchte man hierauf noch, der armen Karen zu Gefallen, die vor Dankbarkeit die Hande gefaltet hielt, das Cafe des Kurhauses. Auch hier gab es Musik. Ein kleines, rotbefracktes Orchester spielte unter der Fuhrung eines tschechischen oder ungarischen Primgeigers, der, von der Truppe gelost, zwischen tanzenden Paaren stand und unter feurigen Korperwindungen sein Instrument bearbeitete. Mondanes Leben herrschte an den Tischen. Es wurden seltene Getranke herumgetragen. Die Vettern bestellten Orangeade zur Kuhlung fur sich und ihren Schutzling, denn es war hei? und staubig, wahrend Frau Stohr su?en Schnaps zu sich nahm. Um diese Stunde, sagte sie, sei es mit dem Betriebe hier noch nicht vollig das Rechte. Der Tanz belebe sich noch bedeutend bei vorruckendem Abend; zahlreiche Patienten der diversen Heilanstalten und wildlebende Kranke aus den Hotels und dem Kurhause selbst, viel mehr noch, als jetzt, beteiligten sich spater daran, und schon manche Hochgradige sei hier in die Ewigkeit hinubergetanzt, indem sie den Becher der Lebenslust gekippt und den finalen Blutsturz in dulci jubilo erlitten habe. Was Frau Stohrs gro?e Unbildung aus dem "dulci jubilo" machte, war ganz au?erordentlich; das erste Wort entlehnte sie dem italienisch-musikalischen

Vokabular ihres Gatten und sprach also "dolce", das zweite aber erinnerte an Feuerjo, Jubeljahr oder Gott wu?te woran, - die Vettern schnappten gleichzeitig nach den Strohhalmen in ihren Glasern, als dieses Latein in Kraft trat, doch focht das die Stohr nicht an. Vielmehr suchte sie auf dem Wege der Anspielungen und Sticheleien, die Hasenzahne storrisch entblo?t, dem Verhaltnis der drei jungen Leute auf den Grund zu kommen, der ihr ganz deutlich nur war, soweit die arme Karen in Frage stand, welcher es, so sagte Frau Stohr, wohl passen mochte, bei ihrem leichten Wandel von zwei so flotten Rittern zugleich chaperoniert zu werden. Weniger klar erschien ihr der Fall von seiten der Vettern ausgesehen; aber bei aller Dummheit und Unbildung verhalf die Intuition ihrer Weiblichkeit ihr doch zu einiger Einsicht, wenn auch nur zu einer halben und ordinaren. Denn sie verstand und gab dem stichelnderweise Ausdruck, da? hier der wahre und eigentliche Ritter Hans Castorp sei, wahrend der junge Ziem?en blo? assistiere, und da? Hans Castorp, dessen innere Richtung gegen Frau Chauchat ihr bekannt war, die kummerliche Karstedt nur ersatzweise chaperonierte, da er sich jener anderen offenbar nicht zu nahern wu?te, - eine Einsicht, Frau Stohrs nur zu wurdig und ganz ohne sittliche Tiefe, sehr unzulanglich und von ordinarer Intuition, weshalb Hans Castorp denn auch nur mit einem muden und verachtlichen Blick darauf erwiderte, als sie sie platt-neckisch zu erkennen gab. Denn allerdings bedeutete ihm der Verkehr mit der armen Karen eine Art von Ersatz- und unbestimmt forderlichem Hilfsmittel, wie alle seine charitativen Unternehmungen ihm dergleichen bedeuteten. Aber zugleich waren sie doch auch Zweck ihrer selbst, diese frommen Unternehmungen, und die Zufriedenheit, die er empfand, wenn er die bresthafte Mallinckrodt mit Brei futterte, sich von Herrn Ferge den infernalischen Pleurachok beschreiben lie? oder die arme Karen vor Freude und Dankbarkeit in die Hande mit den verpflasterten Fingerspitzen klatschen sah, war, wenn auch von ubertragener und beziehungsvoller, so doch zugleich auch von unmittelbarer und reiner Art; sie entstammte einem Bildungsgeiste, entgegengesetzt demjenigen, den Herr Settembrini padagogisch vertrat, indessen wohl wert, das Placet experiri darauf anzuwenden, wie es dem jungen Hans Castorp schien.

Das Hauschen, worin Karen Karstedt wohnte, lag unweit des Wasserlaufs und des Bahngeleises an dem gegen "Dorf" fuhrenden Wege, und so hatten die Vettern es bequem, sie abzuholen, wenn sie sie nach dem Fruhstuck auf ihren dienstlichen Lustwandel mitnehmen

wollten. Gingen sie so gegen Dorf, um die Hauptpromenade zu gewinnen, so sahen sie vor sich das kleine Schiahorn, dann weiter rechts drei Zinken, welche die Grunen Turme hie?en, jetzt aber ebenfalls unter blendend besonntem Schnee lagen, und noch weiter rechts die Kuppe des Dorfberges. Auf Viertelhohe seiner Wand sah man den Friedhof liegen, den Friedhof von "Dorf", von einer Mauer umgeben und offenbar mit schonem Blick, vermutlich auf den See, weshalb er als Zielpunkt eines Spazierganges wohl ins Auge zu fassen war. Sie wanderten denn auch einmal hinauf, die drei, an einem schonen Vormittag, - und alle Tage waren nun schon: windstill und sonnig, tiefblau, hei?-frostig und glitzerwei?. Die Vettern, der eine ziegelrot im Gesicht, der andere bronziert, gingen im baren Anzug, da Mantel lastig gewesen waren in diesem Sonnenprall, - der junge Ziem?en in Sportdre? mit Gummischneeschuhen, Hans Castorp gleichfalls in solchen, aber in langen Hosen, da er nicht korperlich genug gesinnt war, um kurze zu tragen. Es war zwischen Anfang undMitte Februar, im neuen Jahre. Ganz recht, die Jahreszahl hatte gewechselt, seitdem Hans Castorp heraufgekommen; man schrieb eine andere jetzt, die nachste. Ein gro?er Zeiger der Weltzeitenuhr war um eine Einheit weiter gefallen: nicht gerade einer der allergro?ten, nicht etwa der, welcher die Jahrtausende ma?, - sehr wenige, die lebten, wurden das noch erleben; auch der nicht, der die Jahrhunderte anmerkte oder nur die Jahrzehnte, das nicht. Der Jahreszeiger aber war kurzlich gefallen, obgleich Hans Castorp ja noch kein Jahr, sondern erst wenig mehr als ein halbes, hier oben war, und stand nun fest nach Art der nur von funf zu funf Minuten fallenden Minutenzeiger gewisser gro?er Uhren, bis er wieder vorrucken wurde. Bis dahin aber mu?te der Monatszeiger noch zehnmal vorrucken, ein paarmal ofter, als er es getan, seitdem Hans Castorp hier oben war, - den Februar zahlte er nicht mehr mit, denn angebrochen war abgetan, gleichwie gewechselt so gut wie ausgegeben.

Auch zu dem Friedhof am Dorfberge also gingen die drei einmal spazieren, - exakter Rechenschaft halber sei auch dieser Ausflug noch angefuhrt. Die Anregung dazu war von Hans Castorp ausgegangen, und Joachim hatte wohl anfangs der armen Karen wegen Bedenken gehabt, dann aber eingesehen und zugegeben, da? es zwecklos gewesen ware, mit ihr Verstecken zu spielen und sie im Sinne der feigen Stohr vor allem, was an den exitus erinnerte, angstlich zu bewahren. Karen Karstedt gab sich noch nicht den Selbsttauschungen des letzten Stadiums hin, sondern wu?te Bescheid, wie es mit ihr stand und was es

mit der Nekrose ihrer Fingerspitzen auf sich hatte. Sie wu?te ferner, da? ihre harten Verwandten vom Luxus des Heimtransportes kaum wurden etwas wissen wollen, sondern da? ihr nach dem Exitus ein bescheidenes Platzchen dort oben zum Quartier wurde angewiesen werden. Und kurz, man konnte wohl finden, da? dieses Wanderziel moralisch passender fur sie war, als manches andere, zum Beispiel der Bobstart oder das Kino, - wie es denn ubrigens nicht mehr als ein anstandiger Akt der Kameradschaft war, Denen dort oben einmal einen Besuch zu machen, gesetzt, da? man den Friedhof nicht einfach als Sehenswurdigkeit und neutrales Spaziergebiet betrachten wollte.

Im Gansemarsch gingen sie langsam hinauf, denn der geschaufelte Pfad gestattete nur ein einzelnes Gehen, lie?en die letzten, an der Lehne zuhochst gelegenen Villen hinter und unter sich und sahen im Steigen das vertraute Landschaftsbild in seiner Winterpracht sich wieder einmal perspektivisch ein wenig verschieben und offnen: es weitete sich nach Nordost, gegen den Taleingang, der erwartete Blick auf den See tat sich auf, dessen umwaldetes Rund zugefroren und mit Schnee bedeckt war, und hinter seinem fernsten Ufer schienen Bergschragen sich am Boden zu treffen, hinter denen fremde Gipfel, verschneit, einander vor dem Himmelsblauuberhohten. Sie sahen das an, im Schnee vor dem steinernen Tore stehend, das den Eingang zum Friedhof bildete, und betraten die Statte dann durch die eiserne Gittertur, die dem Steintore eingefugt und nur angelehnt war.

Auch hier fanden sie Pfade geschaufelt, die zwischen den umgitterten, schneebepolsterten Grabererhohungen, diesen wohl und ebenma?ig aufgemachten Bettlagern mit ihren Kreuzen aus Stein und Metall, ihren kleinen, medaillon- und inschriftgeschmuckten Monumenten dahinfuhrten; doch lie? kein Mensch sich sehen noch horen. Die Stille, Abgeschiedenheit, Ungestortheit des Ortes schien tief und heimlich in mancherlei Sinn; ein kleiner steinerner Engel oder Puttengott, der, eine Schneemutze etwas schief auf dem Kopfchen, irgendwo im Gebusche stand und mit dem Finger die Lippen schlo?, mochte wohl als sein Genius gelten, - will sagen: als der des Schweigens, und zwar eines Schweigens, das man sehr stark als Gegenteil und Widerspiel des Redens, als Verstummen also, keineswegs aber als inhaltsleer und ereignislos empfand. Fur die beiden mannlichen Gaste ware es wohl eine Gelegenheit gewesen, die Hute abzunehmen, wenn sie welche aufgehabt hatten. Aber sie waren ja barhaupt, auch Hans Castorp war

es, und so gingen sie denn nur in ehrerbietiger Haltung, das Korpergewicht auf die Fu?ballen legend und gleichsam mit kleinen Verbeugungen nach rechts und links, im Gansemarsch hinter Karen Karstedt her, die sie fuhrte.

