Dörte Hansen

"Altes Land. Zusammenfassung."

Abschnitt 1 - Kirschbäume

Der Abschnitt beschreibt ein altes Haus, das bei Sturm quietscht und ächzt. Die Protagonistin Vera erinnert sich an plattdeutsche Sätze aus ihrer Kindheit, die sie von ihrer Mutter gelernt hat. Sie erinnert sich auch an eine Begegnung mit Ida Eckhoff, einer Bauernfrau, die Flüchtlinge aufgenommen hat. Vera und ihre Mutter waren damals Flüchtlinge, und Ida hatte ihnen geholfen. Karl Eckhoff, Idas Sohn, kehrt nach dem Krieg mit Verletzungen zurück, und Vera und ihre Mutter bleiben auf dem Hof. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten finden sie in Ida eine Freundin. Der Text endet damit, dass die beiden Frauen auf dem Hof bleiben und gemeinsam das Haus und die Erinnerungen teilen.

Abschnitt 2 - Zauberflöte

Im zweiten Abschnitt geht es um Anne, die als Musiklehrerin in einem musikalischen Frühförderungskonzept namens Musimaus arbeitet. Sie spielt die Querflöte und nimmt an Schnuppertagen teil, bei denen Eltern und Kinder die Musikschule kennenlernen können. Anne hat ein Talent für die Musik, aber ihr kleiner Bruder Thomas übertrifft sie schnell. Sie erinnert sich an ihre Kindheit, als sie erfolgreich Klavier spielte, aber dann von ihrem Bruder überholt wurde. Ihre Mutter Marlene hatte hohe Erwartungen an Anne und erwartete, dass sie eine erfolgreiche Musikkarriere einschlagen würde. Doch Anne brach ab und wurde Musiklehrerin. Der Abschnitt endet damit, dass Anne ihre Mutter am Telefon anschnauzt und mit ihren eigenen Entscheidungen konfrontiert wird.

Abschnitt 3 - Bleiben

Zwei Frauen, ein Herd, das war noch nie gut gegangen. Ida und Hildegard wussten das und bestanden in seltenem Einvernehmen darauf, dass Idas Altenteilerwohnung in der Küche zwei Kochplatten haben sollte. Trotzdem wurde es schlimm genug.

Sie verwandelten das Haus in ein Schlachtfeld. Hildegard benutzte Idas teure Hutschenreuther Sammeltassen für ihren morgendlichen Tee, und nach und nach verloren sie ihre Henkel oder verblassten. Ida wiederum ließ die Levkojen ihrer Schwiegertochter verschwinden, wenn sie Unkraut jätete. Es gab ständige Auseinandersetzungen um den weißen Holzzaun vor dem Haus und die Einstellung von Saisonarbeitern für die Erntezeit.

Karl, zwischen den Fronten stehend, schien unverwundbar und lebte in seiner eigenen Welt. Er beobachtete Schneeflocken im Winter und die Ameisen im Sommer. Vera versuchte, unsichtbar zu werden, spielte mit den Katzen auf dem Kornboden und half Heinrich Lührs beim Pflücken von Löwenzahn für seine Karnickel.

Die Kommunikation in der Familie war schwierig. Vera sprach nur das Nötigste zu Hause, während Ida und Karl Plattdeutsch sprachen, was Hildegard hasste. Vera versuchte, sich durch Gesten zu verständigen, um nicht zwischen die Fronten zu geraten.

Wenn Hildegard nichtda war, besuchte Vera oft Ida in ihrer Küche, wo sie Mau-Mau spielten und steinhartes Kaffeebrot aßen. Ida zeigte ihr ihre Altländer Tracht und wie man stickte. An Veras neuntem Geburtstag schenkte sie ihr ein silbernes Armband, das sie vor ihrer Mutter verstecken musste.

Ein Streit über ein Klavier führte dazu, dass Hildegard das Haus verließ, und Karl weinte in Idas Küche. Vera blieb bei Karl und übernahm die Verantwortung für den Hof, während Hildegard nach Hamburg zog.

Karl lebte in seiner eigenen Welt und verausgabte sich nicht mehr, während Vera zwischen ihrem Beruf als Zahnärztin und der Pflege des Hofes aufgerieben wurde. Sie hatte keine Absicht, das Haus zu verlassen, das sie wie eine Insel umschloss, und sie konnte es sich nicht leisten, wegzugehen.

Karl und Vera ließen das Haus unverändert, da sie Angst vor Veränderungen hatten. Vera ging nach Hamburg, um zu studieren, kehrte aber zurück und eröffnete eine Zahnarztpraxis im Dorf. Sie behandelte ihre Patienten gewissenhaft, wurde aber gefürchtet und nicht geliebt.

Es gab gelegentlich Affären, aber Vera war nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung. Sie hatte Angst, das Haus zu verlassen, das sie trotz allem festhielt.

Sie unternahm ausgedehnte Spaziergänge durch die Landschaft, bei denen sie die Umgebung genau beobachtete und sich mit den Tieren und Pflanzen vertraut machte. Sie ließ keinen Mann in ihr Leben, der sie aus diesem Haus herausziehen könnte.

Vera blieb fest in der Landschaft verwurzelt und wollte nicht, dass ihr diese Bindung genommen wurde. Sie war wie eine Dompteurin, die ihre Umgebung genau beobachtete und sich gegen jeden Eindringling verteidigte. Sie kannte die Menschen in ihrem Dorf und ließ keinen Mann zu nahe an sich heran.

Trotzdem gab es gelegentlich Affären, aber Vera achtete darauf, dass diese Männer keine ernsten Absichten hatten. Sie war auf der Suche nach Freiheit und wollte keine feste Bindung eingehen. Ihre Liebe galt dem Land und dem Haus, das sie festhielt, wie Moos an einem Stein. Sie blieb auf ihrer Insel, und niemand konnte sie von dort vertreiben.

Abschnitt 4 - Fine Woodworking

Bernd begann seine Mitarbeitergespräche immer mit derselben Frage, und es war klug, zu dieser Frage nichts zu sagen. "Warum sitzen wir hier?" Er gab die Antwort lieber selbst. "Wir sitzen hier, Anne, weil ich eine ziemlich heftige Beschwerde-Mail bekommen habe."

Er hatte sie ausgedruckt, sie lag jetzt neben ihm auf seinem Schreibtisch, zweieinhalb Seiten, sehr viele Ausrufezeichen, Klammern und Fragezeichen.

Die Mutter des Reiswaffelmädchens, natürlich. Fassungslos!, weil ihre kleine Clara-Feline am Schnuppertag nichtmit vollem Mund in eine Querflöte pusten durfte.

Anne schaute aus dem Fenster. Die große Pappel an der Einfahrt hatte mit ihren kahlen Zweigen eine Plastiktüte eingefangen. Der Wind zerrte an dem dünnen grünen Beutel, als quälte er zum Spaß ein Tier.

Bernd nahm seine Brille ab, stellte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und steckte seine Nasenspitze zwischen die zusammengelegten Hände. Wenn er eines nicht abkonnte, war es schlechte Stimmung an den Schnuppertagen. Anne sah erst wieder hin, als er die zweite Frage

stellte.

Seine Abmahnungsgespräche waren durchkomponiert, sie begannen immer leise. Gleich würde er sich kurz und heftig aufregen, molto vivace, das war noch auszuhalten, der wirklich schlimme Teil kam erst danach.

Bernd ging das ja alles tierisch an die Nieren. Die Kraft, die ihn diese Arbeit jeden Tag kostete, das machte sich nie einer klar, und jetzt noch diese Scheiße hier, die Aggressionen, das Negative, die ganzen schlechten Schwingungen. Es machte ihn krank, es brannte ihn aus, er würde wieder weinen. Den Blick leicht anheben, die Augen schließen und wie in Zeitlupe den Kopf schütteln. Grave.

Die Tränendusche gehörte zum Konfliktgespräch wie das Jeanshemd zum Schnuppertag.

Das Problem war ihre Wut. Rasende, schäumende Wellen, riesige Brecher, Kaventsmänner. Ein Weltmeer von Wut und in ihrem Schiff ein Leck.

Die Kinder, die in ihre Kurse kamen, konnten nichts dafür, dass sie Clara-Feline oder Nepomuk hießen, dass ihre Eltern sie wie Preispokale durch die Straßen von Ottensen trugen und von einer Frühförderungsmaßnahme zur nächsten schleppten.

Wenn sie mit drei Jahren in die Musimaus-Kurse gebracht wurden, lutschten sie fröhlich an ihren Blockflöten und droschen mit zielloser Begeisterung auf die Xylophone und Keyboards ein, aber spätestens acht Wochen später kamen ihre Eltern und baten um ein kleines Perspektivgespräch.

