Heinrich Böll

"Billard um halbzehn"


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An diesem Morgen war Fähmel zum ersten Mal unhöflich zu ihr, fast grob. Er rief sie gegen halb zwölf an, und schon der Klang seiner Stimme verhieß Unheil; diese Schwingungen waren ihr ungewohnt, und gerade weil seine Worte so korrekt blieben, erschreckte sie der Ton: alle Höflichkeit war in dieser Stimme auf die Formel reduziert, als wenn er ihr statt Wasser H2O angeboten hätte.

"Bitte", sagte er, "nehmen Sie aus Ihrem Schreibtisch die kleine rote Karte, die ich Ihnen vor vier Jahren gab". Sie zog mit der rechten Hand ihre Schreibtischschublade auf, schob eine Tafel Schokolade, den Wollappen, das Messingputzmittel beiseite, nahm die rote Karte heraus. "Bitte, lesen Sie mir vor, was auf der Karte steht". Und sie las mit zitternder Stimme:

"Jederzeit erreichbar für meine Mutter, meinen Vater, meine Tochter, meinen Sohn und für Herrn Schrella, für niemanden sonst."

"Bitte, wiederholen Sie den letzten Satz", und sie wiederholte: "Für niemanden sonst". "Woher wußten Sie übrigens, daß die Telefonnummer, die ich Ihnen gab, die des Hotels ›Prinz Heinrich‹ war?" Sie schwieg. "Ich möchte betonen, daß Sie meine Anweisungen zu befolgen haben, auch wenn sie vier Jahre zurückliegen... bitte."

Sie schwieg.

"Dummes Stück"... Hatte er das ›Bitte‹ diesmal vergessen? Sie hörte Gemurmel, dann eine Stimme, die ›Taxi‹ rief,

›Taxi‹, das amtliche Tuten, sie legte den Hörer auf, schob das

Kärtchen auf die Mitte des Schreibtisches, empfand beinahe Erleichterung; diese Grobheit, die erste innerhalb von vier

Jahren, war fast wie eine Zärtlichkeit.

Wenn sie verwirrt war oder des bis aufs äußerste präzisierten Ablaufs

ihrer Arbeit überdrüssig, ging sie hinaus, das Messingschild zu putzen: ›Dr. Robert Fähmel, Büro für statische Berechnungen, nachmittags geschlossen‹. Eisenbahndämpfe, der Schleim der Auspuffgase, Straßenstaub gaben ihr täglich Grund, den Wollappen und das Putzmittel aus der Schublade zu nehmen, und sie liebte es, diese Putzminuten auf eine viertel, eine halbe Stunde auszudehnen. Drüben im Haus Modestgasse 8 konnte sie hinter staubigen Fenstern die stampfenden Druckereimaschinen sehen, die unermüdlich Erbauliches auf weißes Papier druckten; sie spürte das Beben, glaubte sich auf ein fahrendes oder startendes Schiff versetzt. Lastwagen, Lehrjungen, Nonnen; Leben auf der Straße, Kisten vor Gemüseläden: Apfelsinen, Tomaten, Kohl. Und am Nebenhaus, vor Gretzens Laden, hängten zwei Lehrjungen gerade den Keiler auf, dunkles Wildschweinblut tropfte auf den Asphalt. Sie liebte den Lärm und den Schmutz der Straße. Trotz stieg in ihr hoch, und sie dachte an Kündigung; in irgendeinem Dreckladen arbeiten, in einem Hinterhofbetrieb, wo Elektrokabel, Gewürze oder Zwiebeln verkauft wurden, wo schmuddelige Chefs mit herunterhängenden Hosenträgern und Wechselsorgen zu Vertraulichkeiten neigten, die man dann wenigstens hätte abweisen können; wo man um die Stunde, die man wartend beim Zahnarzt verbrachte, zu kämpfen hatte; wo für die Verlobung einer Kollegin Geld gesammelt wurde, Geld für einen Haussegen oder ein Buch über die Liebe; wo die schmutzigen Witze der Kollegen einen daran erinnerten, daß man selbst rein geblieben war. Leben. Nicht diese makellose Ordnung, nicht diesen Chef, der makellos gekleidet und makellos höflich war - und ihr unheimlich; sie witterte Verachtung hinter dieser Höflichkeit, die er jedem, mit dem er zu tun hatte, zuteil werden ließ. Doch mit wem, außer ihr, hatte er schon zu tun? Soweit sie zurückdenken konnte, hatte sie ihn nie mit jemandem sprechen sehen - außer mit seinem Vater,