Der Friedhof war unregelma?ig in der Form, erstreckte sich anfanglich als schmales Rechteck gegen Suden und lud dann ebenfalls rechteckig nach beiden Seiten aus. Ersichtlich hatte mehrfach Vergro?erung sich als notwendig erwiesen und war Acker angestuckt worden. Trotzdem schien das Gehege auch gegenwartig wieder so gut wie voll belegt, und zwar entlang der Mauer sowohl wie auch in seinen inneren, minder bevorzugten Teilen, - kaum war zu sehen und zu sagen, wo allenfalls noch ein Unterkommen darin gewesen ware. Die drei Auswartigen wanderten langere Zeit diskret in den schmalen Gehrinnen und Passagen zwischen den Malern umher, indem sie dann und wann stehenblieben, um einen Namen nebst Geburts- und Sterbedatum zu entziffern. Die Denksteine und Kreuze waren anspruchslos, bekundeten wenig Aufwand. Was ihre Inschriften betraf, so stammten die Namen aus allen Winden und Welten, sie lauteten englisch, russisch oder doch allgemein slawisch, auch deutsch, portugiesisch und anderswie; die Daten aber trugen zartes Geprage, ihre Spannweite war im ganzen auffallend gering, der Jahresabstand zwischen Geburt und Exitus betrug uberall ungefahr zwanzig und nicht viel mehr, fast lauter Jugend und keine Tugend bevolkerte das Lager, ungefestigtes Volk, das sich aus aller Welt hier zusammengefunden hatte und zur horizontalen Daseinsform endgultig eingekehrt war.

Irgendwo tief im Gedrange der Ruhelager, im Inneren des Angers, gegen die Mitte zu, gab es ein flaches Platzchen von Menschenlange, eben und unbelegt, zwischen zwei aufgebetteten, um deren Steine Dauerkranze gehangtwaren, und unwillkurlich blieben die drei Besucher davor stehen. Sie standen, das Fraulein etwas vor ihren Begleitern, und lasen die zarten Angaben der Steine, - Hans Castorp gelost, die Hande vor sich gekreuzt, mit offenem Munde und schlafrigen Augen, der junge Ziem?en geschlossen und nicht nur gerade, sondern sogar ein wenig nach hinten abgeneigt, - worauf die Vettern mit gleichzeitiger Neugier von den Seiten verstohlen in Karen Karstedts Miene blickten. Sie merkte es dennoch und stand da, verschamt und bescheiden, den Kopf ein wenig schrag vorgeschoben, und lachelte geziert mit gespitzten Lippen, wobei sie rasch mit den Augen blinzelte.

Walpurgisnacht

Sieben Monate waren es in den nachsten Tagen, da? der junge Hans Castorp hier oben verweilte, wahrend Vetter Joachim, der deren funf auf dem Buckel gehabt hatte, als jener eingetroffen war, nun auf zwolfe zuruckblickte, auf ein Jahrchen also - ein rundes Jahr, - rund in dem kosmischen Sinn, da?, seit die kleine, zugkraftige Lokomotive ihn hier abgesetzt, die Erde einmal ihren Sonnenumlauf beendet hatte und zu dem Punkte von damals zuruckgekehrt war. Es war Faschingszeit. Fastnacht stand vor der Tur, und Hans Castorp erkundigte sich bei dem Jahrigen, wie das denn sei.

"Magnifik!" antwortete Settembrini, dem die Vettern wieder einmal bei der Vormittagsmotion begegnet waren. "Splendide!" antwortete er. "Das ist so lustig wie im Prater, Sie werden sehen, Ingenieur. Dann sind wir gleich im Reihen hier die glanzenden Galanten", sprach er, und fuhr dann prallen Mundes zu medisieren fort, indem er seine Hechelreden mit gelungenen Arm-, Kopf- und Schulterbewegungen begleitete: "Was wollen Sie, auch in der maison de sante finden bisweilen ja Balle statt, fur die Narren und Bloden, wie ich gelesen habe, - warum nicht auch hier? Das Programm umfa?t die verschiedensten danses macabres, wie Sie sich denken konnen. Leider kann ein gewisser Teil der vorjahrigen Festteilnehmer diesmal nicht erscheinen, da das Fest schon um 9? Uhr sein Ende findet ..."

"Sie meinen ... Ach so, vorzuglich!" lachte Hans Castorp. "Sind Sie ein Witzbold -! 'Um 9?', - hast dus gehort, du? Allzu fruh namlich, als da? 'ein gewisser Teil' der Vorjahrigen noch ein Stundchen teilnehmen konnte, meint Herr Settembrini. Ha, ha, unheimlich. Das ist namlich der Teil, der dem 'Fleisch' unterdessen schon endgultig valet gesagt hat. Verstehst du mein Wortspiel? Aber da bin ich denn doch gespannt", sagte er. "Ich finde es richtig, da? wir hier so die Feste feiern, wie sie fallen, und auf die ubliche Art die Etappen markieren, die Einschnitte also, damit es kein ungegliedertes Einerlei gibt, das ware zu sonderbar. Da haben wir Weihnachten gehabt und wu?ten, da? Neujahr war, und nun kommt also Fastnacht. Dann ruckt Palmsonntag heran(gibt es hier Kringel?), die Karwoche,Ostern und Pfingsten, was sechs Wochen spater ist, und dann ist ja bald schon der langste Tag, Sommersonnenwende, verstehen Sie, und es geht auf den Herbst ..."

"Halt! halt! halt!", rief Settembrini, indem er das Gesicht gen Himmel

hob und die Handteller gegen die Schlafen pre?te. "Schweigen Sie! Ich verbiete Ihnen, sich in dieser Weise die Zugel schie?en zu lassen!"

"Entschuldigen Sie, ich sage ja im Gegenteil ... Ubrigens wird Behrens sich am Ende nun doch wohl zu den Injektionen entschlie?en, um meine Entgiftung zu erzielen, denn ich habe unentwegt siebenunddrei?ig-vier, -funf, -sechs und auch -sieben. Das will sich nicht andern. Ich bin und bleibe nun mal ein Sorgenkind des Lebens. Langfristig bin ich ja nicht, Radamanth hat mir nie was Bestimmtes aufgebrummt, aber er sagt, es ware sinnlos, die Kur vor der Zeit zu unterbrechen, wo ich nun doch schon so lange hier oben bin und soviel Zeit investiert habe, sozusagen. Was nutzte es auch, wenn er mir einen Termin setzte? Das hatte nicht viel zu bedeuten, denn wenn er zum Beispiel sagt: ein halbes Jahrchen, so ist es sehr knapp gerechnet, man mu? sich auf mehr gefa?t machen. Das sieht man an meinem Vetter, der sollte Anfang des Monats fertig sein - fertig im Sinne von ausgeheilt -, aber das letztemal hat Behrens ihm vier Monate zugelegt, zu seiner volligen Ausheilung, - na, und was haben wir dann? Dann haben wir Sommersonnenwende, wie ich sagte, ohne da? ich Sie reizen wollte, und es geht wieder auf den Winter zu. Aber fur den Augenblick haben wir nun freilich erst einmal Fastnacht, - Sie horen ja, ich finde es gut und schon, da? wir hier alles der Reihe nach, und wie's im Kalender steht, begehen. Frau Stohr sagte, da? es in der Conciergeloge Kindertrompeten zu kaufen gibt?"

Das traf zu. Schon beim ersten Fruhstuck am Faschingsdienstag, der sofort da war, ehe man ihn von weitem nur recht ins Auge gefa?t, - schon in der Fruhe gab es im Speisesaal allerlei Tone aus scherzhaften Blasinstrumenten, schnarrend und tutend; beim Mittagessen flogen vom Tische Gansers, Rasmussens und der Kleefeld bereits Papierschlangen, und mehrere Personen, zum Beispiel die rundaugige Marusja, trugen papierne Kopfbedeckungen, die ebenfalls bei dem Hinkenden vorn in der Loge zu kaufen waren; aber abends entfaltete sich im Saal und in den Konversationsraumen eine Festgeselligkeit, die in ihrem Verlauf ... Nur wir wissen vorderhand, wozu, dank Hans Castorps Unternehmungsgeist, diese Fastnachtsgeselligkeit in ihrem Verlaufe fuhrte. Aber wir lassen uns durch unser Wissen nicht hin- und nicht aus unserer Bedachtigkeit rei?en, sondern geben der Zeit die Ehre, die ihr gebuhrt, und ubersturzen nichts, - vielleicht sogar zogern wir die Ereignisse hin, weil wirdie sittliche Scheu des jungen Hans Castorp teilen, die den Eintritt dieser Ereignisse so lange hintangehalten hatte.

Allgemein war man nachmittags nach "Platz" gepilgert, um das Faschingsstra?enleben zu sehen. Masken waren unterwegs gewesen, Pierrotten und Harlekine, die klappernde Pritschen gehandhabt hatten, und zwischen den Fu?gangern und den ebenfalls maskierten Insassen der voruberlautenden, geschmuckten Schlitten waren Konfetti-Scharmutzel geliefert worden. Schon sehr hochgestimmt fand man sich zur Abendmahlzeit an den sieben Tischen ein, entschlossen, den offentlichen Geist in geschlossenem Kreise fortzupflegen. Die Papiermutzen, Schnarren und Tuten des Concierge hatten starken Abgang gefunden, und Staatsanwalt Paravant hatte mit weiterer Travestierung den Anfang gemacht, indem er einen Damenkimono und einen falschen, laut vielseitigem Zuruf, der Generalkonsulin Wurmbrandt gehorigen Zopf angelegt, auch seinen Schnurrbart mit einem Brenneisen schrag nach unten gezogen hatte und so wirklich aufs Haar einem Chinesen glich. Die Verwaltung war nicht zuruckgestanden. Sie hatte jeden der sieben Tische mit einem Papierlampion geschmuckt, einem farbigen Mond mit brennender Kerze im Inneren, so da? Settembrini beim Eintritt in den Saal, an Hans Castorps Tische vorbeistreifend, einen auf diese Illumination bezuglichen Dichterspruch zitierte:

"Da sieh nur, welche bunten Flammen!