Sie kamen immer mit diesem netten, selbstironischen Lächeln, aber aus dem Lächeln ragte der Ehrgeiz wie ein kalter Fuß aus einer viel zu kurzen Decke.

Natürlich sollte die Musikschule vor allem Spaß machen, ganz klar, aber vielleicht war das Keyboard für Clara-Feline doch nicht ganz das Richtige?

Anne widersprach dann nie, sondern schlug sofort ein kompliziertes, ausgefallenes Instrument vor, Harfe oder Flügelhorn, um Ihr Kind nicht zu unterfordern, und die Eltern waren immer glücklich.

Mit Bernd war das so abgesprochen, er legte Wert darauf, dass auch die Lehrer der exotischeren Instrumente gut beschäftigt waren.

Musimaus war eine Traumfabrik. Die Schüler kamen als normal begabte Kleinkinder hinein und als erstaunliche musikalische Talente

wieder heraus, alles eine Frage der Etikettierung. Bernd verdiente eine Menge Geld mit diesemHokuspokus, seine Skrupel hielten sich in Grenzen. Anne fragte sich manchmal, wie es den kleinen Harfinistinnen oder Flügelhornisten wohl später gehen mochte.

Sie würden irgendwann ein Kind in ihrem Alter treffen, das wirklich spielen konnte, die Wahrheit musste schmerzhaft sein.

Am Anfang hatte sie noch Träume gehabt, schlimm wie Verbrechen: ein unheilbarer Krebs für Thomas, ein Unfall, ein Koma, ein Mord. In ihren Träumen löste er sich auf, verschwand, verstarb, und alles wurde wieder gut, bis sie erwachte und erschrak, weil er noch da war und immer noch in ihrer Sonne stand. Und dann erschrak sie noch mal, weil sie im Traum so froh gewesen war.

In wachem Zustand war er nicht zu hassen, nicht einmal Anne schaffte das. Er war ein Junge, der nie etwas verlangte, weil er alles schon hatte, sein Seelenleben war hell und aufgeräumt, keine Staubflusen in den Ecken, keine Spinnen in seinem Keller. Und keine Ahnung von den Abgründen der anderen.

Anne konnte auf dem Flügel nur noch spielen, wenn sie allein im Haus war, und selbst dann brach sie oft mitten in den Stücken ab. Sie hörte sich ja selbst und spürte, wie die Finger an den schweren Stellen hakten, die Thomas mühelos gelangen, er schien dabei zu träumen.

Und selbst wenn sie es fehlerfrei durch eine schwere Beethoven-Sonate schaffte, wenn sie gut und sicher spielte und mit Empfindung!, wie ihr Klavierlehrer es immer wollte, klang es ganz anders als bei Thomas, sosehr sie übte, sosehr sie das Stück liebte. Als liebte die Musik sie nicht zurück.

Wenn Thomas am Flügel saß, schienen die Töne ihm zuzufliegen, er zog sie an, wie manche Menschen Kinder oder Katzen. "Kennst du das, Anni", fragte er, "dass du nicht die Musik spielst, sondern die Musik spielt dich?"

Er war kein Feind, er war ihr Bruder, und er kapierte nichts.

Ihm den Klavierdeckel auf die Hände knallen und seine Finger brechen hören. Manche Träume waren sehr schwer zu verscheuchen.

Der schwarze Flügel gehörte ihr nicht mehr, sie sprachen nie darüber, aber Anne spürte es und gab ihn her, wie man ein Pflegekind hergeben musste, wenn seine echten Eltern kamen.

Sie versuchte Marlenes Blicke nicht zu sehen, wenn Thomas spielte

und sie auf ihr Zimmer schlich, oder die hilflose Heiterkeit des Vaters, abends, wenn sie zu viert am Esstisch saßen - immer Blumen, immer Kerzen -, und ihm irgendwann auffiel, dass sich wieder alles um Thomas gedreht hatte, um irgendein Konzert, ein Vorspiel, eine Probe.

Er räusperte sich dann, legtedie Serviette zusammen, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und lächelte sie an.

"Und wie war dein Tag, meine Große?"

Sie dachte sich dann etwas aus, es stimmte nie, und keiner merkte es.

Auch dass ihr Haus in Trümmern lag, und dass sie jeden Tag über die Asche steigen musste, es merkte keiner.

Mit sechzehn, eigentlich zu spät, holte sie die Querflöte vom Dachboden, ihr erstes Instrument, lange vergessen, und Marlene fand sofort eine Lehrerin, die beste, Anne!, die dreimal in der Woche mit ihr arbeitete. Sie übte, bis sie vor Ellenbogenschmerzen nicht mehr schlafen konnte.

Nach zwei Jahren spielte sie die Partita in a-Moll fehlerfrei und bestand die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule, Hauptfach Flöte, Nebenfach Klavier.

Thomas pflückte ihr im Garten Blumen, der Vater wollte feiern, er sei so stolz auf sie, er schien es selbst zu glauben. Als wäre es wer weiß was für ein Erfolg. Als hätte nicht ihr kleiner Bruder gerade den ersten großen Auftritt in der Laeiszhalle hingelegt.

Marlene lächelte, umarmte sie und schaute ihr nicht in die Augen.

Nach fünf Semestern brachte sie die Querflöte zurück auf den Dachboden und ihre Noten ins Altpapier. Sie legte sich auf das blanke Fischgrätparkett vor dem Flügel und hörte Thomas Schumann spielen.

Unheilbares Heimweh nach einem Zuhause, das es nicht mehr gab. Eine Vertriebene, die nicht mehr wusste, wo sie hingehörte.

Von der Tischlerlehre erzählte sie erst, als sie schon unterschrieben hatte, ein paar Tage nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Ihr Vater, der selten laut wurde, brüllte aus dem Stand einen Vortrag über Unfälle mit Furnierpressen und Stechbeiteln, über abgetrennte Finger in der Kreissäge, Augäpfel, die von Holzspänen durchbohrt wurden, zerquetschte Zehen, irreparable Hörschäden und Bandscheibenvorfälle; einer seiner Brüder war Tischler und hatte im Lauf der Jahre ganz schön was abbekommen.

Carsten Drewe, Tischlermeister in Hamburg-Barmbek, stellte am liebsten weibliche Azubis ein, er konnte nicht so gut mit männlichen. Sein allgemeines Problem mit Männern galt im Besonderen für seinen Vater, einen robusten Achtzigjährigen, der jeden Morgen um Punkt sieben die Kreissäge anschmiss. Wenn Carsten gegen halb acht in die Werkstatt kam und den Alten sah, der ihm schon mal die Spanplatten zuschnitt, war er gleich wieder bedient.

Carsten träumte von Massivholz, von Einbauküchen aus heimischem Ahorn, von geschwungenen Eichentreppen und geölten Kirschbaumkommoden, aber er lebte von Furnier und Kunststofffenstern. Es machte ihn fertig, wenn seine Kunden, die nichts, aber auch gar nichts schnallten, ihrealten Pitchpinedielen durch Laminat ersetzen lassen wollten; er blieb dann auch nicht immer sachlich, weil diese ganze Pressspankacke ihn so ankotzte.

Über der Werkstatt gab es ein staubiges Zimmer, in dem die Auszubildenden der Firma Drewe mietfrei wohnen durften. Es roch nach Sägemehl und Holzöl und war vollgestellt wie ein Möbellager, weil Carsten hier seine selbst gebauten Stühle, Nachtschränke und Sekretäre aufbewahrte. Den meisten Platz nahm ein klotziges Himmelbett aus Wildeiche ein, sein Meisterstück - Unverleimt! Komplett zerlegbar! Keine einzige Schraube! -, mit einer Intarsienrosette an der Kopfseite und schweren Vorhängen aus rotem Samt, die seine Mutter ihm genäht hatte. Das Bett sah aus, als müsste man darin Thronfolger zur Welt bringen.

Abschnitt 5 - Stummfilm

Die Möwen waren zurück. Heinrich Lührs mochte sie nicht besonders, denn im Sommer fielen sie über Veras Kirschbaum her und ließen ihren Dreck in seinem Garten landen. Der Baum musste sowieso weg, aber Vera weigerte sich, ihn zu beschneiden. Heinrich Lührs nahm sich vor, ihren Garten heimlich zu verschönern, wenn sie nicht da war.

Abschnitt 6 - Luftmaschen

Abschnitt 7 - Frostspanner

Es war früher Nachmittag, als sie endlich die Kleiderkisten, Bücherkartons, ihr Fahrrad, Leons Laufrad, die große Spielzeugtonne und ihre Zimmerlinde in den gemieteten Transporter geladen hatte. Draußen hupte es zweimal kurz auf der Straße, und Christoph ging. Er sprang von seinem Küchenstuhl auf und rannte fast den Flur entlang. Vorsichtig zog er die Tür ins Schloss, um Leon nicht zu wecken.