seinem Sohn, seiner Tochter. Niemals hatte sie seine Mutter gesehen, die lebte irgendwo in einem Sanatorium für Geistesgestörte, und dieser Herr Schrella, der noch auf der roten Karte stand, hatte niemals nach ihm verlangt. Sprechstunden hielt Fähmel nicht ab, Kunden, die telefonisch anfragten, mußte sie bitten, sich schriftlich an ihn zu wenden.

Wenn er sie bei einem Fehler ertappte, machte er nur eine wegwerfende Handbewegung, sagte: "Gut, dann machen Sie es noch einmal, bitte". Das geschah selten, denn die wenigen Fehler, die ihr unterliefen, entdeckte sie selbst. Das ›Bitte‹ jedenfalls vergaß er nie. Wenn sie ihn darum bat, gab er ihr frei, für Stunden, für Tage; als ihre Mutter starb, hatte er gesagt:

"Dann schließen wir das Büro für vier Tage... oder möchten Sie

lieber eine Woche?" Doch sie wollte keine Woche, nicht einmal vier Tage, nur drei, und selbst die wurden ihr in der leeren Wohnung zu lang. Zur Seelenmesse und zur Beerdigung erschien er natürlich in vollendetem Schwarz, erschienen sein Vater, sein Sohn, seine Tochter, trugen alle riesige Kränze, die sie eigenhändig am Grab niederlegten, lauschten der Liturgie; und sein alter Vater, den sie mochte, flüsterte ihr zu: "Wir Fähmels kennen den Tod, stehen auf vertrautem Fuß mit ihm, liebes Kind."

All ihren Wünschen um Vergünstigungen kam er widerstandslos entgegen, und so fiel es ihr im Laufe der Jahre immer schwerer, ihn um eine Gunst zu bitten; er hatte die Arbeitszeit mehr und mehr herabgesetzt; im ersten Jahr hatte sie noch von acht bis vier gearbeitet, aber nun war ihre Arbeit schon seit zwei Jahren so rationalisiert, daß sie gut von acht bis eins getan werden konnte, ihr sogar noch Zeit blieb, sich zu langweilen, die Putzminuten auf halbe Stunden auszudehnen. Kein Wölkchen mehr auf dem Messingschild zu entdecken! Seufzend schraubte sie die Flasche mit dem Putzmittel zu, faltete den Lappen; immer noch stampften die

Druckereimaschinen, druckten unerbittlich Erbauliches auf

weißes Papier, immer noch blutete der Keiler. Lehrjungen, Lastwagen, Nonnen: Leben auf der Straße.

Auf dem Schreibtisch die rote Karte; seine makellose Architektenschrift: ›... für niemanden sonst‹. Die Telefonnummer, die sie mühsam, in langweiligen Stunden, über ihre Neugier errötend, identifiziert hatte: ›Hotel Prinz Heinrich‹. Der Name hatte ihrer Witterung neue Nahrung gegeben: was tat er morgens zwischen halb zehn und elf im Hotel Prinz Heinrich? Eisige Stimme am Telefon: ›Dummes Stück‹. Hatte er wirklich nicht ›bitte‹ dazu gesagt? Der Stilbruch stimmte sie hoffnungsvoll, tröstete sie über die Arbeit, die auch ein Automat hätte ausführen können.