Es ist ein muntrer Klub beisammen",

au?erte er mit feinem und trockenem Lacheln, indem er zu seinem Platze weiterschlenderte, um dort mit kleinen Wurfgeschossen empfangen zu werden, dunnwandigen und mit einer wohlriechenden Flussigkeit gefullten Kugelchen, die beim Anprall zerbrachen und den Getroffenen mit Parfum uberschutteten.

Kurzum, die Festlaune war von Anfang an sehr ausgesprochen. Gelachter herrschte, Papierschlangen, von den Kronleuchtern herabhangend, wehten im Luftzuge hin und her, in der Bratensauce schwammen Konfetti, bald sah man die Zwergin mit dem ersten Eiskubel, der ersten Champagnerflasche geschaftig vorubereilen, man mischte den Sekt mit Burgunder, wozu Rechtsanwalt Einhuf das Signal gegeben, und als nun gar gegen Ende der Mahlzeit das Deckenlicht ausging und nur noch die Lampions den Speisesaal mit buntem Dammer italienisch-nachtig erleuchteten, war die Stimmung vollkommen, und es erregte am Tische Hans Castorps viel Zustimmung, als Settembrini einen Zettel herubersandte(er handigte ihn der ihm zunachstsitzenden, mit einer Jockei-Mutze aus grunem Seidenpapier geschmuckten Marusja ein),

auf den er mit Bleistift geschrieben hatte:

"Allein bedenkt! Der Berg ist heute zaubertoll,

Und wenn ein Irrlicht Euch die Wege weisen soll,

So mu?t Ihr's so genau nicht nehmen."

Doktor Blumenkohl, dem es eben wieder sehr schlecht ging, murmelte mit jenem ihm eigentumlichen Gesichts- oder eigentlich Lippenausdruck etwas vor sich hin, woraus man entnehmen konnte, was das fur Verse seien. Hans Castorp seinerseits meinte die Antwort nicht schuldig bleiben zu durfen, fuhlte sich scherzhaft verpflichtet, eine Replik auf den Zettel zu schreiben, die freilich nur hochst unbedeutend hatte ausfallen konnen. Er suchte in seinen Taschen nach einem Bleistift, fand aber keinen und konnte auch von Joachim und der Lehrerin keinen erhalten. Seinerot geaderten Augen gingen nach Aushilfe gen Osten, in den links-ruckwartigen Winkel des Saales, und man sah, wie sein fluchtiges Vorhaben in so weitlaufigen Assoziationen ausartete, da? er erbleichte und seine Grundabsicht uberhaupt verga?.

Zum Erbleichen gab es Grunde auch sonst. Frau Chauchat dort hinten hatte zur Fastnacht Toilette gemacht, sie trug ein neues Kleid, jedenfalls ein Kleid, das Hans Castorp noch nicht an ihr gesehen, - aus leichter und dunkler, ja schwarzer, nur manchmal ein wenig goldbraunlich aufschimmernder Seide, das am Halse einen madchenhaft kleinen Rundausschnitt zeigte, kaum so tief, da? die Kehle, der Ansatz der Schlusselbeine und hinten die bei leicht vorgeschobener Kopfhaltung etwas heraustretenden Genickwirbel unter dem lockeren Nackenhaar sichtbar blieben, das aber Clawdias Arme bis zu den Schultern hinauf frei lie?, - ihre Arme, die zart und voll waren zugleich, - kuhl dabei, aller Mutma?ung nach, und au?erordentlich wei? gegen die seidige Dunkelheit des Kleides abstachen, auf eine so erschutternde Art, da? Hans Castorp, die Augen schlie?end, in sich hineinflusterte: "Mein Gott!" - Er hatte diese Art Kleiderschnitt noch nie gesehen. Er kannte Balltoiletten, festlich statthafte, ja vorschriftsma?ige Enthullungen, die weit umfassender gewesen waren als diese hier, ohne im entferntesten so sensationell zu wirken. Als Irrtum erwies sich vor allem die altere Annahme des armen Hans Castorp, da? die Lockung, die vernunftwidrige Lockung dieser Arme, deren Bekanntschaft er durch dunne Gaze hindurch bereits gemacht hatte, ohne eine so ahndevolle "Verklarung", wie er es damals genannt, sich vielleicht als weniger tief erweisen werde. Irrtum! Verhangnisvolle Selbsttauschung! Die volle, hochbetonte

und blendende Nacktheit dieser herrlichen Glieder eines giftkranken Organismus war ein Ereignis, weit starker sich erweisend, als die Verklarung von damals, eine Erscheinung, auf die es keine andere Antwort gab, als den Kopf zu senken und lautlos zu wiederholen: "Mein Gott!"

Etwas spater kam noch ein Zettel, auf dem es hie?:

"Gesellschaft, wie man wunschen kann.

Wahrhaftig, lauter Braute!

Und Junggesellen Mann fur Mann,

Die hoffnungsvollsten Leute!"

"Bravo, bravo!" wurde gerufen. Man war schon beim Mokka, der in kleinen irden-braunen Kannchen serviert wurde, beziehungsweise auch bei den Likoren, zum Beispiel Frau Stohr, die Su?-Geistiges fur ihr Leben gern schlurfte. Die Gesellschaft begann sich aufzulosen, zu zirkulieren. Man besuchte einander, wechselte die Tische. Ein Teil der Gaste hatte sich schon in die Konversationsraume verzogen, wahrend ein anderer se?haft blieb, dem Weingemisch weiter zusprechend. Settembrini kam nun personlich heruber, sein Kaffeeta?chen in der Hand, den Zahnstocher zwischen den Lippen, und setzte sich hospitierend an die Tischecke zwischen Hans Castorp und die Lehrerin.

"Harzgebirg", sagte er. "Gegend von Schierke und Elend. Habe ich Ihnen zu viel versprochen, Ingenieur? Hei? ich mir das doch eine Messe! Aber warten Sie nur, unser Witz erschopft sich nicht so bald,wir sind noch nicht auf der Hohe, geschweige am Ende. Nach allem, was man hort, wird es noch mehr Masken geben. Gewisse Personen haben sich zuruckgezogen, - das berechtigt zu allerlei Erwartungen, Sie werden sehen."

Wirklich tauchten neue Verkleidungen auf: Damen in Herrentracht, operettenhaft und unwahrscheinlich durch ausladende Formen, die Gesichter bartig geschwarzt mit angekohltem Flaschenkork; Herren, umgekehrt, die Frauenroben angelegt hatten, uber deren Rocke sie strauchelten, wie zum Beispiel Studiosus Rasmussen, welcher, in schwarzer, jettubersater Toilette, ein pickliges Dekollete zur Schau stellte, das er sich mit einem Papierfacher kuhlte, und zwar auch den Rucken. Ein Bettelmann erschien knickbeinig, an einer Krucke hangend. Jemand hatte sich aus wei?em Unterzeug und einem Damenfilz ein Pierrotkostum hergestellt, das Gesicht gepudert, so da? seine Augen ein

unnaturliches Aussehen gewannen, und den Mund mit Lippenpomade blutig aufgehoht. Es war der Junge mit dem Fingernagel. Ein Grieche vom Schlechten Russentisch, mit schonen Beinen, stolzierte in lila Trikotunterhosen, mit Mantelchen, Papierkrause und einem Stockdegen als spanischer Grande oder Marchenprinz daher. Alle diese Masken waren nach Schlu? der Mahlzeit eilig improvisiert worden. Es litt Frau Stohr nicht langer auf ihrem Stuhl. Sie verschwand, um nach kurzer Zeit als Scheuerweib wiederzukehren, mit geschurztem Rock und aufgestulpten Armeln, die Bander ihrer Papierhaube unter dem Kinn geknotet und bewaffnet mit Eimer und Besen, die sie zu handhaben begann, indem sie mit dem nassen Schrubber unter die Tische, den Sitzenden zwischen die Fu?e fuhr.

"Die alte Baubo kommt allein",

rezitierte Settembrini bei ihrem Anblick und fugte auch den Reimvers hinzu, klar und plastisch. Sie horte es, nannte ihn "welscher Hahn" und forderte ihn auf, seine "Zotchen" fur sich zu behalten, wobei sie ihn im Geiste der Maskenfreiheit duzte; denn diese Verkehrsform war schon wahrend des Essens allgemein aufgenommen worden. Er schickte sich an, ihr zu antworten, als Larm und Gelachter von der Halle her ihn unterbrachen und Aufsehen im Saal erregten.

Gefolgt von Gasten, die aus den Konversationsraumen kamen, hielten zwei sonderbare Figuren ihren Einzug, die mit der Kostumierung wohl eben erst fertig geworden waren. Die eine war als Diakonissin angezogen, doch war ihr schwarzes Habit vom Hals bis zum Saume mit wei?en Bandstreifen quer benaht, kurzen, die nahe untereinander lagen, und seltneren, die uber jene hinausragten, nach Art der Liniatur eines Thermometers. Sie hielt den Zeigefinger vor ihren bleichen Mund und trug in der Rechten eine Fiebertabelle. Die andere Maske erschien blau in Blau: mit blau gefarbten Lippen und Brauen, auch sonst im Gesicht und am Halse noch blau bemalt, eine blaue Wollmutze schief ubers Ohr gezogen und bekleidet mit einem An- oder Uberzuge aus blauem Glanzleinen, der, aus einem Stuck gearbeitet, an den Knocheln mit Bandern zugezogen und in der Mitte zum Rundbaucheausgestopft war. Man erkannte Frau Iltis und Herrn Albin. Beide trugen Pappschilder umgehangt, auf denen geschrieben stand: "Die stumme Schwester" und: "Der blaue Heinrich". In einer Art Wackelschritt zogen sie selbander um den Saal.

Das gab einen Beifall! Die Zurufe schwirrten. Frau Stohr, ihren Besen

unter dem Arm, die Hande auf den Knien, lachte ma?los und ordinar nach Herzenslust, unter Vorwendung ihrer Rolle als Scheuerweib. Nur Settembrini zeigte sich unzuganglich. Seine Lippen, unter dem schon geschwungenen Schnurrbart, wurden au?erst schmal, nachdem er einen kurzen Blick auf das erfolgreiche Maskenpaar geworfen.