Anne hatte keine Ahnung, wie die Fiat-Hupe klang. Sie ging auch nicht zum Fenster, sie wollte gar nicht sehen, wie er ins Auto stieg, vor allem nicht gesehen werden. Die Verlassene am Fenster, ein jämmerliches Bild.

Die letzten Tage, die sie miteinander verbracht hatten, fühlten sich an wie Proben für ein neues Theaterstück. Ein ausgelaugtes Paar in seiner alten Wohnung. Die Rollen waren verteilt, aber die Texte saßen noch nicht. Unbeholfen spielten sie den alten Klassiker vom Lieben und Verlassen. Der Betrüger, die Betrogene, das Kofferpacken, das Bilderabnehmen, das Schreien, das Flüstern, dasWeinen, die roten Augen, die blassen Gesichter.

Ein Drama aus vorgefertigten Teilen, dachte Anne, größer könnten wir es nicht machen.

Christoph war ihr den ganzen Morgen beim Packen durch die Zimmer gefolgt, die Schultern hochgezogen, die Hände in den Hosentaschen. Er hatte den Verlegenen gespielt, den Schuldbewussten. "Anne, wenn du was brauchst", sagte er. Seine Vorstellung war miserabel, ein Laienspieler, der sich am Charakterfach verhob.

Er hatte eine Weile Leon beim Schlafen zugeschaut und dabei leicht geweint. Er legte den Kopf auf ihre Schultern, drückte seine Stirn an ihre. "Mensch, Anne."

Kein Grund also, ihn in wüsten Worten zu verfluchen, seinen Laptop aus dem Fenster zu werfen, das CD-Regal von der Wand zu reißen, den Küchentisch umzuwerfen oder wenigstens das Tischtuch mit dem Frühstück herunterzuzerren, um das Krachen und Scheppern zu hören, den Klang der Dinge, wenn sie zerbrachen. Keine Chance, auf einer kraftvollen Wut durch die letzten gemeinsamen Tage zu reiten.

Sie war jetzt froh, dass es zu Ende war. Dass sie aus dieser Wohnung herauskam, aus der Stadt, weg von dem verdreckten Taubentunnel, nie wieder mit nervösen Müttern auf dem Spielplatz sitzen, den Mann in seinen weißen Hemden nicht mehr sehen. Sie würde über Felder gehen. Das Weite suchen.

Leon wachte auf, und Anne hob ihn aus dem Gitterbett, fühlte sein warmes Schlafgesicht an ihrer Wange. In seinem Nacken kräuselten sich ein paar verschwitzte kleine Locken.

Sie blieb so stehen eine Weile, das weiche, müde Kind auf ihrem Arm, das so gut roch nach heiler Welt.

Vor dem Fenster streckte die Innenhof-Kastanie ihre Zweige in den farblosen Himmel. Sie bebten in den Winden, die durch den Hof zogen wie marodierende Banden. Vor dem Küchenfenster ratterte Leons Windrad in der harten Blumenerde.

Anne trug Leon in die Küche, um ihm seine Flasche zu machen, sie versuchte es beiläufig zu tun, ohne nachzudenken, so wie sonst, doch es gelang ihr nicht. Sie sah sich selbst dabei zu, wie sie Dinge zum letzten Mal tat: den blauen Wasserkocher einschalten, die Milch aus Christophs unpraktischem Retro-Kühlschrank nehmen, die Flasche mit dem Fischmuster aus der Spülmaschine holen, den Deckel mit dem Sauger aus der Dose neben der Spüle. Und dann mit dem nuckelnden Leon auf dem Schoß am Küchentisch sitzen, der schartig war und mit Öl- undRotwe

inflecken übersät.

Es war ein Tisch, den Christoph einmal auf einem Flohmarkt gefunden und liebevoll restauriert hatte. Anne fand ihn hässlich. Jetzt war er endlich Geschichte.

"Und?", fragte Christoph.

"Es geht", sagte Anne.

"Kann ich was helfen?"

"Nein."

Sie aßen weiter. Ein paar Minuten lang sagte niemand etwas.

Dann sagte Christoph: "Ich geh mal duschen." Und er verließ die Küche.

Anne saß noch lange mit Leon am Tisch. Sie sah ihm beim Essen zu, wie er das Löffelchen mit beiden Händen festhielt, es in den Brei stach und es dann in seinen Mund steckte. Es war ein intensiver Moment. Leon schien das Essen zu genießen, und Anne genoss es, ihm dabei zuzusehen. In dieser simplen Handlung lag so viel Leben und Freude.

Als Leon fertig war, nahm Anne ihn aus dem Hochstuhl und trug ihn ins Wohnzimmer. Dort setzte sie sich mit ihm auf das Sofa und las ihm eine

Geschichte vor. Leon kuschelte sich an sie, und Anne spürte die Wärme seines kleinen Körpers. Es war ein Moment des Friedens, ein Moment, den sie inmitten all des Chaos und der Veränderung festhalten wollte.

Nachdem sie Leon ins Bett gebracht hatte, ging Anne in ihr eigenes Zimmer. Sie spürte die Leere in ihrem Bett, die Christoph hinterlassen hatte. Es fühlte sich seltsam an, allein zu schlafen, nach all den Jahren des Zusammenlebens. Aber es war auch befreiend. Anne lag wach und starrte an die Decke, während die Gedanken durch ihren Kopf wirbelten.

Schließlich schlief sie ein, und in ihren Träumen sah sie sich selbst und Christoph, wie sie Hand in Hand durch ein weites Feld liefen, die Sonne ging hinter ihnen auf, und sie wussten, dass sie auf dem richtigen Weg waren, auch wenn dieser Weg sie auseinanderführte.

Abschnitt 8 - Ein Neuanfang

Abschnitt 8 beschreibt den Übergangszustand von Anna und ihrer Familie, nachdem Christoph gegangen ist. Anna versucht, sich an die neue Realität und ihre neue Rolle als alleinerziehende Mutter von Leon anzupassen. Sie empfindet gemischte Gefühle und erkennt, dass sie viel Arbeit vor sich hat, um Leon eine glückliche und fürsorgliche Kindheit zu ermöglichen. Das Abschnitt betont ihren Entschluss und ihre Stärke, sich den neuen Herausforderungen zu stellen, die sie bewältigen muss.

In diesem Stadium der Erzählung wird ein Neuanfang für Anna und ihre Familie beleuchtet, und der Leser erfährt,wie sie auf die Scheidung reagiert und bestrebt ist, Leon eine bessere Zukunft zu bieten.

Abschnitt 9 - "Flüchtlinge"

Vera Eckhoff sieht ihre Nichte Anna und deren Sohn Leon, die auf der Suche nach einem neuen Zuhause sind. Sie hilft ihnen dabei, sich in einem Anbau ihres Hauses niederzulassen.

Anna und Leon sind mit einem Kaninchen namens Willi gekommen. Vera versucht, eine Verbindung zu dem kleinen Leon herzustellen, und erfährt von seinem Kaninchen.

In der Zwischenzeit sind ihre Hunde nicht allzu begeistert von Leons und Willis Ankunft, und Vera versucht, sicherzustellen, dass Leon gut auf sein Haustier aufpasst.

Später trinken Vera und Anna zusammen und diskutieren ihre Lebensumstände und Probleme. Anna steckt in einer schwierigen Situation nach ihrer Scheidung und ist mit ihrem Sohn fortgegangen. Sie fühlt sich verloren und verletzlich.

Abschnitt 10 - "Rehwurst"

Burkhard Weiswert, ein ehemaliger Zeitschriftenredakteur, lebt nun auf einem Bauernhof mit seiner Frau Eva. Er träumt davon, seine eigene Zeitschrift "Land & Lecker" zu gründen, die dem einfachen Landleben gewidmet ist, und plant, einen Artikel über Vera Eckhoff zu schreiben, die ein Rehwurstrezept herstellt.

Burkhard kommt zu Vera und sieht, wie sie die Wurst zubereitet. Der Prozess ist ziemlich gruselig und erinnert an eine Szene aus dem Film "Fargo". Burkhard fühlt sich etwas unwohl und verlässt die Küche.

Vera erklärt, dass das Fleisch für die Wurst sorgfältig vorbereitet werden muss, und sie und ihr Nachbar Heinrich arbeiten gemeinsam daran.

Abschnitt 11 - Schier

Heinrich Lührs hatte schon lange aufgehört, sich über Vera Eckhoff zu wundern. Es erstaunte ihn also nicht sonderlich, dass sie jetzt ihre Nichte mit Kind und Kaninchen bei sich einquartierte. Eine Art Tagelöhner, so hatte Vera ihm das erklärt. Kost und Logis frei, 400 Euro im Monat, und freie Fahrt in ihrem alten Benz. Und als Gegenleistung mookt se mien Huus schier.