Zwei Musterbriefe, die in vier Jahren nicht geändert worden waren, die sie schon in den Durchschlägen ihrer Vorgängerin entdeckt hatte; einen für die Kunden, die Aufträge erteilen: ›... danken wir Ihnen für Ihr Vertrauen, das wir durch rasche und korrekte Erledigung des Auftrages rechtfertigen werden. Hochachtungsvoll‹; der zweite Brief, der zu schreiben war, wenn sie die statischen Unterlagen an die Kunden zurückschickte: ›Anbei die gewünschten Unterlagen für das Bauvorhaben X. Das Honorar in Höhe von Y bitten wir auf unser Bankkonto zu überweisen. Hochachtungsvoll.‹ Blieben freilich für sie

gewisse Variationen; für X hatte sie einzusetzen: Haus für einen Verleger am Waldrand, Haus für einen Lehrer am Flußufer, Bahnüberführung Hollebenstraße. Für Y das Honorar, das sie nach einem einfachen Schlüssel selbst errechnen mußte.

Blieb noch der Briefverkehr mit seinen drei Mitarbeitern: Kanders, Schrit und Hochbret. Denen mußte sie die Aufträge in der Reihenfolge ihres Eintreffens zuschicken. "Damit", so hatte Fähmel gesagt, "die Gerechtigkeit ihren automatischen Verlauf nimmt und das Glück eine repräsentative Chance hat". Kamen die Unterlagen zurück, mußte das, was Kanders errechnet hatte,

Schrit; was Hochbret errechnet hatte, Kanders; was Schrit

errechnet hatte, Hochbret zur Überprüfung zugeschickt werden. Karteien waren zu führen, Spesenrechnungen zu buchen, Zeichnungen zu fotokopieren und vo n jedem Bauvorhaben eine Fotokopie in doppelter Postkartengröße für sein Privatarchiv herzustellen; - aber die meiste Arbeit bestand im Frankieren: immer wieder die Rückseite des grünen, des roten, des blauen Heuss übers Schwämmchen gezogen, die Marke sauber in die rechte obere Ecke des gelben Umschlags geklebt; sie empfand es schon als Abwechslung, wenn mal ein brauner, ein violetter, ein gelber Heuss darunter war.

Fähmel hatte sich zum Prinzip gemacht, nie länger als eine Stunde pro Tag im Büro zu verbringen; er schrieb seinen Namen unters Hochachtungsvoll, unter Honoraranweisungen. Kamen mehr Aufträge, als er in einer Stunde hätte bewältigen können, lehnte er die Annahme ab. Für diese Fälle gab es hektographierte Zettel mit dem Text: ›Infolge Arbeitsüberlastung sehen wir uns leider gezwungen, auf Ihren geschätzten Auftrag zu verzichten. Gez. F.‹

Nicht ein einziges Mal, wenn sie ihm morgens zwischen halb neun und halb zehn gegenübersaß, hatte sie ihn bei intimen menschlichen Verrichtungen gesehen; beim Essen, Trinken; niemals einen Schnupfen an ihm bemerkt; errötend dachte sie an intimere Dinge als diese; daß er rauchte, war kein Ersatz für das Vermißte: zu makellos war die schneeweiße Zigarette, nur die Asche, die Stummel im Aschenbecher trösteten sie: das war wenigstens Abfall, bewies, daß Verbrauch stattgefunden hatte. Sie hatte schon bei gewaltigen Chefs gearbeitet, Männern, deren Schreibtische wie Kommandobrücken waren, deren Physiognomie Furcht einflößte, doch selbst diese Großen hatten irgendwann einmal eine Tasse Tee, einen Kaffee getrunken, ein belegtes Brot gegessen, und der Anblick essender und trinkender Gewaltiger hatte sie immer in Erregung versetzt: da krümelte Brot, blieben

Wurstpellen übrig und speckige Schinkenränder,

mußten Hände gewaschen, Taschentücher gezogen werden.