Unter denen, die im Gefolge des Blauen und der Stummen aus den Konversationszimmern wieder herubergekommen waren, befand sich auch Clawdia Chauchat. Zusammen mit der wollhaarigen Tamara und jenem Tischgenossen mit dem konkaven Brustkasten, einem gewissen Buligin, der Abendanzug trug, strich sie in ihrem neuen Kleid an Hans Castorps Tische vorbei und bewegte sich schrag hinuber zu dem des jungen Ganser und der Kleefeld, wo sie, die Hande auf dem Rucken, mit schmalen Augen lachend und plaudernd stehen blieb, wahrend ihre Begleiter den allegorischen Gespenstern weiter folgten und mit ihnen den Saal wieder verlie?en. Auch Frau Chauchat hatte sich mit einer Faschingsmutze geschmuckt, - es war nicht einmal eine gekaufte, sondern von der Art, wie man sie Kindern anfertigt, aus wei?em Papiere einfach zum Dreispitz zurechtgefaltet, und kleidete sie ubrigens, quer aufgesetzt, vorzuglich. Das dunkelgoldbraune Seidenkleid war fu?frei, der Rock etwas bauschig gearbeitet. Wir sagen von den Armen hier nichts mehr. Sie waren nackt bis zu den Schultern hinauf.

"Betrachte sie genau!" horte Hans Castorp Herrn Settembrini wie von weitem sagen, wahrend er ihr, die bald weiterging, gegen die Glastur, zum Saal hinaus, mit den Blicken folgte. "Lilith ist das."

"Wer?" fragte Hans Castorp.

Der Literat freute sich. Er replizierte:

"Adams erste Frau. Nimm dich in acht ..."

Au?er ihnen beiden sa? nur noch Dr. Blumenkohl am Tische, an seinem entfernten Platz. Die ubrige Speisegesellschaft, auch Joachim, war in die Konversationsraume ubergesiedelt. Hans Castorp sagte:

"Du steckst heute voller Poesie und Versen. Was ist nun das wieder fur eine Lilli? War Adam also zweimal verheiratet? Ich hatte keine Ahnung ..."

"Die hebraische Sage will es so. Diese Lilith ist zum Nachtspuk geworden, gefahrlich fur junge Manner besonders durch ihre schonen Haare."

"Pfui Teufel! Ein Nachtspuk mit schonen Haaren. So etwas kannst du

nicht leiden, was? Da kommst du und drehst das elektrische Licht an, sozusagen, um die jungen Manner auf den rechten Weg zu bringen, - tust du das nicht?" sagte Hans Castorp phantastisch. Er hatte ziemlich viel von der Weinmischung getrunken.

"Horen Sie, Ingenieur, lassen Sie das!" befahl Settembrini mit zusammengezogenen Brauen. "Bedienen Sie sich der im gebildeten Abendlande ublichen Form der Anrede, der dritten Personpluralis, wenn ich bitten darf! Es steht Ihnen gar nicht zu Gesicht, worin Sie sich da versuchen."

"Aber wieso? Wir haben Karneval! Es ist allgemein akzeptiert heute abend ..."

"Ja, um eines ungesitteten Reizes willen. Das 'Du' unter Fremden, das hei?t unter Personen, die einander von Rechtes wegen 'Sie' nennen, ist eine widerwartige Wildheit, ein Spiel mit dem Urstande, ein liederliches Spiel, das ich verabscheue, weil es sich im Grunde gegen Zivilisation und entwickelte Menschlichkeit richtet, - sich frech und schamlos dagegen richtet. Ich habe Sie auch nicht 'Du' genannt, bilden Sie sich das nicht ein! Ich zitierte eine Stelle aus dem Meisterwerk Ihrer Nationalliteratur. Ich sprach also poetischerweise ..."

"Ich auch! Ich spreche auch gewisserma?en poetischerweise, - weil mir der Augenblick danach angetan zu sein scheint, darum spreche ich so. Ich sage gar nicht, da? es mir so ganz naturlich ist und leicht fallt, dich 'Du' zu nennen, im Gegenteil, es kostet mich eine gewisse Selbstuberwindung, ich mu? mir einen Ruck geben, um es zu tun, aber diesen Ruck gebe ich mir gern, ich gebe ihn mir freudig und von Herzen ..."

"Von Herzen?"

"Von Herzen, ja, das kannst du mir glauben. Wir sind nun schon so lange beieinander hier oben, - sieben Monate, wenn du nachrechnest; das ist ja fur unsere Verhaltnisse hier oben noch nicht einmal sehr viel, aber fur untere Begriffe, wenn ich zuruckdenke, ist es doch eine Menge Zeit. Nun, und die haben wir nun miteinander verbracht, weil das Leben uns hier zusammenfuhrte, und haben uns fast taglich gesehen und interessante Gesprache miteinander gefuhrt, zum Teil uber Gegenstande, von denen ich unten uberhaupt keinen Deut begriffen hatte. Aber hier sehr wohl; hier waren sie mir sehr wichtig und naheliegend, so da? ich immer, wenn wir diskutierten, in hochstem Grade bei der Sache war. Oder vielmehr, wenn du mir die Dinge als

homo humanus expliziertest; denn ich hatte naturlich aus meiner bisherigen Unerfahrenheit nicht viel beizutragen und konnte immer nur au?erordentlich horenswert finden, was du sagtest. Durch dich habe ich so viel erfahren und verstanden ... Das mit Carducci war das Wenigste, aber wie beispielsweise die Republik mit dem schonen Stil zusammenhangt oder die Zeit mit dem Menschheitsfortschritt, - wohingegen, wenn keine Zeit ware, auch kein Menschheitsfortschritt sein konnte, sondern die Welt nur ein stagnierendes Wasserloch und ein fauliger Tumpel ware, - was wu?te ich davon, wenn du nicht gewesen warst! Ich nenne dich einfach 'Du' und rede dich sonst nicht weiter an, entschuldige, weil ich nicht wu?te, wie das geschehen sollte, - ich kann es nicht gut. Da sitzest du, und ich sage einfach 'Du' zu dir, das genugt. Du bist nicht irgend ein Mensch mit einemNamen, du bist ein Vertreter, Herr Settembrini, ein Vertreter hierorts und an meiner Seite, - das bist du", bestatigte Hans Castorp und schlug mit der flachen Hand auf das Tischtuch. "Und nun will ich dir einmal danken," fuhr er fort und schob seinen Glasbecher mit Sekt und Burgunder an Herrn Settembrinis Kaffeeta?chen heran, gleichsam, um auf dem Tisch mit ihm anzusto?en, - "dafur, da? du dich in diesen sieben Monaten so freundlich meiner angenommen hast und mir jungem mulus, auf den so viel Neues eindrang, zur Hand gegangen bist bei meinen Ubungen und Experimenten und berichtigend auf mich einzuwirken gesucht hast, ganz sine pecunia, teils mit Geschichten und teils in abstrakter Form. Ich habe das deutliche Gefuhl, da? der Augenblick gekommen ist, dir dafur und fur all das zu danken und dich um Verzeihung zu bitten, wenn ich ein schlechter Schuler war, ein 'Sorgenkind des Lebens', wie du sagtest. Es hat mich sehr geruhrt, wie du das sagtest, und jedesmal, wenn ich daran denke, ruhrt es mich wieder. Ein Sorgenkind, das war ich wohl auch fur dich und deine padagogische Ader, auf die du damals gleich am ersten Tage zu sprechen kamst, - naturlich, das ist auch einer von den Zusammenhangen, die du mich gelehrt hast, der von Humanismus und Padagogik, - es wurden mir mit der Zeit gewi? noch mehrere einfallen. Verzeih mir also und denke meiner nicht im Bosen! Dein Wohl, Herr Settembrini, sollst leben! Ich leere mein Glas zu Ehren deiner literarischen Anstrengungen zur Ausmerzung der menschlichen Leiden!" schlo? er, trank, hintenuber geneigt, mit ein paar gro?en Schlucken sein Weingemisch aus und stand auf. "Nun wollen wir zu den anderen hinubergehn."

"Horen Sie, Ingenieur, was ist Ihnen in die Krone gefahren?" sagte der

Italiener, die Augen voller Erstaunen, und verlie? gleichfalls den Tisch. "Das klingt wie Abschied ..."

"Nein, warum Abschied?" wich Hans Castorp aus. Er wich nicht nur figurlich aus, mit seinen Worten, sondern auch korperlich, indem er mit dem Oberkorper einen Bogen beschrieb, und hielt sich an die Lehrerin, Fraulein Engelhart, die eben kam, sie zu holen. Der Hofrat verzapfe im Klavierzimmer mit eigener Hand einen Fastnachtspunsch, den die Verwaltung gestiftet habe, meldete sie. Die Herren, sagte sie, mochten gleich kommen, wenn sie auch noch ein Glas zu erwischen wunschten. So gingen sie hinuber.

Wirklich stand dort drinnen, umdrangt von der Gasteschaft, die ihm kleine Henkelglaser entgegenhielt, Hofrat Behrens an dem runden Tisch in der Mitte, der wei? gedeckt war, und hob mit einem Schopfloffel dampfendes Getrank aus einer Terrine. Auch er hatte sein Au?eres ein wenig karnevalistisch aufgemuntert, indem er namlich zu dem klinischen Kittel, den er auch heute trug, da seineTatigkeit ja niemals ruhte, einen echten turkischen Fez, karminrot, mit schwarzer Troddel, die ihm uber das Ohr baumelte, aufgesetzt hatte, - Kostum genug fur ihn, dies beides zusammen; es reichte hin, seine ohnehin markante Erscheinung ins durchaus Wunderliche und Ausgelassene zu steigern. Der wei?e Langkittel ubertrieb des Hofrats Gro?e; brachte man die Nackenbeugung in Anschlag, indem man sie in Gedanken beseitigte und seine Gestalt zur vollen Hohe aufrichtete, so erschien er geradezu uberlebensgro?, mit kleinem, buntem Kopf von eigentumlichstem Geprage. Dem jungen Hans Castorp wenigstens war dies Gesicht noch nie so sonderbar vorgekommen, wie heute unter der narrischen Bedeckung: diese stutznasig flache und blaulich hitzige Physiognomie, in der unter wei?blonden Brauen die blauen Augen tranend quollen und uber dem bogenformigen, nach oben sich baumenden Mund das helle und schief geschurzte Schnurrbartchen stand. Abgeneigt von dem Dampfe, der vor ihm aus der Terrine wirbelte, lie? er das braune Getrank, einen zuckerigen Arrak-Punsch, im Bogen aus der Schopfkelle in die dargereichten Glaser rinnen, unaufhorlich in seinem aufgeraumten Kauderwelsch sich ergehend, soda? Lachsalven rund um den Tisch den Ausschank begleiteten.