Das allerdings hatte Heinrich Lührs dann doch die Sprache verschlagen. Das Wort "schier" ganz ohne Ironie aus Veras Mund. "Schier" war genau das, was Veras Hof nie mehr gewesen war, seit Ida Eckhoff sich aufgehängt und ihre ostpreußische Schwiegertochter Karl und das Kind im Stich gelassen hatte. "Schier" war das Wort, mit dem Vera ihn aufgezogen hatte, seit sie erwachsen waren. "Na Hinni, hest ook allens schön schier?"

Wenn er die Büsche und Bäume gestutzt, die Hecke geschnitten, das Unkraut ausgemerzt, den Rasen gemäht, den Zaun gestrichen, den Hof gefegt, die Maulwurfshügel flachgeharkt hatte,wenn seine Beete

schnurgerade waren, die jungen Kirschbäume sauber geschnitten und die alten, die nicht mehr taugten, gefällt, zersägt und zu Brennholz gestapelt, immer, wenn Heinrich Lührs das tat, was jeder tun musste, der Herr über Haus und Hof bleiben wollte, der nichts verkommen ließ, verstrüppen und verwildern, dann saß Vera Eckhoff mit einer Zigarette auf ihrer klapprigen Bank oder stand mit dem Kaffeebecher unter der Krücke von Kirschbaum, die ihren Vorgarten verschandelte, Kraut und Rüben kniehoch um sich herum, und winkte zu ihm herüber und lachte. "Na Hinni, hest ook allens schön schier?"

Und er hatte nie verstanden, was daran lustig war, wenn jemand seine Welt in Ordnung hielt.

Hinter seinem Zaun machte die Welt sowieso, was sie wollte. Veras Garten war das Ende jeder Ordnung, das Gegenteil von schier, Chaos und Untergang. Bei Vera konnte man sehen, was dabei herauskam, wenn man der Natur einfach ihren Lauf ließ.

Der Teil der Welt, der noch in Ordnung war, schien jeden Tag zu schrumpfen.

Drei Söhne, kein Nachfolger. Heinrich hatte eine Schwiegertochter aus Japan und eine aus der Stadt, nette Frauen, soweit er das beurteilen konnte, aber sie hätten auch vom Mars sein können, so fremd waren sie ihm.

Er hatte Heini und Sakura einmal in Berlin besucht, in ihrem Restaurant, sein Ältester mit einer hohen weißen Kochmütze an einem blanken Tisch, er machte Reisrollen mit rohem Fisch, die er auf eine Art Förderband legte, und die Gäste nahmen sich herunter, was sie mochten.

Sakura hatte ihm gezeigt, wie das mit den Stäbchen ging und mit der schwarzen Soße, das grüne Zeug war ihm zu scharf, aber der Rest schmeckte gar nicht mal schlecht.

Heini mit seinem langen Messer hinter dem Tresen, die blonden Haare von Elisabeth, sein fröhliches, gutmütiges Jungengesicht. Jetzt sprach er fließend japanisch, "is ook nich veel anners as plattdüütsch, Vadder", hatte er gesagt, und sie hatten gelacht.

Er war Elisabeths Liebling gewesen, auch wenn sie das nie zugegebenhatte, und wenn er in seiner Küche stand und Fisch in kleine Stücke schnitt, dann summte er. Jetzt war Heini in Japan, sie hatten ein kleines Mädchen, sie schickten Fotos, aber Heinrich Lührs vergaß immer

wieder den Namen dieser Stadt, in der sie lebten.

Jochen kam alle paar Wochen am Sonnabend oder Sonntag, meistens hatte er Steffi und die Zwillinge dabei, aber manchmal kam er alleine, in alten Sachen, dann standen sie zusammen in der Halle und machten den Trecker und die Anhänger für das Frühjahr klar oder die großen Netze, die sie im Sommer über die Kirschbäume zogen, bevor die Stare kamen. Zur Apfelernte nahm Jochen sich immer ein paar Tage frei und fuhr den Gabelstapler, wenn die großen Kisten im Kühlhaus verstaut werden mussten. Er blieb dann über Nacht in seinem alten Zimmer, abends trank er mit Heinrich in der Küche ein paar Bier, sie machten sich Spiegeleier und Schinkenbrote, teilten sich die Zeitung und guckten später zusammen die Tagesschau. Manchmal nickte Jochen schon vor dem Wetter auf dem Sofa ein, er war die Arbeit an der Luft nicht mehr gewöhnt. In Hannover saß er den ganzen Tag in seinem Ingenieursbüro und sah die Sonne nicht.

Steffi hatte es nicht gern, wenn Jochen im Alten Land bei seinem Vater war, weil zu Hause dann alles an ihr hängen blieb, sie hatte schon genug zu tun. Steffi war Pharmareferentin, sie verdiente eine Menge Geld, Heinrich wagte nicht zu fragen, aber er nahm an, dass Jochen mit seinem Gehalt da nicht mithalten konnte.

Abschnitt 12 - Jagdunfall

Der Hamburger mit dem Fahrradhelm kehrte erst zurück, als Vera bereits die Küche putzte. Heinrich zeigte ihm noch die Räucherkammer, dann ließ er ihn in der Diele stehen und ging nach Hause.

Der Besucher schien keine Eile zu haben und erkundete ein wenig das Haus. Vera hörte ihn in der Diele aufstöhnen, ein begeistertes Ausrufen. Burkhard Weißwerth hatte die alte Aussteuertruhe entdeckt, die an der Wand neben der Küchentür stand. Er bewunderte die kunstvollen Schnitzereien und machte Fotos mit seinem Handy. Vera hatte genug gesehen und ging auf ihn zu, begrüßte ihn und schüttelte ihm energisch die Hand. Burkhard verstaute sein Handy, hinterließ seine Visitenkarte und verschwand schnell auf seinem Liegefahrrad.

Annes Junge tauchte plötzlich auf, blutverschmiert, aber beruhigte sich schnell. Vera gab ihm ein Bonbon und er durfte zusehen, wie sie und Heinrich Fleisch für Wurst zubereiteten. Leon half sogar ein wenig und

zeigte Interesse.

Später setzten sich Veraund Leon zusammen und lasen eine Geschichte von Tieren, die die Sonne suchten. Vera fand Trost in dieser gemeinsamen Zeit und spürte, wie sie sich zu Leon hingezogen fühlte, obwohl sie nie eine besondere Bindung zu Kindern hatte.

Ihr Gedanken schweiften zu Karl, ihrem verstorbenen Mann, und wie sie ihm in seinen letzten Tagen beigestanden hatte. Vera gestand Heinrich Lührs die Wahrheit über Karls Tod, und er hörte ihr zu, obwohl er sich unwohl dabei fühlte.

Als Karl starb, half Heinrich Vera, ihn ins Bett zu legen. Sie verbrachten eine ruhige Nacht auf der Hochzeitsbank im Garten, bis Karl schließlich einschlief. Am nächsten Morgen kam der Arzt, und Karl wurde beerdigt.

Marlene und ihre Tochter halfen Vera nach der Beerdigung, das Haus aufzuräumen und zu putzen. Marlene blieb noch eine Weile und kümmerte sich um Vera, bis diese wieder auf die Beine kam.

Vera hatte gemischte Gefühle gegenüber Marlene und ihrer Familie und war unsicher, wer in ihrem Leben gerade die Kontrolle hatte.

Abschnitt 13 - Elbfrösche

Leons Schneeanzug war schmutzig. Seine Fingernägel ebenso. Auf seine Stiefel wollte Anne lieber nicht schauen; sie wusste, wie schlimm sie aussahen.

Die Elbfrösche sahen anders aus. Vor dem Kindergartenparkplatz hüpften sie gegen neun Uhr an den Händen ihrer Mütter aus den großen Familienautos. In den Maxi-Cosis auf den Rücksitzen lagen die kleinen Geschwister, die Elbquappen der kommenden Jahrgänge. Die Minivans und Kombis, in denen die dreijährigen bis sechsjährigen Elbfrösche pünktlich zum Morgenkreis in ihren Dorfkindergarten gebracht wurden, waren mobile Manifestationen von Mehrkind-Familien. Auf ihren Heckscheiben klebten blaue und rosa Aufkleber: "Lasse & Lena an Bord" oder "Vivienne & Ben & Paul on Tour" - wie TÜV-Plaketten einer funktionierenden Familienplanung.