Versöhnliches zeigte sich hinter Stirnen aus Granit, die über ganze Armeen befahlen, Münder wurden in Gesichtern abgewischt, die einstmals, in Bronze gegossen, auf Denkmalsockeln späteren Geschlechtern von ihrer Größe künden würden. Fähmel, wenn er um halb neun aus dem Hinterhaus kam, brachte keine Frühstücksspuren mit, war - wie es einem Chef geziemt hätte - weder nervös noch gesammelt; seine Unterschrift, auch wenn er vierzigmal seinen Namen unters Hochachtungsvoll zu schreib en hatte, blieb leserlich und schön; er rauchte, unterschrieb, blickte selten einmal in eine Zeichnung, nahm Punkt halb zehn Mantel und Hut, sagte: "Bis morgen dann" und verschwand. Von halb zehn bis elf war er im Hotel Prinz Heinrich zu erreichen, von elf bis zwölf im Cafe Zons, erreichbar nur für ›seine Mutter, seinen Vater, seine Tochter, seinen Sohn - und Herrn Schrella‹ - ab zwölf beim Spaziergang und um eins traf er sich mit seiner Tochter im

›Löwen‹ zum Mittagessen. Sie wußte nicht, wie er seine Nachmittage, seine Abende verbrachte, wußte nur, daß er

morgens um sieben der heiligen Messe beiwohnte, von halb acht bis acht mit seiner Tochter, von acht bis halb neun allein frühstückte. Immer wieder war sie überrascht über die Freude, die er zeigte, wenn sein Sohn sich anmeldete; immer wieder öffnete er dann das Fenster, blickte die Straße hinunter bis zum Modesttor, Blumen wurden gebracht, eine Haushälterin für die Dauer des Besuchs engagiert; die kleine Narbe über seinem Nasenbein wurde rot vor Erregung, Reinmachefrauen bevölkerten das düstere Hinterhaus, förderten Weinflaschen zutage, die im Flur für den Altwarenhändler bereitgestellt wurden; immer mehr Flaschen sammelten sich, wurden erst in Fünfer-, dann in Zehnerreihen aufgestellt, da die Länge des Flures nicht ausreichte; dunkelgrüner, starrer Staketenwald, dessen Spitzen sie errötend, sich der unziemlichen Neugier bewußt, zählte: zweihundertundzehn Flaschen, leergetrunken

zwischen Anfang Mai und Anfang September, mehr als eine Flasche täglich.

Niemals roch er nach Alkohol, seine Hände zitterten nicht. Der dunkelgrüne starre Wald wurde unwirklich. Hatte sie ihn tatsächlich gesehen, oder existierte er nur in ihren Träumen? Weder Schrit noch Hochbret oder Kanders hatte sie je zu Gesicht bekommen; die hockten weit entfernt voneinander in kleinen Nestern. Nur zweimal hatte einer beim anderen Fehler entdeckt: als Schrit die Basierung des städtischen Schwimmbades falsch errechnete, was von Hochbret herausgefunden

wurde. Sie war sehr aufgeregt gewesen, aber Fähmel hatte sie nur gebeten, ihm die Rotstiftnotizen an den Rändern der Zeichnung als die von Schrit und die von Hochbret zu identifizieren, und zum ersten Mal wurde ihr klar, daß auch er offenbar vom Fach war: eine halbe Stunde lang hatte er mit Rechenschieber, Tabellen und gespitzten Bleistiften an seinem Schreibtisch gesessen, dann gesagt: "Hochbret hat recht, das Schwimmbad wäre spätestens in drei Monaten zusammengesackt". Kein Wort des Tadels für Schrit, keins des Lobes für Hochbret, und als er - dieses eine Mal - das Gutachten selbst unterschrieb, lachte er; sein Lachen war ihr so unheimlich wie seine Höflichkeit.