"Herr Urian sitzt oben auf", erlauterte Settembrini leise mit einer Handbewegung gegen den Hofrat und wurde dann nach Hans Castorps Seite fortgezogen. Auch Dr. Krokowski war anwesend. Klein, stammig

und kernig, sein schwarzes Lusterhemd mit leeren Armeln um die Schultern gehangt, soda? es dominoartig wirkte, hielt er sein Glas mit gedrehter Hand in Augenhohe und plauderte frohlich mit einer Gruppe von Masken travestierten Geschlechts. Musik setzte ein. Die Patientin mit dem Tapirgesicht spielte, von dem Mannheimer pianistisch begleitet, auf der Geige das Largo von Handel und danach eine Sonate von Grieg, deren Charakter national und salonma?ig war. Man applaudierte wohlwollend, auch an den beiden Bridge-Tischen, die aufgeschlagen waren, und an denen Maskierte und Unmaskierte sa?en, Flaschen in Eiskuhlern neben sich. Die Turen standen offen; auch in der Halle hielten sich Gaste auf. Eine Gruppe um den Rundtisch mit der Bowle sah dem Hofrat zu, der den Anfuhrer zu einem Gesellschaftsspiel machte. Er zeichnete mit geschlossenen Augen, im Stehen, uber den Tisch gebuckt, dabei aber zuruckgelegten Kopfes, damit alle sehen konnten, da? er die Augen geschlossen hielt, zeichnete auf die Ruckseite einer Visitenkarte mit Bleistift blindlings eine Figur, - es waren die Umrisse eines Schweinchens, die seine riesige Hand ohne Zuhilfenahme der Augen hinmalte, eines Schweinchens im Profil, - etwas einfach und mehr ideell als lebenswahr, aber es war unverkennbar die Grundgestalt eines Schweinchens, die er unter so erschwerenden Bedingungen zusammenzog. Das war ein Kunststuck, und er konnte es. Das Schlitzauglein kam ungefahr dort zu sitzen, wohin es gehorte, etwas zu weit vorn am Russel, aber doch ungefahr an seinen Platz; es verhielt sich nichtanders mit dem Spitzohr am Kopf, den Beinchen, die an dem gerundeten Bauchlein hingen; und als Fortsetzung der ebenso gerundeten Ruckenlinie ringelte das Schwanzchen sich sehr artig in sich selber. Man rief "Ah!" als das Werk getan, und drangte sich zu dem Versuch, von Ehrgeiz ergriffen, es dem Meister gleichzutun. Allein die Wenigsten hatten ein Schweinchen mit offenen Augen zu zeichnen vermocht, geschweige bei geschlossenen. Was kamen da fur Mi?geburten zustande! Es fehlte an allem Zusammenhang. Das Auglein fiel au?erhalb des Kopfes, die Beinchen ins Innere des Wanstes, der seinerseits weit entfernt war, sich zu schlie?en, und das Schwanzchen ringelte sich irgendwo abseits, ganz ohne organische Beziehung zur verworrenen Hauptgestalt, als selbstandige Arabeske. Man wollte sich ausschutten vor Lachen. Die Gruppe fand Zuzug. Aufsehen entstand an den Bridgetischen, und die Spieler kamen, ihre Karten facherformig in der Hand, neugierig heruber. Die Umstehenden sahen dem, der sich erprobte, auf die Augenlider, ob er nicht blinzle, wozu einige durch das

Gefuhl ihrer Ohnmacht sich verfuhren lie?en, kicherten und prusteten, solange er seine blinden Irrtumer beging, und brachen in Jubel aus, wenn er, die Augen aufrei?end, auf sein absurdes Machwerk niederblickte. Trugerisches Selbstvertrauen trieb jeden zum Wettstreit. Die Karte, obgleich geraumig, war rasch auf beiden Seiten uberfullt, soda? die verfehlten Figuren sich uberschnitten. Aber der Hofrat opferte aus seinem Portefeuille eine zweite, auf welcher Staatsanwalt Paravant, nach heimlicher Uberlegung, das Schweinchen in einem Zuge hinzumalen versuchte, - mit dem Ergebnis, da? sein Mi?erfolg alle vorangegangenen ubertraf: das Ornament, das er schuf, wies nicht nur mit keinem Schweinchen, sondern uberhaupt mit nichts in der Welt die entfernteste Ahnlichkeit auf. Hallo, Gelachter und sturmische Gluckwunsche! Man brachte Menukarten aus dem Speisesaal herzu, - so konnten nun mehrere Personen, Damen und Herren, auf einmal zeichnen, und jeder Konkurrierende hatte seine Aufpasser und Zuschauer, von denen wiederum ein jeder Anwarter auf den Stift war, der eben gehandhabt wurde. Es waren drei Bleistifte da, die man sich aus den Handen ri?. Sie gehorten Gasten. Der Hofrat, nachdem er das neue Spiel in die Wege geleitet und bestens im Gange sah, war mit dem Adlaten verschwunden.

Hans Castorp, im Gedrange, sah uber Joachims Schulter einem Zeichnenden zu, indem er sich mit dem Ellbogen auf diese Schulter stutzte, sein Kinn mit allen funf Fingern erfa?t hielt und die andere Hand in die Hufte stemmte. Er redete und lachte. Er wollte ebenfalls zeichnen, verlangte laut danach und erhielt den Bleistift, ein schon ganz kurzes Ding, man konnte ihn nur noch mit Daumen und Zeigefinger fuhren. Er schimpfte auf den Stummel, das blinde Gesicht zur Decke erhoben, schimpfte laut und verfluchte die Undienlichkeit des Stiftes, indem er mit fliegender Hand einen graulichen Unsinn aufden Karton warf, schlie?lich sogar diesen verfehlte und auf das Tischtuch geriet. "Das gilt nicht!" rief er in das verdiente Gelachter hinein. "Wie soll man mit einem solchen - zum Teufel damit!" Und er warf den beschuldigten Stummel in die Punschbowle. "Wer hat einen vernunftigen Bleistift? Wer leiht mir einen? Ich mu? noch einmal zeichnen! Einen Bleistift, einen Bleistift! Wer hat noch einen?" rief er nach beiden Seiten aus, den linken Unterarm noch auf die Tischplatte gestutzt und die rechte Hand hoch in der Luft schuttelnd. Er bekam keinen. Da wandte er sich um und ging ins Zimmer hinein, indem er zu rufen fortfuhr, - ging gerade auf Clawdia Chauchat zu, die, wie er gewu?t hatte, nicht weit von der Portiere zum kleinen Salon stand und von hier aus dem Treiben am Bowlentisch lachelnd

zugesehen hatte.

Hinter sich horte er rufen, wohllautende auslandische Worte: "Eh! Ingegnere! Aspetti! Che cosa fa! Ingegnere! Un po di raggione, sa! Ma e matto questo ragazzo!" Aber er ubertonte diese Stimme mit der seinen, und so sah man Herrn Settembrini, eine Hand mit gespreiztem Arm uber den Kopf geworfen - eine in seiner Heimat ubliche Gebarde, deren Sinn nicht leicht auf ein Wort zu bringen ware, und die von einem langgezogenen "Ehh -!" begleitet war - die Fastnachtsgeselligkeit verlassen. - Hans Castorp aber stand auf dem Klinkerhof, blickte aus nachster Nahe in die blau-grau-grunen Epicanthus-Augen uber den vortretenden Backenknochen und sprach:

"Hast du nicht vielleicht einen Bleistift?"

Er war totenbleich, so bleich wie damals, als er blutbesudelt von seinem Einzelspaziergang zur Konferenz gekommen war. Die Gefa?nervenleitung nach seinem Gesichte spielte mit dem Erfolg, da? die entblutete Haut dieses jungen Gesichtes bla?kalt einfiel, die Nase spitz erschien und die Partie unter den Augen ganz so bleifarben wie bei einer Leiche aussah. Aber Hans Castorps Herz lie? der Sympathikus in einer Gangart trommeln, da? von geregelter Atmung uberhaupt nicht mehr die Rede sein konnte, und Schauer uberliefen den jungen Menschen als Veranstaltung der Hautsalbendrusen seines Korpers, die sich mitsamt ihren Haarbalgen aufrichteten.

Die im Papierdreispitz betrachtete ihn von oben bis unten mit einem Lacheln, worin keinerlei Mitleid, keinerlei Besorgnis angesichts der Verwustung seines Au?eren zu erkennen war. Dies Geschlecht kennt ein solches Mitleid und eine solche Besorgnis uberhaupt nicht vor den Schrecken der Leidenschaft, - eines Elementes, ihm offenbar viel vertrauter, als dem Mann, der von Natur keineswegs darin zu Hause ist und den es nie ohne Spott und Schadenfreude darin begru?t. Ubrigens wurde er sich fur Mitleid und Besorgnis ja freilich auch bedanken.

"Ich?" antwortete die blo?armige Kranke auf das "Du" ... "Ja, vielleicht". Und allenfalls war in ihrem Lacheln und ihrer Stimme etwas von der Erregung,die auftritt, wenn nach langem, stummem Verhaltnis die erste Anrede fallt, - einer listigen Erregung, die alles Vorangegangene in den Augenblick heimlich einbezieht. "Du bist sehr ehrgeizig ... Du bist ... sehr ... eifrig", fuhr sie in ihrer exotischen Aussprache mit fremdem r und fremdem, zu offenem e zu spotten fort, wobei ihre leicht verschleierte, angenehm heisere Stimme das Wort "ehrgeizig" auch noch auf der

zweiten Silbe betonte, so da? es vollig fremdsprachig klang, - und kramte in ihrem Ledertaschchen, blickte suchend hinein und zog unter einem Taschentuch, das sie zuerst zutage gefordert, ein kleines silbernes Crayon hervor, dunn und zerbrechlich, ein Galanteriesachelchen, zu ernsthafter Tatigkeit kaum zu gebrauchen. Der Bleistift von damals, der erste, war handlich-rechtschaffener gewesen.