Anne ließ Leon aus dem Buggy aussteigen und nahm ihn an die Hand. Er wirkte ernst und blass, als sie durch das Getümmel zur Eingangstür gingen. Die Jacken und Schneehosen der Elbfrösche strahlten in leuchtenden Farben, ihre Mützen, Schals und Handschuhe waren farblich

aufeinander abgestimmt. Die Mädchen hatten lange, hübsch geflochtene Zöpfe, und wenn sie ihre Mützen abnahmen, konnte man sehen, dass sogar die Haarspangen zueinander passten.

Anne dachte an die vogelnestartigen Frisuren der Mädchen in Leons Hamburger Kindertagesstätte. Wenn sie keine Lust hatten, sich von ihren Eltern die Haare zu bürsten, kamen sie eben ungekämmt. In Ottensen trugen die Kinder oft seltsame Kombinationen von Kleidung, Röcke und Hosen übereinander, mit Punkten, Streifen, Karos - egal, dazu verschiedene Socken oder Handschuhe, irgendwelche Schals zufällig um Kopf und Hals geschlungen. Oft war es dasErgebnis autonomer Entscheidungen der Kinder am Kleiderschrank, die natürlich respektiert wurden, auch wenn das Kind am Ende aussah, als wäre es nach einer Naturkatastrophe neu eingekleidet worden. "Wenn dir das gefällt, zieh es an, Schätzchen."

Der leicht heruntergekommene "Hobo-Look" ihrer Kinder, der sich auch mit teurer Kleidung gut umsetzen ließ, war ein Ausdruck des Erziehungsstils der Akademiker-Eltern in Hamburg-Ottensen. Unangepasst und kreativ, wild und widerspenstig - so liebten sie ihre Töchter und Söhne. Eine dünne Schicht aus Dreck auf Gummistiefeln und Fingernägeln verlieh dem Look den letzten Schliff. Das Letzte, was sie wollten, war ein ordentliches, angepasstes Kind.

Leon wurde in die Hummelgruppe aufgenommen. Die Leiterin des Kindergartens hatte ihn beim Vorstellungsgespräch nach seinem Lieblingstier gefragt, und nun hatte Leon ein Kaninchenbild an seinem Fach - und seinen Namen in blauen Holzbuchstaben.

Sigrid Pape nahm sich Zeit für das neue Kind und die neue Mutter. Anne konnte sehen, wie sie die Informationen speicherte: aus Hamburg zugezogen, Einzelkind, alleinerziehende Mutter(mit einer eigenartigen Tasche aus Plastikplane), Nichte von Dr. Eckhoff. Musiklehrerin und Tischlerin - das war wirklich eine ungewöhnliche Kombination. Ihre rechte Augenbraue hob sich leicht, das war die einzige erkennbare Reaktion auf Annes Fragen und Antworten. Lächelnd saß Sigrid Pape den beiden Neuankömmlingen gegenüber. Sie trug kurze, blonde Haare, peppte ihre beige Strickjacke mit einem selbst bemalten Seidenschal auf und schminkte ihre Augen hinter ihrer randlosen Brille dezent. Sigrid Pape leitete die Elbfrösche seit über zwanzig Jahren und hatte viel gesehen. Mit diesem leicht chaotischen Gespann aus Hamburg hatte sie überhaupt kein Problem.

Der Junge kam wohl nicht oft an die frische Luft, aber das würde sich jetzt ändern. Ansonsten schien Leon ein unauffälliges Kind zu sein, niedlich, wenn auch etwas ungepflegt. "KPp4W" schrieb sie zur Sicherheit in Leons Mappe - eines der Kürzel, die jede ihrer Erzieherinnen kannte. Sie würden in den ersten vier Wochen Leons Hygienezustand protokollieren. Vielleicht war die Mutter einfach überfordert mit dem Umzug, das kam vor. Meistens regelten sich solche Dinge von selbst. Falls nicht, würde Sigrid Pape ein Gespräch mit den Eltern ansetzen - das funktionierte normalerweise Wunder.

Jetzt musste sie nur noch das Thema Essen ansprechen. "Frau Hove, Sie haben gefragt, ob es bei uns ein vegetarisches Mittagessen für die Kinder gibt."

Das fehlte gerade noch! Sigrid Pape und ihre Kolleginnen hatten schon genug zu tun mit den ganzen Allergien - Haselnüsse, Tomaten, Kuhmilch, Gluten - die jetzt auch bei den Kindern auf dem Land grassierten. Dazu kamen noch zweikleine Diabetiker und die üblichen Essensvorlieben der Kinder im Kindergarten. Einmal pro Woche gab es Fisch, das reichte für die Elbfrösche aus. Sie würden jetzt nicht auch noch mit Dinkelklößen und Grünkernbrei anfangen.

Sigrid Pape glaubte genauso wenig an vegetarische Ernährung wie an diesen lockeren Erziehungsstil, der bei den Eltern immer mehr Einzug hielt. Tofuwürstchen essen und sich von den eigenen Kindern beim Vornamen nennen lassen? Im Ernst? Eltern sollten auch mal Grenzen setzen, das war ihre Meinung.

Abschnitt 14 - Apfeldiplom

Dirk zum Felde musste abrupt bremsen, als Burkhard Weißwerth mit seinem Fahrrad vom Feldweg heruntergeschossen kam.

Weißwerth auf einem Traktor wäre ihm schon zu viel gewesen; auf einem Fahrrad mit Hut und Hosenträgern wirkte er unerträglich. Aber anscheinend hatten sie die Fotografen diesmal nicht mehr geschickt. Vielleicht traute sich der Fotograf nicht mehr auf Dirks Hof - ein Feigling.

Britta fand, der Tritt in den Hintern sei nicht notwendig gewesen, aber sie konnte diese Typen genauso wenig ausstehen wie er. Bei ihr dauerte es nur länger, bis sie wütend wurde.

Ihre Gelassenheit hätte er gerne gehabt: die Kinder, die Tiere, seine

alten Eltern und all die Kinder, die stotterten oder lispelten, mit denen sie das Sprechen übte. Britta war immer ruhig.

"Weg mit dir, Dirk", sagte sie, wenn ihn die Kinder zur Weißglut trieben, und wenn er zurückkam, war alles wieder in Ordnung. Die Kinder wussten das nur zu gut. Britta hätte wahrscheinlich schon längst ein fünftes Kind gewollt.

"Gimme five!", hatte sie ihm neulich mit dem Finger in den Schmutz auf der Heckscheibe geschrieben.

"Erst mal das Auto waschen, Frau zum Felde!"

Sie hatte nur gelächelt und eine Fünf mit Ausrufezeichen auf die Motorhaube gemalt.

Er hatte gerade Karten für das Werder-Hannover-Spiel im Internet bestellt. VIP-Rang Platin, teuer, aber es war ihr zehnter Hochzeitstag, und manche Männer schenkten in solchen Momenten weit mehr.

Kerstin Düwer hatte von Kai eine neue Küche bekommen, Bulthaup, mit einem Induktionsherd. "Wenn schon, denn schon", dachte er. Jetzt durfte bei ihnen keiner mehr kleckern.

"Wir essen im OP", sagte Britta, "aber es ist wirklich schick."

Ihr war egal, wie ihre Küche aussah. Sie hatten immer noch die Einbauschränke von seiner Mutter, Eiche von SieMatic. Unverwüstlich, selbst von ihren Kindern.

Er hatte auch eine Werder-Pudelmütze mit einem grasgrünen Bommel im Fanshop bestellt. Er wusste, dass Britta sie aufsetzen würde. Es gab nicht viele Frauen, die mit einer Pudelmütze gut aussahen. Eigentlich kannte er keine außer ihr. Ein Leben lang zum Felde.

Burkhard Weißwerth rief "Moin, Moin!" und winkte, alser Dirk zum Felde sah. Er hatte nicht mitbekommen, dass Dirk bremsen musste, und fuhr gelassen in Richtung Deich weiter.

Dirk bog in Vera Eckhoffs Einfahrt ein, überquerte ihren Hof und schaltete den Düngerstreuer ein. Die Apfelbäume wollte er bis zum Mittag düngen.

Er musste sich dringend mit Vera wegen der Pachtverträge unterhalten. Die liefen nächstes Jahr im Februar aus. Noch einmal fünfzehn Jahre, hoffentlich.

Aber jetzt war Karl Eckhoff tot, und Vera musste auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Wenn sie den Hof verkaufen wollte, würde Peter

Niebuhr zuschlagen. Dann sah Heinrich Lührs alt aus.

Aber wenn diese Hamburger Else wirklich vorhatte, das Haus zu renovieren, so wie Heinrich Lührs es ihm erzählt hatte, dann schien Vera nicht in Eile zu sein.