Der zweite Fehler war Hochbret unterlaufen, bei der Berechnung der statischen Unterlagen für die Eisenbahnüberführung an der Wilhelmskuhle, und diesmal war es Kanders, der den Fehler entdeckte, und wieder sah sie Fähmel

zum zweiten Mal innerhalb von vier Jahren - rechnend am

Schreibtisch sitzen. Wieder mußte sie ihm Hochbrets und

Kanders' Rotstiftnotizen identifizieren; dieser Zwischenfall gab ihm die Idee ein, den verschiedenen Mitarbeitern verschiedene Farben vorzuschreiben: Kanders rot, Hochbret grün, Schrit gelb.

Langsam schrieb sie, während ein Stück Schokolade in ihrem Munde zerging: ›Wochenendhaus für eine Filmschauspielerin‹,

schrieb, während das zweite Stück Schokolade in ihrem Mund

zerging: ›Erweiterungsbau der Societas, die Gemeinnützigste der Gemeinnützigen‹. Immerhin unterschieden sich die Kunden noch durch Name und Adresse voneinander, gaben die beigelegten Zeichnungen ihr das Gefü hl, an Wirklichem teilzuhaben; Steine und Kunststoffplatten, Eisenträger, Glasziegel, Zementsäcke, die waren vorstellbar, während Schrit, Kanders und Hochbret, obwohl sie täglich deren Adresse schrieb, unvorstellbar blieben. Sie waren nie im Büro gewesen, riefen nie an, schrieben nie. Ohne Kommentar schickten sie ihre Berechnungen und Unterlagen zurück. "Wozu Briefe?" hatte Fähmel gesagt, "wir wollen doch hier keine Bekenntnisse sammeln, wie?" Manchmal nahm sie das Lexikon aus dem Bücherregal, schlug die Namen der Orte auf, die sie täglich auf Briefumschläge schrieb: Schilgenauel, 87 Einwohner, davon 83 röm.-kath., berühmte Pfarrkirche aus dem 12. Jh. mit dem Schilgenaueler Altar. Dort wohnte Kanders, dessen Personalien die Versicherungskarte preisgab: siebenunddreißig Jahre alt, ledig, röm.-kath.... Schrit wohnte hoch im Norden, in Gludum, 1988 Einwohner, davon 1812 ev., 176 röm.-kath., Marinadenindustrie. Missionsschule. Schrit war achtundvierzig, verh., ev., 2 Kinder, davon 1 über achtzehn. Hochbrets Wohnort brauchte

sie nicht nachzuschlagen, er wohnte in einem Vorort, in Blessenfeld, nur fünfunddreißig Omnibusminuten entfernt, und oft kam ihr der törichte Gedanke, ihn einmal aufzusuchen, sich seines Vorhandenseins zu versichern, indem sie seine Stimme hörte, ihn sah, seinen Händedruck spürte, doch sein geringes Alter, er war erst zweiunddreißig, und die Tatsache, daß er ledig war, hielt sie von solcher Intimität zurück. Obwohl das Lexikon Kanders' und Schrits Wohnorte beschrieb, wie auf einem Ausweis die ausgewiesene Person beschrieben wird, Blessenfeld ihr vertraut war, blieben die drei ihr unvorstellbar, wenn sie auch monatlich Versicherungsbeträge für sie überwies, Postanweisungen ausfüllte, Zeitschriften und Tabellen an sie verschickte; sie blieben so unwirklich wie dieser Schrella, der

auf der roten Karte stand, für den er immer erreichbar war, der aber in vier Jahren nicht einmal versucht hatte, ihn zu erreichen.