"Voila", sagte sie und hielt ihm das Stiftchen vor die Augen, indem sie es zwischen Daumen und Zeigefinger an der Spitze hielt und leicht hin und her schlenkerte.

Da sie es ihm zugleich gab und vorenthielt, nahm er es, ohne es zu empfangen, das hei?t: hielt die Hand in der Hohe des Stiftes, dicht daran, die Finger zum Greifen bereit, aber nicht vollends zugreifend, und blickte aus seinen bleifarbenen Augenhohlen abwechselnd auf den Gegenstand und in Clawdias tatarisches Gesicht. Seine blutlosen Lippen standen offen, und sie blieben so, er benutzte sie nicht zum Sprechen, als er sagte:

"Siehst du wohl, ich wu?te doch, da? du einen haben wurdest."

"Prenez garde, il est un peu fragile", sagte sie. "C'est a visser, tu sais."

Und indem ihre Kopfe sich daruber neigten, zeigte sie ihm die landlaufige Mechanik des Stiftes, aus dem ein nadeldunnes, wahrscheinlich hartes, nichts abgebendes Graphitstanglein fiel, wenn man die Schraube offnete.

Sie standen nahe gegeneinander geneigt. Da er im Gesellschaftsanzug war, trug er heute abend einen steifen Kragen und konnte das Kinn darauf stutzen.

"Klein, aber dein", sagte er, Stirn an Stirn mit ihr, auf den Stift hinunter mit unbewegten Lippen und folglich unter Auslassung des Labiallautes.

"Oh, auch witzig bist du", antwortete sie mit kurzem Lachen, indem sie sich aufrichtete und ihm das Crayon nun uberlie?.(Ubrigens mochte Gott wissen, womit er witzig war, da er ja offensichtlich keinen Tropfen Blut im Kopfe hatte.) "Also geh, spute dich, zeichne, zeichne gut, zeichne dich aus!" Witzig auch ihrerseits schien sie ihn fortzutreiben.

"Nein, du hast noch nicht gezeichnet. Du mu?t zeichnen", sagte er unter Auslassung des m von "mu?t" und trat auf ziehende Art einen Schritt zuruck.

"Ich?" wiederholte sie wieder mit einem Erstaunen, das etwas anderem mehr als seiner Forderung zu gelten schien. In einer gewissen Verwirrung

lachelnd blieb sie noch stehen, folgte aber dann seiner magnetisierenden Ruckwartsbewegung ein paar Schritte gegen den Bowlentisch.

Es zeigte sich jedoch, da? die Unterhaltung dort nicht mehr vorhielt, in den letzten Zugen lag.Jemand zeichnete noch, hatte aber keine Zuschauer mehr. Die Karten waren mit Unsinn bedeckt, jedermann hatte seine Ohnmacht erprobt, der Tisch stand fast verlassen, zumal eine Gegenstromung eingesetzt hatte. Da man gewahr geworden, da? die Arzte fort waren, lautete plotzlich die Parole auf Tanz. Schon wurde der Tisch beiseite geschleppt. Man postierte Spaher an die Turen des Schreib- und des Klavierzimmers, mit der Anweisung, durch ein Zeichen den Ball zum Stehen zu bringen, falls etwa "der Alte", Krokowski oder die Oberin sich wieder zeigen sollten. Ein slawischer Jungling griff mit Ausdruck in die Tastatur des kleinen Nu?baumpianinos. Die ersten Paare drehten sich im Inneren eines unregelma?igen Kreises von Sesseln und Stuhlen, auf denen Zuschauer sa?en.

Hans Castorp verabschiedete sich von dem eben fortschwebenden Tisch mit der Handbewegung: "Fahr hin!" Mit dem Kinn deutete er dann auf freie Sitzgelegenheiten, die er im kleinen Salon gewahrte, und auf die geschutzte Zimmerecke rechts neben der Portiere. Er sagte nichts, vielleicht, weil ihm die Musik zu laut war. Er zog einen Stuhl - es war ein sogenannter Triumphstuhl, mit Holzrahmen und einer Pluschbespannung - fur Frau Chauchat an den Ort, den er vorher pantomimisch bezeichnet hatte, und eignete sich selbst einen knisternden, krachenden Korbstuhl mit gerollten Armlehnen an, auf den er sich zu ihr setzte, gegen sie vorgebeugt, die Arme auf den Lehnen, ihr Crayon in den Handen, die Fu?e weit unter dem Stuhl. Sie ihrerseits lag allzu tief in dem Pluschgehange, ihre Knie waren emporgehoben, doch schlug sie trotzdem das eine uber das andere und lie? ihren Fu? in der Hohe wippen, dessen Knochel uber dem Rande des schwarzen Lackschuhs von der ebenfalls schwarzen Seide des Strumpfes uberspannt war. Vor ihnen sa?en andere Leute, standen auf, um zu tanzen und machten solchen Platz, die mude waren. Es war ein Kommen und Gehen.

"Du hast ein neues Kleid", sagte er, um sie betrachten zu durfen, und horte sie antworten:

"Neu? Du bist bewandert in meiner Toilette?"

"Habe ich nicht recht?"

"Doch. Ich habe es mir kurzlich hier machen lassen, bei Lukacek im

Dorf. Er arbeitet viel fur Damen hier oben. Es gefallt dir?"

"Sehr gut", sagte er, indem er sie mit dem Blick noch einmal umfa?te und ihn dann niederschlug. "Willst du tanzen?" fugte er hinzu.

"Wurdest du wollen?" fragte sie mit erhobenen Brauen lachelnd dagegen, und er antwortete:

"Ich tate es schon, wenn du Lust hattest."

"Das ist weniger brav, als ich dachte, da? du seist", sagte sie, und da er wegwerfend auflachte, fugte sie hinzu: "Dein Vetter ist schon gegangen."

"Ja, er ist mein Vetter", bestatigte er unnotigerweise. "Ich sah auch vorhin, da? er fort ist. Er wird sich gelegt haben."

"C'est un jeune hommetres etroit, tres honnete, tres allemand."

"Etroit? Honnete?" wiederholte er. "Ich verstehe Franzosisch besser, als ich es spreche. Du willst sagen, da? er pedantisch ist. Haltst du uns Deutsche fur pedantisch - nous autres allemands?"

"Nous causons de votre cousin. Mais c'est vrai, ihr seid ein wenig bourgeois. Vous aimez l'ordre mieux que la liberte, toute l'Europe le sait."

"Aimer ... aimer ... Qu'est-ce que c'est! Ca manque de definition, ce mot-la. Der Eine hat's, der Andere liebt's, comme nous disons proverbialement", behauptete Hans Castorp. "Ich habe in letzter Zeit," fuhr er fort, "manchmal uber die Freiheit nachgedacht. Das hei?t, ich horte das Wort so oft, und so dachte ich daruber nach. Je te le dirai en francais, was ich mir dachte. Ce que toute l'Europe nomme la liberte, est peut-etre une chose assez pedante et assez bourgeoise en comparaison de notre besoin d'ordre - c'est ca!"

"Tiens! C'est amusant. C'est ton cousin a qui tu penses en disant des choses etranges comme ca?"

"Nein, c'est vraiment une bonne ame, eine einfache, unbedrohte Natur, tu sais. Mais il n'est pas bourgeois, il est militaire."

"Unbedroht?" wiederholte sie muhsam ... "Tu veux dire: une nature tout a fait ferme, sure d'elle-meme? Mais il est serieusement malade, ton pauvre cousin."

"Wer hat das gesagt?"

"Man wei? hier voneinander."

"Hat Hofrat Behrens dir das gesagt?"

"Peut-etre en me faisant voir ses tableaux."

"C'est-a-dire: en faisant ton portrait!"

"Pourquoi pas. Tu l'as trouve reussi, mon portrait?"

"Mais oui, extremement. Behrens a tres exactement rendu ta peau, oh vraiment tres fidelement. J'aimerais beaucoup etre portraitiste, moi aussi, pour avoir l'occasion d'etudier ta peau comme lui."

"Parlez allemand, s'il vous plait!"

"Oh, ich spreche Deutsch, auch auf Franzosisch. C'est une sorte d'etude artistique et medicale - en un mot: il s'agit des lettres humaines, tu comprends. Wie ist es nun, willst du nicht tanzen?"

"Aber nein, das ist kindisch. En cachette des medecins. Aussitot que Behrens reviendra, tout le monde va se precipiter sur les chaises. Ce sera fort ridicule."

"Hast du so gro?en Respekt vor ihm?"

"Vor wem?" sagte sie, das Fragewort kurz und fremdartig sprechend.

"Vor Behrens."

"Mais va donc avec ton Behrens! Es ist auch viel zu eng zum Tanzen. Et puis sur le tapis ... Wollen wir zusehen, dem Tanze."

"Ja, das wollen wir", pflichtete er bei und schaute neben ihr hin, mit seinem bleichen Gesicht, mit den blauen, sinnig blickenden Augen seines Gro?vaters, in das Gehupf der maskierten Patienten hier im Salon und druben im Schreibzimmer. Da hupfte die Stumme Schwester mit dem Blauen Heinrich, und Frau Salomon, die als Ballherr, in Frack und wei?e Weste, gekleidet war, mit hochgewolbter Hemdbrust, gemaltem Schnurrbart und Monokel, drehte sich auf kleinen Lack-Stockelschuhen, die unnaturlicherweise aus ihren schwarzen Herrenhosen hervorkamen, mit demPierrot, dessen Lippen blutrot in seinem gewei?ten Antlitz leuchteten, und dessen Augen denen eines Albino-Kaninchens glichen. Der Grieche im Mantelchen schwang das Ebenma? seiner lila Trikotbeine um den dekolletierten und dunkel glitzernden Rasmussen; der Staatsanwalt im Kimono, die Generalkonsulin Wurmbrand und der junge Ganser tanzten sogar selbdritt, indem sie sich mit den Armen umschlungen hielten; und was die Stohr betraf, so tanzte sie mit ihrem Besen, den sie ans Herz druckte und dessen Borsten sie liebkoste, als waren sie eines Menschen aufrecht stehendes Haupthaar gewesen.