Vielleicht war das alles nur so ein therapeutisches Projekt, um sich zu beruhigen oder ins Reine zu kommen. Dirk konnte solche Leute nicht ausstehen, die mit Bäumen kuschelten und nach "Kraftorten" an der Elbe suchten. Alles Quatsch.

Aber wenn Vera jetzt auch noch einen Gnadenhof für Tischlerinnen plante, dann schien sie wohl nicht vorzuhaben, ihren Hof zu verkaufen.

Sein Pachtvertrag mit Heinrich Lührs lief noch fünf Jahre. Danach war alles offen. Heinrich hoffte immer noch, dass Georg zurückkommen würde, aber das war unwahrscheinlich. Sie trafen sich hin und wieder, Georg war nur ein Jahr jünger. "Solange der Alte lebt, rühr ich keinen Apfel an", pflegte er zu sagen. Die Frage war, wie lange Heinrich das noch durchhalten würde. Er war jetzt auch schon Mitte siebzig.

"Wachsen oder weichen", so lautete das Motto. Er brauchte mehr Land. Wenn er nichts mehr von Lührs und Eckhoff pachten konnte, musste er sich anderweitig umsehen. Mit seinen zwölf Hektar kam er heutzutage nicht mehr weit, auch wenn sein Vater das noch nicht verstanden hatte.

Vielleicht hätte er es wie Georg machen sollen: Frauke Matthes heiraten. Das hatte sich für ihn gelohnt. Schönheit vergeht, Hektar bleiben.

Nichts gegen Frauke, aber sie war nicht gerade zum Lachen. Und sie war definitiv nicht der Typ, der Pudelmützen tragen konnte.

Ein Reh sprang plötzlich aus dem Graben und überquerte direkt vor seinem Trecker den Weg zur Elbe. Die Tiere schienen zu wissen, wann die Jagdsaison vorbei war. Im Frühjahr wurden sie immer mutiger.

Nicht wieder Wildschaden mit dem Trecker, dachte Dirk. Die Sauerei mit dem Passat vor Kurzem hatte gereicht, und das Tier hatte auch noch geschrien.

Er wusste nicht einmal, dass Rehe schreien konnten. "Nur, wenn es schlimm ist", hatte ihm Vera erklärt. Sie war sofort gekommen undhatte das Reh erschossen. "Soll ich es für euch ausnehmen?" Aber er hatte nach dieser Erfahrung keine Lust auf Rehbraten gehabt. Vera hatte es mitgenommen und wahrscheinlich zu Hause zerlegt.

Er wendete den Trecker, um die nächste Reihe zu düngen, und sah Peter Niebuhr, der ihm mit einer Leiter von seinem Kirschhof entgegenkam. Neuerdings hatte er sich auf Bio-Landwirtschaft spezialisiert. Er fuhr zweimal pro Woche nach Ottensen und verkaufte seine Äpfel und Kirschen auf dem Biomarkt am Spritzenplatz und freitags auch auf dem Isemarkt in Hamburg. Die Leute rissen ihm seine Produkte förmlich aus den Händen.

Abschnitt 15 - Nestbautrieb

Die Natur erholte sich langsam wie ein Patient aus tiefem Koma. Das Gras lag kraftlos am Boden, die Bäume tropften und zitterten, aber Knospen schwollen an den kahlen Zweigen. Das Rauschen des Wassers wurde hörbar, wenn man sein Ohr an die Baumstämme legte. Theis zum Felde und Leon erkundeten die Umgebung mit einem Plastikstethoskop und deuteten die Natur. Vera, eine geheimnisvolle Frau, schien sich ihrem alten Haus mehr zu ergeben als es ihr gehörte. Anne, eine Fremde in dieser Umgebung, fand sich auf einer Kirschenleiter wieder und dachte über die Verbundenheit der Menschen mit diesem Land nach, die sie nie wirklich verstehen würde.

Abschnitt 16 - Treibeis

Vera hatte drei Nächte lang tief geschlafen, ohne Albträume. Sie hoffte, dass Karl ebenfalls Frieden gefunden hatte. Karl war nach Hause gegangen und lag nun neben der Kirche im Dorf. Vera konnte manchmal das Glockenspiel der Kirche hören. Marlene, Hildegards Tochter, hatte Vera besucht, und obwohl sie sich oft gestritten hatten, war es auch eine Zeit des Zusammenhalts. Hildegard war eine wohlhabende Frau, die Karl warnte, sich von Vera fernzuhalten. Vera hatte ihren Frieden gefunden, aber auch Marlene fühlte sich verlassen. Sie hatte nie von den Briefen gewusst, die Hildegard Vera geschrieben hatte. Heinrich Lührs, ein alter Freund, pflegte Karls Grab und sorgte dafür, dass alles perfekt war. Vera erinnerte sich an Karls Beerdigung und wie sie nach Hause gekommen waren, klatschnass vor Regen. Karl hatte sie unterstützt und sie nach Hause gebracht. Dann hatte sie gesehen, wie Heinrich die Blumen am Grab pflegte. Schließlich hatte sie beschlossen, dass auch Heinrich seinen Frieden finden musste, so wie sie es getan hatte.

Abschnitt 17 - Landplagen

Der Besitzer des Magazins "Land & Lecker", Burkhard Weißwerth, beschließt, einen Artikel über die Jagd und Fleischdelikatessen zu machen. Er zweifelt an der Wahl des Fotografen und überlegt, ob er mit Vera Eckhoff auf dieJagd gehen soll. Auf dem Weg zu Dirk zum Felde, einem Freund von Burkhard, denkt er über die Unterschiede seines Magazins zu anderen Country-Magazinen nach und strebt nach Authentizität. Er denkt auch über seine Unterstützung für Dirk und das Landleben nach. Bei seiner Ankunft auf Dirks Farm schenkt Burkhard ihm einen alten Whisky und erhält von Evas, Dirks Frau, hausgemachte Eingelegte und eine Einladung zum Frühlingsfest. Dirks Kinder haben den Hof mit Spielzeug und fantasievollen Konstruktionen gefüllt und zeigen Interesse an Burkhard. Alle versammeln sich in der Küche, und Dirk lädt Burkhard zum Abendessen und zum Gespräch ein. Burkhard denkt über sein neues Leben auf dem Bauernhof nach, über die Veränderungen, die das Landleben mit sich bringt, und über seine Frau Eva, die sich immer noch an das Leben auf dem Land gewöhnt.

Abschnitt 18 - Weggucken

Heinrich im Winter bügelte nur Kragen und Manschetten seiner Hemden. Pullover überdeckten den Rest. Heinrich stellte das Bügelbrett in die Küche, nahe genug am Fenster, um nach draußen zu sehen, aber so, dass ihn niemand von draußen sehen konnte. Hinten ließ er die Hemden unbügelt, bis zum Sommer. Es gab Hemden, die man nicht mehr bügeln musste. Vera hatte ihm eines gezeigt. Im Sommer sprangen Vera und er vom Heuboden in den großen Heuhaufen, wobei Vera kopfüber sprang. Heinrich fand, dass Vera immer etwas Besonderes war. Heinrich musste an seine verstorbene Frau Ida denken, während er Hemden bügelte. Vera bot an, seine Wäsche zu bügeln, aber er lehnte ab. Vera war anders als er, aber sie waren fast gleich alt und lebten alleine in ihren Häusern. Heinrich konnte nicht anders, als manchmal nach Vera zu sehen, wenn sie sich mit fremden Männern traf. Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit und eine seltsame Verbindung. Vera half Heinrich manchmal mit Lebensmitteln und Überraschungen. Das Bügeln brachte Heinrich Trost und half ihm, mit dem Verlust seiner Frau umzugehen. Er dachte über seine Söhne nach und wie sie das Erbe

weitergeführt hätten. Die Häuser in der Gegend waren nicht für Einzelpersonen gemacht. Vera und Heinrich führten unterschiedliche Leben, aber sie waren fast gleich, als sie älter wurden. Heinrich lernte, nicht hinzusehen, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie sollten. Er suchte nach Antworten in Veras Leben und versuchte zu verstehen, warum sie so war, wie sie war.

Abschnitt 19 - Klappkisten

Christoph nimmt von Anne eine Kiste mit Leons Sachen entgegen. Es ist ihre zweite Übergabe nach der Trennung. Sie übengeteiltes Sorgerecht und treffen sich jeden zweiten Freitag, um Dinge zu besprechen. Anne fühlt sich wie ein Gast in Christophs Wohnung, während Leon sein altes Zimmer neu entdeckt. Christoph erwähnt, dass er eine größere Wohnung gefunden hat, und Anne begreift, dass er mit jemand anderem zusammenziehen will. Die Erkenntnis trifft sie wie ein Schock, und sie verlässt die Wohnung, um zu ihrer Mutter zu fahren.