Sie ließ die rote Karte, die zur Ursache seiner ersten Grobheit geworden war, auf dem Tisch liegen. Wie hatte der Herr geheißen, der gegen zehn ins Büro gekommen war und Fähmel dringend, dringend, sehr dringend zu sprechen verlangte? Groß war er gewesen, grauhaarig, mit leicht gerötetem Gesicht, roch nach exquisiten Spesenmahlzeiten, trug einen Anzug, der nach Qualität geradezu stank; Macht, Würde und herrischen Charme hatte der Herr auf eine Weise vereint, die ihn unwiderstehlich machte; in seinem Titel, den er lächelnd hinmurmelte, hatte es nach Minister geklungen - Ministerialrat, -direktor, -dirigent, und als sie leugnete, Fähmels Aufenthalt zu wissen, schoß er's heraus, rasch, legte ihr dabei die Hand auf die Schulter: "Nun, schönes Kind, sagen Sie schon, wo ich ihn finden kann", und sie gab es preis, wußte nicht, wie es geschehen konnte, es ruhte so tief in ihr, das Geheimnis, das ihre Witterung so eingehend beschäftigte: ›Hotel Prinz Heinrich‹. Da wurde etwas von Schulkamerad gemurmelt, von einer Angelegenheit, die dringend, dringend, sehr dringend sei, etwas von Wehr, etwas von Waffen; er hinterließ, nachdem er gegangen war, ein Zigarrenaroma, das eine Stunde später noch Fähmels Vater zu einem aufgeregten Schnuppern veranlaßte.

"Mein Gott, mein Gott, muß das ein Kraut gewesen sein - ein Kraut!" Der Alte schnupperte an den Wänden entlang, schob seine Nase dicht über den Schreibtisch, setzte seinen Hut auf, kam nach wenigen Minuten mit dem Geschäftsführer des Zigarrenladens zurück, in dem er schon seit fünfzig Jahren kaufte, und sie standen beide eine Weile schnuppernd in der Tür, gingen im Büro hin und her wie aufgeregte Hunde, der Geschäftsführer kroch unter den Schreibtisch, wo offenbar eine ganze Rauchwolke sich erhalten hatte, stand auf, klopfte sich die Hände ab,

lächelte triumphierend und sagte: "Ja, Herr

Geheimrat, das war eine Partagas Eminentes."

"Und Sie können mir die besorgen?"

"Sicher, ich habe sie vorrätig."

"Wehe Ihnen, wenn das Aroma nicht das gleiche ist, das ich hier gerochen habe."

Der Geschäftsführer schnüffelte noch einmal, sagte: "Partagas Eminentes, dafür laß ich mich köpfen, Herr Geheimrat. Vier Mark pro Stück. Möchten Sie welche?"

"Eine, lieber Kolbe, eine. Vier Mark, so hoch war der Wochenlohn meines Großvaters, und ich respektiere die Toten, hab meine Sentimentalitäten, wie Sie wissen. Mein Gott, dieses Kraut schlägt die zwanzigtausend Zigaretten tot, die mein Sohn hier schon geraucht hat."

Sie empfand es als hohe Ehre, daß der Alte seine Zigarre in ihrer Gegenwart rauchte; er lehnte sich zurück im Sessel seines Sohnes, der zu groß für ihn war; sie schob ihm ein Kissen in den Rücken, hörte ihm zu, während sie der makellosesten aller Beschäftigungen nachging: frankieren. Langsam die Rückseite des grünen, des roten, des blauen Heuss übers Schwämmchen gezogen, sauber in die rechte obere Ecke von Briefumschlägen geklebt, die nach Schilgenauel, Gludum und Blessenfeld reisen würden. Exakt, während der Alte einem Genuß frönte, den er seit fünfzig Jahren vergebens gesucht zu haben schien.

"Mein Gott", sagte er, "jetzt weiß ich endlich, was eine Zigarre ist, liebes Kind. Mußte ich so lange darauf warten, bis zu meinem achtzigsten Geburtstag - nun, lassen Sie, regen Sie sich doch nicht auf, natürlich, heute werd ich achtzig - also, Sie waren's nicht, die die Blumen im Auftrag meines Sohnes für mich bestellt hat? Schön, danke, später über meinen Geburtstag, ja? Ich lade Sie herzlich zur Feier heute abend im Cafe Kroner ein --aber sagen Sie mir, liebe Leonore, warum hat man mir in den fünfzig Jahren, genaugenommen sind's einundfünfzig Jahre