"Das wollen wir", wiederholte Hans Castorp mechanisch. Sie sprachen

leise, unter den Tonen des Klaviers. "Wir wollen hier sitzen und zusehen wie im Traum. Das ist fur mich wie ein Traum, mu?t du wissen, da? wir so sitzen, - comme un reve singulierement profond, car il faut dormir tres profondement pour rever comme cela ... Je veux dire: C'est un reve bien connu, reve de tout temps, long, eternel, oui, etre assis pres de toi comme a present, voila l'eternite."

"Poete!" sagte sie. "Bourgeois, humaniste et poete, - voila l'allemand au complet, comme il faut!"

"Je crains, que nous ne soyons pas du tout et nullement comme il faut", antwortete er. "Sous aucun egard. Nous sommes peut-etre des Sorgenkinder des Lebens, tout simplement."

"Joli mot. Dis-moi donc ... Il n'aurait pas ete fort difficile de rever ce reve-la plus tot. C'est un peu tard, que monsieur se resout d'adresser la parole a son humble servante."

"Pourquoi des paroles?" sagte er. "Pourquoi parler? Parler, discourir, c'est une chose bien republicaine, je le concede. Mais je doute, que ce soit poetique au meme degre. Un de nos pensionnaires, qui est un peu devenu mon ami, M. Settembrini ..."

"Il vient de te lancer quelques paroles."

"Eh bien, c'est un grand parleur sans doute, il aime meme beaucoup a reciter de beaux vers, - mais est-ce un poete, cet homme-la?"

"Je regrette sincerement de n'avoir jamais eu le plaisir de faire la connaissance de ce chevalier."

"Je le crois bien."

"Ah! Tu le crois."

"Comment? C'etait une phrase tout-a-fait indifferente, ce que j'ai dit la. Moi, tu le remarques bien, je ne parle guere le francais. Pourtant, avec toi je prefere cette langue a la mienne, car pour moi, parler francais, c'est parler sans parler, en quelque maniere, - sans responsabilite, ou comme nous parlons en reve. Tu comprends?"

"A peu pres."

"Ca suffit ... Parler", fuhr Hans Castorp fort, "- pauvre affaire! Dans l'eternite, on ne parle point. Dans l'eternite, tu sais, on fait comme en dessinant un petit cochon: on penche la tete en arriere et on ferme les yeux."

"Pas mal, ca! Tu es chez toi dans l'eternite, sans aucun doute, tu la

connais a fond. Il faut avouer,que tu es un petit reveur assez curieux."

"Et puis", sagte Hans Castorp, "si je t'avais parle plus tot, il m'aurait fallu te dire "vous"!"

"Eh bien, est-ce que tu as l'intention de me tutoyer pour toujours?"

"Mais oui. Je t'ai tutoyee de tout temps et je te tutoierai eternellement."

"C'est un peu fort, par exemple. En tout cas tu n'auras pas trop longtemps l'occasion de me dire "tu". Je vais partir."

Das Wort brauchte einige Zeit, bis es ihm ins Bewu?tsein drang. Dann fuhr er auf, wirr um sich blickend, wie ein aus dem Schlaf Gestorter. Ihr Gesprach war ziemlich langsam vonstatten gegangen, da Hans Castorp das Franzosische schwerfallig und wie in zogerndem Sinnen sprach. Das Klavier, das kurze Zeit geschwiegen hatte, tonte wieder, nunmehr unter den Handen des Mannheimers, der den Slawenjungling abgelost und Noten aufgelegt hatte. Fraulein Engelhart sa? bei ihm und blatterte um. Der Ball hatte sich gelichtet. Eine gro?ere Anzahl der Pensionare schien horizontale Lage eingenommen zu haben. Vor ihnen sa? niemand mehr. Im Lesezimmer spielte man Karten.

"Was tust du?" fragte Hans Castorp entgeistert ...

"Ich reise ab", wiederholte sie, scheinbar verwundert lachelnd uber sein Erstarren.

"Nicht moglich", sagte er. "Das ist nur Scherz."

"Durchaus nicht. Es ist mein vollkommener Ernst. Ich reise."

"Wann?"

"Aber morgen. Apres diner."

In ihm ereignete sich ein umfangreicher Zusammensturz. Er sagte:

"Wohin?"

"Sehr weit fort."

"Nach Daghestan?"

"Tu n'es pas mal instruit. Peut-etre, pour le moment ..."

"Bist du denn geheilt?"

"Quant a ca ... non. Aber Behrens meint, es sei vorlaufig hier nicht mehr viel fur mich zu erreichen. C'est pourquoi je vais risquer un petit changement d'air."

"Du kommst also wieder!"

"Das fragt sich. Es fragt sich vor allem, wann. Quant a moi, tu sais, j'aime la liberte avant tout et notamment celle de choisir mon domicile. Tu ne comprends guere ce que c'est: etre obsede d'independance. C'est de ma race, peut-etre."

"Et ton mari au Daghestan te l'accorde, - ta liberte?"

"C'est la maladie qui me la rend. Me voila a cet endroit pour la troisieme fois. J'ai passe un an ici, cette fois. Possible que je revienne. Mais alors tu seras bien loin depuis longtemps."

"Glaubst du, Clawdia?"

"Mon prenom aussi! Vraiment tu les prends bien au serieux les coutumes du carnaval!"

"Wei?t du denn, wie krank ich bin?"

"Oui - non - comme on sait ces choses ici. Tu as une petite tache humide la dedans et un peu de fievre, n'est-ce pas?"

"Trente-sept et huit ou neuf l'apres-midi", sagte Hans Castorp. "Und du?"

"Oh, mon cas, tu sais, c'est un peu plus complique ... pas tout-a-fait simple."

"Il y a quelque chose dans cette branche de lettres humaines dite la medecine," sagte Hans Castorp, "qu'on appelle bouchement tuberculeux des vases de lymphe."

"Ah! Tu as moucharde, mon cher,on le voit bien."

"Et toi ... Verzeih mir! La? mich dich jetzt etwas fragen, dich dringlich und auf Deutsch etwas fragen! Als ich damals von Tische zur Untersuchung ging, vor sechs Monaten ... Du blicktest dich um nach mir, erinnerst du dich?"

"Quelle question? Il y a six mois!"

"Wu?test du, wohin ich ging?"

"Certes, c'etait tout-a-fait par hasard ..."

"Du wu?test es von Behrens?"

"Toujours ce Behrens!"

"Oh, il a represente ta peau d'une facon tellement exacte ... D'ailleurs, c'est un veuf aux joues ardentes et qui possede un service a cafe tres remarquable ... Je crois bien qu'il connait ton corps non seulement comme medecin, mais aussi comme adepte d'une autre discipline de

lettres humaines."

"Tu as decidement raison de dire, que tu parles en reve, mon ami."

"Soit ... Laisse-moi rever de nouveau apres m'avoir reveille si cruellement par cette cloche d'alarme de ton depart. Sept mois sous tes yeux ... Et a present, ou en realite j'ai fait ta connaissance, tu me parles de depart!"

"Je te repete, que nous aurions pu causer plus tot."

"Du hattest es gewunscht?"

"Moi? Tu ne m'echapperas pas, mon petit. Il s'agit de tes interets, a toi. Est-ce que tu etais trop timide pour t'approcher d'une femme a qui tu parles en reve maintenant, ou est-ce qu'il y avait quelqu'un qui t'en a empeche?"

"Je te l'ai dit. Je ne voulais pas te dire "vous"."

"Farceur. Reponds donc, - ce monsieur beau parleur, cet italien-la qui a quitte la soiree, - qu'est-ce qu'il t'a lance tantot?"

"Je n'en ai entendu absolument rien. Je me soucie tres peu de ce monsieur, quand mes yeux te voient. Mais tu oublies ... il n'aurait pas ete si facile du tout de faire ta connaissance dans le monde. Il y avait encore mon cousin avec qui j'etais lie et qui incline tres peu a s'amuser ici: Il ne pense a rien qu'a son retour dans les plaines, pour se faire soldat."

"Pauvre diable. Il est, en effet, plus malade qu'il ne sait. Ton ami italien du reste ne va pas trop bien non plus."

"Il le dit lui-meme. Mais mon cousin ... Est-ce vrai? Tu m'effraies."

"Fort possible qu'il va mourir, s'il essaye d'etre soldat dans les plaines."

"Qu'il va mourir. La mort. Terrible mot, n'est-ce pas? Mais c'est etrange, il ne m'impressionne pas tellement aujourd'hui, ce mot. C'etait une facon de parler bien conventionnelle, lorsque je disais "Tu m'effraies". L'idee de la mort ne m'effraie pas. Elle me laisse tranquille. Je n'ai pas pitie - ni de mon bon Joachim ni de moi-meme, en entendant qu'il va peut-etre mourir. Si c'est vrai, son etat ressemble beaucoup au mien et je ne le trouve pas particulierement imposant.Il est moribond, et moi, je suis amoureux, eh bien! - Tu as parle a mon cousin a l'atelier de photographie intime, dans l'antichambre, tu te souviens."

"Je me souviens un peu."

"Donc ce jour-la Behrens a fait ton portrait transparent!"

"Mais oui."

"Mon dieu. Et l'as-tu sur toi?"

"Non, je l'ai dans ma chambre."

"Ah, dans ta chambre. Quant au mien, je l'ai toujours dans mon portefeuille. Veux-tu que je te le fasse voir?"

"Mille remerciements. Ma curiosite n'est pas invincible. Ce sera un aspect tres innocent."

"Moi, j'ai vu ton portrait exterieur. J'aimerais beaucoup mieux voir ton portrait interieur qui est enferme dans ta chambre ... Laisse-moi demander autre chose! Parfois un monsieur russe qui loge en ville vient te voir. Qui est-ce? Dans quel but vient-il, cet homme?"

"Tu es joliment fort en espionnage, je l'avoue. Eh bien, je reponds. Oui, c'est un compatriote souffrant, un ami. J'ai fait sa connaissance a une autre station balneaire, il y a quelques annees deja. Nos relations? Les voila: nous prenons notre the ensemble, nous fumons deux ou trois papiros, et nous bavardons, nous philosophons, nous parlons de l'homme, de Dieu, de la vie, de la morale, de mille choses. Voila mon compte rendu. Es-tu satisfait?"

"De la morale aussi! Et qu'est-ce que vous avez trouve en fait de morale, par exemple?"