Abschnitt 20 - Kein Geräusch

Das Haus war still gewesen wie ein Wal, tief eingetaucht, den Atem angehalten für drei Tage und drei Nächte, bis Marlene verschwunden war.

Vera hatte aufgeräumt, Marlenes Bettzeug entfernt und die Briefe ihrer Mutter in die Eichentruhe gelegt. Dann saß sie draußen auf der Bank, bis die Mücken aus den Gräben kamen und den übrig gebliebenen Wein trank. Sie sah den Mond aufgehen und fühlte sich fast in Frieden.

Doch dann hörte sie ein Knacken, zögerte, rief die Hunde herbei, und es schien, als ob das Haus zum Leben erwachte. Alte Stimmen, ein Flüstern, ein Atmen, Schritte, ein Chor aus alten Stimmen, die ein leises Lied sangen.

Sie erkannte, dass man in diesen Häusern nicht allein sein sollte. Vera fühlte sich nicht mehr allein, doch dann hörte sie das Fallen, ein unaufhörliches Sinken in die Dunkelheit.

Etwas Kleines, eine Kugel, eine Spule oder vielleicht sie selbst, ein Spielzeug im Haus. Die Geräusche und Stimmen wurden lauter, und Vera konnte nicht mehr aus der Küche gehen, sie fühlte sich von den

Vergessenen umgeben.

Die Erinnerungen an vergangene Zeiten, die Soldaten, die mit Karl marschiert waren, und all die anderen, die in diesem Haus gelebt und gestorben waren, schienen lebendig zu werden. Vera konnte das Haus nicht verlassen, es hielt sie wie Moos an den Mauern fest.

Sie war ein Flüchtling, der hier Zuflucht gefunden hatte, doch sie konnte nicht gehen. Die Gedanken an den Schrei der Pferde im Eis und die grausamen Bilder aus der Vergangenheit ließen sie nicht los.

In den folgenden Tagen versuchte Vera, sich unsichtbar zu machen und die Geister der Vergangenheit zu ignorieren. Sie las von fernen Orten, trank Tee und ließ die Hunde draußen herumtollen. Die Flüchtlinge kamen, und Anne half ihr, das Haus zu überprüfen und Schäden zu dokumentieren.

Vera bemerkte, dass Anne etwas an sich hatte, das sie an Hildegard erinnerte. Anne war ruhig und still, machte gelegentlich eine seltsame Wischbewegung über ihr Gesicht. Vera fühlte sich von der Anwesenheit von Anne und ihrem Sohn Leon in ihrem Haus gestört, aber sie konnte sienicht wegschicken.

Anne und Leon brachten Unordnung in Veras Leben, aber vielleicht konnten sie auch Dinge in Ordnung bringen. Vera hatte das Gefühl, dass sie jemanden brauchte, der bei ihr war, besonders in den langen Nächten.

Die Geschichte erzählt von Vera Eckhoffs einsamem Leben in einem alten Haus und ihrer Begegnung mit Anne und Leon, die ihr Leben veränderten. Vera reflektiert auch über ihre Vergangenheit und die schwierigen Entscheidungen, die sie getroffen hat, besonders in Bezug auf Kinder und Beziehungen.

Hoffentlich gibt Ihnen dieser kurze Überblick über das Abschnitt einen guten Einblick in die Handlung.

Abschnitt 21 - Bofrost

Sigrid Pape führte sachliche Telefonate über Kopfläuse und ihre Behandlung bei Kindern in der Elbfrösche-Kindertagesstätte. Sie vermied jegliche Emotionen und Anklagen.

Sigrid rief Frau Hove an und blieb höflich und lächelnd am Telefon. Sie erfuhr von Kopfläusen bei einem Kind und gab ihr Ratschläge zur

Behandlung.

Währenddessen dachte Sigrid persönlich über die Kopfläuse und ihre Verbreitung nach, vermied jedoch, ihre eigenen Gedanken darüber auszusprechen.

Leon hatte Kopfläuse, und Sigrid war nicht überrascht. Sie dachte daran, dass seine Mutter ihm vielleicht jetzt die langen Haare schneiden würde.

Abgesehen von den Läusen machte Leon sich gut in der Hummelgruppe der Kindertagesstätte. Er war noch weinerlich, aber es wurde besser, und er aß gerne Fleisch, obwohl er Vegetarier sein sollte.

Sigrid gab Frau Hove Ratschläge zur Behandlung von Kopfläusen und beendete das Gespräch.

Anne spürte Juckreiz auf ihrem Kopf, konnte aber keine Läuse entdecken. Die Apothekerin verpackte die Läusebehandlung für sie.

Leon stand bereits bereit, um Vera von den Läusen zu erzählen. Vera konnte jedoch keine Läuse bei ihm finden. Anne begann damit, Leon die Haare zu kämmen und die Anleitung auf dem Beipackzettel zu lesen.

Vera half Leon, das Läusemittel aufzutragen, und erzählte ihm von ihrer eigenen Erfahrung mit Läusen als Kind.

Anne begann, die Bettwäsche und Kleidung zu waschen und alles zu desinfizieren.

Vera bat Anne, Frau Feldes über Leons Läuse zu informieren, falls sie Zeit hatte, als sie die Hummelgruppe verließ.

In Veras Abwesenheit sprühte sie Leon die Läusebehandlung auf den Kopf und begann, seine Haare zu kämmen.

Die beiden Mütter sprachen über ihre Kinder und deren Erlebnisse, während sie Kaffee tranken und sich näher kennenlernten.

Sie gingen in Brittas Werkstatt, wo sie Tonfiguren herstellte. Britta erzählte Anne von ihrer Arbeit und den Herausforderungen dabei.

Ein Lieferwagen von Bofrost brachte eine große Menge Tiefkühlkost zu Brittas Haus.

Britta lud die Tiefkühlprodukte in ihre Tiefkühltruhe, und Helga zum Feldes kam unerwartet vorbei und war überrascht von der Situation.

Helga machte einige kritische Bemerkungenüber den Zustand des Hauses und die Tatsache, dass Anne und Britta Bier tranken.

Die Stimmung wurde unangenehm, als Helga das Haus verließ.

Britta und Anne lachten über die Situation, und Theis kam mit Kopfläusen zurück.

Britta erzählte, dass Theis auch Kopfläuse hatte und Vera gerade dabei war, sie zu behandeln.

Leon sprach über die kleinen Welpen, die sie früher hatten, und wie sie mit ihnen verfahren waren, als sie vor den Kriegsflüchtlingen geflohen waren.

Leon wollte Geschichten hören, also erzählten Anne und Britta ihm von ihren Erfahrungen.

Später, als es Nacht wurde, erinnerte sich Vera an die Vergessenen und flüsterte leise: "Armes kleines Kind."

Vera fühlte sich wegen dieser Gedanken schlecht und schämte sich dafür.

Sie hatte eine unruhige Nacht.

Abschnitt 22 - Auferstehung

Vera Eckhoff besuchte die Kirche am Karfreitag, nicht aus religiösen Gründen, sondern wegen ihrer Liebe zu den Passion-Chorälen. Die Orgel in der Fachwerkkirche spielte, und sie erinnerte sich an die Orgelklänge bei Karls Beerdigung.

Die Altländer Orgel konnte mal sanft und mal mächtig klingen, je nach Bedarf. Vera hörte die Musik und fühlte sich beruhigt. Sie konnte das Atmen von dreihundert Jahren hören und atmete mit, als ob es kein Ende gäbe.

Anne begleitete sie zur Kirche, obwohl sie nicht so gläubig war wie Vera. Die Sopranstimmen der Chordamen klangen manchmal unsicher, aber Vera verstand, dass die Lieder genauso klingen mussten, wie der ängstliche Kirchenchor sie sang.

Nach der Kirche besuchten sie Karls Grab auf dem Friedhof. Anne fragte Vera, ob es sie nicht belastete, ihren eigenen Namen auf dem Grabstein zu sehen, aber Vera war gelassen und sagte, sie finde es beruhigend zu wissen, wo sie hingehörte.

Die beiden Frauen verbrachten den Tag in der Stadt und gingen dann reiten. Vera ritt auf Hela, Anne auf einem anderen Pferd. Sie genossen

die entspannte Fahrt entlang der Elbe und bewunderten die blühenden Kirschbäume und den Löwenzahn in den Vorgärten.

Am Abend gab es ein Osterfeuer im Dorf, aber Vera war gegen die Tradition und fand es sinnlos. Sie verbrachte die Nacht wach, um sicherzustellen, dass keine Funken auf ihr Reetdachhaus fielen.

Heinrich Lührs, der Nachbar, mochte ebenfalls keine Osterfeuer. Er verbrachte den Abend alleine in seinem Haus.