die ich bei denen kaufe, nicht einmal eine solche Zigarre vorgelegt? Bin ich etwa geizig? Ich bin's nie gewesen, Sie

wissen es. Ich habe meine Zehner- Zigarren geraucht, als ich jung war, Zwanziger, als ich ein bißchen mehr Geld verdiente, und dann Sechziger, jahrzehntelang. Sagen Sie mir, liebes Kind, was sind das für Leute, die mit so einem Ding für vier Mark im Mund über die Straße gehen, in ein Büro kommen, wieder hinaus, als ob's ein Zigarillo für einen Groschen wäre? Was sind das für Leute, die zwischen Frühstück und Mittagessen dreimal den Wochenlohn meines Großvaters verrauchen, ein Aroma

hinterlassen, daß einem alten Mann wie mir die Spucke wegbleibt und ich wie ein Köter schnüffelnd hier im Büro meines Sohnes herumkrieche? Wie? Schulkamerad von Robert? Ministerialrat, -direktor, -dirigent - oder gar Minister? Den müßte ich doch kennen. Wehr? Waffen?"

Und plötzlich der Schimmer in seinen Augen, als wenn eine Klappe gefallen wäre: der Alte sank zurück ins erste, dritte oder sechste Jahrzehnt seines Lebens, begrub eins seiner Kinder. Welches? Johanna oder Heinrich? Über welchen weißen Sarg warf er Erdkrumen, streute er Blumen? Waren die Tränen, die in seinen Augen standen, die Tränen des Jahres 1909, in dem er Johanna begrub, des Jahres 1917, in dem er an Heinrichs Grab stand, oder waren sie aus dem Jahr 1942, in dem er die Nachricht von Ottos Tod erhielt? Weinte er an der Pforte des Irrenhauses, in dem seine Frau verschwunden war? Tränen, während die Zigarre in sanftem Kräuseln verrauchte, sie waren aus dem Jahr 1894; er begrub seine Schwester Charlotte, für die er Goldstück um Goldstück sparen wollte, auf daß es ihr besser gehe; der Sarg rutschte an den knirschenden Seilen hinunter, während die Schulkinder sangen: ›Türmer, wohin ist die Schwalbe entflohen?‹; zirpige Kinderstimmen drangen in dieses makellos eingerichtete Büro, und die Greisenstimme sang es über ein halbes Jahrhundert hinweg; nur dieser Oktobermorgen des Jahres 1894 war wirklich: Dunst über dem Niederrhein, Nebelschwaden zogen tanzende Schleifen über Rübenäcker, in Weidenbäumen schna rrten die Krähen wie Fastnachtsklappern,

während Leonore einen roten Heuss übers nasse Schwämmchen zog. Dreißig Jahre bevor sie geboren war, sangen Bauernkinder:

›Türmer, wohin ist die Schwalbe entflohen?‹ Grüner Heuss,

übers Schwämmchen gezogen. Vorsicht, Briefe an Hochbret liefen unter Ortstarif.

Wenn es über ihn kam, sah der Alte wie blind aus; sie wäre gern rasch ins Blumengeschäft gelaufen und hätte ihm einen hübschen Strauß gekauft, aber sie hatte Angst, ihn allein zu lassen; er streckte seine Hände aus, vorsichtig schob sie ihm den Aschenbecher näher, und er nahm die Zigarre, steckte sie in den Mund, blickte Leonore an und sagte leise: "Glaub nicht, daß ich verrückt bin, Kind."

Sie hatte ihn gern, er kam regelmäßig ins Büro, holte sie ab, damit sie sich an ihren freien Nachmittagen seiner nachlässig geführten Bücher erbarme, drüben auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hoch über der Druckerei, wo er im ›Atelier seiner Jugend‹ hauste; dort bewahrte er Dokumente auf, die von Steuerbeamten geprüft worden, deren Reihengräber schon verfallen waren, bevor sie schreiben lernte;