"La morale? Cela t'interesse? Eh bien, il nous semble, qu'il faudrait chercher la morale non dans la vertu, c'est-a-dire dans la raison, la discipline, les bonnes m?urs, l'honnetete, - mais plutot dans le contraire, je veux dire: dans le peche, en s'abandonnant au danger, a ce qui est nuisible, a ce qui nous consume. Il nous semble qu'il est plus moral de se perdre et meme de se laisser deperir que de se conserver. Les grands moralistes n'etaient point des vertueux, mais des aventuriers dans le mal, des vicieux, des grands pecheurs qui nous enseignent a nous incliner chretiennement devant la misere. Tout ca doit te deplaire beaucoup, n'est-ce pas?"

Er schwieg. Er sa? noch immer wie anfangs, die verschlungenen Fu?e tief unter seinem knisternden Stuhl, vorgeneigt gegen die Liegende im Papierdreispitz, ihr Crayon zwischen den Fingern, und blickte aus Hans Lorenz Castorps blauen Augen von unten in das Zimmer, das leer geworden war. Zerstoben die Gasteschaft. Das Klavier, in der schrag gegenuberliegenden Ecke, tonte nur noch leise und abgebrochen,

gespielt mit einer Hand von dem mannheimischen Kranken, an dessen Seite die Lehrerin sa? und in einem Notenbuch blatterte, das sie auf den Knien hielt. Als das Gesprach zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat verstummte, horte der Pianist vollends zu spielen auf und legte auch die Hand, mit der er die Tasten leicht geruhrt hatte, in denScho?, wahrend Fraulein Engelhart fortfuhr, in ihre Noten zu blicken. Die vier von der Fastnachtsgeselligkeit ubriggebliebenen Personen sa?en unbeweglich. Die Stille dauerte mehrere Minuten. Langsam neigten sich unter ihrem Druck die Kopfe des Paares am Pianino tiefer und tiefer, der des Mannheimers gegen die Klaviatur hinab, der Fraulein Engelharts auf das Notenheft. Endlich, beide gleichzeitig, wie nach geheimer Verstandigung, standen sie vorsichtig auf, und leise, auf den Zehen, indem sie es kunstlich vermieden, sich nach der anderen noch belebten Zimmerecke umzusehen, die Kopfe eingezogen und die Arme steif am Leibe, verschwanden der Mannheimer und die Lehrerin miteinander durch das Schreib- und Lesezimmer. "Tout le monde se retire", sagte Frau Chauchat. "C'etaient les derniers; il se fait tard. Eh bien, la fete de carnaval est finie." Und sie hob die Arme, um mit beiden Handen die Papiermutze von ihrem rotlichen Haar zu nehmen, dessen Zopf als Kranz um den Kopf geschlungen war. "Vous connaissez les consequences, monsieur."

Aber Hans Castorp verneinte mit geschlossenen Augen, ohne im ubrigen seine Stellung zu verandern. Er antwortete:

"Jamais, Clawdia. Jamais je te dirai "vous", jamais de la vie ni de la mort, wenn man so sagen kann, - man sollte es konnen. Cette forme de s'adresser a une personne, qui est celle de l'Occident cultive et de la civilisation humanitaire, me semble fort bourgeoise et pedante. Pourquoi, au fond, de la forme? La forme, c'est la pedanterie elle-meme! Tout ce que vous avez fixe a l'egard de la morale, toi et ton compatriote souffrant, - tu veux serieusement que ca me surprenne? Pour quel sot me prends-tu? Dis donc, qu'est-ce que tu penses de moi?"

"C'est un sujet qui ne donne pas beaucoup a penser. Tu es un petit bonhomme convenable, de bonne famille, d'une tenue appetissante, disciple docile de ses precepteurs et qui retournera bientot dans les plaines, pour oublier completement qu'il a jamais parle en reve ici et pour aider a rendre son pays grand et puissant par son travail honnete sur le chantier. Voila ta photographie intime, faite sans appareil. Tu la trouves exacte, j'espere?"

"Il y manque quelques details que Behrens y a trouves."

"Ah, les medecins en trouvent toujours, ils s'y connaissent ..."

"Tu parles comme M. Settembrini. Et ma fievre? D'ou vient-elle?"

"Allons donc, c'est un incident sans consequence qui passera vite."

"Non, Clawdia, tu sais bien que ce que tu dis la n'est pas vrai et tu le dis sans conviction, j'en suis sur. La fievre de mon corps et le battement de mon c?ur harasse et le frissonnement de mes membres, c'est le contraire d'un incident, car ce n'est rien d'autre -" und sein bleiches Gesicht mit den zuckenden Lippen beugte sich tieferzu dem ihren - "rien d'autre que mon amour pour toi, oui, cet amour qui m'a saisi a l'instant, ou mes yeux t'ont vue, ou, plutot, que j'ai reconnu, quand je t'ai reconnue toi, - et c'etait lui, evidemment, qui m'a mene a cet endroit ..."

"Quelle folie!"

"Oh, l'amour n'est rien, s'il n'est pas de la folie, une chose insensee, defendue et une aventure dans le mal. Autrement c'est une banalite agreable, bonne pour en faire de petites chansons paisibles dans les plaines. Mais quant a ce que je t'ai reconnue et que j'ai reconnu mon amour pour toi, - oui, c'est vrai, je t'ai deja connue, anciennement, toi et tes yeux merveilleusement obliques et ta bouche et ta voix, avec laquelle tu parles, - une fois deja, lorsque j'etais collegien, je t'ai demande ton crayon, pour faire enfin ta connaissance mondaine, parce que je t'aimais irraisonnablement, et c'est de la, sans doute, c'est de mon ancien amour pour toi, que ces marques me restent que Behrens a trouvees dans mon corps, et qui indiquent que jadis aussi j'etais malade ..."

Seine Zahne schlugen aufeinander. Er hatte den einen Fu? unter seinem knisternden Stuhl hervorgezogen, wahrend er phantasierte, und indem er ihn vorschob, diesen Fu?, beruhrte er mit dem anderen Knie schon den Boden, so da? er denn also neben ihr kniete, gebeugten Kopfes und am ganzen Korper zitternd. "Je t'aime," lallte er, "je t'ai aimee de tout temps, car tu es le Toi de ma vie, mon reve, mon sort, mon envie, mon eternel desir ..."

"Allons, allons!" sagte sie. "Si tes precepteurs te voyaient ..."

Aber er schuttelte verzweifelt den Kopf, das Gesicht uber den Teppich, und antwortete:

"Je m'en ficherais, je me fiche de tous ces Carducci et de la Republique eloquente et du progres humain dans le temps, car je t'aime!"

Sie streichelte ihm leicht mit der Hand das kurzgeschorene Haar am Hinterkopf.

"Petit bourgeois!" sagte sie. "Joli bourgeois a la petite tache humide. Est-ce vrai que tu m'aimes tant?"

Und begeistert von ihrer Beruhrung, nun auf beiden Knien, den Kopf im Nacken und mit geschlossenen Augen fuhr er zu sprechen fort:

"Oh, l'amour, tu sais ... Le corps, l'amour, la mort, ces trois ne font qu'un. Car le corps, c'est la maladie et la volupte, et c'est lui qui fait la mort, oui, ils sont charnels tous deux, l'amour et la mort, et voila leur terreur et leur grande magie! Mais la mort, tu comprends, c'est d'une part une chose mal famee, impudente qui fait rougir de honte; et d'autre part c'est une puissance tres solennelle et tres majestueuse, - beaucoup plus haute que la vie riante gagnantde la monnaie et farcissant sa panse, - beaucoup plus venerable que le progres qui bavarde par les temps, - parce qu'elle est l'histoire et la noblesse et la piete et l'eternel et le sacre qui nous fait tirer le chapeau et marcher sur la pointe des pieds ... Or, de meme, le corps, lui aussi, et l'amour du corps, sont une affaire indecente et facheuse, et le corps rougit et palit a sa surface par frayeur et honte de lui-meme. Mais aussi il est une grande gloire adorable, image miraculeuse de la vie organique, sainte merveille de la forme et de la beaute, et l'amour pour lui, pour le corps humain, c'est de meme un interet extremement humanitaire et une puissance plus educative que toute la pedagogie du monde! ... Oh, enchantante beaute organique qui ne se compose ni de teinture a l'huile ni de pierre, mais de matiere vivante et corruptible, pleine du secret febrile de la vie et de la pourriture! Regarde la symetrie merveilleuse de l'edifice humain, les epaules et les hanches et les mamelons fleurissants de part et d'autre sur la poitrine, et les cotes arrangees par paires, et le nombril au milieu dans la mollesse du ventre, et le sexe obscur entre les cuisses! Regarde les omoplates se remuer sous la peau soyeuse du dos, et l'echine qui descend vers la luxuriance double et fraiche des fesses, et les grandes branches des vases et des nerfs qui passent du tronc aux rameaux par les aisselles, et comme la structure des bras correspond a celle des jambes. Oh, les douces regions de la jointure interieure du coude et du jarret avec leur abondance de delicatesses organiques sous leurs coussins de chair! Quelle fete immense de les caresser ces endroits delicieux du corps humain! Fete a mourir sans plainte apres! Oui, mon dieu, laisse-moi sentir l'odeur de la peau de ta rotule, sous laquelle

l'ingenieuse capsule articulaire secrete son huile glissante! Laisse-moi toucher devotement de ma bouche l'Arteria femoralis qui bat au front de ta cuisse et qui se divise plus bas en les deux arteres du tibia! Laisse-moi ressentir l'exhalation de tes pores et tater ton duvet, image humaine d'eau et d'albumine, destinee pour l'anatomie du tombeau, et laisse-moi perir, mes levres aux tiennes!"

Er offnete die Augen nicht, nachdem er gesprochen; er blieb, wie er war, den Kopf im Nacken, die Hande mit dem Silberstiftchen von sich gestreckt, auf seinen Knien bebend und schwankend. Sie sagte:

"Tu es en effet un galant qui sait solliciter d'une maniere profonde, a l'allemande."

Und sie setzte ihm die Papiermutze auf.

"Adieu, mon prince Carnaval! Vous aurezune mauvaise ligne de fievre ce soir, je vous le predis."

Damit glitt sie vom Stuhl, glitt uber den Teppich zur Tur, in deren Rahmen sie zogerte, halb ruckwarts gewandt, einen ihrer nackten Arme erhoben, die Hand an der Turangel. Uber die Schulter sagte sie leise:

"N'oubliez pas de me rendre mon crayon."

Und trat hinaus.