Am Ostersonntag kamen Jochen, Steffi und ihre Kinder zu Besuch. Heinrich spielte den Osterhasen und versteckte Süßigkeiten für die Kinder. Vera fand die Familienzeit schön, obwohl sie manchmal ihre eigenen Gewohnheiten vermisste.

Am Abend besuchte Anne das Osterfeuer im Dorf und traf auf Dirk zum Felde, einen Feuerwehrmann. Sie unterhielten sich und tranken zusammen Bier.

Einige Tagespäter zeigte Vera Anne die von Frost überzogenen Apfelbäume auf dem Feld. Anne war fasziniert von dieser Frostberegnung, die die Blüten vor dem Frost schützte.

Anne erfuhr von Dirk zum Felde, dass dies als "Erstarrungswärme" bekannt war. Trotz ihrer Müdigkeit und anfänglichen Abweisung fand sie die Begegnung mit ihm interessant.

Dirk zum Felde zeigte Anne, dass es noch viel zu lernen gab, bevor er sich auf den Traktor setzte und weiterfuhr.

Abschnitt 23 - Mann, Mann, Mann

Carsten hatte das Fenster bereits im Kofferraum verstaut - einen Rahmen aus Eichenholz, weiß und dunkelgrün lackiert, mit Doppelglas. Für das kleinste Fassadenfenster oben unter Vera Eckhoffs First hätte einfaches Glas ausgereicht, aber Tischlermeister Drewe machte keine Kompromisse.

"Dann hoffe mal, dass deine Maße stimmen, Geselle", sagte er, warf seine alte Adidastasche auf die Rücksitzbank des Mercedes und stieg auf der Beifahrerseite ein.

Er holte seinen Tabak aus der Jackentasche und drehte Zigaretten. Auf dem Weg nach Finkenwerder schwiegen sie. Dann sagte er: "Lechtaler Alpen, 1000 Teile. Ich hoffe, sie kommen zwei Abende ohne mich aus."

Sie hatten schon lange keine neuen Puzzle mehr gekauft. Sie verwendeten jetzt die alten, immer wieder. Karl-Heinz begann immer mit den Randteilen, das war am einfachsten, aber selbst dafür benötigte er mittlerweile eine Ewigkeit.

Hertha baute immer mehr ab. Sie schob es auf die schlechte Beleuchtung und ihre neue Lesebrille, aber es lag an ihrem Verstand. Manchmal drückte sie gewaltsam zwei Puzzleteile zusammen, die überhaupt nicht passten. Carsten tat es in der Seele weh, aber es nervte ihn auch. Dann ging er hinaus und rauchte eine Zigarette.

Hertha brachte die Wochentage durcheinander. Sie las die Zeitung morgens und dann nachmittags erneut, als wäre sie neu. "Sehr praktisch", sagte Anne, "so bekommt man etwas von seinem Abonnement."

Carsten grinste, und sie schwiegen bis Borstel.

"Das Basenfasten ist wohl auch vorbei, oder?" fragte Anne.

Er nickte, kurbelte das Fenster herunter und aschte auf die Straße.

Willy musste für das Wochenende in das Wohnzimmer von Ida Eckhoff umziehen. "Er oder ich", sagte Carsten und zeigte auf den Käfig. "Ich schlafe nicht mit der Ratte im selben Raum."

Er stellte seine Tasche neben Leons Bett und ging zu Vera in den Flur. "Ich muss nur dieses Nagen hören", sagte er, "schrapp, schrapp, dann reicht es mir schon."

Anne hörte Vera laut lachen, plötzlich und unerwartet, fast ließ sie das Kaninchen fallen.

Sie zeigten ihm das Haus, fast eine Stunde lang.

"Man, man, man", sagte Carsten. Er klopfte auf das Fachwerk, betrachtete die Schnitzereien an der Brauttür, das brüchigeHolz der großen Dielentür, die Fensterrahmen. Er stand sehr lange vor dem prächtigen Tor und dann vor der Fassade. "Man, man, man." Als er nach der Inschrift fragte, las Vera sie ihm vor. Wenn Carsten Drewe etwas fragte, war es also wichtig. "Und was bedeutet das auf Deutsch?" Er zog eine Zigarette aus seiner Tasche, aber Vera nahm sie ihm weg und zeigte auf das Reetdach.

"Das Haus ist meins und doch nicht meins, der nach mir kommt, nennt es auch noch seins."

Er nickte langsam, dann sah er Vera an und grinste. "Auf 'deins' reimt

sich da gar nichts, oder?" Er schüttelte den Kopf. "Das waren ein paar Kerle früher, echt."

Sie zeigten ihm das Haus von innen. Carsten ging durch die Räume wie ein Kind an seinem Geburtstag, es gab Überraschungen an jeder Ecke. Schränke! Kommoden! Die Deckenvertäfelung! Unglaublich.

"Massivholz pur", sagte Anne. "Meister Drewe ist im Himmel."

"So, wann kommt das Gerüst?"

Abschnitt 24 - Lichte Wunder

Marlene und Anne machten eine Reise nach Ostpreußen und Masuren. Marlene suchte nach Spuren ihrer Mutter, die in dieser Region geboren wurde. Sie reisten mit einer Reisegruppe und besuchten Orte, die Marlene in den Briefen ihrer Mutter gefunden hatte. Trotz vieler Eindrücke blieb eine Distanz zwischen Marlene und Anne bestehen. Am Ende fanden sie keine Antworten, aber obwohl keine Heilung stattfand, verbrachten sie immerhin zehn Tage ohne Streit und Tränen miteinander.

Abschnitt 25 - Brain Drain

Der Sommer auf dem Land war von Naturkämpfen geprägt, darunter die Plage der Nacktschnecken und der Kampf gegen Insekten. Eva, anders als Burkhard, hegte einen wachsenden Hass auf Schnecken und spaltete sie mit einer speziellen Schneckenschere. Sie kümmerte sich nicht mehr um Spinnen, sondern spülte sie mit heißem Wasser weg.

Ihr anfänglicher Enthusiasmus für das Landleben hatte sich gelegt, und sie fanden es nicht mehr witzig. Burkhard hatte über die skurrilen Aspekte des Landlebens ein Buch geschrieben, aber nach einem Vorfall mit einer Jagdgesellschaft und einer rechtlichen Auseinandersetzung mit Bauern beschloss er, das Projekt zu beenden. Diese Menschen und die ländliche Umgebung hatten ihn desillusioniert.

Burkhard war bereit für eine Veränderung und entschied sich, in ein gehobenes Viertel in Hamburg zu ziehen, was seine alte Clique verärgerte. Trotzdem fand er Trost in seinem neuen Leben, während er beobachtete, wie Eva draußen immer noch gegen das Unkraut kämpfte. Er vermutete, dass etwas zwischenihr und einem Pomologen vorgefallen war, und begann, sich Sorgen um ihre Ehe zu machen.

Abschnitt 26 - Schlafen

Die Sorge um Unfälle und Unglücke begleitete Vera zunächst, aber mit der Zeit gewöhnte sie sich daran, dass das Haus scheinbar heil blieb. Sie hatte geglaubt, das Haus hätte ein Eigenleben und könne Rache nehmen, aber dieser kindische Glaube begann langsam zu schwinden.

Anne brachte Vera bei, dass es vielleicht doch nur ein Haus war, und sie konnte nachts besser schlafen. Doch in der Dunkelheit kehrten die alten Ängste zurück, und Vera traute dem Haus immer noch alles zu.

Der Herbst brachte ruhige Tage und den Abschluss der Renovierungsarbeiten in ihrem Haus. Heinrich Lührs schien sich ebenfalls zu verändern und wurde offener, spielte Skat und half beim Renovieren.

Vera und Anne ritten oft aus und genossen die herbstliche Atmosphäre. Sie sahen viele Menschen im Dorf und begannen, die Namen und die Natur um sie herum besser kennenzulernen. Annes Klavierspiel war ein wichtiger Teil ihres Lebens, und sie spielte verschiedene Stücke für die Menschen in ihrer Umgebung.

Vera konnte bis heute keinen Walzer tanzen, aber sie sah Heinrich Lührs und Anne gemeinsam tanzen und wünschte sich, wieder jung zu sein. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und es wurde ruhiger im Haus. Carsten kam weiterhin an den Wochenenden zu Besuch.

Anne spielte Schlaflieder für Leon und auch für Vera, bis diese einschlief. Vera konnte nur im Sitzen schlafen und ließ sich erst nach langem Zögern ins Bett schicken.

Das Haus stand ruhig da, und Anne hütete die Träume der Schlafenden, während zwei Türen im Haus angelehnt blieben - eine für die alte Frau und eine für den kleinen Jungen, beide schliefen, während Anne wachte.